Erich Fromm
(1983c [1971])
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Über die Ursprünge der Aggression lauteten drei Rundfunkvorträge, die Erich Fromm 1971 im Süddeutschen Rundfunk hielt. Erstveröffentlichung der gedruckten Fassung 1983 in: E. Fromm, Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), S. 54-76. Mit textlichen Verbesserungen durch Rainer Funk wiederabdruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 349-363.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 349-363
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1971 by Erich Fromm; Copyright © 1983 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Dass man sich heute mit dem Problem der Aggression[1] immer mehr beschäftigt, braucht einen kaum zu wundern: Wir haben Kriege hinter uns, wir erleben Kriege in der Gegenwart, und wir fürchten uns vor einem Atomkrieg, für den sich alle Großmächte rüsten. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen ohnmächtig, daran etwas zu ändern. Sie sehen, dass die Regierungen scheinbar bei aller Weisheit und allem guten Willen es noch nicht einmal zustande bringen, das atomare Wettrüsten zu verringern oder zu stabilisieren. Und so ist es verständlich, dass die Menschen auf der einen Seite gerne wissen möchten, woher denn die Aggression kommt, und dass sie auf der anderen Seite aber auch sehr empfänglich sind für Theorien, die besagen, dass die Aggression gar nicht von den Menschen selbst geschaffen wird, dass sie auch nicht in den sozialen Bedingungen begründet liegt, sondern in der Natur des Menschen.
Gerade diese Position wurde sehr populär durch ein Buch von Konrad Lorenz, das vor einigen Jahren erschienen ist: Das sogenannte Böse – Zur Naturgeschichte der Aggression (K. Lorenz, 1963). Lorenz behauptet, dass Aggression ständig und spontan im Menschen erzeugt wird, und zwar in seinem Gehirn, dass sie ein Erbe unserer tierischen Ahnen ist und dass diese Aggression immer mehr steigt, immer größer wird, wenn sie kein Ventil hat. Gibt es einen Anlass, dann drückt sie sich aus; sind die Anlässe aber sehr schwach oder gibt es keine, dann explodiert zum Schluss diese akkumulierte Aggression. Der Mensch kann gar nicht anders, als nach einiger Zeit aggressive Akte zu begehen, weil die aggressive Energie sich in ihm so angehäuft hat. Diese Theorie kann man eine „hydraulische Theorie“ nennen: Je mehr der Druck steigt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass schließlich das Wasser oder der Dampf explodiert. Lorenz hat ein ganz hübsches Beispiel gegeben, mit dem er diese Theorie illustriert, die Geschichte von seiner Tante in Wien. Diese Dame hat jedes halbe Jahr ein neues Dienstmädchen angestellt; das war noch in den alten Zeiten. Und wenn das Dienstmädchen kam, dann war sie immer ganz begeistert und hatte die größten Erwartungen. Das dauerte ein, zwei Wochen, dann schwand langsam die Begeisterung. Schließlich wurde sie kritisch, unzufrieden, und nach ungefähr sechs Monaten wurde sie so wütend auf das Dienstmädchen, dass sie ihm gekündigt hat. Das spielte sich mehr oder weniger regelmäßig alle sechs Monate ab. Dieses Beispiel soll zeigen, wie die [XI-350] Aggression langsam akkumuliert und wie sie sich dann an einem bestimmten Punkt entladen muss.
Von außen gesehen sieht das vielleicht so aus. Aber wenn man etwas mehr vom Menschen versteht als Lorenz – er versteht sehr viel von Tieren –, dann weiß man, dass das keine sehr gute Erklärung ist. Ein Psychoanalytiker – und nicht nur er, sondern die meisten Menschen mit ein bisschen Einsicht – wird annehmen, dass diese Tante eine sehr narzisstische, ausbeuterische Frau ist, die gerne möchte, dass, wenn sie schon ein Dienstmädchen mietet, sie mit dem Gehalt oder Lohn nicht nur acht Stunden Arbeit kauft, sondern die Liebe, die Treue, die Anhänglichkeit, die Freundlichkeit und fünfzehn Stunden Arbeit am Tag. So kommt sie immer mit dieser großen Erwartung dem neuen Mädchen entgegen, ist wohl am Anfang auch etwas nett und verführerisch zu ihr, weil sie schon im Voraus annimmt, das wird die Richtige sein. Aber bei näherem Zusehen ist das Dienstmädchen durchaus nicht die Person, die ihren Erwartungen entspricht. So wird sie immer enttäuschter, wird wütender, wirft sie in der Hoffnung hinaus, dass sie das nächste Mal die Richtige finden wird. Da sie außerdem wahrscheinlich nicht viel zu tun hat, gibt das ihrem Leben etwas Dramatik. Und sie hat etwas zu erzählen; wahrscheinlich ist es der Hauptgesprächsstoff, über den sie mit ihren Freundinnen reden kann. Das alles hat also gar nichts mit aufgestauter Aggressivität zu tun, sondern mit einer ganz bestimmten Charakterstruktur. Ich bin sicher, zumindest die Älteren von Ihnen kennen eine ganze Reihe von Menschen, die sich – ob es nun noch Dienstmädchen gibt oder nicht – im entsprechenden Fall genauso verhalten würden.
Die Theorie vom angeborenen Aggressionstrieb, auf deren Einzelheiten ich hier nicht eingehen kann, steht in einer gewissen Nähe zur älteren Theorie vom Todestrieb. Seit den zwanziger Jahren nahm Freud an, dass es in jedem Menschen, in allen Zellen, in aller lebendigen Substanz zwei Triebe gibt: den Trieb zum Leben und den Trieb zum Sterben. Und dieser Trieb zum Sterben – oder, genauer gesprochen, zum Tode –