Selbstzuwendung
Selbstakzeptanz
Selbstvertrauen
Psychotherapeutische Interventionen zum Aufbau von Selbstwertgefühl
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Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89194-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10382-3
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20286-1
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Jeder hat seinen Schatz
Wolfgang von Buch
Für meine Jungs: Dirk, David und Felix
(G. J.)
Teil I: Theorie
1. Zum Stellenwert von Selbstwert, Selbstvertrauen und Selbstakzeptanz in der Psychotherapie
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Begriffsbestimmungen
2.2 Korrelate des Selbstwertes
2.3 Quellen des Selbstwertes
2.4 Die Dynamik des Selbstwertes
2.4.1 Exkurs: Zur Selbstwertmotivation und ihren Implikationen für die Psychotherapie
2.4.2 Selbstwertdienliche Strategien
Bezugspunkt Subjekt
Bezugspunkt Objekt
Bezugspunkt Dimension
Bezugspunkt Zeit
Bezugspunkt Ergebnis
Beobachterorientierte Strategien
2.4.3 Resümee
3. Die vier Säulen des Selbstwertes
3.1 Selbstakzeptanz: Positive Einstellung zu sich selbst als Person
3.2 Selbstvertrauen: Positive Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten und Leistungen
3.3 Soziale Kompetenz: Erleben von Kontaktfähigkeit
3.4 Soziales Netz: Eingebunden sein in positive soziale Beziehungen
3.5 Aufbau des praktischen Teils
Teil II: Praxis
4. Stufen der Selbstzuwendung: Sensibilisierung des Ichs
4.1 Achtsam sein
4.1.1 Einführung
Übung zur Sitzposition (nur Beine und Füße)
Fortsetzung der Übung zur Sitzposition
4.1.2 Interventionen zur Erhöhung der Achtsamkeit
Fallbeispiel zum Rückwärtsgehen
Fallbeispiel zum Lasten tragen
4.1.3 Übungen zur Achtsamkeit
Übersicht
Achtsamkeit für den Körper
Achtsamkeit für die Sinne
Achtsamkeit für Gefühle und Bedürfnisse
4.2 Sich selbst liebevoll begegnen
4.2.1 Einführung
Fallbeispiel zum Sich selbst liebevoll begegnen
4.2.2 Einen liebevollen Beobachter und Begleiter wählen
4.2.3 Übungen zum liebevollen Beobachter und Begleiter
4.2.4 Den inneren Kritiker identifizieren
4.2.5 Übungen zum inneren Kritiker
4.2.6 Sich selbst liebevoll begegnen – im Alltag
Sich loben und ermutigen
Übungen zum Sich loben und ermutigen
Es sich leicht machen
Übungen zum Es sich leicht machen
Nicht alles allein machen
Übungen zum Nicht alles allein machen
Überhöhte Ansprüche reduzieren
Fallbeispiel zu Überhöhten Ansprüchen
4.3 Für sich sorgen
4.3.1 Der mangelnden Fürsorge auf der Spur
Fallbeispiel zum Für sich sorgen
4.3.2 Nicht länger auf den Prinzen warten
4.3.3 Das Für sich sorgen in den Alltag einbauen
4.3.4 Übungen zum Für sich sorgen
4.3.5 Selbstverpflichtungen eingehen
Fallbeispiel zum Selbstverpflichtungen eingehen
4.3.6 Hindernisse erkennen und beseitigen
5. Schritte zur Selbstakzeptanz: Differenzierung des Wertesystems
5.1 Einführung
5.2 Die sieben Lebensgebote
1. Phase: Exploration und Kennenlernen der Werte
2. Phase: Entrümpeln und Erneuern
3. Phase: Flexibilisieren
Fallbeispiel zu den sieben Lebensgeboten
5.2.1 Übungen zu den »sieben Lebensgeboten«
Alte Lebensgebote
Neue Lebensgebote
5.3 Der Rollenkünstler
1. Phase: Exploration und Kennenlernen der Werte
2. Phase: (Re-)Vision der Werte
5.3.1 Übungen zum »Rollenkünstler«
5.4 Der Energiekreis
5.4.1 Übungen zum »Energiekreis«
5.5 Die Energieampel
5.5.1 Übungen zur »Energieampel«
6. Wege zum Selbstvertrauen: Selbstregulation und Selbstkontrolle
6.1 Die Bedeutung von Selbstregulation und Selbstkontrolle für den Selbstwert
Fallbeispiel zur Selbstregulation und Selbstkontrolle
6.2 Grundprinzipien der Selbstveränderung
