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Die Brüder
Grimm

 

Pioniere
deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts

 

Herausgegeben von:

Jochen Bär, Mark-Georg Dehrmann, Holger Ehrhardt, Jürg Fleischer, Heidrun Kämper, Sabine Krome, Steffen Martus, Norbert Richard Wolf

 

 

 

Vorwort

Eine Vielzahl von Veranstaltungen prägt das Jubiläumsjahr der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen 200 Jahre nach deren erstem Erscheinen. Diese Begeisterung ist nachvollziehbar, denn es gibt kaum einen Menschen auf der Welt, der die Märchen der Brüder Grimm nicht kennt. Kein anderes Buch deutschen Ursprungs ist international so weit verbreitet und in derart viele Sprachen übersetzt worden. Die Dimension der Bekanntheit hat sich nicht zuletzt während des internationalen Grimm-Kongresses gezeigt, den die Universitäten Kassel und Frankfurt am Main aus Anlass des Jubiläums unter Beteiligung von Forschern aller Kontinente jüngst ausgerichtet haben.

Doch alle, die sich eingehender mit Leben und Werk der Brüder Grimm beschäftigen, wissen, dass Jacob und Wilhelm Grimm weit mehr gewesen sind als nur Märchensammler. Es ist keine Frage, dass sie der Tradition des Erzählens und den Inhalten der Geschichten, die sie hörten, große Aufmerksamkeit geschenkt haben. Doch war dieses Sammeln und Aufschreiben bis dahin mündlich tradierter Inhalte nicht auch nur ein Baustein eines übergeordneten Forschungsziels? Der Ausdruck eines unter französischer Dominanz entstandenen Wunsches, eine nationale, eine »stolze« und weit in die Geschichte zurückreichende »eigene« deutsche Geistesgeschichte nachzuweisen? Die unterschiedlichen Forschungsansätze zur Rechtsgeschichte und zur Literaturgeschichte, aber auch das politische Engagement der Brüder Grimm lassen diesen Tenor, der sich durch das ganze Werk zieht, erkennen.

Ich freue mich sehr, dass diese Publikation einen Beitrag leistet, einen eher der Fachwelt bekannten Teil des Schaffens der Brüder Grimm auch ein Stück weit in die breitere Öffentlichkeit und in die Diskussion zu rücken. Denn die Auswirkungen der germanistischen Forschungen des Brüderpaars auf die internationalen Sprach- und Literaturwissenschaften waren und sind ganz enorm.

Eva Kühne-Hörmann

Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst

Inhalt

Vorwort

Autoren und Berater

Einleitung

Zwei Leben für die deutsche Sprache: Warum die Leistung der Brüder Grimm noch heute einzigartig ist

Biografie und Persönlichkeiten

Brüderlichkeit als Lebensform: Jacob und Wilhelm Grimm als moderne Traditionalisten

Facebook mit Feder und Tinte – die sozialen Netzwerke der Brüder Grimm

Das wissenschaftliche Wirken der Brüder Grimm

Auf der Suche nach dem Ursprung der deutschen Sprache – Die deutsche Grammatik von Jacob Grimm

Märchen – Sagen – Minnelieder: Die Wiederentdeckung des Mittelalters als Mythos einer unversehrten Vergangenheit

Papierdeutsch? Jacob Grimm und die alte Rechtssprache im modernen Deutsch

Das Deutsche Wörterbuch

»Von Wörtern eingeschneit« – das Jahrhundertprojekt Deutsches Wörterbuch

Von Schneegäcken, Mürfeltieren und Froteufeln – eine ungewöhnliche Reise durch das Deutsche Wörterbuch

Vom Zettelkasten zum Computer – Wörterbucharbeit damals und heute

Märchensammler und Wörterbuch­macher – sinnverwandt oder paradox?

