Titelbild:
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Der Wettbewerb „Geschichten zum Mitnehmen“ war ein Projekt des Literaturbüros Ruhr, von Zeitungen der Funke Mediengruppe sowie des Klartext Verlags.
1. Auflage August 2015
Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen
Satz und Gestaltung: Maik Gensch, Klartext Verlag
© Klartext Verlag, Essen 2015
ISBN 978-3-8375-1518-3
ISBN ePUB 978-3-8375-1516-9
Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland sind geschützt.
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Gerade das Vorwort zu einer Anthologie von Kürzestgeschichten sollte nicht in Redseligkeit verfallen. Es darf aber auch nicht zu kurzatmig von kleinen Geschichten sprechen, die im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft sind und ziemlich gut in Form. Schließlich skizzieren sie in knappen Sätzen Traum und Wirklichkeit, Illusion und Enttäuschung – in wenigen Worten scheinen ganze Innen- oder Außenwelten auf und verwandeln sich vor unseren Augen.
Also los: Als Literaturbüro Ruhr, Klartext Verlag und Zeitungen der Funke Mediengruppe ihren Wettbewerb „Geschichten zum Mitnehmen“ ausschrieben, ahnten sie nicht, wie unüberhörbar das Echo darauf sein würde. 1449 Einsendungen trafen im Literaturbüro ein, viele enthielten die maximal möglichen zwei Texte, die Jury hatte so 2308 Kürzestgeschichten zu sichten. Deren Verfasser stammten aus Deutschland, seinen Anrainern, aus der zunehmenden Ferne Italiens, Kroatiens, Ungarns, Schwedens und Islands.
Die Jury las sorgfältig, immer in der Hoffnung, dass mit der Kürze sich gleichermaßen die literarische Würze einstelle. Viele gute Geschichten wirkten mit ihren Plots und Widerhaken lange nach, weil sie vor allem Kunst-Stücke aus Sprache waren. Mehr als hundertfünfzig Texte las die Jury drei- oder viermal. Zwischen Twitteratur und der guten alten Kurzgeschichte hatte sie es ausdrücklich auf die anregendsten Exemplare jenes literarischen Zwitterwesens abgesehen, das auch hierzulande gern Shorteststory, gar Short-Shortstory genannt wird.
Von denen wird allerhand verlangt: „Höchst komprimiert, aufgeladen, heimtückisch, proteisch, plötzlich, alarmierend oder quälend, geben diese Short-Shortstories kleinen Zipfeln des Chaos eine Form, leisten sie auf einer Seite, was ein Roman auf zweihundert tut“, behaupten selbstbewusst Robert Shapard/James Thomas im Vorwort ihrer Sammlung „Plötzliche Geschichten. Amerikanische Short-Shortstories“ (S. Fischer Verlag).
Jedoch streiten Experten schon darüber, wie kurz eine Kürzestgeschichte denn bitteschön zu sein hat. Sie müsse in maximal fünf Minuten zu lesen sein, meinen manche, also zwei bis drei Seiten lang sein. Andere definieren ihre Obergrenze bei 1200 Wörtern. Wir haben uns für eine Grenze von maximal 5000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) entschieden, was einem Textumfang von höchstens 800 Worten entsprechen dürfte. Es sollte schon gelten: Wo alle Zeichen gezählt werden, zählt jedes Wort.
Selbstverständlich hat literarische Verknappung, wenn sie denn gelingen soll, mit Können zu tun. Mit begrenzter Wortzahl Figuren lebendig werden zu lassen, Atmosphäre zu schaffen, Konflikte zu gestalten und menschliches Hoffen oder Scheitern zu skizzieren, das scheint einfach, ist aber nicht eben leicht zu machen. 55 Kürzestgeschichten warten auf Sie in der vorliegenden Anthologie, thematisch variantenreich, auf der Höhe der Zeit und doch mit Blick auf Vergangenheit, die nicht vergehen will. Viele Miniaturen sind dabei eher an Traditionen europäischer Kurzgeschichte und kleiner Prosa orientiert als an denen amerikanischer Shorteststorys (der Duden fordert „Storys“, nicht „Stories“). Allerdings gehören mittlerweile zu den prominenten Vertretern der amerikanischen Shorteststory auch Autorinnen wie Lydia Davis. Davis hat unter anderen Flaubert, Proust und Simenon übersetzt, ist also neben amerikanischen Vorbildern auch inspiriert von der Lektüre vieler europäischer Ahnen. Gelegentlich scheinen Davis‘ abgründig präzise Kurztexte aus Story-Sammlungen wie „Formen der Verstörung“ ein sehr fernes Echo auf Georg Christoph Lichtenberg zu sein, auf dessen Gedankensplitter aus den Sudelbüchern: „Es ist keine Kunst, etwas kurz zu sagen, wenn man etwas zu sagen hat“, so lakonisch spielte Lichtenberg einst das Vermögen herunter, überhaupt erst einmal zu erfassen, was wert ist, in aller Kürze zur Sprache gebracht zu werden.
