Die Karlsson-Kinder
Diebe und Dämonen
Aus dem Schwedischen von
Anu Stohner
Großvater und Großmutter Karlsson
(mütterlicherseits)
4 Töchter:
Ulla, Forscherin, verheiratet mit Allan,
Mutter von Julia und Daniella, genannt Hummel
Molly, Schauspielerin, Mutter von George
Ellen, Köchin, lebt zusammen mit Claude Bouclé,
Mutter von Alex
Frida, Künstlerin
Wie? Jetzt im Herbst?
»Du wirst dich wahnsinnig freuen, Sohnemännchen!«, sagte Georges Mutter Molly und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Wir spielen mit unserer Theatertruppe in Storvalla, und du darfst mitkommen. Du hast ja bald Ferien.«
»Wie? Jetzt im Herbst?«, fragte George und wischte an dem großen lila Lippenstiftfleck herum, den seine Mutter ihm verpasst hatte. »Was soll ich denn im Herbst in Storvalla? Du willst mich doch nicht wieder überreden, bei euch mitzumachen? Ich hab immer noch Albträume von dem Engel, den ich letztes Jahr in eurem Weihnachtsstück spielen musste.«
Molly machte Schmolllippen.
»Ich dachte, du freust dich. Du erzählst doch immer, wie viel Spaß eure Cousin-Cousinen-Bande bei Frida auf Doppingö hat, und Storvalla ist da ja nicht weit weg. Ich dachte, wenn du mitkommst, kannst du vielleicht auch ein paar Tage bei Frida auf der Insel verbringen. Und was das Stück betrifft, das wir spielen: Es ist so ein altmodisches mit Masken, und der Tod wäre eine Traumrolle für dich.«
»Mama, von Storvalla bis Doppingö ist es noch eine ganze Ecke«, sagte George mit gerunzelter Stirn. »Und überhaupt, was soll ich dort? Mit Frida Löcher in die Herbstdunkelheit gucken? Die anderen sind ja nicht da. Sorry, da verbringe ich die Herbstferien lieber allein hier zu Hause.«
Genau da war aus der unaufgeräumten Küche ein leises Klingeln zu hören, und sie machten sich zusammen auf die Suche nach Mollys Handy, das sie an den komischsten Orten liegen zu lassen pflegte. Erst gestern hatte George es im Kühlschrank hinter dem Käse gefunden.
»Hier!«, rief Molly und angelte das Handy aus dem Zeitungskorb.
»Ja, hallo, hier Moira Månstråle …«, sagte sie mit samtener Stimme. Moira Månstråle – Mondstrahl – war ihr Künstlername als Schauspielerin, und wenn jemand anrief, sprach sie immer erst mit ihrer Schauspielerinnenstimme. Vielleicht war es ja jemand, der ihr eine Wahnsinnsrolle in einem Film anbot. Im normalen Leben war sie Molly Karlsson mit einer ziemlich normalen Frauenstimme.
Mit der sagte sie jetzt auch: »Ach so, ja, der ist hier!«, und gab George das Handy. Sie selbst nahm die Feile, die auf dem Tischchen neben dem Zeitungskorb lag, und widmete sich ihren langen Fingernägeln.
»George?«, hörte George seine Cousine Julia fragen. »Bist du schon dran?« Und ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Hallo, wie geht’s dir, malst du viel? Ich hab spannende Neuigkeiten!«
George lachte. Wenn er nur Julias Stimme hörte, bekam er schon gute Laune.
»Ja, danke, gut, nein, zurzeit eher weniger, dafür lese ich viel«, beantwortete er ihre Fragen und fügte das mit dem Lesen hinzu, weil Julia mindestens so gern las, wie er selbst malte. »Spannende Neuigkeiten – schieß los!«
»Mama und Papa müssen die ganzen Herbstferien zu einer Konferenz in Dänemark, und sie wollen Frida bitten, dass Hummel und ich solange zu ihr nach Doppingö dürfen. Da wollte ich fragen, ob du nicht auch hinkommen willst.«
Anstatt zu antworten, hielt George die Hand aufs Handy, damit Julia ihn nicht hören konnte, und wandte sich seiner Mutter zu.
