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Katherine Heinys Kurzgeschichten sind im New Yorker, in Ploughshares, Narrative, Glimmer Train und vielen anderen Zeitschriften erschienen. Sie lebt in Washington D.C. mit ihrem Mann und ihren Kindern. Das ist ihr erstes Buch.
Für meine Mutter,
aus viel mehr Gründen, als ich sagen kann
And you don’t feel you could love me
But I feel you could.
Paul Simon
Stellen Sie sich vor, Sasha sitzt an einem heißen Sommernachmittag allein und nichtsahnend in ihrer Wohnung, als plötzlich das Telefon klingelt. Sie nimmt ab, und eine Frau sagt: »Hier ist Anne.«
»Wer?«, fragt Sasha.
»Ich denke, Sie wissen, wer ich bin«, sagt Anne.
»Nein.« Sasha stellt sich nicht absichtlich dumm, sie weiß es wirklich nicht. Sie versucht sich alle möglichen Annes in den Sinn zu rufen, deren Stimmen sie kennen sollte. War sie verabredet und hat es vergessen? Ist das die Eigentümerin der Kamera, die sie letzten Monat in einem Taxi gefunden und behalten hat –?
»Ich bin Carsons Frau«, sagt Anne.
Sasha sagt: »Oh!« Und selbst wenn sie von jetzt bis in alle Ewigkeit herumgesessen und alle paar Sekunden Oh! gesagt hätte – niemals wieder wäre es ihr gelungen, so viel Bedeutung und Überraschung in dieses Wort zu legen.
»Ich finde, wir sollten was trinken gehen«, sagt Anne. Und, um Dr. Seuss zu zitieren, Sasha weiß nicht, was sie dazu sagen soll. Sollte sie sich mit ihr treffen? Oder es besser sein lassen? Wie verhält man sich in einer solchen Situation? Was würden Sie denn tun, wenn die Frau Ihres Liebhabers Sie anruft?
Nach dem Anruf ist Sasha zu aufgewühlt, um zu Hause zu bleiben, also ruft sie ihre Mitbewohnerin Monique bei der Arbeit an. Monique wollte gerade aufbrechen. Sie vereinbaren, dass Sasha den Broadway von der 106. Straße runter nach Süden und Monique den Broadway von der 36. Straße hoch nach Norden gehen wird. In dem Laden, vor dem sie sich treffen, werden sie was trinken.
Weil Sasha nervös ist, geht sie schneller als Monique, und sie treffen sich vor einem Taco Tico an der 46. Straße, mogeln dann aber ein wenig und gehen in das Irish Pub nebenan.
»Wow«, sagt Monique, als Sasha ihr von Annes Anruf erzählt. »Es muss ganz schön erniedrigend für sie gewesen sein, dass du gar nicht wusstest, wer sie ist.«
Sasha runzelt die Stirn. Sollte Monique bei dieser Geschichte nicht auf ihrer Seite sein? Abgesehen davon war es ja nicht so, dass sie einfach Annes Namen vergessen hat, Carson sprach ihn nur einfach nie aus. Er redete immer nur von meiner Frau. Ich muss nach Hause, meine Frau wartet auf mich. Lass mich noch kurz meine Frau anrufen, ich muss ihr sagen, dass ich später komme.
»Und woher kannte sie deinen Namen?«, fragt Monique.
»Ich schätze, Carson hat ihn ihr gesagt, als er ihr von mir erzählt hat.«
»Und wann triffst du sie?«
»Nächsten Mittwoch.«
Monique sieht sie verblüfft an. »Das ist noch ganz schön lange hin.«
»Finde ich auch«, sagt Sasha. »Aber sie war am Telefon ganz businessmäßig, hat offenbar in ihrem Kalender geblättert und gemeint: ›Nun, mal sehen, wann ich das reinquetschen kann‹, und nächsten Mittwoch war dann wohl der erste mögliche Termin.«
»Meinst du, sie will dich umbringen?«, fragt Monique und leert ihr Bier.
»Nein, wir treffen uns in einer Bar an der Ecke Amsterdam und 99. Straße«, erklärt Sasha. »Sie lockt mich ja nicht in irgendeine düstere Unterführung.«
»Ich will gar nicht das Thema wechseln«, sagt Monique, kramt in ihrer Tasche und zieht eine Broschüre raus. »Aber kommst du morgen mit mir zu diesem Singles-in-the-City-Ding? Wir sanieren ein altes Stadthaus für eine bedürftige Familie.«
»Ich dachte, du bist donnerstags jetzt immer bei diesem Singles-gehen-einkaufen-Termin«, sagt Sasha.
»Ja, bis letzten Donnerstag!«, entgegnet Monique einigermaßen echauffiert. »Da hatte ich in der Kassenschlange ein total intensives Gespräch mit einem Mann, und es stellte sich heraus, dass er für diese Schwulenorganisation Lambda Legal arbeitet und nur da war, weil er Zeug für seinen Salat brauchte.«
»An diesen Abenden sollten sie wirklich nicht jeden reinlassen«, sagt Sasha.
»Also kommst du mit?«, bittet Monique. »Obwohl … jetzt, wo Carson seine Frau verlassen hat, bist du ja vielleicht gar nicht mehr Single.«
Das klang fast wie eine Beleidigung und ziemlich negativ, also sagt Sasha: »Mal sehen.«
Nach dem Treffen mit Monique nimmt Sasha die U-Bahn zu Carsons Club, wo er seit zwei Wochen wohnt. Sasha liebt diesen Club – seine fadenscheinige Pracht, die Art, wie das Personal mit ihr flirtet, die maskulin eingerichteten Räume. Sie hätte nichts dagegen, wenn er für immer dort wohnen bliebe.
