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Vorwort

Auf vielen Gebieten der Erziehung fühlen sich Eltern heute sehr verunsichert. Sie sind engagiert und wollen es richtig und vor allem anders und besser machen als ihre eigenen Eltern, wissen aber oft nicht, wie. Das wird auch in all den Briefen Hilfe und Rat suchender Eltern an mich deutlich, von denen Sie eine Auswahl in diesem Buch finden. Jede Familie für sich ist einzigartig mit ganz eigenen Spielregeln und Gesetzmäßigkeiten. Aus diesem Grund werden Sie in meinen Antworten oder Kolumnen auch kein Rezept fürs große Familienglück finden, nach dem man stur vorgehen könnte. Stattdessen erhalten Sie Anregungen, über Ihre persönlichen Wertvorstellungen nachzudenken. Welche Werte sind es, die aus unseren Kindern eigenständige, kritische Persönlichkeiten werden lassen, die Verantwortung für sich und andere übernehmen können, die ihre Grenzen kennen und die anderer respektieren? Meiner langjährigen Erfahrung als Familientherapeut nach lauten diese Werte Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung.

Kinder brauchen Führung, sie sind gleichwürdig, aber nicht gleichberechtigt. Sie brauchen Eltern, die sie in ihrer individuellen Persönlichkeit wahrnehmen. Eltern, die einigermaßen genau wissen, was sie selbst wollen, die keine starren Grenzen setzen, einfach aus Konventionen heraus, sondern persönliche Grenzen, die auch so persönlich wie möglich artikuliert werden. Eltern, die ehrlich dem Kind und sich selbst gegenüber sind und die für das, was sich in der Familie zeigt, die Verantwortung übernehmen.

Das sind hohe Ansprüche, doch keine Sorge: Kinder brauchen zum Glück keine perfekten Eltern, sondern Sparringspartner, die bereit sind, ihre Werte immer wieder zu überprüfen und sich mit ihren Kindern weiterzuentwickeln. Und die ihnen die elementare Botschaft vermitteln: »Du bist in Ordnung, so wie du bist!«

Ihr Jesper Juul

Die Eltern in der Defensive

Vor einiger Zeit saß ich mit einer Journalistin der italienischen Zeitung La Repubblica in einem Restaurant in Mailand. Wir hatten soeben eine Pressekonferenz in der großen, schönen Buchhandlung Feltrinelli hinter uns gebracht, und nun war es an der Zeit, etwas zu essen und ein eingehendes Interview zu den Werten der Familie zu führen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine kleine Familie hereinkam, bestehend aus Mutter, Vater, Großmutter und einem 3-jährigen Jungen, und sich am Nachbartisch niederließ. Im Folgenden entwickelte sich dort ein Drama in mehreren Akten, als hätte ich es in Auftrag gegeben, um die erste Frage der Journalistin zu beantworten. Sie lautete folgendermaßen: »Was ist der häufigste Fehler, den junge Eltern heutzutage in Europa machen?« Eine klassische Journalistenfrage, die natürlich unmöglich zu beantworten ist. Deshalb war mir die Familie am Nebentisch eine große Hilfe.

Das Ganze beginnt damit, dass die Eltern den jungen Mann im chor fragen, wo er sitzen wolle. Er entscheidet sich für den Platz neben seiner Mutter, beginnt aber schon bald in einem disharmonischen Tonfall zu jammern und zu klagen. Der Vater versucht, seinen Sohn mit großen Gebärden und lustigen Grimassen aufzuheitern, und zaubert schließlich ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche hervor. »Na, was ist das wohl?«, fragt er seinen Sohn, der statt zu antworten vom Stuhl hüpft und ihm das Päckchen aus der Hand reißt. Da er Probleme hat, den Gegenstand vom Geschenkpapier zu befreien, werden seine Klagelaute immer schriller. Der Vater bietet seine Hilfe an, wird jedoch abgewiesen, und auf einmal hört sich der Junge so an, als sei er mit etwas Hartem geschlagen worden.