»Mama, hast du mit Julias Eltern ausgemacht, dass Julia und Hummel in den Ferien zu Frida sollen? Damit du mich auch hinlocken kannst?«
»Aber überhaupt nicht! Das ist das Erste, was ich davon höre. Heißt das, du würdest deine Meinung eventuell ändern? Das wäre wunderbar, mein Schatz! Der Tod wäre wirklich eine Paraderolle für dich. Du müsstest kein Wort sagen, nur dastehen und zum Fürchten aussehen. Du könntest …«
Sie redete weiter, obwohl George ihr gar nicht mehr zuhörte.
»Geht klar«, sagte er zu Julia. »Und ihr bringt den Kater mit? Bitte! Wenn wir schon auf Alex verzichten müssen …«
»Ohne ihn werden wir verhungern!«, hörte George Julias kleine Schwester Hummel rufen, die offenbar am anderen Ende mithörte. Hummel hieß mit richtigem Namen Daniella und wurde Hummel genannt, weil sie welche im Hintern hatte und nie Ruhe geben konnte. Außerdem war sie immer hungrig und himmelte ihren französischen Cousin Alex auch deshalb an, weil der auf Doppingö immer so lecker kochte. Alex wollte später mal ein berühmter Fernsehkoch werden.
»Ach was, auf Doppingö wird es auch mit Wurst und Kartoffelpüree schön!«, sagte Julia. »Und schön gemütlich wird es bestimmt auch. Wenn’s draußen eklig ist, hängen wir eben vorm Kaminfeuer ab und spielen Karten und so.«
»Hört sich gut an«, sagte George. »In der Schule ist es zurzeit so stressig, dass mir ein bisschen Ruhe nur guttun kann. Augenblick mal, Julia! – Nein, Mama, ich werde den Tod nicht spielen, auf gar keinen Fall!«
Die Ruhe, von der er gesprochen hatte, würde es für George aber trotzdem nicht geben.
Das weiße Gesicht
Die zwei Cousinen und der Cousin gingen mit ihrer Tante durch die schmale Hauptstraße des Städtchens Östhamn, zu dem die Insel Doppingö gehörte. Die Nachmittagssonne stand tief, und die Straße lag fast vollständig im Schatten.
Die vier gingen im Gänsemarsch hintereinanderher, und Tante Frida bildete die Spitze. Sie war eine kräftige Frau mit wilden roten Haaren, die sie mit Haarnadeln zu einer Art Vogelnest aufgesteckt hatte.
Hinter Frida kam Hummel, klein und rundlich und mit einem Rucksack, der fast so groß war wie sie selbst. Er war so schwer, dass sie mit leicht eingeknickten Knien ging.
Ihre hoch aufgeschossene große Schwester folgte ihr in einer wattierten roten Jacke und mit einem Schal, den sie sich gleich mehrmals um den Hals gewickelt hatte. Es war Ende Oktober, und schon die Nachmittage waren kalt. Julia trug ebenfalls einen Rucksack und in einer Hand einen Katzentragekäfig, in dem ein dicker, in fast allen denkbaren Katzenfarben gesprenkelter Kater schlief.
Den Schluss bildete George mit seinem wippenden blonden Pferdeschwanz. Sein Reisegepäck bestand aus einem ausgebeulten Segeltuchseesack, den er sich lässig über die Schulter geworfen hatte.
Sie waren mit Bussen aus verschiedenen Richtungen nach Östhamn gekommen und wollten zum kleinen Hafen von Östhamn, von wo aus sie das Bootstaxi nach Doppingö nehmen würden. Frida hatte es vorbestellt, und tatsächlich wartete es schon am Anleger auf sie, ein schönes altes Boot aus Mahagoni und mit einer Glasscheibe, hinter der sie schon von Weitem eine riesige Kapitänsmütze sahen. Ein bisschen schien es so, als säße nur diese Mütze im Boot, aber bei genauerem Hinsehen konnte man auch den hageren alten Mann darunter erkennen, der seinen Fahrgästen auch bald fröhlich winkte. Es war Maximilian Johansson, von allen nur Taximax genannt. Für die Karlsson-Kinder war er ein alter Bekannter.