Zufällig trifft sie Carson in der Lobby, wo er gerade seine Post abholt. Im Aufzug erzählt sie ihm von dem Anruf.
Er sieht schockiert aus. »Sie hat dich angerufen?«
»Ja, und sie will mit mir was trinken gehen.«
»Also, ich finde nicht, dass du hingehen solltest«, sagt Carson. »Betrunken ist sie nicht besonders nett.«
Der Aufzug hält an, und andere Leute steigen ein, also muss Sasha diese Information erst mal schweigend verdauen. Anne ist betrunken nicht besonders nett. Das kann sie zu den einzigen beiden Informationen hinzufügen, die Carson je über Anne preisgegeben hat, dass sie nämlich als Verwalterin einer gemeinnützigen Stiftung für Obdachlose arbeitet und dass es ihn wahnsinnig macht, dass sie nie die Fussel aus dem Trocknerfilter holt. Sasha fragt sich, ob es ein Charakterfehler ist, dass sie in Bezug auf Anne nie neugieriger war. Hätte sie nicht brennend interessiert, von Eifersucht zerfressen sein oder ihnen bei einem gemeinsamen Abendessen unauffällig folgen müssen?
Als sie in Carsons Zimmer sind, fragt sie: »Was heißt das, sie ist betrunken nicht besonders nett?«
Carson blättert durch seine Post. »Sie wiederholt sich einfach ständig. Aber das tut sie auch nüchtern.«
Noch mehr Informationen! Vielleicht hätte Sasha schon früher mal nachfragen sollen. »Aber warum, denkst du, will sie mich treffen? Will sie mich umbringen?«
»Ha«, schnaubt Carson und wirft die Post auf den Schreibtisch. »Kann sein, dass sie dich zu Tode langweilt, aber abgesehen davon droht keine Gefahr.«
Die Tatsache, dass Carson Anne so unglaublich langweilig findet, schockiert Sasha ein bisschen. Sie hatte immer den Eindruck, dass Carson sich für alles interessiert. Man konnte ihm Geschichten erzählen ohne irgendwelche spannenden Höhepunkte, wie zum Beispiel, dass der Mann in der Bodega kanadisches Geld rausgegeben hat, und Carson fragte dann so was wie: »Echt? Welche Bodega war es?« (Das war Sasha letzte Woche tatsächlich passiert. Sie hatte die Münzen in ihr Portemonnaie getan und mehrfach versehentlich versucht, damit zu bezahlen, weshalb sie sich in ganz Manhattan von Straßenverkäufern hatte anschreien lassen müssen.) Die Vorstellung, dass Carson von irgendjemandem gelangweilt sein könnte, und das auch noch von jemandem, der ihn vielleicht sogar liebte, war verstörend.
»Und warum hast du ihr meinen Namen gesagt?«, will Sasha wissen.
»Weil sie gefragt hat«, erklärt Carson. »An dem Abend, als ich ihr gesagt habe, dass ich eine Affäre habe. Sie sagte: ›Erzähl mir von ihr, ich will wissen, wer dir so wichtig ist.‹«
Sasha sagt nichts. Carson hat seiner Frau vor zwei Wochen von der Affäre erzählt. Eigentlich hatte er das nicht vorgehabt, aber sie hatten über ihre Ehe gesprochen, und Anne war wahnsinnig nett und einfühlsam gewesen und hatte gemeint, er könne ihr ruhig sagen, wenn es jemand anderen gebe, und dass sie es verstehen würde. Seitdem habe sie »ihre Haltung geändert«, hatte er etwas kryptisch berichtet. Allein bei dem Gedanken daran fällt es Sasha schwer, nicht den Kopf zu schütteln angesichts der allumfassenden männlichen Blödheit.
Sasha und Carson gehen zum Abendessen aus wie ein verheiratetes Paar. Na ja, vielleicht nicht ganz wie ein Ehepaar, aber zumindest wie ein richtiges Paar, dem egal ist, ob es gesehen wird. Beim Abendessen fragt er nach dem Buch, an dem Sasha gerade schreibt, und plötzlich hat Sasha Angst, ihn damit zu langweilen. Sollte sie über Syrien sprechen oder über die Erderwärmung?
Ohnehin ist es nur Carson zu verdanken, dass Sasha überhaupt ein Buch schreibt. Er war es, der sie dazu ermutigt hatte, als ein Lektor wegen eines Jugendbuchs auf sie zugekommen war. Und er hatte sie bestärkt, dass es doch egal sei, ob es sich dabei um ein Jugendbuch handele, immerhin könne sie dann vom Schreiben leben. Er hatte ihr zwei Dutzend lachsfarbene Rosen geschickt an dem Wochenende, an dem sie zwei Dutzend Jugendromane hatte lesen müssen, um dann einen Folgeroman zu schreiben. (Sie hatte es tatsächlich geschafft, fand aber, dass sie danach nie wieder ganz die Alte war.) Und jetzt hat Sasha, die vorher nie einen richtigen Job hatte, plötzlich eine Art Karriere, bekommt Verträge für vier Bücher auf einmal angeboten, kann den ganzen Tag zu Hause im Pyjama rumhängen und liebt ihre Arbeit sehr. Zudem hat sich herausgestellt, dass Carson außergewöhnlich begabt darin ist, komplizierte Handlungsprobleme zu lösen. Der einzige Mensch, der das noch besser kann, ist Monique, aber die ist immer beleidigt, wenn Sasha ihre Ideen nicht verwendet. Carson dagegen scheint das nichts auszumachen. Er kann ein Dutzend mögliche Auflösungen herunterspulen, und es ist ihm egal, wenn sie alle ablehnt.