Der Inhalt des Päckchens erweist sich als kleines elektronisches Spiel, das die Eltern in der Hoffnung auf ein ruhiges Mittagessen gekauft haben. Der Vater erklärt seinem Sohn, er müsse zunächst die Batterien einsetzen, damit das Spielzeug funktioniert, aber der Junge will davon nichts wissen, sondern beklagt sich lautstark darüber, dass das Gerät nicht funktioniert. So vergehen die ersten zwanzig Minuten, in denen der Kellner ein ums andere Mal gebeten wird zu warten, weil bisher keiner die Zeit gefunden hat, sich mit der Speisekarte zu beschäftigen. Alle Erwachsenen sehen den Jungen eindringlich an und reden auf ihn ein, um ihn zur Ruhe zu bringen.

Endlich setzt sich der Junge auf den Schoß seines Vaters und will sich das Spiel beibringen lassen, lässt seiner Frustration aber immer wieder freien Lauf. Ehe die Erwachsenen sich entscheiden können, was sie essen wollen, versuchen sie aus dem Jungen herauszubekommen, was er essen möchte – ohne Erfolg. Sie unterbreiten ihm verschiedene Vorschläge, die allesamt abgelehnt werden. Schließlich scheint es der Mutter zu gelingen, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass er ein großer Liebhaber von »Gnocchi mit Tomatensauce« ist.

Als das Essen auf den Tisch gestellt wird, greift der Vater sofort zur Gabel seines Sohnes und versucht, ihm ein paar Gnocchi in den Mund zu schieben. Der Junge heult auf, weil das Essen zu heiß ist, worauf die beiden Frauen auf der anderen Seite des Tisches den Vater mit Ratschlägen und Vorwürfen überhäufen. Mit der Stimmung steht es nicht zum Besten, doch gelingt es allen Erwachsenen, die leicht erstarrten »kinderfreundlichen« Mienen beizubehalten, während ihre Körper sich dem kleinen Goldschatz wohlwollend entgegenneigen. Die Erwachsenen haben inzwischen ihr eigenes Essen in Angriff genommen, doch ihre gesamte Aufmerksamkeit wird von der Frage beansprucht, was der Junge denn nun essen will, da er seine Gnocchi verschmäht. Er lehnt jeden Vorschlag ab, und erneut scheint es so zu sein, als habe er ein stillschweigendes Abkommen mit seiner Mutter geschlossen – diesmal soll es Pizza sein. Als die Pizza kommt, will er sie nicht essen. Mutter und Großmutter greifen zu einem alten Trick, probieren ein Stück von der Pizza und übertreffen sich mit Lobeshymnen, wie fantastisch sie schmecke. Auch das hilft nicht.

Doch immerhin verschafft der Junge seiner Familie eine kurze Atempause, da er plötzlich einen Hund entdeckt hat, der zu einem anderen Tisch gehört. Zum Luftholen kommen seine Familienangehörigen trotzdem nicht, weil sich all ihre Aufmerksamkeit nun auf den Jungen und den Hund richtet, während das Essen mechanisch in ihren Mund wandert und der Vater Wein trinkt, als wäre es Wasser.

Nachdem er an den Tisch zurückgekehrt ist, erklärt der Junge, er sei hungrig, wolle aber keine Pizza. Die anschließenden langwierigen Verhandlungen enden damit, dass er den Vorschlag seiner Großmutter – eine Portion Schokoladeneis – annimmt. Sein Vater scheint nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag zu sein, enthält sich aber eines Kommentars und bestellt sich einen Grappa.

Schließlich serviert der Kellner das Eis mit großer Geste und ironischem Lächeln. Die Mutter beugt sich über den Tisch, bemächtigt sich des Eislöffels und füttert ihren Sohn. Der spuckt das Eis umgehend auf die Tischdecke und beklagt sich lauthals, dass keine Nüsse im Eis seien. Daraufhin isst die Mutter das Eis auf, der Vater trinkt noch einen Grappa und bezahlt die Rechnung.

Dies ist eine Szene von der Art, die Psychologen veranlasst, moralisierende Bestseller über »Kleine Tyrannen« zu schreiben.

