Alex Winter
Späte Rache
Das Buch:
»Daryl ließ sich seitlich zu Boden fallen, gleichzeitig fiel ein weiterer Schuss. Ein heißer Schmerz wie von einem glühenden Eisen streifte seinen Arm. Er rollte sich ab, kam auf die Knie – und blickte in die Mündung der Smith & Wesson.«
Detective Daryl Simmons erreicht mit der Forensikerin Dr. Foley das nach heftigen Niederschlägen von der Umwelt abgeschnittene Outback-Nest Douberie. Eigentlich gehört Daryl zu einem Untersuchungsteam der Polizei von Queensland, das vor Ort eine mysteriöse Mordserie untersuchen sollte, doch durch die widrigen Wetterumstände sind Dr. Foley und er die Einzigen, die es bis in die abgelegene Ortschaft geschafft haben. Drei Menschen sind dort bereits ermordet worden. Warum aber wurden alle Opfer an Wulgaru, einem von den Aborigines für einen bösen Teufel gehaltenen Geistereukalyptus, vor der Mission aufgehängt? Alles deutet auf einen rituellen Eingeborenen-Henker als Täter hin, doch Daryls Liste der Verdächtigen umfasst so gut wie jeden Einwohner Douberies. Seine Ermittlungen erweisen sich als äußerst schwierig, denn der abgrundtiefe Hass zwischen den Aborigines und den weißen Einwohnern währt seit Jahrzehnten. Je tiefer Daryl in der Vergangenheit Douberies wühlt, umso unglaublicher und erschütternder ist das, was er zutage fördert.
Der Autor:
Alex Winter, geboren 1960 in Zürich/Schweiz, absolvierte die Kunstgewerbeschule in Zürich. Er arbeitete zunächst als Dekorationsgestalter, später in verschiedenen Berufen im In- und Ausland. Seit 1980 unternimmt er immer wieder mehrjährige Reisen, die ihn vor allem nach Australien, Neuseeland und in die Südsee führen. Alex Winter lebt heute mit seiner Frau im Zürcher Oberland.
www.alex-winter.com
Alex Winter
Roman
Späte Rache
Detective Daryl Simmons 6. Fall
Alex Winter
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Satz: at Bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: CPI books
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-52-954-4 (Paperback)
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Epilog
Danksagung
Gewidmet der
Stolen Generations of Australia
Gerechtigkeit ist der Strohhalm des Wehrlosen,
Rache der des Verletzten.
Else Pannek
Pater Michael McDermott: ehemaliger Missionsleiter
Maggy O’Reilly: Hotelbesitzerin
William O’Reilly: ihr Mann
Chester Coltrane: Inspector des Department of Transport and Main Roads
Elisabeth Coltrane-Shearer: seine Schwester und Douberies Krankenschwester
Carl Shearer: ihr Mann und Allan Shearers Bruder
Allan Shearer: Rinderfarmer, Carl Shearers Bruder
John-Boy Shearer: Allan Shearers Sohn
Becky-Lee Shearer: Allan Shearers Tochter
Nathan Fisher: erstes Mordopfer
Gordon Webster: ehemaliger Senior Sergeant von Douberie
Kevin Long: Automechaniker
Florence Long: seine Frau
Marla Long: ihre Tochter
Pater Desmond Harper: Leiter des geplanten Missionswaisenhauses
Chris Lacey: Lehrer des geplanten Missionswaisenhauses
Vincent Blake: ehemaliger General Store Besitzer
Andy Porter: Hilfskraft, Koch bei Maggy O’Reilly
Dr. Rebecca Foley: forensische Rechtsmedizinerin aus Brisbane
Bullen Bullen: behinderter Aborigine
Mingarabinghi: alter, blinder Aborigine
Worippa: seine Aborigine-Frau
Detective Daryl Simmons: als Berater hinzugezogener Detective aus Perth /WA
Der Roman handelt im Outback von Queensland, Australien.
Prolog
Wie er diesen Baum doch hasste!
Besonders in einer Vollmondnacht wie dieser, in der die glatte schneeweiße Rinde des Geistereukalyptus auf gespenstische Weise von innen zu leuchten schien.
Der schlangenförmige Stamm mit dem weit nach Osten überhängenden Ast, der aussah wie ein unter der Last unzähliger Gehängter gekrümmter Galgenbaum, jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken.
Die weißen Bewohner Douberies nannten ihn Henkersbaum, die Eingeborenen Wulgaru, was so viel wie der Holzteufelmann bedeutete. Sie machten einen großen Bogen um den Ghost Gum, was kein Wunder war beim Aberglauben der Schwarzen.
Mehrere Eingeborene hatten sich bereits an ihm erhängt. Der letzte Vorfall lag einige Jahre zurück. Damals waren gleich zwei halbwüchsige Aborigine-Kinder gemeinsam auf den gekrümmten Ast geklettert und mit einem Strick um den Hals in den Tod gesprungen. Michael konnte sich noch gut daran erinnern, war er doch dabei gewesen, als man sie am nächsten Morgen fand.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man damals diesen unseligen Baum gefällt. Doch als sich er und andere weiße Bewohner Douberies mit Äxten, Sägen und einem Bulldozer ans Werk machen wollten, waren die Eingeborenen wie eine Horde wütender Barbaren dazwischengegangen. Obwohl sie den Ghost Gum für einen bösen Geist hielten, verhinderten sie, dass er gefällt wurde. »Wulgarus Rache wird nicht nur für die fürchterlich sein, die es wagen ihn anzurühren, sondern sie wird uns alle treffen«, hatten sie prophezeit. »Er wird wie ein Rudel ausgehungerter Dingos über euch und uns herfallen und jeden töten.«
Dies hatte, zum Bedauern der weißen Einwohner von Douberie, weitherum für großes Aufsehen gesorgt. Um die Gemüter zu beruhigen und dafür zu sorgen, dass wieder Ruhe einkehrte, hatte Michael den Eingeborenen versprochen, der Baum würde stehen bleiben.
»Aborigines und ihr Aberglaube«, knurrte Michael. Er klaubte eine zerknitterte Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines Kollarhemdes, zündete sich einen verbogenen Glimmstängel an und sog genüsslich den Rauch ein.
Während er den Baum betrachtete, materialisierten sich vor seinem geistigen Auge die Körper der beiden Eingeborenenkinder. Er sah sie am Baum hängen, bewegungslos wie Strohpuppen. Ihre Augen waren trübe und leblos wie zwei graue Hosenknöpfe, und doch schienen sie ihn anklagend anzustarren. Ausgerechnet ihn, Pater Michael McDermott, der sich aufopferungsvoll um sie gekümmert hatte, dem sie Zuwendung, zwei warme Mahlzeiten am Tag und ein Dach über dem Kopf zu verdanken gehabt hatten.