Also erzählt sie ihm, dass alle Figuren des Romans auf einer Insel leben und sie einen Weg finden muss, warum sie die letzte Fähre nach Hause verpassen, und darüber sprechen sie dann bis zum Dessert.
Dann gehen sie zurück in Carsons Zimmer und machen sich bettfertig, putzen gemeinsam Zähne (wieder so ein Ehe-Ding!), und Carson spuckt ins Waschbecken aus und sagt: »Ich gehe morgen auf Wohnungssuche und dachte, du könntest mich vielleicht begleiten.«
»Ich muss zu diesem ehrenamtlichen Ding mit Monique«, sagt Sasha spontan. »Ich hab’s ihr versprochen.«
Sasha und Monique haben sich im Stadthaus zur Singles-in-the-City-Veranstaltung eingefunden, gemeinsam mit ungefähr dreißig anderen Leuten. Ein gereizter rothaariger kleiner Mann namens Willie leitet die Renovierungen. Sasha kann seine schlechte Laune sehr gut nachvollziehen – er muss einen Haufen Freiwillige anleiten, die alle viel mehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig abzuchecken, als sich an die Arbeit zu machen. Die bedürftige Familie, die hier einziehen soll, tut ihr schon fast leid, wenn sie sich vorstellt, wie dilettantisch ihr neues Heim saniert wird.
Willie weist jedem einen Partner des anderen Geschlechts zu und verteilt die Aufgaben. Sashas Partner ist ein großer, blonder Typ namens Justin. Sie sollen gemeinsam die Tapete im Wohnzimmer abziehen. Alle Viertelstunde bläst Willie in seine Pfeife, und man kann wechseln, falls einem die Aufgabe (oder vielmehr der Partner, wie Sasha vermutet) nicht zusagt.
Sasha und Justin sprechen kaum miteinander und machen einfach mit ihrer Aufgabe weiter. Selbst nach dem vierten Pfiff arbeiten sie noch zusammen. Aber als sie schließlich eine Pause machen und zum Wasserspender gehen, sieht Justin sie einen Augenblick lang an, und Sasha weiß plötzlich, ein jahrelang geschulter Instinkt, dass er ihr von seiner Freundin erzählen oder sie nach ihrer Telefonnummer fragen wird. Oder beides.
Und tatsächlich sagt Justin mit gesenkter Stimme: »Ich muss dir was gestehen – ich bin nämlich gar nicht wirklich single. Ich bin nur hier, weil mein Freund Paul nicht alleine kommen wollte.«
»Ich auch«, sagt Sasha. Hoffentlich führt das jetzt nicht zu einer langen Diskussion über ihre jeweiligen Beziehungen.
Aber Justin erwähnt seine Freundin nicht mehr, sondern sagt: »Ich überlege, ob ich mir nicht auch mal ein paar Singles in die Wohnung holen soll. Da gibt es einiges zu reparieren und noch viel anderes Zeug.«
»Ich brauche eigentlich nur eine neue Tür«, erwidert Sasha, »oder vielmehr ein neues Schloss. Vor ein paar Wochen haben wir nämlich den Herd nicht ausgemacht, und die Feuerwehr musste bei uns einbrechen. Dabei ist das Schloss kaputtgegangen, und wenn wir das nicht irgendwann reparieren lassen, zieht der Vermieter es von der Kaution ab.«
»Dann dürftest du aber eigentlich nur Schlosser-Singles einladen«, sagt Justin.
»Alle anderen könnten sich’s ja gemütlich machen und Bier trinken.«
Und da fällt ihr plötzlich auf, dass sie mit diesem Mann flirtet, und sie hält inne. Warum sollte sie mit ihm flirten? Sie mag ihn nicht mal wirklich. Wer ist das überhaupt? Jedenfalls nicht Carson.
Als sie sich eine Stunde später verabschieden, stellt Justin Monique seinen Freund Paul vor. In einem Alternativuniversum würden Paul und Monique sich vielleicht ineinander verlieben, in diesem aber schmunzelt Paul bloß und sagt: »Ja, ich kenne dich. Du hast doch schon angefangen, die Wand zu streichen, bevor wir grundiert haben.«
Und Monique reagiert genervt und sagt: »Na ja, immerhin habe ich nicht –«
Aber sie erfahren nicht mehr, was sie nicht getan hat, weil im selben Moment über ihnen irgendwas auf den Boden kracht, gefolgt von Willies lautem Fluchen.
Justin streckt Sasha seine Hand hin. »Vielleicht gebe ich dir einfach meine Nummer, nur für den Fall, dass diese Schlosser-Party wirklich stattfindet«, sagt er.
»Nur für Singles – schon vergessen?«, sagt sie und schüttelt trotzdem seine Hand.
Monique und sie gehen raus in die brütende Augusthitze, und Sasha muss wie jedes Mal, wenn Telefonnummern getauscht oder fast getauscht werden, daran denken, wie Monique sich einmal nach einer Party mit einem Mann ein Taxi geteilt hat. Sie hatte auf ihre Visitenkarte Ich würde dich sehr gern wiedersehen geschrieben und ihm die Karte mit ihrem Teil des Fahrgelds zugesteckt. Der Mann hat sich nie gemeldet, dafür aber der Taxifahrer. Das ist eine von Sashas liebsten Erinnerungen, und sie lacht laut auf, als sie die Stufen des Stadthauses runtergehen.