Nachdem die Familie das Lokal verlassen hatte, sah mich die Journalistin mit blanken Augen an und sagte, sie habe gerade ihre eigene Familie von außen betrachtet. Sie war erschüttert, und wir haben die nächste halbe Stunde unseres Gesprächs dazu verwendet, den gesamten Verlauf noch einmal durchzugehen und die alternativen Möglichkeiten der Eltern zu skizzieren.

Sie sagte, sie und ihr Mann (die drei Kinder haben) gehörten einer Elterngeneration an, die ich als Neoromantiker bezeichne. Sie gehen voll und ganz im »Projekt Kind« auf und wollen nur eins: eine glückliche und harmonische Familie.

Sie haben durchaus die richtigen Bücher gelesen, jedoch die Kapitel über unumgängliche und notwendige Konflikte ausgelassen. Sie verwenden – wie die Mailänder Familie – all ihre Energie, Kreativität und Liebe darauf, Konflikten und Frustrationen aus dem Weg zu gehen. Es besteht für Eltern jedoch gar kein Grund, die Frustration ihres Kindes, die natürlicherweise bei einem »Nein« erfolgt, persönlich zu nehmen oder sie als Zeichen ihres Versagens aufzufassen. Trauer, Enttäuschung, Wut – das sind völlig normale und wichtige Emotionen, die zu empfinden dem Kind überhaupt nicht schaden, die es im Gegenteil reifen lassen, sofern es von den Eltern deshalb nicht kritisiert oder lächerlich gemacht wird.

Die defensive Haltung, bei der alles darum geht, vorzubeugen, zu verhindern und Konflikte aufzuhalten, entwickeln Eltern schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Sie versuchen ein positives Vorbild zu sein, indem sie allzeit gefasst und ruhig reagieren, aber wie sollen Kinder von ihnen so wichtige Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz oder Empathie lernen? Ihr ständiges Bemühen um Harmonie führt natürlich dazu, dass sie nichts als Disharmonie und Konflikte bekommen. Wenn ein Kind ständig schlecht gelaunt und in Machtkämpfe mit den Eltern verstrickt ist, versucht es nur sein Recht darauf zu erstreiten, traurig, ängstlich, wütend oder verzweifelt sein zu dürfen, ohne dass dies für seine Eltern ein Problem ist, weil sie es sich sofort wieder als ihr eigenes Versagen ankreiden.

Neoromantische Eltern haben sich in die Idee hineingesteigert, dass Kinder sehr viel Aufmerksamkeit brauchen, und geben ihnen doppelt so viel, wie diese tatsächlich benötigen. So bekommen ihre Kinder nie die Möglichkeit zu lernen, dass auch andere Menschen Bedürfnisse, Grenzen und Gefühle haben. Die Kinder müssen hierfür einen hohen Preis bezahlen, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind.

Was wie Verwöhnung aussieht, ist also im Grunde mangelnde Fürsorge.

Die Lösung des Problems hat nichts mit Kindererziehung zu tun. Man muss den Eltern nur klarmachen, dass Kinder die Führung der Erwachsenen brauchen und dass es vollkommen in Ordnung ist, dass auch deren Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse am Tisch einen Platz einnehmen.

Kinder brauchen dies so sehr, dass eine schlechte Führung immer noch besser ist als gar keine Führung. In der Mailänder Familie war offensichtlich der 3-jährige Junge der chef, was schädlich für alle Beteiligten ist. Die Realität, die diesem Umstand zugrunde liegt, ist sicher sehr komplex, und die Eltern bräuchten eine gründliche Anleitung, wie sie ihre Liebe und ihr Engagement so kanalisieren können, dass es zum Wohlergehen der gesamten Familie beiträgt.

Meiner Ansicht nach ist es wichtig, die neoromantischen Eltern nicht zu verurteilen oder gar zu verdammen. Denn die logische Folge wäre ein neues Ungleichgewicht in Gestalt einer neokonservativen Welle, in der wieder lautstark nach »Gehorsam und Disziplin« gerufen wird.