»Wie oft waren wir jetzt schon bei dir, Tante Frida?«, fragte Hummel, während sie ächzend ihren Rucksack absetzte. »Das ist jetzt das vierte Mal, stimmt’s? Und das erste Mal, dass wir im Herbst kommen. Ich freu mich so, das wird bestimmt toll!«
»Du liebe Zeit, Hummel, was hast du denn im Rucksack, dass du ihn kaum absetzen kannst?«, fragte George. »Wir bleiben doch nur eine Woche. Oder willst du ganz hierher ziehen? Hast du deine Möbel dabei?«
»Das kann dir doch wohl piepegal sein!«, sagte Hummel. Das war ihr neuester Lieblingsspruch. Sie hatte immer einen Lieblingsspruch, und in der Regel hielt er sechs Monate, dann brauchte sie einen neuen. In den Sommerferien war es noch »Das kann ich dir schriftlich geben« gewesen, womit sie die anderen fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Und noch davor »null, nothing, nada«.
»Reichst du ihn mir rüber!«, sagte Taximax über den Bootsrand gebeugt. Aber als Hummel ihm den Rucksack in die ausgestreckten Arme hievte, taumelte er rückwärts auf seinen Sitz, und die Kapitänsmütze fiel ihm vom Kopf.
»Oioioi!«, stöhnte er.
»Miooooooi!«, kam es aus dem Katzenkäfig zurück. Der Kater war aufgewacht und glaubte wohl, dass jemand mit ihm redete.
Als alles im Boot verstaut war und alle auf ihren Plätzen saßen, drückte Taximax den Starterknopf, und sie fuhren los. Der Motor brummte, und vom Bug spritzte kaltes Wasser auf.
»Sie ist eine alte Dame, aber stark und zuverlässig«, sagte Taximax zufrieden. »Wenn’s drauf ankommt, macht sie immer noch ihre zwanzig Knoten.«
»Wer jetzt?«, fragte Hummel.
»Na, die Marylou«, sagte Taximax.
So hieß sein Boot.
»Und ich dachte schon, er meint Frida«, zischte Hummel ihrer großen Schwester zu. »Obwohl sie ja schon länger keine Knoten mehr macht.«
Frida war lange Künstlerin gewesen und tatsächlich mit Werken aus Blech und kunstvoll verknoteten Schnüren bekannt geworden. In jüngeren Jahren war sie als Seiltänzerin aufgetreten, danach hatte sie in einem Zitterorchester gespielt, und eine Zeit lang war sie auch zur See gefahren. Seit sie den Spaß an der Kunst verloren hatte, hatte sie auf Doppingö erst einen Wombatpark einrichten wollen, dann aber umgesattelt, erst, um auf der Insel nach Wikingerschätzen zu graben und dann, um eine Art Spieleland für Leute aufzumachen, die in ihrer Freizeit gern in Wikingerkostüme schlüpften und Rollenspiele spielten.
»Und, Tante Frida, wie weit bist du mit deiner Wikingerwelt?«, fragte Julia, während sie auf die Insel zufuhren. Wikingerwelt – so sollte das Spieleland heißen.
Frida seufzte.
»Wie soll man sagen«, sagte sie. »Die Homepage, die du dafür eingerichtet hast, ist schon gut. Da melden sich jede Menge Leute und fragen, wann sie kommen können. Und ich geh auch jede Woche brav in die Bücherei und schau meine Mails nach, nicht wahr.«
»Heißt das, du hast dir immer noch keinen eigenen Computer zugelegt?«, fragte George.
»Natürlich nicht!«, sagte Frida, als wäre das etwas, worauf sie stolz sein konnte. »Der Computer ist auch nicht das Problem, nicht wahr. Das Problem ist, dass alle nach der Unterkunft und dem Essen fragen, und was soll ich da antworten? Daran hab ich gar nicht gedacht, und mehr als einen Platz zum Zelten und Instant-Nudeln oder Dickmilch hab ich ja auch nicht anzubieten, nicht wahr …«
Kochen war so ziemlich das Letzte, was Frida interessierte, und dauernd »nicht wahr« zu sagen war eine Marotte von ihr.
»Alles aussteigen, bitte!«, rief Taximax, als er an Fridas Bootssteg anlegte, und George sprang von Bord, um das Boot festzubinden.
»Seht euch das an!«, sagte Julia und zeigte mit einer weit ausholenden Geste auf die Insel. »Wie anders das im Herbst alles aussieht!«
Es war ein kühler, aber schöner Herbstnachmittag ohne einen Hauch von Wind. Die Sonne schaute gerade noch über die kahlen Wipfel des Inselwaldes, und man konnte viel weiter sehen als im Sommer, wenn die Bäume und Büsche voller Blätter waren. Leichte Wellen rollten an den kleinen Sandstrand gleich neben dem Bootssteg und hinterließen glasklare Blasen.