Verstörung, Aus-der-Bahn-geworfen-werden, Suche, dies könnte auch als Tenor vieler der vorliegenden Kürzestgeschichten bezeichnet werden. (Unseren Anthologie-Titel „Die Sachensucherin“ verdanken wir übrigens Katharina Stegen als Fan Pippi Langstrumpfs.) Die Autorinnen und Autoren unserer Sammlung erzählen von erotischen Fantasien ebenso wie von prekärer Arbeit, von verlorener Freundschaft und alten Feinden, von Kneipe und Cowboys. Unter Tage trifft auf überirdisch Schönes, Humor auf den Herrgott, der tiefe Westen auf den Nahen Osten, Sonderlinge und Surreales auf die Härten des Alltags. Von Auf- und Ausbruch handeln die Prosastückchen, von Kindheit, erster und letzter Liebe. Sie leuchten aber auch in die Abgründe von Ehehölle und Missbrauch, von Kriegen und Nachkrieg, Flucht und Vertreibung.
Aber bitte lesen Sie nun wirklich selbst, bevor dieses Vorwort doch noch zu redselig wird.
Postskriptum: Die Anthologie orientiert sich an der vom Duden empfohlenen Rechtschreibung. Gelegentlich weichen Autorinnen/Autoren bewusst davon ab.
Gerd Herholz, Verena Geiger, Jens Dirksen,
Ulli Langenbrinck (Hg.)
Gerd Herholz, Verena Geiger, Jens Dirksen,
Ulli Langenbrinck (Hg.)
55 kurze Geschichten
In einem Straßencafé tritt ein Mann an meinen Tisch und nimmt Haltung an. Seine Brille ist mit Klebeband fixiert, in der Hand hält er einen Stock; er riecht nach Alkohol. Das Spanisch aus seinem zahnlosen Mund ist kaum zu verstehen. No hablo mucho Español, sage ich und versuche, einen Wall sprachlicher Hindernisse um mich aufzuschütten. Der Alte beginnt seine Ausführungen von vorne, Satz für Satz in aufreizender Langsamkeit, so wie man mit einem spricht, der schwer von Begriff ist. Behindert sei er, wiederholt er und hebt den Stock diskret in die Höhe, und dankbar, wenn ich ihn finanziell ein wenig unterstütze. Ich reiche ihm einen Zweipesoschein. Er wirft einen prüfenden Blick auf den Schein und stopft ihn in die Tasche. Woher ich komme, will er wissen, ich sage es ihm, doch es scheint ihn nicht zu interessieren, sondern nur die Eröffnung gewesen zu sein für die eigentliche Frage: ob ich Borges kenne. Ich bejahe, etwas zu vorschnell, wie mir selbst scheint, natürlich kenne ich den. Er schaut mich fragend an. Ob ich ihn gelesen habe, will er wissen. Ich fühle mich ertappt. „Noch nicht“, räume ich ein. „Lies ihn“, sagt er, in einem Ton, der keine Widerrede duldet, rammt den Stock in den Boden und tritt ab.