Er seufzte. Diese armen, ungläubigen und verlorenen Seelen. Sie taten ihm leid. Jeder Mensch wusste doch, dass Selbstmord Sünde war und es Gott allein vorbehalten war, über das Ende eines Menschenlebens zu bestimmen. Auch die beiden Eingeborenenkinder hatten das gewusst. Und doch hatten sie sich erhängt und ihn damit zutiefst verletzt und letztendlich auch in Schwierigkeiten gebracht. Und damit nicht genug.
Kaum war er in Douberie angekommen, hatte er erfahren, dass kurz zuvor zwei weiße Einwohner des Ortes, die er von früher her gut gekannt hatte, am Baum erhängt aufgefunden worden waren. Zufall? Er bezweifelte es. Zumal das eine Opfer eine Beule am Hinterkopf aufgewiesen hatte, die durchaus von einem Betäubungsschlag herrühren konnte, während ein Zeuge beim anderen Erhängten eine schwarz-weiße Geistergestalt beobachtet hatte, die wie ein ritueller Eingeborenenhenker ausgesehen hatte.
Ein kühler Windstoß streifte Michaels Gesicht und ließ die langen Eukalyptusblätter im Baum leise rascheln. Es klang wie geisterhaftes Geflüster. Michael lief ein eisiger Schauder über den Rücken. Erneut begann die Realität zu verschwimmen und machte Bildern aus seiner Erinnerung Platz.
Er blickte hinauf zu den Körpern der beiden Aborigine-Kinder, die gemeinsam in den Tod gesprungen waren. Langsam begannen sie, sich im Wind zu drehen. »Genau wie damals«, flüsterte er, kniff die Lider zusammen und bekreuzigte sich. »Aber damals ist nicht heute und ihr seid nicht real, sondern tot und begraben!«
Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, öffnete er die Augen. Der Geistereukalyptus hatte aufgehört zu leuchten und die Vision der erhängten Kinder war verschwunden. Dafür war die Nacht nun plötzlich so schwarz und Furcht einflößend wie die Hölle.
Michael griff in die Hosentasche. Er kramte eine kleine Pillendose heraus, öffnete sie, schüttelte eine Verapamiltablette in die zittrige Hand und schluckte sie. Er sollte dringend mit dem Rauchen aufhören und abnehmen, sein Arzt hatte es ihm sicher schon ein Dutzend Mal gesagt. Sein Blutdruck war zu hoch, er hatte Herzrhythmusstörungen und durch einige seiner Arterien floss das Blut so zähflüssig wie der Verkehr zur Rushhour über Sydneys Harbour Bridge.
Nach ein paar tiefen Atemzügen blickte er hinauf zum Himmel. Dort, wo zuvor noch ein fetter Mond zwischen einem Meer aus funkelnden Sternen gestanden hatte, breitete sich nun Finsternis aus.
Die Welt um Michael schien rasend schnell zu schrumpfen. Er hatte das Gefühl, als läge er eingezwängt in einem Sarg, über dem langsam der Deckel zugezogen wurde.
Vielleicht hätte er nicht hierher zurückkehren sollen. Nur nach dem Brief, den er vor drei Wochen erhielt, hatte er keine andere Wahl gehabt. Außerdem wollte er nicht, dass man ihn für einen Feigling oder gar einen Verräter hielt. Denn, Gott war sein Zeuge, das war er nicht!
Ein erneuter Windstoß ließ die Glut seiner Zigarette aufleuchten. Auch das weckte Erinnerungen, diesmal jedoch angenehme. Sie durchströmten jede Faser seines Körpers, wohlig warm wie ein alter, schwerer Single Malt. »Alles wird gut, du bist nicht allein, Gott ist bei dir«, flüsterte er.
In diesem Moment schnitt ein Blitz wie ein glänzendes Skalpell durch die schwarze Wolkenwand. Michael zuckte zusammen. Er wartete auf das Donnergrollen, doch das blieb aus. Stattdessen zuckten weitere Skalpelle durch die Nacht.
Er stöhnte. »Das hat gerade noch gefehlt.« Zwar war das Gewitter noch weit entfernt, doch schon vor sechs Tagen hatte es hier, über tausend Kilometer weit im Landesinnern von Queensland, geregnet. Acht Stunden lang, ohne Unterbrechung. Die unzähligen Flüsse, Bäche, Salzseen und Lehmpfannen des Channel Countrys hatten sich gefüllt und das ausgetrocknete Grasland teilweise überflutet. Weite Strecken der zum Teil ungepflasterten Straßen hinauf zum über fünfhundert Kilometer entfernten Barkley Highway im Norden und dem siebenhundert Kilometer im Osten liegenden Longreach waren seither unpassierbar. Wenn jetzt noch mehr Regen fiel, dann drohte auch die Landebahn von Douberie überflutet und die kleine Ortschaft für mehrere Wochen von der Umwelt abgeschnitten zu werden. Eine schreckliche Vorstellung.
Alles, was er sich im Moment wünschte, war, wieder in sein geordnetes Leben in Toowoomba zurückzukehren. Den Namen Douberie wollte er danach nie wieder hören, die Erinnerungen endgültig aus seinem Gedächtnis verbannen. Doch zunächst musste er sich Klarheit verschaffen. Klarheit darüber, wer ihm diesen höchst beunruhigenden Brief geschrieben hatte.
Zwei weitere Blitze zuckten vom Himmel, dann noch ein dritter und … Was war das? Ein unscharfes, scheibenförmiges weißes Licht tanzte von Nordwesten auf ihn zu. Michael wich langsam zurück, gleichzeitig bekreuzigte er sich wieder. War das etwa … ein Min Min Licht?
Er hatte schon von diesen ungewöhnlichen Lichterscheinungen gehört, sie aber immer als Aberglaube der Schwarzen oder Wichtigtuerei von irgendwelchen Spinnern abgetan. Doch nun sah er eine mit eigenen Augen. Das Licht war nicht natürlich, tanzte auf und ab, nur knapp zwei Meter über dem Boden, beschrieb plötzlich einen Bogen und kam direkt auf ihn zu.
Michael ließ seine Zigarette auf den Boden fallen, drehte sich um und stolperte in Richtung der alten Missionskapelle. Als er die massive Eisenholztür erreichte, sah er, dass der Schlüssel im Schloss steckte und die Tür einen Spaltbreit offen stand. Das war merkwürdig, denn normalerweise war sie immer verschlossen, so auch vor ein paar Minuten, als er an ihr vorbeigegangen war. Er zögerte. War heimlich jemand hinter seinem Rücken in die Missionskapelle geschlüpft? Vielleicht Pater Harper?
Auf einmal wurde es hell um ihn herum und seine Silhouette warf einen deutlichen Schatten auf die dunkle Tür. Michael riss den Kopf herum. Das Min Min Licht schoss als verschwommene Kugel auf seinen Kopf zu. Er duckte sich erschrocken, sah, wie das Licht im rechten Winkel über ihn hinwegjagte, um dann wieder als hüpfender Lichtball zurückzukehren.