6.2.1 Selbstregulation
6.2.2 Selbstkontrolle
6.3 Mit Zielen arbeiten
6.3.1 Ziele festlegen
6.3.2 Schritte planen
6.3.3 Erfolgserwartung und Energieeinsatz festlegen
6.3.4 Selbstbelohnung planen
6.3.5 Ergebnis kontrollieren
6.4 Schemata im Umgang mit Zielen
7. Risiken selbstwertstärkender Interventionen
8. Interventionen zum Aufbau des Selbstwertgefühls im psychotherapeutischen Gesamtkonzept
Nachwort
Literatur
Informationen zu den Autorinnen
Selbstwert und Selbstvertrauen sind Konzepte, die in der Psychotherapie in vieler Hinsicht zentrale Bedeutung besitzen. Ein Überblick über die wissenschaftliche und anwendungsorientierte Literatur zeigt, dass es praktisch keine Störung oder Problematik gibt, die nicht mit einem Mangel an Selbstwert oder Selbstvertrauen in Zusammenhang gebracht wird. Dies gilt sowohl für psychische Störungen wie Depressionen, Ängste oder Essstörungen als auch für Problemverhaltensweisen wie Rauchen, Aggressivität etc. Fragt man Psychotherapeuten, so wird die Stärkung des Selbstwertes schulenübergreifend als wichtiges Ziel von Psychotherapien genannt (Ambühl & Orlinsky, 1999). Auch Patienten nennen die Stärkung des Selbstvertrauens als eines der häufigsten Therapieziele (Faller & Gossler, 1998) und halten fehlendes Selbstvertrauen für eine wichtige Ursache ihrer Probleme (Faller, 1997). Umgekehrt geht auch das Stigma einer psychischen Erkrankung mit einem niedrigeren Selbstwert einher (Krajewski, Burazeri & Brand, 2013).
Vergleicht man unterschiedliche Therapieschulen oder therapeutische Richtungen, so besteht zwar prinzipiell Übereinstimmung hinsichtlich der hohen Bedeutung von Selbstwert und Selbstvertrauen. Es zeigen sich jedoch große Unterschiede in der Terminologie, der theoretischen Einbettung und den therapeutischen Herangehensweisen, die wir hier nur ansatzweise skizzieren können. Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie stellt beispielsweise den Menschen mit bedingungslos positivem Selbstbezug als »fully functioning person« in den Mittelpunkt ihrer Theorie (z. B. Rogers, 1991). Die therapeutische Behandlung soll die Entwicklung auf dieses Ziel hin unterstützen. In der psychodynamischen Therapie wurden Selbstkonzepte in den vergangenen Jahren zunehmend operationalisiert und ihre Störungen genauer beschrieben. Dabei gilt die Störung des Selbstbezuges und der Selbstwahrnehmung als fundamentales Problem, dessen Schwere bspw. mit der Schwere von Persönlichkeitsstörungen assoziiert ist (Bender et al., 2011). Bei Vertretern der Verhaltenstherapie finden sich kaum theoretische Überlegungen zum Selbstwert oder zum Selbst. Sie konzentrieren sich, eher lösungsorientiert, darauf, einen Mangel an Selbstwert oder Selbstvertrauen zu beseitigen. Dabei sind Studien zur Effektivität von Interventionen zur Stärkung des Selbstwertgefühls erstaunlicherweise eher rar und beschränken sich auf kleine Pilotstudien (z. B. Jacob et al., 2010; Waite, McManus & Shafran, 2012).
Welche Interventionen werden eingesetzt zur Stärkung von Selbstvertrauen und Selbstwert? Auf diese Frage findet man zahlreiche Antworten. Zum Teil ist die Entwicklung des Selbst, des Ichs oder der Person ohnehin zentrales Thema der Behandlung. Wenn sich in der Therapie positive Veränderungen einstellen, gehen diese automatisch mit einem gesteigerten Selbstwert einher. Daher erscheinen spezifische Interventionen zur Steigerung von Selbstwert oder Selbstvertrauen überflüssig und werden auch nicht beschrieben. Dies gilt zum Beispiel für die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie oder die klassische Psychoanalyse.