Der Heiland an der Wand hat immer Unglück gebracht. Bereits als Kind habe ich mich gefürchtet vor dem Herrgottswinkel im Kücheneck. Der Gekreuzigte stierte auf mein Frühstücksbrot. Er war dünn und ausgemergelt. Tot, aber hungrig. Er ist verhungert, dachte ich, und brachte keinen Bissen mehr hinunter vor lauter Schuldgefühlen und aus Angst, er könnte sich plötzlich mit einem Schrei von oben auf mich herabstürzen und mir das Brot aus der Hand reißen. Er wird verhungern, dachte ich. Doch er wollte nicht essen, was auch immer ich ihm anbot. Die versuchte Zwangsernährung des Heilands schlug fehl. Jesus nahm keinen Bissen zu sich. Die Eltern entsetzten sich nicht wenig über den mit Marmelade verschmierten Gekreuzigten. Er blutete Erdbeeren aus dem Mund. Eine Ribiselwunde entquoll seinem Körper. Die Füße trieften vor Heidelbeeren. Kirschrot waren seine Wangen, Gesicht und Hüfttuch verklebt. Ich weigerte mich, ihn zu waschen. Er wurde nie wieder sauber. Im Sommer setzten sich Fliegen auf die leidvolle Gestalt. Der Leichnam faulte nicht, aber stank. Wir beteten tapfer unter dem Zwang der Eltern. Wir beteten tapfer zu einem, dessen kaum mehr zu ertragender Geruch nach und nach die gesamte Wohnung durchzog. Eines Tages übergab sich ein Gast während des Vaterunsers in seine Suppe. Dem Gekreuzigten wurde in einem Akt von panikartiger Ratlosigkeit verzweifelt ein Plastiksack über den Kopf geworfen. Ein Gummiringerl besiegelte seinen Erstickungstod, während der Gast, ohne sich umzudrehen, das Haus verließ und niemals wiederkehrte. Unter dem Vorwand einer sofortigen und dringenden Küchenrenovierung wurde der Gekreuzigte schließlich so rasch und heimlich wie möglich entfernt und an einem vor uns Kindern geheim gehaltenen Ort entsorgt. Eine Muttergottes, früher von den Eltern häufig und regelmäßig herbeigesehnt, war fortan kein Thema mehr. Der Winkel über dem Küchentisch blieb leer. Der Herrgott war verhungert. War ausgezogen.
Nie schreibt er oder ruft an. Aber jedes Jahr, wenn der Schnee in den Straßen schmilzt, klingelt er an der Tür.
„Euer Onkel ist da“, ruft meine Mutter, und ich klappe den Klavierdeckel zu und werfe meine Geige und die Noten in den Schrank und klemme meine Finger ins Metronom, bis es endlich still ist. Mit steifen Beinen steigt meine Schwester aus ihren Büchern und Heftern und sogar unser Bruder verlässt seine Soldaten mitten beim Metzeln, Rauben und Stechen und kriecht blinzelnd aus seiner Höhle.
„Hola“, sagt unser Onkel und spuckt grinsend ein Büschel Präriegras auf unsere Fußmatte, denn er kommt direkt von seiner Ranch in Südamerika. Mit Schwung nimmt er sein Lasso von der Schulter und wirft es über die Garderobe.
„Wo bleibt mein Kuchen, chica“, fragt er und schlägt meiner Mutter auf den Hintern und meine Mutter lacht laut, was sie sonst niemals tut, seitdem man ihr sagte, ihre Zähne seien schief.
Mit klingenden Sporen folgt unser Onkel meiner Mutter in die Küche. Dort schwingt er sich auf die Waschmaschine und erzählt von Buffalo Bill und Billy the Kid und anderen Helden der Prärie und wir hocken zu seinen Füßen und sind glücklich und verstehen kein Wort, denn unser Onkel spricht wie ein echter Cowboy durch die geschlossenen Zähne, die schwarz sind und faulig wie Kastanien aus dem Vorjahr.
Und meine Mutter lächelt und rührt den Teig, denn unser Onkel liebt Topfkuchen. Später verschlingt unser Onkel die Hälfte des Kuchens allein. Er schmatzt und rülpst, und als er fertig ist, blinzelt er uns zu.
„Kreuzzwirnarsch“, sagt er leise, „jetzt aber raus hier.“
Wir gehen in den Garten. Unter dem Kirschbaum stellt er uns auf. Der Reihe nach üben wir Fluchen, und wie man mit einem einzigen Strahl gegen den Zaun spuckt und durch die Zähne spricht, bis niemand mehr etwas versteht.
„Bis zum nächsten Jahr muss das sitzen“, sagt unser Onkel und schlägt uns mit einem Grinsen auf die Schulter, bis wir torkeln. Dann geht er mit breitem Gang ins Haus, um sich von unserer Mutter zu verabschieden.
Nachdem unser Onkel abgefahren ist, lasse ich die Geige und die Noten für immer im Schrank. Stattdessen trainiere ich heimlich. Ich übe den Lassowurf, ich rülpse, furze und sammle Flüche. Und als ich einhundert der besten Flüche beisammen habe, schlachte ich mein Sparschwein und schreibe meinem Onkel meine Ankunftszeit. Als alle schlafen, steige ich aus dem Fenster.
„Macht euch keine Sorgen“, murmle ich verwaschen und spucke ein Büschel Gartengras auf die Fußmatte.