Michael stieß die schwere Eisenholztür mit beiden Händen auf, stolperte in den dunklen Raum und presste den Rücken gegen die Tür, bis sie ins Schloss fiel. Ein dumpfer Ton hallte durch die Kapelle. Michael atmete erleichtert aus. Das Min Min Licht, diese unheimliche, hell schimmernde Lichtquelle, die sich nicht nur in alle Richtungen bewegen, sondern auch ihre Geschwindigkeit verändern konnte, gab es also wirklich.
Sein Verstand sagte ihm, dass es dafür eine logische Erklärung geben musste. Aber alle gängigen Theorien schienen ihm im Hinblick auf das eben Erlebte plötzlich wenig überzeugend.
Draußen zuckten weitere Blitze durch die Nacht. Für Sekundenbruchteile warfen sie ihre Lichtstrahlen durch die Bleiglasfenster in die Kapelle, wo sie als gespenstische Schattengestalten zwischen den Holzbänken herumhuschten. Kein Zweifel, das Unwetter kam immer näher.
Eine weitere Blitzsalve erleuchtete den Raum taghell. Er sah, dass die Tür zur Sakristei am Ende der Kapelle offen stand. Das beunruhigte ihn noch mehr, denn normalerweise war sie zugesperrt. Sein Herz raste. »Hallo, ist da jemand?«
Als das Wetterleuchten einen Moment nachließ und den Hauptraum wieder in Dunkelheit hüllte, bemerkte er einen schwachen Lichtschein in der Sakristei. Der Strahl einer Taschenlampe?
Michael war unschlüssig. Sollte er nachsehen oder doch besser ins Hotel zurückkehren? Keine Taschenlampe, entschied er. Die Lichtquelle flackerte, fast wie … ein Feuer? »Nur das nicht«, flüsterte er besorgt und eilte zum Nebenraum.
Die Sakristei war durch ein hohes Büchergestell in zwei Bereiche unterteilt. Im einen waren eine kleine Bibliothek sowie die für den Gottesdienst benötigten Utensilien untergebracht, im anderen befand sich sein ehemaliges Büro, das inzwischen zu einem kleinen Museum umfunktioniert worden war.
Er blieb im Türrahmen stehen. »Ich bin es, Pater Michael. Ist hier jemand?« Keine Antwort. Er sah sich um. Durch die Schlitze des Bücherregals schimmerte Licht. Die weiß gestrichenen Lehmziegelwände reflektierten es zwar nur schwach, doch immerhin reichte das aus, um zu erkennen, dass niemand in diesem Teil der Sakristei war. Michael trat leise ein, dann ging er vorsichtig um das Gestell herum.
Der wuchtige englische Schreibtisch befand sich noch immer in der Mitte des Büros, so, wie er ihn einst platziert hatte. Auf ihm stand ein antiker, dreiteiliger Kerzenständer, die Quelle des Flackerlichts.
Er blickte hinüber zum alten Sprossenfenster. Es war halb geöffnet, davor stand einer der ungepolsterten Besucherstühle. Michael ging hin, warf einen Blick hinaus in die Dunkelheit, dann verriegelte er das Fenster. Er hatte sich nicht geirrt. Jemand war heimlich in die Kapelle geschlichen, hatte das alte Schloss zur Sakristei aufgesperrt und die Kerzen angezündet. Dann, als er Michael rufen hörte, war er durch das Fenster geflüchtet. Vielleicht einer der Eingeborenen?
»Was heißt hier vielleicht«, schnaubte er. In den letzten Jahren hatten sich immer mehr Eingeborene in Douberie angesiedelt, wie ihm die Inhaberin des Hotels, Maggy O’Reilly, bei seiner Ankunft erzählt hatte. Alte Türschlösser wie das zur Sakristei stellten für sie vermutlich kein Hindernis dar.
Michael drehte sich um. Die dicken Kerzen brannten nun ruhig und friedlich. Sie hüllten den verzierten Eichenschreibtisch in ein goldenes Licht, was ihn wie einen wertvollen Altar erstrahlen ließ.
Wieder zuckten Bilder aus der Vergangenheit wie Glutfunken durch sein Gehirn. Er sah den Aborigine, der ihm den alten, kunstvoll verzierten Kerzenständer brachte. Gefunden hatte er ihn im über hundert Jahre alten Abfallhügel der ersten Siedler, der sich zwei Kilometer außerhalb von Douberie befand. Michael erinnerte sich daran, wie er ihn dafür angemessen belohnte. Dann folgte ein Zeitsprung zu der Szene, in der er seinen Schreibtisch räumte, um Douberie den Rücken zu kehren. An diesem Tag war auch der Kerzenständer verschwunden, der immer am oberen linken Rand des Tisches gestanden hatte.
Michael kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um die Trugbilder aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Was hatte das alles zu bedeuten? Warum stand der verschwundene Kerzenständer nun plötzlich wieder auf dem Schreibtisch und weshalb standen die beiden mittleren Schubladen zehn Zentimeter weit offen?
Das eingebaute Geheimfach … Er war sicher, dass niemand von dem Versteck wusste. Er selbst hatte es ja auch nur durch Zufall entdeckt. Eine Maus hatte sich in dem antiken Möbel eingenistet. Um den lästigen Nager zu erwischen, hatte er den ganzen Schreibtisch ausräumen und alle Schubladen herausnehmen müssen. Dabei war ihm aufgefallen, dass die Mittelschubladen kürzer waren als die restlichen. Schnell fand er heraus, wie er die Doppelwand hinter ihnen zur Seite schieben konnte.
Das Geheimfach war leer gewesen. Sein Vorgänger hatte sicher nichts von seiner Existenz gewusst, sonst hätte er ihm bestimmt davon erzählt.
Michael war für diese Entdeckung sehr dankbar gewesen. Auch im Leben eines Paters gab es Dinge, die privat waren und von denen niemand etwas zu wissen brauchte.
Als die Mission geschlossen wurde und er seine neue Stelle in Toowoomba antrat, hatte er weder dem christlichen Verwalter, der seither sechs Mal im Jahr aus Mount Isa kam, um nach dem Rechten zu sehen, noch sonst jemandem in Douberie von dem Geheimfach erzählt. Dieses Versteck war für ihn so etwas wie sein privater Schrein gewesen. Die Vorstellung, dass es nach ihm eine andere Person benutzt hätte, wäre ihm wie eine Entweihung vorgekommen.
Michael seufzte und setzte sich in den antiken Drehstuhl. Er wusste, dass das Fach leer war, doch er konnte einfach nicht widerstehen. Er musste es öffnen. Der alten Zeiten willen und wegen des prickelnden Gefühls, das immer damit verbunden gewesen war.