Sie stiegen den kleinen Weg vom Steg zu Fridas Haus mit dem alten Lotsenturm hinauf, und eine Krähe flog ihnen krächzend voraus. Der Kater fauchte, und Julia ließ ihn aus dem Tragekäfig. Schnell wie ein Pfeil verschwand er mit einem »Mjiaaaa!« in Fridas Garten. Die Kinder lachten.
»Ihr werdet euch ein bisschen umstellen müssen«, sagte Frida. »Die Zimmer oben im Turm sind schon zu kalt, nicht wahr. Ich hab euch unten im Erdgeschoss Matratzen hingelegt, da gibt es einen ordentlichen Bullerofen, der sollte auch für euch Stadtpflänzchen reichen.«
»Danke, das wird bestimmt gemütlich«, sagte Julia. »Jetzt müssten wir nur noch Hummel das Schnarchen abgewöhnen.«
Als sie die knarrende Tür zum Lotsenturm aufmachten, schlug ihnen schon die Wärme entgegen. Frida hatte seit dem Morgen ordentlich eingeheizt. Außerdem hatte sie einen großen alten Schrank so in die Mitte des Raumes gerückt, dass zwei fast separate Zimmer entstanden.
»Die Damen nach links, der Herr nach rechts!«, sagte sie fröhlich. »Ins Herrenzimmer hab ich auch Alex eine Matratze und einen Schlafsack hingelegt, damit der arme George sich nicht so allein fühlt, nicht wahr.« Sie zögerte kurz, dann fuhr sie fort: »Wenn ihr mich fragt, fehlt trotzdem was.«
»Sehr sogar!«, sagte Hummel mit einem traurigen Blick auf Alex’ Matratze.
Auf den anderen Matratzen lagen außer Schlafsäcken noch dicke flauschige Extradecken, und Julia und George räumten auch ihr Gepäck dazu. Nur Hummel setzte ihren Rucksack erst mal mit einem ordentlichen Bums auf dem Boden ab.
»Jetzt sag schon, was du da drinhast, Hummel!«, sagte George. »Noch einen eisernen Bullerofen?«
»Ich hab sie auch schon gefragt, aber sie will’s nicht sagen«, sagte Julia. »Sie wollte nicht mal, dass ich ihr tragen helfe, und das sieht ihr echt nicht ähnlich. – Los, Hummel, gib’s schon zu: Es sind zehn Familiengläser Nuss-Nougat-Creme!«
Frida öffnete die Ofentür und legte Holz nach. Hummel sagte nichts.
»So, jetzt gehen wir rüber ins Haus und machen uns was zu essen!«, verkündete Frida. »Ich hätte Instant-Nudeln und Dickmilch anzubieten, und im Vorratskeller müsste noch eine Dose Ölsardinen sein.«
Die Kinder seufzten, obwohl sie wussten, dass Frida mit Kochen nichts am Hut hatte.
»Gebt ihr jetzt zu, dass Alex fehlt?«, fragte Hummel, obwohl das niemand bestritten hatte, und Julia und George nickten. Instant-Nudeln und Dickmilch statt Alex’ französische Leckerbissen, das war schon ein hartes Los.
Sie gingen hinüber ins Haus und setzten sich an den Tisch in der Küche. Frida brachte einen Becher Dickmilch und eine Schüssel kalte Makkaroni in pampiger Käsesoße. Der Einfachheit halber hatte sie das Schnellgericht schon morgens vorgekocht. Die Ketchup-Flasche war leider leer.
Sie stocherten lustlos im Nudelpamp und löffelten kalte Dickmilch dazu. Frida hatte ihnen noch nahrhafte Haferflocken darübergestreut.
Julia schüttelte es bei jedem Bissen, und Frida schien über etwas nachzudenken.
Draußen wurde es schon dunkel.
»Schön, ich weiß, dass ich keine Sterneköchin bin«, sagte Frida schließlich. »Aber dafür kann ich die besten Spukgeschichten erzählen. Wollt ihr eine hören?«
Die Kinder nickten. Hauptsache, sie konnten das Essen so schnell wie möglich wieder vergessen.
»Es war ungefähr vor hundert Jahren«, begann Frida, »da gab es in Östhamn einen Fischer, der eines Tages aufs Meer hinausfuhr und nicht mehr wiederkam. Er war abends hinausgefahren, weil er Aale stechen wollte …«
»Wieso wollte der die stechen? Hatte der was gegen Aale?«, krähte Hummel dazwischen, was aber niemanden wunderte, weil Dazwischenkrähen eine Spezialität von ihr war.