Daneben gibt es, z. B. in der Verhaltenstherapie, der Hypnotherapie oder dem NLP, auch spezifische Interventionen, die gezielt zur Entwicklung von Selbstwert und Selbstvertrauen eingesetzt werden. Dazu gehören in der VT die Programme zum Assertiveness Training, die durch kognitive Techniken und soziale Übungen das Selbstvertrauen fördern und den Patienten zu mehr Durchsetzungsvermögen und sozialem Erfolg verhelfen (z. B. Hinsch & Pfingsten, 2007; Vogt, 2013). Außerdem gibt es viele Interventionen, die Selbstvertrauen oder Selbstwert verändern sollen, indem direkt die Einschätzung der eigenen Person verändert wird. Dazu zählen etwa Techniken der kognitiven Umstrukturierung, der Imagination (Hackmann, Bennett-Levy & Holmes, 2012; Lazarus, 2000) oder Ich-stärkende Suggestionen in der Hypnotherapie (Riebensahm, 2001, Peichl, 2012). Neben der Stärkung von Selbstkontrolle und Selbstbewusstsein sowie der Veränderung der Selbstbewertung zählt auch die Förderung von positiven Erlebnissen mit sich selbst (z. B. Aufbau positiver Aktivitäten) zum Repertoire selbstwertsteigernder Interventionen in der VT (Jacob & Potreck-Rose, 2004; Frank, 2011; Potreck-Rose, 2011; Potreck-Rose, 2013). In diesem Zusammenhang haben in den letzten Jahren die Ansätze von Gilbert (2009, 2010, 2013) und Germer (2011) zu Compassion und Self-Compassion (Mitgefühl und Selbstmitgefühl) zunehmend an Bedeutung gewonnen. Schließlich existiert noch eine breite Palette an Selbsthilfe-Büchern, mit denen der Leser quasi-therapeutisch angeleitet wird, im Sinne eines Self-Empowerment mit kognitiven Methoden seine Sicht der eigenen Person zu verändern (z. B. Stavemann, 2011). In den vergangenen Jahren sind darüber auch Selbsthilfebücher erschienen, die in einem breiteren Ansatz auch Aspekte wie Achtsamkeit und Emotionen einbeziehen (z. B. Jacob & Seebauer, 2011; Potreck-Rose, 2006, 2007).
Jenseits dieser allgemeinen Methoden und spezifischen Interventionen nimmt praktisch jede Therapiemethode für sich in Anspruch, mindestens als Nebeneffekt den Selbstwert oder das Selbstvertrauen zu verbessern. Dies gilt für kreative Therapien wie die Musiktherapie (Müller & Petzold, 1997), Kunsttherapie (Werner, 1996) oder die Entfaltung der Stimme (Nollmeyer, 1998) ebenso wie für körperorientierte Verfahren oder sportliche Anwendungen wie Tanztherapie (Ermen, 1996), Reittherapie (Wenzel, 2000) oder Jonglieren (Hartmann & Rösner, 1995), um nur einige Beispiele zu nennen. Der wesentliche Wirkfaktor sollen dabei – implizit oder explizit – die neuen Erfahrungen innerhalb der Therapie sein. Dadurch können Patienten oder Klienten ihren Horizont erweitern, sie erleben sich in einem bisher unbekannten Bereich als kompetent und lernfähig, gegebenenfalls können sie auch (vor allem bei kreativen Therapien) neue Ausdrucksmöglichkeiten erproben etc.
Mit diesem nur kursorischen Überblick möchten wir zeigen, dass verschiedene therapeutische Wege zur Steigerung von Selbstwert und Selbstvertrauen beschritten werden können. Vertreter unterschiedlicher Schulen wählen, was nicht verwundert, unterschiedliche Interventionen. Zugleich spiegelt sich in dieser Vielfalt der Facettenreichtum des Selbst, ein Reichtum, der mit ganz unterschiedlichen Interventionen angesprochen werden kann. Außerdem führen beinahe alle therapeutischen Verfahren zu einer Erweiterung des Erfahrungshorizonts und fördern häufig auch Kompetenzen und Fähigkeiten. Dies trägt zu einer Entwicklung und Differenzierung des Selbst bei, die auch mit einer Erhöhung von Selbstwert und Selbstvertrauen verbunden sein kann.