Sasha und Monique beschließen, dass es zu heiß ist für ihre unklimatisierte Wohnung, also gehen sie in die Stadt und sehen sich zwei Filme nacheinander an. Dazu essen sie eine große Portion Popcorn und fast eine ganze Packung Malteser.
Dann spazieren sie in der Abendhitze sehr langsam nach Norden, gehen in die Bar gegenüber von ihrer Wohnung und trinken Sea Breezers. Nach dem ersten Sea Breezer sagt der Mann neben Sasha, dass der Mann neben ihm wohl ein betrunkener Erntehelfer aus dem Ausland ist und alle auf Drinks einlädt. Faszinierend, findet Sasha: Es gibt Erntehelfer in New York? Was genau wird denn da geerntet? Aber der Erntehelfer – wenn er denn wirklich einer ist – spricht kein Englisch und bedeutet Sasha und Monique lediglich mit Gesten, dass sie mehr Drinks bestellen sollen, was sie dann auch tun. Er zahlt, und Sasha hat deswegen ein schlechtes Gewissen, aber kein allzu großes.
Nach dem fünften Sea Breezer (sie zählen mit, indem sie die Strohhalme zu Dreiecken knicken und in das Abtropfgitter am Tresen stecken) lächelt ein Mann Monique an, und sie lächelt zurück. Aber dann überkommt sie die schreckliche Erkenntnis, dass der Typ bei Broadway Bagel arbeitet. Darauf diskutieren Sasha und Monique lange, ob sie Snobs sind, weil sie nichts mit ihm zu tun haben wollen, und ob es was anderes wäre, wenn er, sagen wir mal, zehn Zentimeter größer wäre, und ob Monique mit ihm sprechen müsste, wenn er rüberkäme, weil sie ja schließlich zurückgelächelt hat, und ob sie jetzt nie wieder zu Broadway Bagel gehen können? (Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Vielleicht.)
Aber dann nimmt die ganze Sache an Fahrt auf, sie trinken weiter und nerven die anderen schrecklich, weil sie fünfmal hintereinander Rescue Me in der Jukebox laufen lassen. Irgendwann gehen sie nach Hause, und Monique übergibt sich in den Mülleimer in der Lobby, fühlt sich danach aber ein bisschen besser. Anders als Sasha. Die muss sich in ihr schwankendes Bett legen, während der Ventilator am Fenster auf Hochtouren läuft und sie voll anbläst, was sich anfühlt, als würde sie unter dem Rotor eines Hubschraubers liegen, der gerade abhebt. Aber sie ist zu betrunken, um aufzustehen und ihn runterzudrehen, und eigentlich war das doch wirklich ein super Tag, ein super Abend, ziemlich perfekt.
Oh, es gibt so vieles, was ein richtiges Paar tun kann! Sie können sich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Sie können zum Brunch gehen, was Sasha und Carson am Sonntagmorgen tun, sobald Sashas Kater so weit nachgelassen hat, dass sie sich wieder bewegen kann. Irgendwie kam Brunchen nie in Frage, als sie noch eine Affäre hatten – es passte nicht in den Tagesablauf. Sasha muss jetzt nicht mehr ewig überlegen, ob sie ihre neue weiße Spitzenbluse anziehen soll, denn wenn Carson sie heute nicht sieht, dann sieht er sie eben morgen oder übermorgen.
Sie können zusammen in einen Buchladen gehen, sie können die Lexington Avenue hochspazieren, zu Starbucks gehen und bei Carsons Club noch eine Aspirin gegen Sashas Kopfschmerzen holen, einen Freund von Carson auf ein paar Drinks treffen, und die Drinks helfen sogar noch besser gegen Sashas Kater als das Aspirin. Der Freund ist ein Arbeitskollege von Carson und eigentlich ganz nett, aber als sie über die Hitze sprechen, sagt er: »Stellt euch mal vor, wie das wäre, wenn man keine Klimaanlage hätte.«
»Bei mir gibt es keine Klimaanlage«, erwidert Sasha. »Ich hab noch nie eine gehabt.«
Der Mann starrt sie einen Augenblick lang an, und Sasha fragt sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm erzählen würde, dass es, neben der fehlenden Klimaanlage, in ihrem Wohnhaus ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass die Nachbarn abwechselnd Budweiser für Mrs Misner aus der 3C kaufen, damit sie nicht zu aggressiv wird und alle Besucher anbrüllt.
Richtige Paare müssen sich nicht entscheiden, ob sie Sex haben oder zum Essen gehen. Nach dem Sex und beim Essen können sie Urlaubspläne schmieden, und Sasha kann ein Nachthemd und eine Zahnbürste bei Carson im Club lassen. Vorher musste all ihr Zeug in eine abschließbare Schublade in seinem Büro passen. Sie können die Nacht zusammen verbringen, sogar zwei Nächte. Zeit war immer ihr kostbarstes Gut – davon haben sie jetzt mehr als genug.
Aber sie verbringen die zweite Nacht nicht miteinander. Als Carson nach dem Grund fragt, ist Sasha plötzlich zu schüchtern, um ihm zu erzählen, dass Monique das erste Date hat mit dem Typen, den sie am Singles-in-the-City-Tag kennengelernt hat. Und dass Sasha Monique nach einem ersten Date auf keinen Fall in eine leere Wohnung heimkehren lassen will, genauso wenig wie sie ein kleines Kind weinend in der Kälte stehenließe. Also sagt sie, dass sie sich ein Manuskript ansehen muss, das sie von ihrem Lektor bekommen hat, und außerdem ihr tägliches Schreibpensum schaffen will, was noch nicht mal gelogen ist.