Mein Onkel holt mich am Flughafen ab. Er steht in der Halle und hält sein Pferd am Halfter. Das Tier hat eine Zigarette im Mundwinkel hängen und grinst freundlich.
„Pesthimmelundzugenäht“, sagt mein Onkel und hebt eine Flasche Whisky zum Gruß.
„Kotzhirnverrammelt“, antworte ich und springe hinter ihm aufs Pferd.
Die Ranch liegt auf einem Hügel. Überall grasen Rinder, dazwischen steht ein prächtiges Haus.
„Das habe ich für meine Frau gebaut“, murmelt mein Onkel. „Allerdings ist sie längst über alle Berge.“
Das Haus sieht aus wie ein Schloss, mit Säulen, Türmen und Terrassen. Aber im Klo wohnen die Frösche und auf dem Sofa wühlen die Schweine und unter dem Teppich schlafen die Maulwürfe.
„Und wo schlafen wir?“, frage ich und mein Onkel zeigt aus dem Fenster.
„Dort draußen, chica“, sagt er und grinst.
Früh am nächsten Morgen beginnt die Arbeit. Mein Onkel zeigt mir, wie man in die Stiefel pinkelt und mit dem rauchenden Brenneisen in der Hand einem tobenden Stier auf den Rücken springt. Er zeigt mir, wie man mit dem Lasso Vögel fängt und auf dem Viehmarkt den Händlern ins Maul schaut und in Nullkommanichts drei Waffen gleichzeitig zieht, nachdem man sie betrogen hat.
Wir waschen uns nie. Wir schlafen mit Stiefeln und Hut. Wir stinken nach Leder und Pisse, nach Schweiß, Tabak, Schnaps, Diesel und Rauch. Und am Abend, wenn die Arbeit getan ist, trinken wir Whisky und sehen den toten Sternen zu, wie sie durchs All rasen, und mein Onkel schweigt, denn er denkt an seine Frau.
Nach drei Jahren sagt mein Onkel voller Stolz: „Bei der brütenden Kakerlake, du hast alles gelernt.“
Und ich ziehe mein Hemd aus und, ohne mit der Wimper zu zucken, bekomme ich mit dem Brenneisen mein Zeichen. Dann saufen wir feierlich, bis wir umfallen.
Am nächsten Morgen ist mein Onkel verschwunden.
„Bin über alle Berge“, steht mit großen Lettern im Sand.
Noch am gleichen Tag übernehme ich die Ranch. Ich schlafe auf dem nackten Boden, ich springe auf tobende Stiere und fange, aufrecht auf ihrem Rücken stehend, mit dem Lasso die Vögel im Flug. Ich schaue den Händlern ins Maul und ziehe drei Waffen gleichzeitig, wenn sie nicht tun, was ich sage. Meine Zähne sind schwarz und meine Worte verwaschen, und wenn der Abend kommt, saufe ich mit dem Pferd am Lagerfeuer Whisky, bis wir umfallen.
Ich kann, sagte der Bauer, die Straße so verdrecken, wie ich möchte. Du kannst, sagte der Polizist und schob dabei die Kappe nach hinten, wischte sich den Schweiß von der Stirn, du kannst das nur, wenn du den Dreck wieder wegmachst. Und zwar gleich, sagte der Bauer, lachte und stieg hinauf die zwei Metallstufen seines Traktors, während – von weit hinten – ein Raunen anhob und im nächsten Moment zu einer Frau wurde, auf einem Motorrad mit breiten Reifen, und nichts nutzte das. Sie schlitterte direkt in das Polizeiauto, das nach der Kurve auf die Straße ragte, prallte und flog, weggewuchtet, hochgeschleudert. Mein Dreck war‘s nicht, meinte der Bauer gleich, den mach‘ ich ja erst, wenn ich vom Feld runterfahr‘. Es wuchsen indes rund um die Frau Grabhügel aus dem Boden, waren aber nur Erdschollen, trotzdem kam ihr im Hineinwirbeln ein Satz in den Sinn von ganz früher, Tagebuchzeit, geschrieben mit Tränen, sie würde im herbstlichen Acker versinken wollen, wie alt war sie da gewesen, vierzehn? Und einsam, natürlich, immer war man einsam, und wenn man so wild hineingepresst wird in den Boden, war man es auch, oder? Die Frau konnte sich keine Antwort geben auf die Frage, weil man mit dem Mund voller Erde nicht wirklich denkt oder spricht, auch nicht schluckt, nur erstarrt und hofft auf Stillstand und Luft. Der Polizist rief den Namen der Frau, er kannte sie ja, wie jeder und jede hier jeden und jede kennt, stolperte mit schwarzen Schuhen ins