Wir halten die zentrale Stellung von Selbstvertrauen und Selbstwert in der Psychotherapie für angemessen, da hier bei vielen Patientinnen und Patienten Defizite bestehen, die oft großes Leid verursachen. Die geringe Spezifität vieler Interventionen sowie die häufig fehlende oder vage theoretische Fundierung erscheinen uns dagegen nicht ideal. Insbesondere zeigt unsere Erfahrung aus Psychotherapie und Supervision, dass Patientinnen und Therapeutinnen häufig den Wunsch nach spezifischen Interventionen zur Stärkung des Selbstwertes äußern, die über kognitive Umstrukturierung und soziales Kompetenztraining hinausgehen. Deshalb verfolgen wir mit dem vorliegenden Band das Ziel, eine empirisch und theoretisch fundierte Systematik selbstwertstärkender psychotherapeutischer Interventionen zu erarbeiten. Damit soll einerseits theoriefreier Beliebigkeit vorgebeugt werden, andererseits sollen theoretische Überlegungen auch in praktische und konkrete Interventionen münden. Natürlich lässt sich dieses komplexe Thema in einem Buch von nur zwei Autorinnen nicht vollkommen erschöpfend behandeln. Ein so ehrgeiziges Ziel verfolgen wir auch nicht. Wir sehen uns eher als Puzzlespielerinnen, die sich vorgenommen haben, von einem sehr großen Puzzle mit nicht genau bekannter Zahl an Teilen wenigstens ein stattliches Häufchen der Teilchen so zusammenzusetzen, dass wichtige Konturen des Gesamtbildes deutlich werden. Wir verstehen unseren Therapieansatz als einen Beitrag zu einem integrativen Vorgehen in der Psychotherapie, wiewohl leicht zu erkennen ist, dass die meisten unserer Denkmodelle und Erklärungsansätze verhaltenstheoretisch beeinflusst sind. Allerdings haben dort, wo es um die praktische Anwendung geht, auch meine (F. P. R.) gestaltpsychotherapeutische Ausbildung und meine langjährige Feldenkrais-Arbeit Spuren hinterlassen, sodass wir hoffen, dass unsere Überlegungen und Interventionsvorschläge zur Vielfalt möglicher Perspektiven im Verständnis psychischer Probleme beitragen können. Seit der Erstauflage dieses Buches 2003 wurde im Rahmen eigener Forschungsinteressen ein strukturiertes gruppenpsychotherapeutisches Manual zur Stärkung des Selbstwertes bei Patienten mit Borderline- und anderen schweren Persönlichkeitsstörungen entwickelt (Jacob et al., 2006; Jacob & Lieb, 2007), das auf unserem hier vorgestellten Ansatz beruht und störungsspezifische Besonderheiten schwerer Persönlichkeitsstörungen berücksichtigt. In einer ersten empirischen Studie zeigen sich positive Effekte auf den Selbstwert von Borderline-Patientinnen (Jacob et al., 2010).
Der vorliegende Band ist unterteilt in einen Theorie- und einen Praxissteil. Der Theorieteil enthält in den Abschnitten I.1. und 2. Grundlagen zu den Themen Selbstwert, Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen, die auch für Praktiker informativ sind und eine theoretische Basis für die im Praxisteil vorgestellten Interventionen bilden. Darin wird Wissen aus verschiedenen psychologischen Disziplinen verbunden, insbesondere aus der Sozialpsychologie, der Klinischen Psychologie und der Allgemeinen Psychologie. Um die Lektüre nicht zu langwierig und mühsam zu machen, verzichten wir auf manche Details, die von streng wissenschaftlichen Texten erwartet werden, wie z. B. die Angabe von genauen Korrelationsmaßen. Für detailliertere Informationen wird auf die zitierten Originalquellen verwiesen. In Kapitel I.3 wird als Bindeglied zwischen den theoretischen Grundlagen und den praktischen Interventionen ein klinisches Modell des Selbstwertes bzw. unsere Vorstellung von einem »selbstwertgesunden« Menschen vorgestellt. Dieses Modell bildet die Ordnungsgrundlage der im Praxisteil beschriebenen Interventionen.