Derzeit sehen wir eine wachsende Gruppe von Eltern und Pädagogen, die angesichts solcher Episoden wie im Restaurant zu den überkommenen Rezepten von vorgestern greifen. Sie wollen an eine Zeit anknüpfen, in der die Erziehung zu gehorsamen Kindern führte, die sich später zu neurotischen Erwachsenen entwickelten.

Diese Tendenz ist sehr betrüblich, und ich hoffe, dass sie von allein wieder verschwindet, indem die Kinder die Erwachsenen mit ihrer eigenen Herrschsucht konfrontieren.

Erziehung als Machtkampf

Wir haben eine knapp 4-jährige Tochter und einen anstrengenden Alltag. Wir sind wohl eine dieser Familien, die in der viel diskutierten »Zeitfalle« stecken. Wir sind generell der Meinung, dass Kinder einen festen Rahmen brauchen und gewisse Regeln lernen müssen. Also versuchen wir auch, unserer Tochter das richtige Benehmen bei Tisch beizubringen. Seit einiger Zeit hat sich dies zu einem Drama entwickelt – sie will weder ordentlich auf ihrem Stuhl sitzen noch normal essen. Wir meinen, dass wir unsere Erwartungen an sie sehr deutlich gemacht haben. Wir haben ihr erklärt, warum es wichtig ist, dass man »schön« essen kann. Jetzt haben wir damit begonnen, die Time-outMethode anzuwenden (wie wir das bei einer Nanny im Fernsehen gesehen haben). Wir setzen sie in ihr Zimmer, schließen die Tür und gehen erst nach ein paar Minuten wieder zu ihr hinein. Am Anfang hat sie viel geweint, doch jetzt ist sie nur noch mürrisch und still, wenn wir kommen. Essen tut sie auch nur noch widerwillig. Sie verhält sich also schon ein wenig mehr so, wie wir wollen, aber die Stimmung haben wir uns natürlich anders vorgestellt. Machen wir etwas falsch?

Majas Eltern

Antwort von Jesper Juul:

Meine unmittelbare Antwort auf Ihre Frage ist ein klares »Ja!« Lassen Sie mich das zuerst begründen, bevor ich Ihnen eine Alternative vorschlage. Am besten, wir nehmen den Hubschrauber und betrachten uns die ganze Situation von oben: Wir sehen zwei verantwortungsvolle, intelligente und erfahrene Erwachsene, die einen hoffnungslosen Kampf mit ihrer 4-jährigen Tochter führen. Sie schießen damit weit über das Ziel hinaus! Erziehung als Machtkampf ist immer eine schlechte Idee, weil sowohl die Eltern als auch das Kind am Ende als Verlierer dastehen und sich die Qualität ihrer wechselseitigen Beziehung spürbar verschlechtert hat – ganz gleich, wer zwischendurch einen Punktsieg verbuchen konnte.

Das Verhalten von Kindern ist immer auch ein Produkt ihrer Beziehung zu den Eltern. Sie kommen mit individuellem Temperament – das oft dem Temperament eines Elternteils ähnelt – und unterschiedlichem Potenzial auf die Welt. Wie sie dieses entwickeln, hängt vor allem von den Führungsqualitäten ihrer Eltern ab. Mit anderen Worten: Das liegt in Ihrem Verantwortungsbereich. Darum ist es ebenso ungerecht wie verantwortungslos, Ihrer Tochter die Schuld für diese Konflikte zu geben. Und genau das tun Sie, wenn Sie sie in die Isolation schicken. Ihre Botschaft ist deutlich: Wir sind nicht zufrieden mit der Situation, und das ist deine Schuld.

Wenn Eltern frustriert über die Beziehung zu ihren Kindern sind, ist das jedoch niemals die Schuld der Kinder. Vielmehr stehen Sie in der Verantwortung, Ihren eigenen Beitrag zur Gesamtsituation zu ändern. Wenn wir dem Kind die Schuld geben, kränken wir seine persönliche Integrität und reduzieren seine Lebenstauglichkeit. Schuld und Scham sind die beiden selbstzerstörerischsten Gefühle, die wir kennen.