Er öffnete das oberste der sechs Schubfächer auf der rechten Tischseite. Dann zog er die linke Mittelschublade heraus und legte sie auf die Tischplatte. Als Nächstes streckte er den Arm in den Hohlraum und drückte leicht gegen die Rückwand. Dank des geöffneten Schreibtischfachs rechts ließ sich nun die Rückwand auf die rechte Seite schieben.
Er schloss die Augen, genoss die Erinnerung an früher, wenn er die Hand in das Versteck geschoben hatte, um … »Ahh!«
Der Schmerz war so entsetzlich, als würde ein Schweißbrenner ein Loch in seinen Handrücken brennen. Michael sprang auf, ohne jedoch rechtzeitig den Arm zurückzuziehen. Sein Handgelenk brach mit einem hässlichen Knacken. Wie ein Stromschlag schoss der Schmerz seinen Arm hinauf bis in sein Gehirn. Ein weiterer Feuerstoß bohrte sich in seinen Handrücken.
Er ging in die Knie und riss den Arm zurück, gleichzeitig brannte der Schweißbrenner ein weiteres Loch in seine Hand. Er sah, dass etwas an seiner Hand hing und schrie. Bevor er es wegreißen konnte, fiel es vor seine Knie. Im Schatten, den der Schreibtisch auf den Boden warf, konnte er es nicht erkennen, doch es bewegte sich. Eine Ratte?, schoss es ihm durch den Kopf. Im selben Moment schlug das Ding erneut zu, diesmal in seinen Oberschenkel. In panischer Angst stieß sich Michael mit einer Hand von der Tischkante ab, strauchelte halb über den Stuhl und fiel auf den Rücken. Der instinktive Versuch, den Sturz mit beiden Händen aufzufangen, war fatal. Ein Feuerwerk aus Farben, Sternen und grellen Blitzen zuckte durch seinen Kopf, angefacht von nie da gewesenen Schmerzen.
Michael kippte auf die Seite und sein Kopf schlug dumpf auf dem Holzfußboden auf. »Nicht … ohnmächtig … werden«, flüsterte er heiser.
Während die Schmerzen langsam ein wenig nachließen, wurde auch sein Blick wieder etwas klarer. Vorsichtig richtete er sich mit seiner unverletzten Hand auf. Er blickte auf sein gebrochenes Handgelenk und entdeckte sechs blutende Löcher. »Allmächtiger Gott, das sind Schlangenbisse!«
Die Angst drang wie ein heißes Fieber in jede Faser seines Körpers, gleichzeitig wusste er, dass er nicht in Panik geraten durfte. Sein Herz … Er spürte, wie es ungleichmäßig schlug. Nimm ein Verapamil! Nein, besser nicht. Er wusste ja nicht, welche Wirkung es auf das Schlangengift hatte.
Das Wichtigste war jetzt, möglichst schnell den Arm und das Bein abzubinden, damit so wenig Gift wie möglich in seinen Kreislauf geriet. Doch mit einer gebrochenen Hand ging das nicht. Zum Glück waren es bis zum Hotel nur knapp dreihundert Meter. Wenn man ihn mit dem Flugzeug ins nächste Krankenhaus flog, oder noch besser, der Royal Flying Doctor Service ihn abholte, hatte er eine gute Chance, zu überleben.
Stöhnend kam er auf die Beine. Wo war die Schlange? War sie noch unter dem Schreibtisch oder bereits weitergekrochen, vielleicht unter das Bücherregal? Keine hastigen Bewegungen, denk an deinen Puls, mahnte er sich zur Ruhe. Er hielt den Arm mit der gebrochenen Hand im rechten Winkel an die Brust gepresst, gleichzeitig versuchte er, mit der anderen Hand den Blutfluss im verletzten Arm zu unterdrücken.
Merkwürdig, dachte er, als er unsicher in einem respektvollen Bogen um den Tisch und das Bücherregal Richtung Ausgang wankte. Hatte er die Tür vorhin nicht offen stehen lassen?
Michael drückte mit dem Ellbogen die Klinke hinunter, gleichzeitig stemmte er sich mit der Schulter gegen die Tür.
Sie ließ sich nicht öffnen. Er ließ den verletzten Arm los und rüttelte am Türgriff. »Aufmachen«, rief er. Seine Stimme klang hysterisch, was seine Angst nur noch schürte. Mit der Faust hämmerte auf das raue Holz. »In Gottes Namen, aufschließen!«
Nichts geschah. Michael spürte, wie sich Panik in ihm breitmachte, wie sie seinen Verstand und damit die Kontrolle über sein Handeln übernahm.
Er drehte sich um und stolperte wie ein Betrunkener um das Bücherregal Richtung Fenster. Dabei nahm er im Schatten neben dem Schreibtisch eine Bewegung wahr. Die Schlange! Sie war höchstens einen halben Meter lang, doch es war zu dunkel, um die Art bestimmen zu können. Er machte einen großen Bogen um sie, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen.
Als er das Sprossenfenster erreichte und es öffnen wollte, zuckten draußen nacheinander gleich mehrere Blitze aus dem pechschwarzen Himmel. In ihrem grellen Schein erkannte er die schemenhaften Konturen einer schwarzen, geisterhaften Gestalt, die mit jedem Lichtblitz ein Stück näher auf das Fenster zusprang. Ihr Gesicht war eine schneeweiße Halbmaske mit zwei großen schwarzen Augen. Sie hatte Ähnlichkeit mit dem Antlitz einer Schleiereule. Der Körper bestand aus jeweils zwei parallel verlaufenden, weiß gepunkteten Linien, die sich unterhalb des Schleiereulengesichts in zwei Bögen bis einen halben Meter über dem Boden erstreckten, wodurch das unheimliche Wesen aussah, als würde es schweben.
Ein Kurdaitcha-Mann! Wie betäubt wich Michael langsam vom Fenster zurück. Kalter Schweiß brach ihm aus. »Allmächtiger Gott, ich flehe dich an, erbarme dich meiner«, flüsterte er mit zitternder Stimme.
Ein weiterer Blitz erhellte die Nacht und an der Fensterscheibe materialisierte sich für eine Sekunde die diabolisch grinsende Fratze des rituellen Eingeborenenhenkers.
»Nein«, schrie Michael, als das Fenster zersplitterte und die Glasscherben wie Glutfunken auf den Holzfußboden prasselten. Er wollte sich umdrehen und davonrennen, doch wohin? Die Tür war verschlossen und in der Dunkelheit lauerte eine Schlange. Er saß in der Falle.
Ein kleiner Gegenstand flog durch das zerborstene Sprossenfenster und fiel klimpernd vor Michaels Füße. In diesem Augenblick blitzte es wieder. Er starrte zum Fenster, doch die furchterregende Fratze war verschwunden.
Stöhnend vor Schmerzen bückte er sich und hob den Gegenstand auf. Es war der Schlüssel zur Sakristei. Ruckartig drehte er sich um und torkelte, ohne nach links oder rechts zu blicken, zur Tür.