Sasha fährt wieder nach Hause, stellt ihren Laptop auf den Küchentisch, schaltet den Ventilator ein, macht sich einen Eistee und fängt an zu arbeiten.
Sie tippt noch immer, als Monique in die Wohnung poltert, ihre Tasche auf den Tisch wirft und sagt: »Wenn ich eine Katze wäre, würden meine Ohren jetzt ganz flach anliegen.«
Damit weiß Sasha alles, was sie über das Date wissen muss, und außerdem bringt es sie so sehr zum Lachen, dass sie etwas Eistee auf ihre Tastatur spuckt. Sie steht auf, holt sich ein Küchentuch und aus dem Kühlschrank ein Bier für jeden. Dabei wünscht sie sich – nicht zum ersten Mal –, dass man im Leben nicht ständig irgendetwas ausschließen müsste. Permanent muss man sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden, was stets dazu führt, dass man unglücklich ist, weil man nicht zwei Dinge auf einmal haben kann.
Dienstagabend beschließen Sasha und Monique, in die Bar zu gehen, wo Sasha Anne treffen wird, um sie schon mal unter die Lupe zu nehmen. Ein ziemlich schäbiger Laden, selbst für diese Gegend so weit oben an der Amsterdam Avenue, mit schmieriger Holzverkleidung, es riecht unangenehm muffig.
»Wie eklig«, sagt Monique beim Reingehen. »Warum sie dich wohl gerade hier treffen will?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Sasha, aber in ihrem tiefsten Innern hat sie eine ziemlich eindeutige Vermutung. Anne muss diese Bar für Sashas Gegenstück halten, denkt wohl, dass sie Sasha irgendwie entspricht. Wahrscheinlich hat Anne ein paar von ihren Obdachlosen gefragt, wohin sie gehen (oder gehen würden, schließlich gehen Obdachlose ja nicht allzu oft aus).
»Was kann ich euch bringen, Ladys?«, fragt der Barkeeper und erschreckt Sasha, denn sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Er ist groß, furchtbar dünn und steht im Dämmerlicht, sodass er kaum zu sehen ist.
Sie gehen zum Tresen, aber er winkt sie zurück und sagt: »Setzt euch! Ich bringe euch die Drinks! Was hättet ihr denn gern?«
Beide bestellen Corona und setzen sich an den Tisch (es gibt nur einen) mit zerkratzter Tischplatte; bei Moniques Stuhl ist ein Bein kürzer als die anderen, und sie sitzt irgendwie leicht schief.
»Iiih, er steckt die Limetten mit den Fingern in unser Bier«, flüstert Monique.
»Nicht weiter schlimm«, entgegnet Sasha. »Der Alkohol tötet doch die Bakterien.« (Oder?)
Der Barkeeper kommt mit den Bieren zu ihnen rübergeeilt. Dafür, dass er so eine dürre Erscheinung ist, hat er erstaunlich viel Energie. »Hier, bitte, ihr zwei Hübschen«, sagt er und zieht sich wieder hinter den Tresen zurück, von wo aus er sie beobachtet. Er sieht aus wie ein lebendiges Skelett.
»Hat Carson irgendeine Ahnung, warum Anne dich sehen will?«, fragt Monique.
Sasha schüttelt den Kopf. »Er weiß es auch nicht.«
»Na ja, offenkundig hat sie irgendeinen Plan.« Monique nimmt einen Schluck Bier. »Nur weißt du halt nicht, welchen. Da geht’s dir wie Neville Chamberlain vor dem Münchner Abkommen.«
»Ja, vermutlich«, sagte Sasha, die sich in Geschichte nicht ganz so gut auskennt.
»Vielleicht bittet sie dich ja, ihn gehen zu lassen«, schlägt Monique vor. »Vielleicht sagt sie: ›Ich trete dir in schwesterlicher Verbundenheit gegenüber und bitte dich, ihn mir zurückzugeben‹, oder so.«
»Aber ich kann ihn ja gar nicht zurückgeben, schließlich gehört er mir nicht«, antwortet Sasha etwas verunsichert. »Und abgesehen davon sagt Carson, dass sie sich nicht so benimmt, als wollte sie sich mit ihm versöhnen. Er meint, sie sei sehr kühl.«
»Überraschung! Er hat seit über einem Jahr eine Affäre mit einer 26-jährigen Blondine, und seine Frau ist deswegen etwas kühl.«
Sasha blinzelt. Warum wird sie das Gefühl nicht los, dass Monique sich zu sehr auf Annes Seite schlägt?
»Sag mal, warum gehst du überhaupt hin? Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, dass das keine so gute Idee ist? Du kannst immer noch anrufen und absagen.«
»Ich weiß selbst nicht, warum ich zugesagt habe.« Während des Telefonats hatte das auch gestimmt. Aber jetzt vermutet sie, dass sie zugesagt hat, weil sie es interessant fand. Das Leben war voller schöner Dinge – Buttertoast, kaltes Bier, spannende Bücher, Lagerfeuer, Weihnachtsbeleuchtung, teurer Lippenstift, der Geruch von Vanille – und Sasha keineswegs immun dagegen, aber wie viele Dinge sind denn wirklich so richtig interessant? So faszinierend, dass man einfach nicht die Finger davon lassen kann? Nicht besonders viele, wenn es nach Sasha ginge.