Um die Interventionen sinnvoll einzusetzen, ist die Lektüre des Theorieteils nützlich, aber nicht zwingend notwendig. Kapitel 3 sollten Sie jedoch unbedingt lesen, um einen Überblick über die Systematik der vorgestellten Interventionen zu bekommen und dadurch möglichst rasch geeignete Interventionen für einzelne Patienten finden zu können. Der Praxisteil ist kein Manual, das vollständig und chronologisch abgearbeitet werden sollte. Er ist vielmehr eine geordnete Sammlung verschiedener ausführlich erläuterter Interventionen, aus denen für jeden Einzelfall die jeweils am besten geeigneten ausgewählt werden können.
An dieser Stelle sei noch der obligatorische Hinweis zur Verwendung der männlichen und weiblichen Form gegeben: Beim Aufführen wissenschaftlicher Ergebnisse verwenden wir die allgemein übliche rein männliche Form. Für die Beschreibung der Interventionen wechseln männliche und weibliche Form ab, ohne dass dies einer Systematik verpflichtet ist.
Das Konzept des Selbstwertes ist schon lange ein wichtiges und prominentes Thema in verschiedenen psychologischen Disziplinen wie der Sozialpsychologie, der Differentiellen Psychologie oder der Selbstpsychologie. Der Beginn der psychologischen Beschäftigung mit dem Selbst datiert, wie der Entwicklungsbeginn der Psychologie als eigenständiger Disziplin, an das Ende des 19. Jahrhunderts. Intensive empirische sozialwissenschaftliche Forschungsaktivitäten zum Selbstwert finden sich seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Spätestens seit den siebziger Jahren kam auch eine Flut von populärwissenschaftlichen Arbeiten zu Selbstwert und Selbstvertrauen hinzu (Baumeister, 1993), die jedoch um die Jahrtausendwende wieder etwas abebbte.
Die Ursache für diese bedeutsame Stellung in den grundlagenpsychologischen Fächern liegt darin, dass Selbstwert als wichtige Größe gilt für das Verständnis der Persönlichkeit und von sozialen Interaktionen, mit einem großen Einfluss auf Kognitionen, Emotionen, Motivationen und (soziales) Handeln. Die Forschung zur Ursachenattribution beispielsweise belegt schon sehr lange, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, ihre Umwelt selbstwertdienlich zu interpretieren (Miller & Ross, 1975). Außerdem sind ein starker Selbstwert und Selbstvertrauen jedenfalls in westlich geprägten Kulturen politisch und gesellschaftlich hoch erwünschte Eigenschaften.
Da die verschiedenen Disziplinen und Theoretiker, die sich mit dem Selbst, dem Selbstwert und damit verwandten Konzepten beschäftigen, sehr unterschiedliche Sichtweisen einnehmen, liegt bisher keine umfassende Theorie des Selbstwertes vor. Stattdessen gibt es viele unterschiedliche Überlegungen und Ansätze, die sich teilweise ergänzen, teilweise aber auch miteinander konkurrieren. Für den deutschsprachigen Raum legte Kanning (2000) erstmals eine Übersicht vor, die einen großen Teil der vorhandenen Literatur in einer Theorie zusammenfasst. Einen ausführlichen Überblick über die internationale empirische Befundlage geben Baumeister et al. (2003). Auf diese kenntnisreichen und gut strukturierten Beiträge nehmen wir im Folgenden häufig Bezug.
Die Beschäftigung mit dem Begriff des Selbst hat eine sehr lange Geschichte. Vor der Entstehung der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Philosophie bereits lange mit ähnlichen Begriffen auseinander gesetzt (s. detailliert Ludwig-Körner, 1992). Entsprechend vielfältig fallen Konzeptionen des Selbst und verwandter Begriffe wie des Selbstwertes aus. Da eine ausführliche Diskussion dazu den Rahmen dieses Abschnittes sprengen würde, beziehen wir uns hier nur auf wenige ausgewählte Definitionen, die in der Psychologie besondere Bedeutung gewonnen haben. Sehr ausführlich wird der Begriff des Selbst von Ludwig-Körner (1992) behandelt.