Als er aufgeschlossen hatte und durch den Türrahmen in die Kapelle wankte, realisierte er, wie wenig Sinn das alles machte. Kurdaitchas retteten keine Leben, sie löschten sie aus. »Egal«, keuchte er, hastete den Mittelgang hinunter zum Eingangsportal, riss die schwere Eisenholztür auf und wankte nach draußen.
Fette Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht. Er rang nach Luft, versuchte, die brennende Übelkeit, die wie glühende Lava aus seinem Magen hochstieg, hinunterzuschlucken.
In diesem Moment sprang der Kurdaitcha hinter dem Geistereukalyptus hervor und stellte sich ihm mit erhobenem Speer in den Weg.
Michaels Herz verkrampfte sich. Stechende Schmerzen breiteten sich wie elektrische Schläge von seiner Brust in alle Richtungen seines Körpers aus. Ihm wurde schwindlig und er begann, alles doppelt zu sehen.
Ein Herzinfarkt, oder die Wirkung des Schlangengiftes, vielleicht auch beides, wurde er sich gewahr.
Langsam und nach Atem ringend, sank er am Fuße der steinernen Plattform vor der Kapelle auf die Knie. Als er zum Kurdaitcha-Mann aufblickte, konnten seine Augen ihn schon nicht mehr klar sehen. »Du?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Warum … du?«
Anstelle einer Antwort zuckten drei grelle Blitze vom Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnergrollen und sintflutartig einsetzendem Regen.
Michaels Kopf sank auf seine Brust, dann kippte er vornüber und fiel über die Stufe des steinernen Vorplatzes auf die nasse dunkelrote Erde.
Eine Welle aus glühenden Schmerzen brach über ihm zusammen. Wie ein Wurm krümmte und wand er sich auf dem matschigen Boden, in der irren Hoffnung, sich aus der Umklammerung befreien zu können. Je mehr er sich bemühte, umso schneller versiegten seine Kräfte. Mit der Erkenntnis, dass er die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte, schob sich auch die unbarmherzige Gewissheit in sein Bewusstsein, dass er sterben würde.
Ein letztes Mal versuchte er, sich aufzubäumen, doch mehr, als den Kopf zu heben, schaffte er nicht. Der Kurdaitcha-Mann war zwar wie durch Geisterhand verschwunden, dafür umkreiste ihn jetzt wieder das unheimliche, hüpfende Min Min Licht.
Am Ende seiner Kräfte ergab sich Michael seinem Schicksal, schloss die Augen und sank zurück auf den Boden. Rinnsale mit schmutzigem Regenwasser umspülten ihn, schwemmten Sand und schlammige Erde in seinen halb geöffneten Mund. Er ließ es geschehen. Erde zu Erde …
1
Daryl trat aus dem kleinen backsteinernen Flughafengebäude von Winton, einer Eintausend-Seelen-Gemeinde mitten in der weiten, öden Landschaft Südwest-Queenslands.
Unter dem Wellblechvordach, das den wenigen Passagieren Schatten vor der sengenden Outbacksonne spenden sollte, blieb er stehen und blickte zum Himmel.
Wie die klebrig zähe Masse aus einem Betonmischer wälzte sich aus Nordosten eine dunkelgraue Wolkenwand über die flache, baumlose Graslandschaft. Spätestens in einer Dreiviertelstunde war es vorbei mit der Regenpause. Ein verrücktes Jahr, was das Wetter anging. Fast in ganz Australien hatte es überdurchschnittlich viel geregnet und Queensland war davon wieder einmal ganz besonders betroffen.
Das Channel Country, im Inneren Ostaustraliens gelegen, verdankte seinen Namen den ausgetrockneten Flussläufen unterschiedlicher Größe, die das Land durchquerten. Es umfasste ein Gebiet von über 883.000 Quadratkilometern, der größte Teil gehörte zu Queensland, an den Randgebieten grenzte es an das Northern Territory, South Australia und New South Wales. Es zählte zu den trockensten Gebieten Australiens, in dem im Sommer die ausgelaugte Erde staubig war, das Tussock- und Mitchell-Grasland verdorrt, die Flüsse, Salzseen und Lehmpfannen ausgetrocknet und die Temperatur bis auf fünfzig Grad Celsius stieg.
Alle paar Jahre, nach besonders starken und ausgiebigen Monsunregenfällen im tropischen Norden, verwandelte sich das Channel Country jedoch in den Monaten Januar und Februar in ein gewaltiges Überschwemmungsgebiet.
Wenn man den Meteorologen glauben durfte, würde dieses Jahr, zumindest für Queensland, das schlimmste Regenjahr seit 2010 werden. Damals hatte der Wirbelsturm Olga nicht nur an der Küste für große Schäden und gewaltige Überschwemmungen gesorgt, auch das Channel Country hatte ungewöhnlich viel Wasser abbekommen, wodurch viele der abgelegenen Farmen und weit verstreuten Ortschaften für längere Zeit völlig von der Umwelt abgeschnitten worden waren.
Auch Douberie konnte inzwischen nicht mehr auf dem Landweg erreicht werden. Nicht viel besser sah es mit der Landepiste aus, wie man ihm eben via Funk bestätigt hatte.
Daryls Bein schmerzte, als er über den Plattenweg durch die eingezäunte Rasenfläche zur geteerten Landebahn humpelte. Ein weiteres untrügliches Zeichen, dass das Wetter umschlug.
Er war vor über drei Stunden von Broken Hill kommend in Winton gelandet. Hier hätte er in die Turboprop-Maschine der regionalen Fluggesellschaft Regional Express, mit der das Polizei- und Forensik-Team aus Brisbane angereist war, umsteigen sollen, um gemeinsam mit ihnen weiter nach Douberie zu fliegen. Doch wie er eben erfahren hatte, war der Weiterflug gestrichen worden.
Daryl trat neben eine junge Frau, die mit hängendem Kopf zwischen einem kleinen Rollkoffer mit aufgeschnalltem Arztkoffer und Daryls bescheidener Reisetasche stand. Die Frau war mittelgroß und von zartem Wuchs, ohne zerbrechlich zu wirken. Als sie Daryl bemerkte, blickte sie zu ihm auf und strich sich eine ihrer golden schimmernden Locken aus dem Gesicht.
»Sie machen ja ein Gesicht, trüber als das Wetter«, sagte Daryl und lächelte.
»Das werden Sie auch gleich«, erwiderte sie ernst.
