Stig Ericson

Kleiner Wolf und die Sprechenden Zeichen

Aus dem Schwedischen von
Marianne Vittinghoff

Illustriert von Gertraud Funke

Saga

Grauer Vogel

Es war ein dunkler Abend im ersten Wintermonat.

Der Kältemacher, der Herr über Schnee und Winde, hatte seinen kalten weißen Mantel über die Ebene ausgebreitet – und über das Lager von Häuptling Schwarzer Adler am Birkenbach.

In einem der vielen Zelte saß ein Junge, der Kleiner Wolf hieß, und kaute an einem Stückchen zähen Fleisches. Das Fleisch stammte von den gefleckten Büffeln der Weißen, den übelriechenden Tieren, die Rinder genannt wurden.

Kleiner Wolf hatte sich immer noch nicht an den süßlichen Geschmack gewöhnt, obwohl die Zelte schon seit dem Monat des Grünen Grases am Birkenbach aufgeschlagen waren.

So lange hatte das Volk von Schwarzer Adler noch nie an ein und demselben Ort gewohnt. Kleiner Wolf kaute lange, bevor er schluckte.

Er sehnte sich nach echtem Büffelfleisch.

Er sehnte sich fort von diesem Gebiet, das die Weißen Reservat nannten.

Und er verspürte eine große Unruhe vor dem, was ihn erwartete.

Nichts war mehr wie früher.

Selten hörte man Gesang und Gelächter und das fröhliche Geräusch der Trommeln.

Der Zeltzipfel wurde zurückgeschlagen, und ein kleines Mädchen huschte herein. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, und Blut rann an ihren schmalen Fingern herunter.

Ohne etwas zu sagen, kauerte sich das Mädchen dicht an Sanftes Reh, der Mutter von Kleiner Wolf. Ihr magerer Körper bebte.

Das Mädchen hieß Grauer Vogel. Sanftes Reh war ihre Tante.

Sanftes Reh streichelte dem Mädchen sanft über das Haar und summte dabei leise ein Lied des Volkes. „Was ist geschehen?“ fragte sie dann.


Grauer Vogel hörte auf zu schluchzen. Sie nahm die Hand vom Mund und schaute Sanftes Reh kurz an. Dann schüttelte sie den Kopf und versteckte ihr Gesicht.

Kleiner Wolf hatte aber schon gesehen, daß ihre Unterlippe gespalten war, und er ahnte, was passiert war.

Der Vater von Grauer Vogel hatte bestimmt vom Wasser des weißen Mannes getrunken. Immer mehr Männer im Lager von Schwarzer Adler hatten damit angefangen. Sie verkauften sogar ihre Pferde und Waffen, um dieses Geister-Wasser zu bekommen.

Dieses Getränk spendete böse Träume. Es brachte Menschen dazu, ihren Verstand zu verlieren. Sie stritten und prügelten sich.

Sie wurden krank.

Ja, sie schlugen sogar ihre Kinder – wie es der Vater von Grauer Vogel bestimmt getan hatte.

Kleiner Wolf hatte schreckliche Geschichten darüber gehört, wie die Weißen ihre Kinder straften, indem sie sie verprügelten oder sie an den Haaren zogen. Daß aber einer aus seinem eigenen Volk zu so etwas fähig war, das konnte er nur schwer verstehen.

Nach einer Weile kam die Mutter von Grauer Vogel in das Zelt. Ihre Kleider waren über der Brust zerrissen. Die eine Wange war geschwollen, und ihre Augen glänzten.

„Komm jetzt!“ sagte sie leise zu ihrer Tochter. Grauer Vogel schaute sie mit großen, verängstigten, vom Weinen geröteten Augen an.

Ihre Mutter versuchte zu lächeln. „Du brauchst keine Angst zu haben, mein Herz“, sagte sie. „Er ist jetzt eingeschlafen.“

Behutsam zog sie das Mädchen an sich und verließ das Zelt.


Kleiner Wolf starrte auf das Fell, das den Eingang bedeckte.

Der Wind aus der Ebene brachte es in Bewegung, als ob jemand da von draußen in die Wärme und ans Feuer hineinwollte.

Er dachte an Grauer Vogel – und an das, was ihn, Kleiner Wolf, erwartete.

In seinen Gedanken lauerte ein großer dunkler Wolf mit Augen, die in der Finsternis zu leuchten schienen.