Sprache – Politik – Bildung

Wie Sprache Teilung überwindet – das politische Erbe der Brüder Grimm

Wider Sklaverei und Knechtschaft – Jacob Grimm in der Paulskirche

Sprache für das Volk: Die Brüder Grimm als Volkserzieher und Vorreiter eines ­modernen Bildungsbegriffs

»schreibt alle substantive klein!« – Der Kampf Jacob Grimms für eine vereinfachte Rechtschreibung

Die Bedeutung der Brüder Grimm für die deutsche Sprache und Sprachkultur heute

Ausgewähltes Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

Autoren

Prof. Dr. Jochen Bär

Jochen A. Bär ist Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta, Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Geschichte der Sprachtheorie und Sprach­wissenschaft, insbesondere zur Zeit der Romantik. Er arbeitete u. a. zur Sprach­geschichtsauffassung Jacob Grimms. Jochen Bär verfasste den Beitrag »Auf der ­Suche nach dem Ursprung der deutschen Sprache – ›Die deutsche Grammatik‹ von Jacob Grimm«.

Dr. Mark-Georg Dehrmann

Mark-Georg Dehrmann unterrichtet als Privatdozent Neuere Deutsche ­Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Im Rahmen eines seiner ­Forschungsschwerpunkte – der Geschichte der philologisch-historischen Wissenschaften – beschäftigt er sich nicht zuletzt mit den philologischen Arbeiten der Brüder Grimm. Mark-Georg Dehrmann verfasste den Beitrag »Märchen – Sagen – ­Minnelieder: Die Wiederentdeckung des Mittelalters als Mythos einer unver­sehrten Vergangenheit«.

Prof. Dr. Holger Ehrhardt

Holger Ehrhardt ist Inhaber der Grimm-Stiftungsprofessur »Werk und Wirkung der Brüder Grimm« an der Universität Kassel. Er ist Mitherausgeber des Jahrbuchs der Brüder Grimm-Gesellschaft (2000-2005) und des Brüder Grimm Gedenken (seit 2012) und hat zu verschiedenen Grimm-Themen – zu biografischen, mythologischen und überlieferungsgeschicht­lichen ­Fragestellungen sowie der Herausgabe von Briefen und Tagebüchern der Brüder Grimm – geforscht. Holger Ehrhardt verfasste die Beiträge »Facebook mit Feder und Tinte – die sozialen Netzwerke der Brüder Grimm« und »Märchensammler und Wörterbuchmacher – sinnverwandt oder paradox?«.

Prof. Dr. Heidrun Kämper

Heidrun Kämper ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, und Professorin an der Universität Mannheim. Am ­Institut für Deutsche Sprache leitet sie den Arbeitsbereich ›Sprachliche ­Umbrüche des 20. Jahrhunderts‹. Ihre Forschungsgebiete sind u. a. Kulturwissenschaft und Sprache, Sprache des 20. Jahrhunderts, Sprache und ­Politik, Diskurslinguistik und Lexikographie. Als Mitherausgeberin des ›Deutschen Wörterbuchs‹ von Hermann Paul beschäftigt sie sich seit langem mit der Grimm‘schen Wörterbuchkonzeption. Heidrun Kämper ver­fasste die Beiträge »Sprache für das Volk: Die Brüder Grimm als Volkserzieher und Vorreiter eines modernen Bildungs­begriffs« und »Die Bedeutung der Brüder Grimm für die deutsche Sprache und Sprachkultur heute«.

Prof. Dr. Steffen Martus

Steffen Martus lehrt als Professor für Neuere deutsche Literatur an der ­Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunkten Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte und -theorie der Ger­manistik. Er schrieb eine umfangreiche Biografie der Brüder Grimm (Berlin 2010, Reinbek bei Hamburg 2013). Steffen Martus verfasste den Beitrag ­»Brüderlichkeit als Lebensform: Jacob und Wilhelm Grimm als ­moderne Tradi­tionalisten«.