»Lassen Sie mich raten; man hat uns beide aus dem Team geworfen.«
Sie zog die Brauen hoch und sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an – Augen, die schwer zu ergründen waren und in denen immer wieder geheimnisvolle goldene Flecken aufblitzten.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie, Dr. Foley, sind deutlich jünger als Ihre beiden Kollegen vom Forensikteam. Außerdem ist dies Ihr erster mehrtägiger Außeneinsatz, wie ich aus dem schicken, neuen Rollkoffer neben Ihnen schließe. Während man in Ihnen den Frischling sieht, auf den man am ehesten verzichten kann, halten der Einsatzleiter und seine beiden Kollegen mich für einen Störenfried, den man ihnen ohne zu fragen aufgedrückt hat. Und da das restliche Gepäck und die forensische Ausrüstung nach wie vor da vorn am Rand des Flugfelds auf einem Haufen liegt, während man unseres hierher getragen hat, gehe ich davon aus, dass die Regional-Express-Maschine aufgrund einer teilweise überfluteten Landebahn in Douberie nicht wie geplant weiterfliegen kann.«
»Wirklich beeindruckend kombiniert«, sagte die Forensikerin. »Allerdings können Sie aus Ihren Beobachtungen unmöglich wissen, dass die Piste in Douberie teilweise gesperrt ist; das hat Ihnen jemand gesteckt.«
Daryl lachte. »Ich sehe schon, so leicht lassen Sie sich nicht hinters Licht führen.« Einen Moment lang studierte er die weichen Konturen ihres ovalen Gesichts, das von einem schmalen, energischen Kinn dominiert wurde. »Man war vorhin so nett, mich über Funk mit Douberie sprechen zu lassen.« Er blickte an ihr vorbei zu einer kleineren Maschine, die gerade Richtung Gepäckberg rollte. »Aber ich wäre auch so drauf gekommen. Die Cessna 206 Stationair TC, die da heranrollt, benötigt, wenn ich mich recht erinnere, nur gerade mal zweihundertfünfundzwanzig Meter Piste, um landen zu können, die zweimotorige Saab Turboprop dagegen bedeutend mehr. Da die Cessna aber leider nur sechs Plätze hat …«
»Okay, okay, Sie haben mich überzeugt«, unterbrach sie ihn. »Letztendlich ändert es auch nichts daran, dass wir beide die Nacht hier in Winton verbringen müssen.« Sie wandte sich dem Flugfeld zu und beobachtete, wie die Cessna wenige Meter neben dem Gepäck anhielt. Während der Einsatzleiter – ein großer, schlanker Mann mit grauem Bürstenschnitt namens Bloomfield – auf sie zukam, schnappte sich das restliche Team das Gepäck und die Ausrüstung und trug es zur Cessna.
»Ich nehme an, Dr. Foley hat Sie schon über unser Problem informiert«, sagte der Detective Inspector, als er sie erreicht hatte.
Daryl nickte. »Die Cessna hat nur sechs Sitzplätze, da müssen eben zwei Personen zurückstehen.«
»Schön, dass Sie dafür so viel Verständnis haben, Detective Simmons. Wie Sie wissen, ist dies bereits der dritte – wenn man diesen vermissten Hotelbesitzer mitzählt – vielleicht schon der vierte Todesfall innerhalb kurzer Zeit in Douberie. Und da wir bereits bei der ersten Leiche durch die Kopfverletzung von einem Mord ausgingen, ist es wichtig, dass wir bei dem neuen Opfer so schnell wie möglich mit den Ermittlungen und der forensischen Tatortsicherung beginnen. Das geht natürlich am effektivsten mit einem eingespielten Team.« Er warf der jungen Ärztin einen kurzen Blick zu. »Sie können dann selbstverständlich morgen mit Detective Simmons nachkommen, sofern es das Wetter erlaubt.« Er schenkte ihnen ein abschließendes Nicken. »Wenn Sie mich nun entschuldigen, die Zeit drängt.«
»Ts«, sagte Dr. Foley, als der Einsatzleiter gegangen war. »Als ob ich ein Welpe wäre und jedem auf die Schuhe pinkeln würde.« Sie drehte sich verärgert um und blickte zu Daryl auf. »Außerdem dürften zwischen dem Eintreten des Todes und dem Auffinden der Leiche des Paters neun bis elf Stunden vergangen sein. In der Zeit hat es wie aus Eimern geregnet, und danach haben mindestens ein halbes Dutzend Leute den Tatort kontaminiert. Da lassen sich vermutlich kaum noch brauchbare Spuren finden.«
Daryl, der die junge Forensikerin jetzt schon mochte, grinste. »Da haben Sie recht. Dass die Einwohner die Leiche des Paters erst in die Kapelle und später durch den halben Ort zum Kühlraum des Hotels getragen haben, macht die Spurensicherung auch nicht einfacher.«
»Ja, dieser ehemalige Buschpolizist aus Douberie ist wirklich ein Denkzwerg. Nachdem der Special Constable aus Birdsville den Tatort des letzten Opfers vor ein paar Wochen sicherte, hätte er es eigentlich besser wissen müssen.«
»Nun, damals hat es auch nicht geregnet und der Cop aus Birdsville war innerhalb von drei Stunden am Tatort. Diesmal dauert es über vierundzwanzig Stunden, bis die Polizei vor Ort ist. Und so lange konnten sie ihn nun wirklich nicht am Baum hängen lassen.«
»Schon richtig. Aber dieser Ex-Buschcop hätte wenigstens den Tatort absperren, fotografieren und dann die Leiche bis zu unserem Eintreffen in der Kapelle einschließen können. Aber die Leiche gleich mehrmals zu bewegen war, verzeihen Sie, reichlich dämlich.«
Daryl lachte. Er fand die offene Art der jungen Ärztin ebenso herzerfrischend wie ihre unverblümte Ausdrucksweise. »Sind Sie eigentlich mit sich ebenso gnadenlos ehrlich, streng und kritisch wie mit anderen?«
»Selbstverständlich«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Der Weg zu selbstständigem und logischem Denken und Handeln führt über fortwährende Selbstkritik. Aber keine Angst, ich setze deshalb die Messlatte bei anderen nicht automatisch gleich hoch an.«
»Wie tröstlich«, scherzte Daryl. »Aber Sie haben natürlich recht. Dieser ehemalige Senior Sergeant Webster scheint entweder eine Menge von dem vergessen zu haben, was er einst in der Polizeiausbildung gelernt hat, oder er ist wirklich nicht der hellste Stern am Himmel.«
Der Motor der Cessna heulte auf und die kleine Maschine rollte auf die Startbahn.