Das bedeutet nicht, dass ich Sie für »verantwortungslos« halte – ganz und gar nicht! Es spricht ja zum Beispiel für Ihr Verantwortungsgefühl, dass Sie Ihrer Tochter ein zivilisiertes Benehmen bei Tisch beibringen wollen. Aber die Stimmung in einer Familie, auch zwischen den Eltern, hängt nur sehr selten davon ab, was wir tun, sondern vor allen Dingen wie wir es tun. Das ist die wichtige Dimension, die von den TV-Nannys vergessen wird. Stattdessen bauen sie eine falsche Wirklichkeit auf, in der sich scheinbar alles um Erziehung dreht – um richtige oder falsche Erziehung oder auch um die Abwesenheit von Erziehung.

Ihre Tochter macht mit ihrem anstrengenden Benehmen darauf aufmerksam, dass etwas mit Ihrer Beziehung nicht in Ordnung ist – dass es ihr nicht wirklich gut geht, und es ist Ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, woran das liegen könnte. Das bedeutet nicht, dass Sie bisher »schlechte« Eltern gewesen sind, sondern nur, dass Sie sich in ein paar Punkten geirrt haben, was an sich halb so schlimm ist, wenn Sie die Verantwortung dafür übernehmen und Ihr Verhalten ändern. Alle Eltern irren sich in gewissen Punkten, und wir können unsere Elternkompetenz nur dann steigern, wenn wir aus unseren Fehlern lernen.

Ich kenne Ihre Familie nicht persönlich, aber manches deutet darauf hin, dass Sie es in Ihrem Bestreben, dass alles reibungslos funktioniert, zu eilig haben. Ihre Tochter scheint sich mehr als Belastung, weniger als Mensch und Teil der Gemeinschaft zu fühlen. Bei modernen Kindern sehen wir oft diese besondere Form der Einsamkeit, und früher oder später betrifft sie auch die Liebesbeziehung der Erwachsenen. Wir spüren nicht mehr, dass wir das Leben unseres Partners bereichern, wenn sich alle Energie auf die Arbeit und die familiären Abläufe richtet.

Vielleicht ist es das, was Ihre Tochter Ihnen sagen will: »Hört doch bitte damit auf! Können wir es nicht einfach ein bisschen gemütlich haben?« Unabhängig davon, was sie Ihnen eventuell mitteilen will, möchte ich Ihnen Folgendes vorschlagen: Setzen Sie sich mit Ihrer Tochter in Ruhe zusammen und sagen Sie zu ihr: »Wir waren so unsicher, wie wir uns verhalten sollten, dass wir dich für etwas bestraft haben, das nicht deine Schuld ist. Das tut uns sehr leid, und das werden wir auch nicht mehr machen. Wir wissen noch nicht genau, was wir stattdessen tun sollen, aber wir werden auf jeden Fall die Verantwortung dafür übernehmen.«

Im Fernsehen sieht es oft so aus, als würde die Time-outMethode funktionieren. Und das tut sie auch oft für kurze Zeit. Wenn die Erwachsenen sich viel Mühe geben und konsequent sind, kann die Wirkung sogar ziemlich lange andauern. Es wirkt nämlich immer, wenn die Stärksten die Schwächsten kränken, doch später muss ein hoher Preis dafür gezahlt werden. Die Kinder kämpfen oft ihr Leben lang gegen Schuld und Scham und ihr geringes Selbstwertgefühl an. Außerdem wird das Verhältnis zu den Eltern schlecht. Diese Form der Kränkung hat nichts mit Erziehung zu tun. Sie ist eine Dressur, und die Wunden auf der Seele des Kindes werden nicht dadurch geheilt, dass an anderer Stelle gelobt wird. Wenn Sie also eine Auszeit nehmen wollen, dann nehmen Sie diese gemeinsam. Wenn sich der Konflikt auf destruktive Weise festgefahren hat, also ein Machtkampf entstanden ist, können Sie das Kind mit sich in einen anderen Raum nehmen, sich nebeneinandersetzen und zusammen über alles nachdenken.