»Und? Was ziehst du an?«, fragt Monique. »Ich glaube, ich an deiner Stelle würde die grüne Bluse und den schwarzen Bleistiftrock anziehen.«
Dass Monique das tun würde, weiß Sasha haargenau. Sie sind gleich groß und gleich schwer und haben sogar die gleiche Haarfarbe, aber alles an Monique ist spitz und kantig, selbst ihre Haare, die sie akkurat zum Kinn hin abgeschrägt trägt. Sashas Haare dagegen sind lang und widerspenstig, und sie hat meistens Jeans und T-Shirt an. Und manchmal, wenn sie dabei ist, ein Buch abzuschließen, trägt sie dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt tagelang, als Glücksbringer.
»Und die ägyptischen Ohrringe natürlich.«
Sasha lächelt. »Natürlich.«
Der Barkeeper, vor dem sich Sasha mittlerweile wirklich gruselt, kommt wieder mit seinem energetischen Gang zu ihnen rüber und bringt ihnen noch zwei Bier. »Die gehen aufs Haus«, sagt er.
Also trinken sie das Bier. Auf einem Schild über der Theke steht, dass es Kartoffelsuppe gibt, und Monique sagt, sie würde sich lieber erschießen, als hier drin was zu essen. Sasha meint, dass das Schild so beunruhigend ist, weil Kartoffel in Anführungszeichen steht, als wären es gar keine echten Kartoffeln, und Monique meint, wahrscheinlich sei das wirklich so. Und so kommen sie auf die neue Schneiderei bei ihnen in der Straße, auf deren Schaufenster steht: Alles, was Sie sich von Ihrem Schneider »wünschen«, und darauf, was diese Anführungszeichen wohl zu bedeuten haben. Das wiederum bringt sie darauf, wie sie in ihre jetzige Wohnung eingezogen sind. Zufällig war einer der Möbelpacker ein Typ, dem Sasha in einer Bar eigentlich ihre Nummer hatte geben wollen, um es sich dann aber in allerletzter Minute anders zu überlegen und einfach irgendwelche Zahlen aufzuschreiben. Das hatte den Umzug noch schrecklicher gemacht, als er eh schon war. Mittlerweile ist das drei Jahre her, aber sie sprachen noch ziemlich oft darüber.
Sasha weiß nicht, wie man solche Gespräche nennt. Es ist kein Smalltalk, und es ist kein richtiger Klatsch, und es ist auch nicht tiefschürfend oder bedeutungsvoll. Falls es ein Wort dafür gibt, kennt Sasha es nicht. Sie weiß nur, dass sie es niemals missen möchte. Nie, nie, nie.
Sasha kommt zwanzig Minuten zu spät zu ihrem Treffen mit Anne, weil sie eigentlich immer zehn Minuten zu spät kommt und weil sie noch zehn Minuten lang nach den ägyptischen Ohrringen gesucht hat.
Also muss sie sich beeilen und fühlt sich verschwitzt und zerknittert, als sie dort ankommt. Auf der Stelle bereut sie, dass sie schon gestern mit Monique hier war, denn der ausgemergelte Barkeeper begrüßt sie mit »Hey, hallo, auch wieder da!«, als wäre sie ein Stammgast.
Anne sitzt am einzigen Tisch (als einziger Gast in der Bar), und obwohl sie auch jemand anders sein könnte, ist Sasha sich ziemlich sicher, dass das Anne ist.
Sie eilt zu ihr und setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagt sie. »Ich hab die Zeit vergessen.«
Anne betrachtet sie kühl. Wahrscheinlich ist sie nicht gerade begeistert, dass Sasha die Zeit vergessen hat vor ihrem großen Treffen. Schließlich sagt sie: »Sie sind jünger, als ich dachte, aber weniger hübsch.«
Sasha wischt sich den Schweiß von der Oberlippe. »Tja, mein ganzes Leben lang wollte ich die kühle, elegante Schönheit sein«, gibt sie zurück, »aber in Wirklichkeit bin ich wohl eher die nette Blondine, mit der viele Männer Sex haben wollten. Obwohl das auch ganz nett war.«
Wenn Anne jetzt schockiert ist, dann nicht mehr als Sasha selbst. (Man stelle sich nur vor, Neville Chamberlain hätte so etwas gesagt!) Sie beschließt, besser nachzudenken, bevor sie den Mund aufmacht. Obwohl sie nicht vorhat, das auszusprechen, geht es ihr mit Anne genau andersrum – sie ist älter, aber hübscher, als Sasha sie sich vorgestellt hat. Anne hat sehr blasse Haut, die seltsamerweise aussieht, als hätte sie überhaupt keine Poren, und einen kurzen schwarzen Bob. Ihre Augen sind blassblau, die Wimpern dunkel. Sie ist eine Schneewittchenschönheit und genau das Gegenteil von Sasha, die ziemlich viele Sommersprossen hat. Anne trägt einen dunkelblauen Hosenanzug und einen teuer aussehenden Seidenschal. Sasha kann keinen Schal tragen, nach einer halben Stunde nimmt sie ihn immer ab und stopft ihn in die Handtasche.
Es folgt langes Schweigen, und dann sagt Anne: »Vielleicht sollten wir eine Flasche Wein bestellen.«
»Ich glaube nicht, dass sie hier Flaschen verkaufen.«
»Dann eben zwei Gläser Wein«, meint Anne.
Sie schauen rüber zum Barkeeper, aber der sitzt hinter dem Tresen, vermeidet jeden Blickkontakt und denkt gar nicht dran, aufzustehen. Das macht er wohl nur zu besonderen Anlässen oder für zwei Frauen Mitte zwanzig.
