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Éric Vuillard

KONGO

Erzählung
Aus dem Französischen
von Nicola Denis

figure Matthes & Seitz Berlin

Rate, wo ich dich fresse
Die Sphinx

Sieh! Das sind die europäischen Mächte wie Gott sie geschaffen hat, und wie ich ihre Knochen entstaubt und ihre ganz weiße Haut gespannt habe. Sie machten ja, was sie wollten mit ihren Dienstboten und ihren Negern – nun und ich, ich besitze ihre großen heldenhaften Gerippe; ich mache damit, was mir gefällt. Ich erwecke sie wieder zum Leben und zeige sie, dort, wie Zirkusaffen, große Siegeraffen in einem Ozean des Elends.

Und wozu ist das gut? Um unseren Kummer und unsere Wut zu stillen. Wir schreiben 1884, das Jahr der Kongokonferenz, man teilt sich Afrika, und die Diplomaten leihen uns für ein paar Stunden ihre schönen Anzüge und den Tonfall ihrer Stimmen.

Denn wir sind zugleich als Prinz und als Neger zur Welt gekommen, zugleich reich und arm, ja, steinreich; niemand ist anders zur Welt gekommen als auf zwei Arten. Wir sind zugleich als Prinz und als Neger zur Welt gekommen und wissen es tief in unserem Inneren nur zu gut.

Sieh! Wenn du durstig bist, kommen dir die Flüsse entgegen! Wenn du hungrig bist, nimm das bittre Brot der Menschen! Und wenn man dir den Mund verschlossen hat, spricht deine Wunde von selbst.

DIE KOMÖDIE

 

Die Franzosen langweilten sich, die Engländer langweilten sich, die Belgier, die Deutschen, die Portugiesen und viele andere Regierungen Europas langweilten sich zu Tode; und da die Zerstreuung wohl ein menschliches Bedürfnis ist und eine immer grimmigere Abhängigkeit von diesem Zerstreuungsbedürfnis entstand, organisierte man zur Zerstreuung ganz Europas die größte Schatzsuche aller Zeiten. Zwei oder drei Jahrhunderte zuvor war Europa bereits ein erstes Mal über die Welt hergefallen, und der alte Kontinent hatte sich in der Gnade dieses ersten Appetits mehrere Überseeimperien einverleibt; dann war die Zeit vergangen, die Völker hatten sich ihre Unabhängigkeit genommen, und sobald dieses Scheitern verdaut war, erwachte Europa aufs Neue und fand plötzlich wieder Geschmack an der Eroberung. Diesmal wandten sich die Blicke in alle vier Himmelsrichtungen, denn mittlerweile kannte man die Grenzen der Welt besser, und genau innerhalb dieser Grenzen würde man sich ein Stückchen nehmen. Vorbei, die verwegenen Entdeckungen, die Reisen in Karavellen, die langen Expeditionen in unbekannte Landstriche. Künftig sollten der Telegraf und der Dampf die Werkzeuge des Erfolgs sein. Sie waren es, die wie Halbgötter die Welt durchquerten, nicht mehr auf der Suche nach Gewürzen oder Gold, sondern auf dass sich das Versprechen erfülle: die letzte Verwandlung der Menschen und der Erde in jene bildsame und grenzenlos nutzbare Materie, die wir kennen. Die ganze Welt wurde unversehens zum Rohstoff. Das war die letzte Verzückung, die Befriedigung all unserer Dürste.

All das ging zunächst ungeordnet vonstatten. Unmöglich zu sagen, wann die Sache angefangen hatte oder wieder anfing. England hatte einen kleinen Vorsprung, die alten Reiche zersetzten sich langsam. Man lebt immer zwischen zwei Welten, zwischen zwei Augenblicken der Geschichte, zwischen zwei Strömungen, die miteinander ringen und nie endgültig über die jeweils andere siegen, so als kämpften unsere Kräfte, unsere inneren Widersprüche, hier, vor unseren Augen, um uns das blutige Schauspiel unserer lächerlichen Händel darzubieten.

Schnell wollte man es besser machen. Es lohnte, sich abzusprechen, man würde weniger Zeit verlieren. Doch seltsamerweise organisierten weder Franzosen noch Engländer die unerlässliche Verhandlung, die zwischen den Eroberern einen Verhaltenskodex festschreiben sollte; es war Bismarck, der Kanzler eines in der Materie noch gänzlich unbewanderten Reichs, ohne Kolonialerfahrung, der dreizehn der entschlossensten Nationen einlud. Er, der seinen Namen einem Heringsgericht geben sollte, einem Farbstoff mit sensationellen chemischen Eigenschaften sowie der Pflanzengattung Bismarckia – ein Blätterfächer oben auf einem fasrigen Stamm, mit anderen Worten: die Bismarckpalme –, er, dem zu Ehren ein Archipel, mehrere Berge, ein Meer und sogar, weiß Gott warum, die Hauptstadt von North Dakota, ein trauriger Staat im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, ein Kaff mit kaum mehr Einwohnern als Bourg-en-Bresse, auf seinen Namen getauft wurden; er also, dem zu Ehren all diese Dinge seinen Namen annehmen sollten oder bereits angenommen hatten, lud Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Portugal, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Italien, die Niederlande, Russland, Schweden und die Türkei nach Berlin ein; dazu die unzähligen Krankheiten, die ihn Tag für Tag begleiteten, Rheuma, chronische Kolitis, Magenbrennen, Venenentzündungen, Schlafstörungen und einiges mehr, um, im Namen des Allmächtigen Gottes die für die Entwickelung des Handels und der Civilisation in gewissen Gegenden Afrikas günstigsten Bedingungen im Geiste guten gegenseitigen Einvernehmens zu regeln, wie die Generalakte vom 26. Februar 1885 stipulierte, unterzeichnet von Bismarck, van der Straeten-Pontholz, Henry Sandford, Chodron de Courcel, Edward B. Malet, und neun weiteren Flaschen, die unterschrieben, je nachdem, in gotischer Schönschrift oder mit ihren Krähenfüßen.