Wenn es den Eltern gelingt, eine Weile zu schweigen, sind es oft die Kinder, die als Erste konstruktive Lösungsvorschläge machen.

Schließlich will ich Ihnen noch eine Faustregel mitteilen: Wenn Sie in Erwägung ziehen, Ihrem Kind gegenüber irgendeine »Methode« anzuwenden, dann überlegen Sie zuerst, ob Sie etwas Entsprechendes mit Ihrem Partner tun würden. Lautet die Antwort Nein, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine schlechte Idee – es sei denn, Sie würden zu jenen Erwachsenen gehören, die immer noch nicht einsehen wollen, dass es sich bei Kindern um richtige Menschen handelt.

Die Kunst, einen 12-Jährigen einzubeziehen

Ich schreibe Ihnen heute, weil mir der 12-jährige Sohn meines Mannes große Schwierigkeiten bereitet. Als sein Vater und ich ein Paar wurden, war er vier Jahr alt. Ich habe mit meinem Mann noch drei weitere Kinder bekommen, von denen der Älteste jetzt sechs ist. Wir haben es seit jeher als sehr anstrengend empfunden, wenn mein Stiefsohn bei uns war, denn er kapselt sich ab und wird völlig unzugänglich, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Er ist von Natur aus ein bisschen mürrisch, doch wenn es ihm gut geht, dann strahlt er über das ganze Gesicht. Allerdings lächelt er immer seltener, während seine Wortwahl immer aggressiver wird.

Mittlerweile verschließt er sich aus den geringsten Gründen vor uns: weil er hungrig ist und nicht warten kann, bis es etwas zu essen gibt; weil er kein Geld bekommt, um sich etwas zu kaufen; weil er sich langweilt oder weil er einfach »nach Hause« will, obwohl er weiß, dass das ausgeschlossen ist. Inzwischen ist er nur noch jedes zweite Wochenende und in den Ferien mit uns zusammen, und es gibt kaum einmal Tage ohne Konflikte. Ich bin bisher immer nett zu ihm gewesen, doch wenn er schlechte Laune hat, ziehe ich mich mittlerweile zurück und würde am liebsten die anderen Kinder vor ihm schützen. Manchmal spielt er schön mit dem Ältesten, aber die meiste Zeit liegt er auf dem Sofa, spielt Computerspiele oder sieht sich irgend etwas im Fernsehen an, während er sich über die Gegenwart seiner kleinen Geschwister ärgert.

Er nennt sie »kleine Scheißkerle« und tritt nach ihnen, wenn sie ihn »nerven«. Die Kleinen haben ihn lieb und tun alles, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch spüre ich auch, dass sie sich manchmal etwas unsicher fühlen. Ab und zu bringt er zum Ausdruck, dass er eifersüchtig ist. Bekommt einer von ihnen zum Beispiel ein Eis, dann müssen wir uns sofort anhören: »Ich krieg nie etwas!« Oft sagt er auch, wir würden uns nur um die anderen Kinder kümmern.

Wenn er bei uns ist, bin ich sozusagen eine alleinerziehende Mutter für die drei Kleinen, weil mein Mann seine Zeit dann mit ihm verbringen will. Er sagt kaum etwas anderes als »Keine Lust!« oder »Mir egal!« oder »Macht das doch selbst!«, obwohl wir unheimlich viel um die Ohren haben. Er hat quasi keine Interessen. Er hat schon mit vielen Dingen angefangen, verliert aber schnell die Lust, wenn er etwas nicht sofort beherrscht. Er hat zwar Freunde, vermisst aber wohl einen besten Freund. Vor Kurzem ist seine Mutter mit ihm in eine andere Stadt gezogen; in der neuen Schule fällt er durch Konzentrationsmangel, Integrationsschwierigkeiten und seine schlechte Laune auf.