»So hat man früher Aale gefangen«, erklärte Frida geduldig. »Man ist nachts rausgefahren und hat mit einer Laterne ins Wasser geleuchtet. Das hat die Aale angelockt, und wenn sie nach oben gekommen sind, hat man sie mit einer Art Dreizack aufgespießt. ›Stecheisen‹ haben die Fischer dazu gesagt.«
»Die haben die armen Tiere angelockt und dann aufgespießt?« Hummel war empört. »Die haben Tiere getötet, nur weil sie ein bisschen neugierig waren? Das ist ja oberfies, so was hab ich ja im ganzen Leben …«
»Jetzt sei doch mal still, Hummel!«, sagte Julia ungeduldig. »Darum geht’s doch in der Geschichte gar nicht, stimmt’s, Tante Frida?«
»Nein«, sagte Frida lächelnd. »In der Geschichte geht es darum, dass der Fischer nicht zurückgekommen ist. In der Nacht gab es einen schlimmen Sturm, und am Morgen danach ging man den Fischer suchen, weil man hoffte, dass er nicht ertrunken und vielleicht nur irgendwo gestrandet war. Aber alles, was man fand, war sein Boot, das vom Meer aufs Land zutrieb.«
George, der immer noch hungrig und darum schlecht gelaunt war, ging die Geschichte offenbar nicht schnell genug. Jedenfalls murmelte er so laut, dass es die anderen hören konnten: »Und wann kommt jetzt der Spuk?«
»Genau jetzt!«, sagte Frida. »Weil das Boot nämlich nicht leer war. Auf dem Boden im Boot lag ein Skelett, und drum herum wimmelte es nur so von glitschigen Aalen. Ein paar von ihnen schlängelten sich sogar zwischen den Rippen …«
Julia hielt sich die Ohren zu. »Das ist ja eklig!«, sagte sie. »Hör auf, ich will so was nicht hören!«
Aber George wollte es.
»Was war passiert?«, fragte er. »War das Skelett … war es der Fischer?«
Frida nickte.
»Aale, nicht wahr …«, murmelte sie.
»Aber er hat angefangen!«, krähte Hummel. »Er wollte die Aale töten, also haben sie sich gerächt.«
Sie klang immer noch empört, nur war sie inzwischen ein bisschen blass um die Nase.
»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte Frida. »Es heißt, dass man seitdem immer mal wieder einen Lichtschein auf dem Wasser sieht und dass es der Geisterfischer ist, der dort auf ewig mit seinem Boot unterwegs sein muss, um Aale zu stechen. Einmal soll ein ahnungsloser Fischer hingerudert sein, weil er dachte, es sei ein Kollege, aber als er näher kam, drehte sich die Gestalt im anderen Boot um, und es war ein Skelett mit Aalen, die sich aus seinen Augenhöhlen schlängelten …«
Genau da nahm Julia die Hände von den Ohren und zeigte mit zitterndem Zeigefinger zum Fenster.
»Da …«
»Du hörst doch gar nicht zu, wieso zitterst du dann rum?«, wollte Hummel wissen.
»Da … da draußen ist was«, stammelte Julia.
»Pah! Höchstens Krähen«, sagte Hummel.
»Nein! Ich dachte, ich hätte … Tante Frida, ist auf der Insel noch jemand außer uns?«, fragte Julia.
»Nein«, sagte Frida. »Außer Gervir natürlich. Was denkst du denn, was es war, was du gesehen hast?«
Gervir war ein Pferd, das bei Frida in Pflege war und das frei über die Insel streifen durfte.
»Auf jeden Fall kein Pferd! Es war … was Weißes irgendwie … vielleicht ein …«
»Ein was?«, fragten Hummel und George wie aus einem Mund.
»Ein Gesicht!«, sagte Julia und schüttelte den Kopf, als sähe sie Gespenster und müsste sie schnell wieder vertreiben.
Aller Augen waren jetzt auf das Fenster gerichtet. Draußen war es fast vollkommen dunkel. Nur ein dünner dunkelblauer Streifen Tageslicht schimmerte noch durch den kahlen Inselwald. Oder war da …
Plötzlich gellte ein Schrei aus drei Kinderkehlen durch Fridas Küche im Lotsenhaus.