»Da erhebt sich das Dreamteam also in die Lüfte und wir dürfen sehen, wie wir von diesem Buschflugplatz nach Winton kommen und wo wir dort bleiben können«, sagte die Forensikerin säuerlich. »Na, wenigstens soll das Pub im Tattersalls Hotel ganz nett sein.«
»Ich fürchte, diese Erfahrung werden Sie ohne mich machen müssen.«
Sie sah ihn fragend an. »Wollen Sie etwa die Nacht hier in diesem Zwergenterminal verbringen?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Wie vorgesehen nach Douberie fliegen.«
»Aber wenn die Cessna zurückkommt, ist es doch schon fast dunkel. Der Pilot wird dann bestimmt nicht noch einmal nach Douberie fliegen. Erst recht nicht bei der Waschküche, die da auf uns zukommt.« Mit einer Geste, die das halbe Outback einschloss, drehte sie sich halb im Kreis. »Und eine andere Kleinmaschine sehe ich hier weit und breit auch nicht.«
Daryl kniff die Augen zusammen und blickte nach Südwesten. »Wollen wir wetten, Doc?«
Dr. Foley folgte Daryls Blick, schien aber im Gegensatz zu ihm den kleinen Punkt am Himmel nicht zu entdecken. »Sie haben da drin nicht nur über Funk mit Douberie gesprochen, stimmt’s?«
»Yep.«
»Und weshalb haben Sie das nicht gegenüber Detective Inspector Bloomfield erwähnt?«
Daryl zuckte mit den Schultern. »Er hat mich ja auch nicht gefragt, ob ich hierbleiben will.«
In ihren Augen blitzten einmal mehr goldene Funken auf. »Warum hab ich bloß das Gefühl, dass das nicht der einzige Grund ist?«
Daryl grinste. »Weil Sie offenbar ziemlich clever sind.«
Der zweisitzige Robinson R22 war ein in erster Linie für den privaten Gebrauch produzierter Helikopter. Er war extrem leicht, wendig und obendrein kostengünstig. Dies war wohl auch der Grund, warum ihn sich der Viehzüchter Mick Fennell zusätzlich zu einer Cessna zugelegt hatte; der zierlich erscheinende Hubschrauber eignete sich hervorragend zum Aufspüren und Zusammentreiben des weit verstreut grasenden Viehs. Jetzt, zur Regenzeit, wurde er aber kaum gebraucht, weshalb Fennell gern bereit gewesen war, ihn einem erfahrenen Hubschrauberpiloten wie Daryl für eine angemessene Gebühr zu vermieten.
»Wie ein Detective sehen Sie mir ja nicht gerade aus«, meinte der Viehzüchter, als er aus der Maschine geklettert war, Daryl die Hand geschüttelt und eingehend sein Jeans-Holzfällerhemd-Blundstone-Boots-Outfit gemustert hatte. »Mit Ihrem Dreitagebart und Ihrer gesunden Hautfarbe gingen Sie glatt als einer meiner Stockmen durch.«
Fennell war ein sehniger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem Händedruck wie eine Schrottpresse. Er war ein typischer Mann des Outbacks, hart, zäh und unbeugsam wie ein Eisenholzbaum, jedoch mit einem Herzen so groß wie der Lake Eyre.
»Das nehme ich als Kompliment«, entgegnete Daryl und lächelte.
»Dürfen Sie. In den Adern dieser bleichgesichtigen Anzugträger aus der Großstadt fließt ja normalerweise anstelle von Blut nur lauwarme Limonade. Wenn die mal ’ne Reifenpanne haben, rufen sie gleich den RACQ, weil sie Angst haben, Blasen an den Händen zu bekommen.« Sein Blick wanderte zu Dr. Foley. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herzchen, aber Ihnen würde etwas Sonne und gesunde Outbackluft auch guttun. Sie sind bleich wie Gips.«
»Das kommt daher, dass ich nicht glauben kann, mit was ich da mitfliegen soll«, entgegnete die Forensikerin spitz.
Der Viehzüchter sah Daryl verständnislos an. »Die kleine Lady weiß wohl nicht, dass von keinem anderen Hubschraubertyp jährlich mehr Stück verkauft werden als von diesem Grashüpfer.«
»Ich hoffe mal, das liegt daran, dass dieser Floh so toll fliegt und nicht, weil er so schnell kaputt geht, dass man sich ständig einen neuen kaufen muss«, konterte die Ärztin.
Fennell lachte herzlich. »Wenigstens sind Sie nicht auf den Mund gefallen, Kleines, das ist doch schon mal was.«
»Wollen wir reingehen und das Schriftliche erledigen?«, fragte Daryl. Er unterbrach das Wortduell zwischen den beiden nur ungern, doch die Zeit drängte. Er musste den Hubschrauber noch auftanken, außerdem hatte der Wind in den vergangenen zehn Minuten deutlich aufgefrischt, was für die leichte Maschine schnell einmal zum Problem werden konnte.
»Beleidigen Sie mich nicht, Detective. Ich bin Queenslander, da ist ein Handschlag noch genauso viel wert wie eine Unterschrift.«
Dr. Rebecca Foley saß auf ihrem Sitz wie die Maus vor der Schlange und starrte mit zusammengepressten Lippen aus der gebogenen Plexiglaskanzel. Sie schien sich alles andere als sicher zu fühlen, was Daryl ihr nicht verdenken konnte.
Noch ehe er die Tanks aufgefüllt hatte, die Checkliste durchgegangen war und starten konnte, hatte es zu regnen begonnen. Da der Robinson R22 in absoluter Leichtbauweise hergestellt wurde und man auf alles verzichtet hatte, was nicht zwingend zum Betrieb notwendig war, war er nicht gerade für schlechtes Wetter geschaffen. Das Unwetter zog in die gleiche Richtung, in die sie flogen, deshalb steuerte Daryl die Maschine beinahe mit Höchstgeschwindigkeit durch den Regen. Sein Ziel war es, sich so schnell wie möglich vor die Front zu setzen, um dann mit der Treibstoff sparenden Reisegeschwindigkeit von hundertfünfundfünfzig Stundenkilometern weiter nach Douberie zu fliegen.
Daryl gab der Ärztin ein Zeichen, den Mikrofonbügel ihres Headsets auf Mundhöhe hinunterzuklappen. »Alles okay bei Ihnen?«
»Sehe ich vielleicht so aus? Wenn ich noch lange so durchgeschüttelt werde, muss ich mich übergeben.«
»Seien Sie tapfer. Nur noch ein paar Minuten, dann sind wir aus dem Ärgsten raus.«
»Wollen wir’s hoffen. Trotzdem, wenn ich gewusst hätte, dass ich hier wie ein Schmetterling in einem Zyklon herumgewirbelt werde, hätte ich bis morgen gewartet, um dann mit der Cessna nach Douberie zu fliegen.«
»Morgen wären Sie nirgendwohin geflogen«, entgegnete Daryl trocken.
Sie drehte den Kopf in seine Richtung. »Und weshalb nicht?«
»Das da hinter uns sind die Ausläufer von Erna.«
»Moment mal. Heißt das etwa, wir fliegen vor einem Zyklon davon? Ich dachte, es hieß, Erna würde viel weiter oben bei Cooktown auf die Küste treffen.«
Daryl zuckte mit den Schultern. »Wie heißt es doch so schön? Am launischsten sind die Zyklone mit Frauennamen.«
»Wie witzig. Ich lache, wenn ich das hier überlebt habe. Die Betonung liegt übrigens auf dem Wenn.«
Daryl lächelte. Für ihn war Hubschrauberfliegen mehr als nur ein Hobby. Es bedeutete ein großes Stück Freiheit, das nicht nur seinen Geist von allen irdischen Fesseln löste, sondern auch seinen Körper. Es war wie ein reinigendes Ritual, das ihm half, seine Gedanken zu ordnen und Kraft zu tanken.