Die früheste psychologische Definition des Selbst stammt von William James (1892), einem der Begründer der modernen Psychologie, dessen Überlegungen bis heute Einfluss haben. Nach James entspricht das Selbst dem Wissen um die eigene Person, dem »self as known« mit dem Ich als wissender Instanz (»I as knower«). Auch in der modernen Selbstforschung meint das Selbst die Gesamtheit des Wissens um die eigene Person (Metz-Göckel, 2000). Cooley (1902) verwendete den Begriff des »Spiegel-Selbst«, um zu beschreiben, dass das Wissen um die eigene Person nur durch soziale Rückmeldungen erworben werden kann – das Selbst ist also die Spiegelung dessen, was Menschen aus den Reaktionen ihrer sozialen Umgebung auf ihre Person über sich selbst erfahren. Diese herausgehobene Bedeutung sozialer Rückmeldungen begründet Cooley damit, dass sich das Individuum nur in komplexen Wechselwirkungen mit anderen entwickeln kann. Kinder lernen früh, dass Handlungen anderer auf sie bezogen sind und ihre Handlungen die Reaktionen anderer beeinflussen. Baumeister (1999) greift als dritte Komponente des Selbst die Handlungsfähigkeit des Menschen auf. Demnach sind drei universelle menschliche Erfahrungen die Grundlage dafür, dass sich Selbstheiten bilden: Zum einen das reflexive Bewusstsein, das im Wissen um das Selbst und in der Fähigkeit zur Selbstaufmerksamkeit besteht (vgl. den Selbstbegriff von James), zum anderen die Tatsache, ein interpersonales Wesen zu sein und Beziehungen zu anderen zu haben (vgl. Cooley), und schließlich, dass das Selbst eine Exekutivfunktion besitzt, die die Person zum Handeln befähigt. In ihrem Review psychodynamischer Konzepte extrahieren Bender et al. (2011) die drei Aspekte der (1) Identitätsintegration, zu der z. B. die Regulation von Selbstzuständen und die Fähigkeit zum Erleben eines einheitlichen Selbst umfasst; (2) Integrität des Selbstkonzepts, die z. B. die Akkuratheit der Selbsteinschätzung und die Regulation von Selbstwert beinhaltet; (3) Selbst-Orientierung (self-directedness), die z. B. internale Standards für das eigene Verhalten und die Bedeutsamkeit persönlicher Ziele umfasst.
Das Selbst lässt sich untergliedern in eine deskriptive Komponente, nämlich das Selbstkonzept, sowie die evaluative Komponente des Selbstwertes. Wenn eine Person einen hohen Selbstwert aufweist, beschreibt sie sich selbst positiv. Mit einem niedrigen Selbstwert sieht sie sich kritisch und negativ. Die Frage, wie sich der Selbstwert bemisst, wird unterschiedlich beantwortet. Nach der frühen und heute noch viel beachteten Definition von James (1892) entspricht der Selbstwert dem Verhältnis von eigener Kompetenz und eigenen Ansprüchen. Das bedeutet, dass Kompetenz den Selbstwert dann erhöht beziehungsweise Inkompetenz ihn erniedrigt, wenn es um Bereiche geht, die für die jeweilige Person subjektiv wichtig sind. Cooley (1902) bezieht seine Spiegel-Metapher des Selbst auch auf den Selbstwert. Demnach hängt der Selbstwert davon ab, wie viel soziale Unterstützung und Anerkennung eine Person erhält.
Die Verwendung des Selbstwertbegriffes im Singular legt irreführenderweise nahe, dass eine Person lediglich über einen einzigen globalen Selbstwert verfüge. Im Gegenteil ist jedoch anzunehmen, dass jede Person eine Vielfalt von Selbstkonzepten und -werten besitzt; kompetenzbezogene Selbstwerte etwa können sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Domäne sehr unterscheiden. Eine Person kann beispielsweise gleichzeitig einen niedrigen Selbstwert in Bezug auf ihre sportlichen Fähigkeiten aufweisen und einen hohen Selbstwert bezogen auf ihre mathematischen. Darüber hinaus weist Kanning (2000) zum Beispiel auf die Unterscheidung von kollektiven und individuellen Selbstkonzepten und auf die Existenz von potenziellen Selbstkonzepten hin. Individuelle Selbstkonzepte beziehen sich auf Eigenschaften, die die Einzigartigkeit der eigenen Person betonen, während kollektive Selbstkonzepte Informationen über die eigene Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Gruppen beinhalten. Manche Menschen betonen eher ihre individuellen, andere eher ihre kollektivbezogenen Attribute. Bei potenziellen Selbstkonzepten handelt es sich um Vorstellungen eines Menschen, wie er die eigene Person in der Zukunft antizipiert, etwa nach Abschluss einer Ausbildung oder nach Veränderungen im Familienstand.