Wenn er bei uns ist, kommt es vor, dass er mit seinen alten Freunden zusammen ist, und dann vergehen schon mal vierundzwanzig Stunden, ehe wir ihn wieder zu Gesicht bekommen. Natürlich wollen wir, dass er pünktlich nach Hause kommt, mit uns zusammen isst und sich an gewisse Regeln hält, doch bin ich auch erleichtert, wenn er anruft und sagt, dass er bei einem Freund übernachtet.

Wir haben ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, haben aber unterschiedliche Wertvorstellungen. Sie hat einen sehr entschiedenen Charakter und kann sich mit anderen Leuten lautstark streiten – wir dagegen sind eher konfliktscheu. Gemeinhin gelten wir als recht einfühlsam und umgänglich, was auch für unsere drei gemeinsamen Kinder gilt. Doch spüre ich, dass ich zugleich ein gewisses Temperament entwickelt habe; neulich habe ich dem Jungen gegenüber regelrecht zurückgeschrien: »Hier reden wir nicht so miteinander!« Außerdem habe ich gesagt: »Wenn du es hasst, hier zu sein, musst du mit deiner Mutter reden! Wir haben das zu oft gehört, und es tut uns weh!«

Wir sollten vermutlich eine Familienberatungsstelle aufsuchen, aber das ist ein schwerwiegender Schritt. Ich sage mir ständig, dass er ein Kind ist, noch dazu ein Scheidungskind, doch gleichzeitig will ich mich nicht damit abfinden, dass ein 12-Jähriger so viel Macht über mich und mein Wohlbefinden hat, ganz zu schweigen über meine Kinder. Wenn er hier ist, schleiche ich quasi durch mein eigenes Haus, wodurch er sich nicht sicherer zu fühlen scheint.

Ich fürchte immer mehr, dass die ganze Situation unsere Familie zerstört. Mein Mann schläft schlecht, und ich fühle mich als Stiefmutter gescheitert und habe eigentlich die Hoffnung aufgegeben, dass unser Verhältnis sich noch bessert. Was soll ich tun? Müssen wir weiterhin den halben Monat lang mit Bauchschmerzen verbringen?

Eine sehr unglückliche Stiefmutter

Antwort von Jesper Juul:

Ich habe mir erlaubt, Ihre Beschreibung ein wenig zu kürzen, obwohl sie so viele schöne Details enthält, und werde versuchen, mich bei meiner Antwort auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich stimme vollkommen mit Ihnen überein, dass ein 12-Jähriger weder die Familie noch ihre Stimmung lenken sollte und dass Sie und sein Vater etwas dagegen unternehmen müssen. Soweit ich sehe, geht es hier um einen Jungen, der durch die Scheidung seiner Eltern aus der Bahn geworfen wurde und noch nicht wieder in die richtige Spur zurückgefunden hat.

Seine beiden Familien haben ihr Bestes getan, doch hat es nie seinen Bedürfnissen entsprochen. Er ist niemals ein Teil seiner neuen Familie geworden, deshalb benimmt er sich auch nicht so.

Da die Pubertät vor der Tür steht, ist es nun wirklich fünf vor zwölf. Der folgende Rat, den ich Ihnen geben möchte, funktioniert in der Regel immer:

»Wenn Sie schon alles erfolglos versucht haben, probieren Sie es mit der Wahrheit!«

Die Wahrheit, der Sie und Ihr Mann sich stellen sollten, lautet: »Wir haben acht Jahre lang alles versucht, was wir konnten, damit du dich mit uns zusammen wohlfühlst. Doch jetzt sehen wir, dass uns das nicht gelungen ist. (Der letzte Satz ist der schwerste, aber auch der wichtigste. Er ist es, mit dem die Erwachsenen die Verantwortung übernehmen.) Wir haben es genauso schwer, wie du es offensichtlich auch hast. Deshalb brauchen wir deine Hilfe. Du musst uns erzählen, was wir falsch machen und wie wir es besser machen können.«

Mit diesen Worten geben Sie Ihrem Stiefsohn das Gefühl, dass Sie ihn endlich mitsamt seinen schwierigen Gefühlen wirklich ernst nehmen. Sie geben nicht länger ihm und seinem problematischen Verhalten die Schuld, dass Ihre Patchworkfamilie nicht reibungslos funktioniert, sondern erkennen Ihre Beteiligung am Entstehen der gesamten Situation an.