Ein weißes Gesicht drückte sich draußen gegen die Fensterscheibe und starrte aus dunklen Augenhöhlen herein.
Ein Skelett auf Doppingö
»Niemals!«, sagte Frida und ging entschlossen zur Tür. »Niemals laufen auf meiner Insel Totenschädel frei herum!«
Dann riss sie die Tür auf und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Die Kinder starrten wieder auf das weiße Gesicht im Fenster, das jetzt auch noch Grimassen schnitt. Dann verschwand es so plötzlich, wie es aufgetaucht war, und sie hörten einen erstickten Schrei.
Fast gleichzeitig kam der Kater zur Tür hereingeschossen, machte fauchend einen Buckel und bauschte den Schwanz.
Als Nächstes hörten die drei drinnen Frida lachen. Sie sausten an dem fauchenden Kater vorbei zur Tür und sahen ihre Tante mitten im Garten einem Skelett auf der Brust sitzen, das sich wand, als wollte es noch nicht zugeben, dass es verloren hatte. Eine weiße Gesichtsmaske lag nicht weit von den beiden entfernt im Gras, und Frida, die immer noch lachte, schüttelte das Skelett erst freundschaftlich an den Schultern und stand dann auf und half ihm auf die Füße.
»Das … das … das ist ALEX!«, schrie Hummel und rannte los, um ihrem Lieblingscousin um den Hals zu fallen. »Wie … was … wo kommst du denn her? Und warum hast du dich denn als Skelett verkleidet?«
Tatsächlich trug der unverhoffte Gast einen schwarzen Ganzkörperanzug, auf den ein weißes Skelett aufgemalt war.
»Isch wollte einen kleinen Jux machen«, sagte Alex. »Weil doch übermorgen ’alloween ist. Oder wie sagt ihr dazu?«
»Genauso, nur mit H vorne«, sagte Julia und zwinkerte ihm zu.
Alex sprach mit dem niedlichen französischen Akzent, den man bei ihm nur hörte, wenn er aufgeregt war. Als Hummel ihn losließ, rieb er sich den Nacken.
»Mon dieu, Tante Frida!«, stöhnte er. »Doppingö ist ganz schön gefährlisch! Das war gerade fast so schlimm wie damals, als ’ummel misch mit dem Krocketschläger geschlagen ’at!«1
»Selber schuld«, lachte Julia. »Und jetzt komm rein und erzähl, wie du so still und heimlich auf die Insel kommst!«
»Reine Glückssache!«, sagte Alex, als sie alle zusammen drinnen um den Tisch saßen. »Mein Bus muss gleich nach eurem angekommen sein, und als ich auf gut Glück zum Hafen runtergegangen bin, hat dort gerade Taximax angelegt und erzählt, dass er euch schon gefahren hat, aber mich gern auch noch zur Insel bringt.«
Alex’ Akzent war schon wie weggeblasen. Hummel saß neben ihm und hatte sich seine Hand gegriffen. Ihre Augen strahlten.
»Frag ihn doch, ob du auf seinen Schoß darfst!«, frotzelte George.
»Wo ich sitze, kann dir doch wohl piepegal sein!«, sagte Hummel patzig.
»Und wieso bist du überhaupt hier? In Schweden, meine ich. Habt ihr in Frankreich auch Herbstferien?«, wandte sich George lachend Alex zu.
»Das Schiff, auf dem Mama und Papa gerade kochen, liegt für eine Woche in Kopenhagen, weil irgendwas repariert werden muss«, erzählte Alex, dessen Eltern beide Köche waren und öfter auf Schiffen arbeiteten. »Mama wusste von Hummels und Julias Mama, dass ihr die Ferien über hier seid, da durfte ich bis nach Kopenhagen mit, und von dort hab ich den Bus genommen. Klar haben wir in Frankreich auch Herbstferien, und na ja – es sollte eine Überraschung werden.«
»Das ist es auch«, sagte Hummel verträumt.
»Ich wusste gar nicht, dass ihr in Frankreich auch in Halloween-Kostümen herumlauft«, sagte Julia.
»Wir gehen sogar von Haus zu Haus und sammeln Süßigkeiten«, sagte Alex. »Wahrscheinlich macht man das inzwischen überall auf der Welt. Außer vielleicht dort, wo’s zu gefährlich ist«, fuhr er mit einem Seitenblick auf seine Tante fort.