Berater

Prof. Dr. Jürg Fleischer

Jürg Fleischer ist Professor für Sprachgeschichte des Deutschen und Direkto­riumsmitglied des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Syntax der ­älteren Sprachstufen und Dialekte des Deutschen. Außer in seinen Vorlesungen begegnen ihm die Brüder Grimm bzw. deren Spuren auch immer wieder in der schönen Marburger ­Oberstadt.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Norbert Richard Wolf

Norbert Richard Wolf ist emeritierter Professor der deutschen Sprachwissenschaft an der Universität Würzburg, Honorarprofessor an den Universitäten ­Ostrava und Opava (Tschechien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die deutsche Sprachgeschichte, Grammatik, Textlinguistik sowie Dialekto­logie. Im Rahmen seiner sprachhistorischen Forschungen und Vorträge spielten auch die Brüder Grimm immer wieder eine wichtige Rolle.

Zwei Leben für
die deutsche Sprache:
Warum die Leistung der
Brüder Grimm noch
heute einzigartig ist

 

Die Brüder Grimm: Sie gelten als die bekanntesten Märchenerzähler der Deutschen und waren doch weit mehr – schon die Zeitgenossen nahmen die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Brüder aufgrund der ungeheuren Bandbreite ihrer Interessen und Forschungsgebiete, ihrer enormen Produktivität und nicht zuletzt ihrer geistigen und politischen Unabhängigkeit als einzigartig wahr. In ihrer Epoche haben sie Bedeutendes geleistet, doch ihre Ideen und ihr Gedankengut weisen nicht nur in der Verbreitung der Märchen über Deutschland hinaus – bis ins 21. Jahrhundert, in eine Zeit der Globalisierung und der Erweiterung geografischer, politischer und sprachlicher Grenzen. Was aber macht die Leistung der beiden Brüder – oder vielmehr die Leistung von Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) – so einzigartig?

 

So vielfältig die Aktivitäten der Brüder, so unterschiedlich und kontrovers sind die Deutungen ihres Schaffens – das Spektrum der Bewertung bewegt sich zwischen den Polen von Autoritätskritik, Idealismus und Anpassung, Vergangenheitsorientiertheit und radikaler Innovation, Tradition und ­Moderne.

Der vorliegende Band versucht, dem Grimm’schen Wirken aus verschiedensten Perspektiven auf den Grund zu gehen: Ausgehend von der engen, zugleich aber auch spannungsvollen persönlichen Beziehung zwischen den beiden unterschiedlichen Charakteren schlägt er einen Bogen über ihre ­Erfahrungen mit Macht und Autorität in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen bis zu ihrem beruflichen und wissenschaftlichen ­Engagement, ihrer Sammelleidenschaft und ihren grundlegenden sprachgeschichtlichen Arbeiten. Beleuchtet wird schließlich auch die Auseinandersetzung der Grimms mit den wichtigen politischen Themen, den literar­historischen Positionen und den prägenden Persönlichkeiten ­ihrer Zeit, etwa im gedanklichen Austausch mit den Romantikern Clemens Brentano und Achim von Arnim sowie dem Rechtsgelehrten Carl von Savigny.

Das Wirken der beiden Brüder spiegelt dabei auf vielfältige Weise die politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit – ihre breitgefächerten Netzwerke in Politik, Wissenschaft und Kunst können aber auch schon als erste Wegbereiter der sozialen Netzwerke des 21. Jahrhunderts gelten. Mit ihren Sammlungen von Sagen und Heldenliedern, vor allem aber dem enormen Fundus der in aller Welt bekannten Märchen sowie ihren wissenschaft­lichen Arbeiten von der ›Deutschen Grammatik‹ bis zur »sprachlichen ­Krönung« ihres Schaffens, dem gewaltigen ›Deutschen Wörterbuch‹, können die Brüder darüber ­hinaus als Vorreiter ­eines modernen ­Bildungsbegriffs bezeichnet werden. Dies wird noch gestützt durch ihr gewich­tiges Engagement in der Politik, das in dem leidenschaftlichen Plädoyer ­Jacob Grimms für die Freiheit eines jeden Deutschen in der Paulskirchenversammlung gipfelte.