Am Anfang wird er nur kurze und nicht sonderlich intelligente Antworten geben, doch wenn Sie ihm zuhören, einfach nur zuhören, ohne zu argumentieren, wird er langsam auftauen und die richtigen Antworten finden. Denken Sie daran, dass er weiß, welche Grundsätze Sie haben, und dass jede Wiederholung der alten Ermahnungen den Kontakt zerstört. Seine 12-jährige Seele ist voller Schmerz und Verzweiflung, Gefühle, die bisher von keinem Erwachsenen gesehen und anerkannt wurden. Erst wenn das geschehen ist, kann er sich anpassen und Ihre Werte und Grenzen respektieren.

Trauer und Verliebtheit im selben Haus

Ich habe eine jahrelange konfliktvolle Partnerschaft hinter mir, in der wir immer wieder um eine funktionierende Beziehung gekämpft haben. Ich kann wirklich sagen, dass wir nichts unversucht ließen, aber als auch die letzte Paartherapie keine Lösung brachte, habe ich mir vor gut einem Jahr endlich ein Herz genommen und meine Frau verlassen. Unsere achtjährige Tochter wohnt nun im wöchentlichen Wechsel eine Woche bei ihrer Mutter und eine Woche bei mir – eine Regelung, die von Anfang an funktioniert hat, da meine Exfrau und ich gut miteinander kommunizieren.

Ich muss zugeben, dass ich mich seit der Scheidung »wie neugeboren« fühle, voller Energie und Lebensfreude. Nun habe ich mich vor wenigen Monaten auch noch in eine Frau verliebt, mit der ich mir vorstellen könnte, irgendwann zusammenzuziehen, was mich sehr glücklich macht. Doch inzwischen ist meine Freude getrübt. Meine Tochter, die oft gesagt hat, dass es ihr viel besser geht, nachdem ihre Mutter und ich uns getrennt haben, ist nun sehr zornig auf mich und meine neue Freundin. Sie zeigt uns das auch deutlich, indem Sie besonders meine Freundin schlecht behandelt. Meine Freundin mag meine Tochter sehr gern, ist durch ihr ablehnendes Verhalten aber auch verletzt.

Inzwischen ist es so weit gekommen, dass mein Kind nicht mehr in jeder zweiten Woche bei mir wohnen will, was für alle Beteiligten ein Problem ist. Ich hänge sehr an meiner Tochter, kann ihr schlechtes Benehmen aber nicht akzeptieren und möchte mir von ihr auch nicht vorschreiben lassen, mit wem ich zusammen sein darf. Jetzt brauche ich Ihren Rat, wie ich am besten mit ihrer Eifersucht umgehen soll.

Ein Vater, der glücklich und traurig zugleich ist

Antwort von Jesper Juul:

Jeder, der geschieden wird, fragt sich, was wohl das Beste für die Kinder ist oder inwieweit die Scheidung sie belastet. Sollten wir der Kinder wegen zusammenbleiben?, lautet eine der vielen Fragen, die vom Fragesteller meist umgehend mit der Feststellung beantwortet wird, dass es dem Wohl der Kinder nicht dienen kann, wenn ihre Eltern an einer unglücklichen Beziehung festhalten.

Die Situation im Umfeld einer Scheidung ist so komplex, dass es keine einfachen Antworten gibt. In jedem einzelnen Fall muss man die involvierten Seiten kennen, und selbst dann können die wechselseitigen Beziehungen noch Monate oder Jahre später unvorhersehbare Entwicklungen nehmen.

In Ihrer Familie war die Scheidung eine Erleichterung für die Erwachsenen, und Ihre Tochter war zunächst offenbar genauso erleichtert. Vielleicht nicht über die Scheidung an sich, doch in jedem Fall darüber, dass es ihren Eltern besser ging.