»Ich nehme Rotwein«, sagt Anne, als wäre Sasha die Kellnerin. Sasha bekommt plötzlich Mitgefühl mit Carson. Ist so ihr gemeinsames Leben gewesen?
Aber es hat wohl keinen Sinn, das jetzt auszudiskutieren, also geht sie zum Tresen und bestellt zwei Gläser vom roten Hauswein beim Barkeeper, der wieder zum Leben erwacht und sagt: »Sehr gern, meine Hübsche!«, und Sasha wünscht sich wirklich, sie wären irgendwo anders hingegangen, egal wohin.
Als sie mit dem Wein an den Tisch zurückkommt, sagt Anne: »Ich habe gehört, Sie waren Empfangsdame, und jetzt sind Sie Autorin.« So, wie sie das sagt, klingt es wie: »Ich habe gehört, Sie waren Junkie, und jetzt sind Sie Prostituierte.«
Sasha hat plötzlich den boshaften Drang, Anne zu erzählen, wie sehr Carson sie beim Schreiben unterstützt, dass er sich, wenn sie ihr Tagespensum noch nicht geschafft hat, einfach ins Wohnzimmer setzt und ihre Modezeitschriften liest oder mit Monique Unsolved Mysteries anschaut, selbst an Abenden, wenn sie nur ein oder zwei Stunden Zeit füreinander haben.
Vielleicht hat Anne ihren Fehltritt bemerkt, denn jetzt sagt sie, schon etwas freundlicher: »Ich habe gehört, Sie schreiben Kinderbücher.«
Darf man hier Carsons Namen nicht aussprechen? Warum sagt Anne immer Ich habe gehört, als hätten Sasha und sie einen großen gemeinsamen Freundeskreis?
»Eigentlich sind es Jugendbücher«, sagt Sasha, »eher was für Teenager.« Vielleicht hat Anne gedacht, Sasha würde Kinderbücher illustrieren, und sich ein großes, freundliches Mädchen vorgestellt, das sich wie Pippi Langstrumpf kleidet.
Dann nimmt das Gespräch eine erstaunliche Wendung. Während sie dieses Glas Wein und ein nächstes (das wieder Sasha holen muss) leeren, reden sie über die Verlagsbranche, das Romanschreiben und darüber, ob man heut überhaupt noch Lyrik braucht. Sasha, die ihren Wein in großen, hastigen Schlucken trinkt, fragt sich, ob sie Anne von der Verlagsparty erzählen soll, bei der sie einem berühmten Dichter ziemlich angetrunken erklärt hat, was ein unreiner Reim ist. (Eine wirklich lustige Geschichte, aber nicht jeder scheint das so zu sehen.)
Und genau an diesem Punkt beugt sich Anne ein wenig vor und sagt: »Ihnen ist schon klar, dass Carson nicht bei Ihnen bleiben wird?«
Sasha blinzelt. Um ein Haar hätte sie vergessen, wer Anne ist.
Anne lächelt bitter. »Er ist mösengeil, das ist alles.«
Die Schriftstellerin in Sasha nimmt diese Äußerung auseinander – mösengeil. Das Wort ist so eklig, aber gleichzeitig so treffend, dass sie es fast bewundern muss. Vielleicht kann sie es eines Tages in einem Buch verwenden. Aber jeder andere Teil von Sasha windet sich. Mösengeil steht in wütender schwarzer Schreibschrift vor ihrem inneren Auge. Glaubt Anne wirklich, dass das auf Carson und sie zutrifft?
»Sie denken, Sie können sich alles nehmen, was Sie wollen, egal ob es Ihnen gehört oder nicht«, sagt Anne, und jetzt zittert ihre Stimme. »Sie haben eine Familie zerstört. Und Sie haben nicht einen Funken Moral.«
In diesem Augenblick werden Sasha zwei Dinge klar. Erstens: Moral ist nie etwas gewesen, was ihr wichtig war. Erfolgreiche Schriftstellerin, treue Freundin, hübsches Mädchen – das waren ihre Ziele gewesen, moralischer Mensch hatte es nicht auf diese Liste geschafft – erstaunlich eigentlich. Zweitens (und das hätte ihr wohl schon vor einer Weile auffallen sollen): Sie muss nicht hier sitzen und sich das anhören. Sie kann einfach gehen.
Und das tut sie. Sie schiebt ihren Stuhl zurück und verlässt die Bar. Kümmert es sie, dass Anne die Rechnung begleichen muss? Nein. Stört es sie, dass Anne womöglich vom gruseligsten Barkeeper der Welt belästigt wird? Nicht im Geringsten. Verschwendet sie auch nur einen Gedanken darauf, dass Anne so unvernünftig sein könnte, von der Bar Richtung Columbus Avenue statt zum Broadway zu laufen, und dort umgelegt wird für das bisschen Kleingeld in ihrem Portemonnaie und den edlen Schal? Nein, keinen einzigen. Eigentlich fühlt sich Sasha gerade, als könnte sie selbst ungehindert zur Columbus spazieren. Schließlich hat sie nicht einen Funken Moral. Da werden die Gangster und Mörder sie ja wohl als eine der ihren erkennen und sie in Ruhe lassen.
In ihrer Verwirrung geht Sasha fast zwanzig Blocks zu Fuß, bevor sie an ihr Handy denkt. Sie kramt in ihrer Tasche und holt es erleichtert raus (nicht auszudenken, wenn sie es in der Bar vergessen hätte!). Vielleicht sollte sie Carson anrufen, aber mit ihm will sie jetzt nicht sprechen. Also ruft sie Monique auf der Arbeit an.