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Die Brüder Grimm. Gemälde von Elisabeth Jerichau-Baumann, Berlin, Nationalgalerie.

Wissenschaft verstanden die Brüder immer auch als Dienst an der Gesellschaft, der sie sich zeitlebens verantwortlich und verpflichtet fühlten, auch wenn ihr Demokratieverständnis nicht mit dem der heutigen Zeit vergleichbar ist: In einer Epoche des Umbruchs, geprägt von den Nachwirkungen der Französischen Revolution, in der alte Sicherheiten und scheinbare Selbstverständlichkeiten auseinanderzubrechen drohten, aber gleichzeitig auch die Chance eines geeinten Deutschland so greifbar nahe lag, versuchten die Grimms, durch die Besinnung auf die Vergangenheit ­»alte Werte« wiedererlebbar und damit für die Gegenwart fruchtbar zu ­machen. Das ­einigende Band dieser Bemühungen war für sie die – deutsche – Sprache, deren Wurzeln und Bedeutung sie von den Anfängen bis zur Gegenwart ­intensiv verfolgten und die sie als Mittel des Verstehens und der Verständigung zwischen den Jahrhunderten, den Kulturen und den Menschen als ein Fundament moderner Demokratiebewegungen begriffen.

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Der Eintrag »Freiheit« im ›Deutschen Wörterbuch‹ der Brüder Grimm.

Dabei haben Jacob und Wilhelm durchaus ihre jeweils ganz eigenen Spuren hinterlassen: So war Jacob als der wohl strukturiertere, systematischere der beiden Brüder der alleinige Verfasser der ›Deutschen Grammatik‹ (1819–1837) wie der ›Geschichte der deutschen Sprache‹ (1848). Er konzentrierte sich auf die Sammlung historischer Sprachdokumente und Rechtsaltertümer, erfasste die Materialien in Form eines Thesaurus und systematisierte sie. Wilhelm mit seiner starken Neigung zur erzählenden Literatur kommt hingegen zum großen Teil das Verdienst zu, neben der Erforschung deutscher Heldensagen (1829) und mittelhochdeutscher Dichtungen die Märchen (1812–1815) in ihrer »Rohfassung« bearbeitet und für das zeitgenössische Lesepublikum von Weltsicht, Darstellung und Bewertung, aber auch von Sprache und Stil her, so meisterhaft aufbereitet zu haben, dass sie auch heute noch für ein weltweit breites Publikum ein prägender Einstieg in Leseerlebnisse, Welt- und Wirklichkeitserfahrung sind.

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Die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche: Hier stritt Jacob Grimm für die Freiheit und Einheit der Deutschen.

So rückwärtsgewandt oder zumindest »(wert-)konservativ« die Brüder, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, in ihren Werken, Werten und Idealen zum Teil auch sein mochten, wenn sie danach trachteten, nach dem Verlust von geschicht­licher Kontinuität durch Revolution und Säkularisation mit dem Rückgriff auf Mythen, Märchen, germanische und indogermanische sprachliche Vorstufen die Vergangenheit zu rekonstruieren und wiederzubeleben, so modern erweisen sie sich doch gleichzeitig in ihrem weitreichenden Ansatz der Wahr­nehmung und Beurteilung einer komplexen Wirklichkeit auch jenseits der ­unmittelbaren Gegenwart. Ihr Kernanliegen – das Bewährte, sei es in sprachlicher, politischer, wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Hinsicht, für die Gegenwart zu bewahren und in einer ganzheitlichen Sicht auf die Geschichte für den Einzelnen Einheit, Freiheit, Selbst- und Mitbestimmung zu erreichen – weist die Brüder Grimm in jeder Hinsicht als »moderne Traditionalisten« aus und damit als Pioniere nicht nur deutscher Sprachkultur des 21. Jahrhunderts.

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»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!«