»Nun«, sagte er amüsiert, »ein Flugzeugpilot würde Ihnen wohl zustimmen und sagen, wenn bei einem Fluggerät die Flügel schneller sind als der Rumpf, handelt es sich um einen Hubschrauber – und somit um Gefahr. Aber ich kann Sie beruhigen, Doc. Dieser Hubschraubertyp ist sehr zuverlässig. Zu Anfang wurde er zwar wegen seiner einfachen Konstruktion weithin verspottet, doch nach den ersten verkauften Maschinen setzte ein regelrechter Kaufboom ein und innerhalb von zwei Jahren wurden über tausend Stück verkauft.«
»Nett. Nur sagt das noch nichts über den Piloten aus. Soviel ich weiß, sind die meisten Flugzeugabstürze auf menschliches Versagen zurückzuführen.«
Daryl lachte. »Zugegeben, da ist was dran. Die Chance, dass ich ausgerechnet in den nächsten zweieinhalb Stunden eine Herzattacke bekomme, ist aber eher klein. Viel wahrscheinlicher ist es, dass wir in starke Turbulenzen geraten, die Maschine ins Trudeln kommt und ich die Kontrolle über sie verliere. Oder, dass ich mich mit dem Treibstoff verrechnet habe. Bis Douberie sind es vierhundertvierzig Kilometer, die Reichweite der Robinson beträgt mit den Zusatztanks vierhundertachtzig Kilometer, das allerdings nur bei einer wirtschaftlichen Reisegeschwindigkeit von höchstens hundertachtundsiebzig Kilometern in der Stunde. Da ich die aber überschreiten musste, damit wir uns vor das Unwetter setzen können, könnte es ziemlich knapp werden.« Obschon Daryl aus den Augenwinkeln sah, dass ihn die Forensikerin mit großen Augen und halb offenem Mund anstarrte, blieb er todernst.
»Gratuliere«, sagte Dr. Foley. »Sie haben es eben geschafft, dass ich das erste Mal seit meiner Kindheit die Hände falte und bete.«
Daryl zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie denken, das hilft?«
»Nicht wirklich. Vor allem nicht, wenn ich an diesen Pater McDermott denke.«
Das Rütteln und Schütteln hatte etwas nachgelassen, gleichzeitig drosselte Daryl das Tempo. »Na, wer sagt’s denn«, meinte er und zwinkerte der Ärztin zu. »Ich denke, jetzt haben wir eine reelle Chance, zu überleben.«
Dr. Foley kniff die Lippen zusammen. »Sie amüsieren sich schon die ganze Zeit über mich, stimmt’s?«
»Köstlich sogar, ich geb’s zu. Aber bevor Sie mir jetzt den Ellbogen in die Rippen jagen, ich dadurch das Bewusstsein verliere und wir tatsächlich abstürzen, lassen Sie mich eins sagen. Ich habe schon einige Male Menschen mitgenommen, die noch nie zuvor in einem Hubschrauber gesessen haben und ihre Reaktionen ähnelten sich fast immer. Entweder liebten sie das Gefühl, dicht über Berge und Täler zu rauschen, bewegungslos über Baumwipfeln zu schweben, sich wendig wie ein Falke in enge Canyons zu stürzen, oder sie hassten es und litten Todesqualen. Ich denke, Sie gehören zur ersten Gruppe.«
»Ach, was Sie nicht sagen. Und wie, bitte, gelangen Sie zu dieser tiefschürfenden Erkenntnis, Dr. Freud?«
»Mein Instinkt. Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, lassen sich schwer an der Nase rumführen und fällen keine überhasteten Entscheidungen, weshalb Sie eine ungewohnte Situation auch gut einschätzen können.« Daryl schüttelte lächelnd den Kopf und warf der Forensikerin, die ihn weiterhin mit großen Augen anstarrte, einen amüsierten Blick zu. »Sie wären nicht in diesen Hubschrauber gestiegen, wenn Ihre Angst größer als Ihre Neugierde und Ihr Ehrgeiz gewesen wäre.«
»Moment mal«, platzte Dr. Foley heraus, »soll das heißen, Sie haben mich nur deshalb mitgenommen?«
»So ungefähr …« Daryl erklärte ihr, dass Fälle wie dieser seine Spezialität waren. Allerdings war er es gewohnt, sie allein zu lösen. Daher war er auch nicht sonderlich begeistert gewesen, als Berater an der Klärung dieses Falles teilzunehmen. Doch dann hatte es der Zufall gewollt, dass sie nicht mit dem restlichen Untersuchungsteam zum Tatort fliegen konnten. »Das war perfektes Timing«, fuhr er fort, »denn als ich über Funk mit Douberie sprach, sagte man mir, man habe eben festgestellt, dass ein Teil der Landepiste unterspült worden sei. Man wollte es noch genauer prüfen, war sich aber ziemlich sicher, dass es zu gefährlich sei, auf ihr zu landen.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Dr. Foley gedehnt. »Sie spekulieren darauf, dass Detective Inspector Bloomfield und meine Kollegen wieder umkehren müssen, während Sie landen und dann auf Ihre bevorzugte Weise ermitteln können.« Sie machte eine kurze Pause, während der sich auf ihrer Stirn eine Reihe eng beieinanderliegender Falten bildeten. »Allerdings verstehe ich nicht, was dabei meine Rolle sein soll. Die gesamte forensische Ausrüstung ist in der Cessna, ich würde also nur sehr eingeschränkt arbeiten können. – Trotz meiner Neugier und meines Ehrgeizes«, fügte sie sarkastisch hinzu.
»Das ist richtig. Aber das ist besser als keine Untersuchung oder eine, die erst in einigen Tagen erfolgt. Außerdem brauche ich einen Verbündeten, wenn ich inkognito ermitteln will.«
»So, so. Und Sie dachten, Goldlöckchen spielt da schon mit.«
Daryl drehte den Kopf wieder in ihre Richtung und knipste sein charmantestes Lächeln an. »Hier baue ich ganz auf Ihre eben erwähnten Charakterzüge. Und natürlich auch auf Ihren wachen Verstand. Wenn Sie diesen Fall zusammen mit mir lösen, macht sich das nicht nur hervorragend in Ihrer Personalakte, es trägt Ihnen auch den Respekt Ihrer Kollegen ein.«
»Ich mag blond wie Barbie sein, Detective, aber nicht ganz so dumm. Also versuchen Sie nicht, mich um den Finger zu wickeln. Außerdem, viel Zeit verschafft Ihnen das auch nicht. Detective Inspector Bloomfield wird sich ebenfalls einen Hubschrauber besorgen und, sobald das Wetter es zulässt, nachkommen.«