Feld, besudelte sich den Hosensaum. Der Bauer war wieder hinuntergestiegen, mit dem Telefon in der Hand, die zwei metallenen Stufen vom Traktor hinunter, drückte den Notausschalter des Motorrads und sagte dabei: Ruhig bist. Was? Das war der Notrufmensch am anderen Ende, der nichts verstanden hatte, nun sagen Sie mal, wo genau, wie viele Verletzte, Notarztwagen, Feuerwehr, Helikopter, wir müssen das klären, Herr, so melden Sie sich doch! Man hörte das gut, war still jetzt, dem Traktor knackste wohl noch ein wenig die Hitze im Getriebe, aber sonst war ein Kiebitz der Einzige, der ein schwarzweißes Geräusch in den Tag schicken wollte. B 58, bei der Furtauer-Brücke, hinten, nach der Mühle, beschrieb der Bauer ins Telefon hinein, dorthin schickst eine Ambulanz, Polizei ist schon da. Aber beschäftigt. Nämlich damit, sich über die Frau zu beugen und ihr den Rücken abzutasten und anzusprechen und umzudrehen ganz vorsichtig. Meinst nicht, die Straß‘ g‘hört g‘sichert? Schrie es von dort, wo ein Polizeiauto stand und war demoliert. Schrie also zurück, ganz nah am Gesicht der Frau schrie der Polizist: Ja, sichern! Im Kofferraum, Dreieck, aufstellen. Zielte mit dem Schlüssel, drückte den Knopf, bis es zweitönig fiepte, der Bauer beugte sich hinein und hinaus und ging und verschwand und stellte auf. Sah sich dann um, nicht, ob die Frau noch lebte oder man helfen sollte, vermeinte zu spüren, dass die schon nicht stirbt, die Räuberstochter, aber suchte Erdbatzen auf dem Asphalt, aus den Traktorreifen gefallener Dreck von gestern, war ja auch ackern, musste ja geackert werden, solange der Herbst es zuließ. Was fährt die Motorrad, murrte der Bauer, kickte die Batzen von der Straße. Dort, wo sie noch feucht waren, von Reifenspuren hingeschmiert weit über den Asphalt, dort bückte er sich, wischte mit der bloßen Hand über den warmen Boden. Der Erdduft beruhigte ihn, dessen Vermischung mit dem Geruch der Straße ließ ihn aufblicken, hier, hinter der Kurve, wo es still war bis auf den Kiebitz, wo man nichts sah außer den Hügelrand der Welt, wo zwischen den Kiebitzrufen die Stille und die niedergehende Sonne den Tag ausleiteten – und würde ich so bleiben, lange genug, dachte der Bauer, mich dann aufrichten, dann wäre alles gut. Kniff die Augen zusammen im Abendrot, das Herz jagte ihm plötzliche Angst durch den Leib. Vögel flogen auf, Stare, schwebten und glitten, der Bauer griff hinauf in ihren Flug, mit seiner erdigen Hand griff er hinauf, aber die Zeit ließ sich nicht anhalten, nur verlangsamen ein wenig, und oben, die Stare, sich wundernd ob der zähen Abendluft, ob der Unmöglichkeit, die Baumgruppe zügig zu passieren.
Er lebte in einer Stadt, deren Namen er vergessen hatte. Erst fiel es ihm schwer, den Namen der Stadt, in der er lebte, auszusprechen, dann hatte er Schwierigkeiten, sich den Namen der Stadt zu merken, in der er lebte, dann wusste er noch, dass der Name der Stadt, in der er lebte, aus zwei Teilen bestand, dass er somit zwei Dinge, zwei Wörter benötigen würde, um diese eine Sache, die Stadt, in der er lebte, zu bezeichnen, dann wusste er auch das nicht mehr und lebte ganz einfach in einer Stadt, deren Namen er vergessen hatte.
Mit der Zeit entfiel ihm dann auch der Name der Straße, auf die er von seinem Fenster aus blickte, was nichts weiter ausmachte, wie er befand, er nannte sie ulica, was so viel heißt wie Straße, und wie alle Straßen, zumindest zu einem Teil, hießen, zumindest in diesem Land, wie hieß es doch gleich, zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber und blickte von seinem Fenster aus auf die Straße hinunter, die ulica eben, wie die Straßen eben hießen, zumindest in diesem Land, wo die Stadt lag, in der er lebte und deren Namen er vergessen hatte, wie hieß sie doch gleich.