Das hatte man noch nie gesehen. Man hatte noch nie gesehen, wie sich so viele Staaten auf eine böse Tat zu einigen versuchten. Es bedurfte vonseiten Deutschlands einer gehörigen Portion Macht und vonseiten Bismarcks einer gehörigen Portion Geschick, um diese ganze feine Gesellschaft einzubestellen und die Konferenz anzuberaumen. Zweifelsohne ein politisches Meisterstück.

DAS PALAIS RADZIWILL

 

Am Samstag, dem 15. November 1884, fand man sich ein. Langsam strebten die Bevollmächtigten in ihren Fräcken in den großen Salon. Die Kronleuchter warfen ihr Licht auf die Holzvertäfelungen, auch die hohen Terrassentüren taten ihre Arbeit. Die Stöcke stießen leicht an das Parkett, man verbeugte sich, begrüßte einander leise, umrundete gesittet den Tisch. Tische gab es ausgesprochen früh in der Menschheitsgeschichte, aber anfangs sind es bewegliche Platten auf Böcken, und erst in der Renaissance erscheint der Tisch, den wir kennen, der sich, am 15. November 1884, in der Mitte des großen Salons im Palais Radziwill in Berlin befindet. Bekanntlich eignet ihm ein emotionaler Wert, ist der Tisch gleichbedeutend mit dem Heim, weil sich die Familie um den Tisch versammelt, und er verkörpert für uns – die wir nicht der Teppichkultur angehören – Gemeinschaft und Teilen.

Hinter den Kulissen machen sich Heerscharen von Dienstboten zu schaffen. Man hält sich bereit, aufzutragen, für den letzten Schliff und das gute Gelingen der Konferenz zu sorgen. Die Berliner Dienstboten haben ein hohes Standing, sind gewohnt zu schweigen, zu gehorchen.

Im Jahr 1869 hatte das Königreich Preußen dieses Palais auf Betreiben Bismarcks gekauft. Gewiss war der Wilhelmplatz, an dem sich das Palais befindet, sehr reizvoll, von Bäumen umstanden, so wie ihn der gute Schinkel umgestaltet hatte, mit seinem Park in der Mitte, von zwei Wegen durchtrennt wie ein großes X: das Kreuz des modernen Menschen. Schinkel ist ein unbedarfter Architekt, der eine ganze Menge Sachen entworfen hat, insbesondere ein Projekt für die Griechen; aber Gott sei Dank haben die Griechen Schinkel und seinem Vorhaben eines Umbaus der Akropolis zum Königspalast – eine doppelte Ketzerei – nicht zugestimmt. Und abgesehen von den Plünderungen, die ihr die Londoner und Berliner Museen angetan haben, blieb die Ruine was sie war.

1884 war das Palais Radziwill gerade frisch renoviert. Die Berliner Konferenz sollte die Einweihungsfeier sein. Das Palais ist ein weitläufiger Rokokobau, blumiger und verspielter Stil, in dem die Ausstattung das Leben umhüllt, als seien die Muschelschale oder die Haut ein Ausdruck der Seele selbst. Alles hier ist verfeinert, voller Fantasie. Und zwischen den pausbäckigen Engeln und den Shell-Rundungen, in dieser erstickenden, sumpfigen Oberflächlichkeit, in dieser entfesselten Nichtigkeit, mitten in einer Wucherung aus Stuck, Gipslianen, Glasflammen, im Herzen dieser ungeheuer seichten Üppigkeit, dieser überbordenden Ausdruckslosigkeit, dieses unerhörten Verlangens nichts zu sagen, sondern wiederzukäuen, zu rumoren, den Strohhalm im Glas zu zwirbeln, zwischen dieser ganzen uneingestandenen und unschuldig ausgestellten Sexualität, Chinavasen, Mandarinen, dem Gewirr aus Ästen und Klauen, Satyrreigen, abscheulichen Possen kleiner Ungeheuer, wird man sich bald ernsthaft mit dem Schicksal der Welt befassen und ungeheure Berechnungen flüstern.

Ja, die Einrichtung spielt ihre Rolle in der Geschichte. Und nicht etwa eine kleine, unbedeutende Rolle! Eine hinterlistige, fantastische Sphinxrolle. Sind es nicht Spiegel und Tische, denen die drängendsten Fragen gestellt werden? Man hält sein Ohr an die Muscheln; malt sich als Kind das Leben in einer kleinen Höhle aus; das Rokoko ist die erschütternde Summe all unserer Träume, ein ununterbrochenes Spiegeln, in dem das Leben zugleich erlöscht und erstarrt.

Doch von all dem, den Kronleuchtern, Vasen, den von Unbekannten gemalten Fresken, ist heute nichts mehr übrig. Die Leichtigkeit wurde von Bomben verwüstet. Hitler übernahm das hübsche kleine Palais gleich 1933 und ließ unter dem großen Festsaal ein tiefes Loch graben, um seinen Vorbunker anzulegen, dann, ein Stück weiter weg und noch tiefer, den Führerbunker, denn von Jahr zu Jahr, scheint es, muss man sich immer tiefer eingraben, wie jene Toten, die sich angeblich jeden Tag etwas weiter weg ein neues Grab graben, bevor sie von der Lava tief auf den Grund gesaugt werden.