»Ich – bin’s«, meldet sie sich, und ihre Stimme bricht zwischen den beiden Worten so abrupt ab, dass es wie eine schlimm zerkratzte Platte klingt.
»Oh mein Gott!«, ruft Monique. »Wie war’s? Geht’s dir gut? Hält sie eine Waffe auf dich gerichtet? Wenn ich die Polizei rufen soll, dann bring im nächsten Satz das Wort Leopard unter.«
Sasha lehnt sich an eine Hauswand. Sie fühlt sich, als wäre die Welt gerade wieder ins Lot gerückt. »Du musst nicht die Polizei rufen«, sagt sie. »Und selbst wenn ich das wollte, wie soll ich denn unauffällig das Wort Leopard unterbringen?«
»Hm, keine Ahnung«, sagt Monique. »Es musste einfach ein Wort sein, das du nicht zufällig sagst, wie Straße oder Bagel. Außerdem hast du gerade Leopard gesagt.«
»Ja, aber du musst nicht die Polizei rufen«, antwortet Sasha. »Nur mich treffen, irgendwo.«
»Okay, klar, Moment«, denkt Monique offenbar laut. »Ich sage einfach, dass ich von zu Hause aus weiterarbeite – ist eh kaum jemand da. Bist du auf dem Broadway? Ich laufe Richtung Norden.«
Sasha ist auf dem Broadway, also geht sie Richtung Süden. Sie will nicht über Anne nachdenken und konzentriert sich deshalb auf Monique und das Codewort Leopard. Sie müssen ein todsicheres finden. Monique hat recht, es muss etwas sein, das man nicht zufällig sowieso sagt. Was wohl ihre zehn am häufigsten benutzten Wörter sind? Straße, Bagel, Bar, Typ, Buch, schlafen, schreiben, Miete, duschen, Bier sind sicher dabei. Also ist Leopard wahrscheinlich gar nicht so schlecht, oder vielleicht Zygote oder Plankton. Sasha und Monique haben außerdem einen Notfallplan, falls eine von ihnen von der Polizei gesucht wird und fliehen muss. Sie werden sich immer am ersten Montag im Monat im Au Bon Pain am Times Square treffen, um Geld, Nachrichten, oder was sonst nötig ist, zu überbringen. Diesen Plan haben sie an einem langen und sehr schönen Abend ausgeheckt. Sasha ist überzeugt, dass den meisten Leuten nicht klar ist, dass sie das wirklich füreinander tun würden, und zwar bis in alle Ewigkeit, gar keine Frage.
Sasha blickt auf und sieht Monique an der nächsten Kreuzung und bekommt diesen Kick, den man immer kriegt, wenn man in New York Bekannte auf der Straße trifft, so wie wenn man auf dem Flohmarkt in einer Kiste mit Taschenbüchern kramt und einen Roman findet, den man liebt. Und diesmal ist die Freude noch größer, denn Sasha trifft nicht nur eine zufällige Bekanntschaft. Monique kommt mit besorgtem Blick direkt auf sie zu – ihre Mitbewohnerin, die extra früher aus der Arbeit gegangen ist und notfalls auch die Polizei gerufen hätte.
Sie braucht sich keine Gedanken mehr zu machen. Monique ist eindeutig auf Sashas Seite, ganz klar.
Ein interessantes Detail: Gegenüber Monique erwähnt Sasha das Wort mösengeil nicht, es Carson zu verschweigen käme ihr aber nicht in den Sinn. Das ist eins dieser Dinge, die Monique sich merkt, auch wenn sie vielleicht nie mehr davon spricht. Carson dagegen scheint alles in Bezug auf Sasha zu ignorieren, was nicht in sein Bild von ihr passt. Sie könnte ihm alles erzählen.
Sie sitzt im Nachthemd in Carsons Zimmer im Club vor der Klimaanlage und trinkt aus einer sehr kleinen Flasche Whiskey von der Minibar, während Carson ihre Füße massiert. Sie war Indisch essen mit Monique und hat noch ein paar Gläser Rotwein mehr geleert.
»Zuerst hat sie gesagt, ich sei jünger, als sie gedacht hat, aber nicht so hübsch«, sagt Sasha, ziemlich laut, wegen der Klimaanlage.
Carson lacht. »Schwer zu sagen, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist, schließlich kennst du ihre Parameter ja nicht.«
Aber Sasha will jetzt keine mathematische Diskussion führen. Sie erzählt ihm den Rest, und als sie zum Wort mösengeil kommt, findet sie es gar nicht mehr so schlimm, doch Carson drückt ihren Fuß fest, fast schmerzhaft. Sie schaut ihm ins Gesicht, und sein Ausdruck ist so hart und eisig, wie sie es noch nie gesehen hat. Plötzlich wird ihr etwas klar: Carson hatte zwar von Anfang an gesagt, dass seine Frau ihn nicht versteht (Sie glauben gar nicht, wie verächtlich Monique bei diesem Satz geguckt hat), aber es stimmt tatsächlich. Anne versteht ihn nicht, oder nicht gut genug, um zu wissen, dass ihre Worte ihn wütend machen. Aber Sasha hat es gewusst, wie ihr jetzt klar wird. Und deswegen hat sie es ihm erzählt.
Sasha schüttelt ganz leicht ihren Fuß, damit er ihn loslässt, was er auch tut. Dann greift er nach seinem Getränk.