Die Existenz potenzieller Selbstkonzepte verweist bereits auf die prinzipielle Veränderbarkeit des Selbst und damit auch des Selbstwertes. Tatsächlich weisen praktisch alle Konzeptualisierungen des Selbst auf die Dynamik und Entwicklungsfähigkeit des Selbst und damit auch des Selbstwertes hin (Ludwig-Körner, 1992). Wesentliche Anteile des Selbstkonzeptes entwickeln sich in der Kindheit. Aber auch im Erwachsenenalter, wenn sich ein stabiles Selbstkonzept etabliert hat, bleibt das Selbst eine prinzipiell dynamische Größe. Dies ist eine wichtige Grundannahme für die Psychotherapie, wenn sie Änderungen im Selbstkonzept und Selbstwert anstoßen will.
Neben dem Begriff des Selbstwertes werden die Bezeichnungen »Selbstwertgefühl«, »Selbstvertrauen« und »Selbstakzeptanz« in der Literatur verwendet. Allerdings ist ihr Gebrauch uneinheitlich und wenig trennscharf. Dennoch kristallisieren sich bei genauer Betrachtung folgende Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Termini heraus: Grundsätzlich wird der Begriff Selbstwert stärker im wissenschaftlichen Kontext verwendet, während Selbstvertrauen und Selbstakzeptanz eher in der anwendungsbezogenen und therapeutischen Literatur auftauchen. Selbstvertrauen findet sich dabei verstärkt in kognitiven oder verhaltenstherapeutischen Konzepten. Damit werden ziel- und kontextbezogene Kompetenzüberzeugung und -verhaltensweisen bezeichnet (Nord-Rüdiger, 1996). Selbstvertrauen bezieht sich also insbesondere auf die Überzeugung, etwas zu können. Selbstwert geht darüber hinaus und beinhaltet beispielsweise auch die Einschätzung von persönlichen Attributen, die nicht unbedingt etwas mit Kompetenz zu tun haben. Insofern lässt sich das Selbstvertrauen als Teilkomponente des Selbstwertes verstehen, die auf Kompetenzen und Können fokussiert. Selbstakzeptanz ist ein Begriff, der insbesondere der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie zuzuordnen ist. Nach Schütz (2000, S. 193) äußert sich hoher Selbstwert in explizit positiven Selbstbeschreibungen. Im Unterschied dazu zeigt sich Selbstakzeptanz eher in einer basalen Akzeptanz der eigenen Person, die auch die Akzeptanz eigener Schwächen, also negativer Aspekte des Selbst, einbezieht. Diese Unterscheidungen sind aber, wie gesagt, nicht vollständig trennscharf und werden auch nicht von allen Autoren so durchgehalten.
Wir verwenden den Begriff Selbstwert im Sinne eines Konstrukts auf der höchsten Generalisierungsebene. Zu diesem Konzept liegen auch die meisten theoretischen Überlegungen vor. Selbstwert und Selbstwertgefühl verwenden wir weitgehend synonym mit etwas unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. »Selbstwert« erscheint uns passender im Kontext theoretischer und diagnostischer Erörterungen. Im therapeutischen Gespräch mit Patienten und dementsprechend auch in der Beschreibung von Interventionen sprechen wir meist lieber vom »Selbstwertgefühl«. Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen sind in unserer Terminologie Komponenten dieses Konstrukts. Selbstakzeptanz bezieht sich auf das oben beschriebene Annehmen der eigenen Person mit Stärken und Schwächen, Selbstvertrauen auf die Überzeugung, etwas zu können.
Im wissenschaftlichen Zugang zur Konzeptbildung und zur Messung des Selbstwertes wird zwischen globalem und bereichsspezifischem Selbstwert unterschieden. Der globale Selbstwert kommt von der Konzeption her einem Eigenschaftsbegriff (Trait-Konzept) am nächsten. Er lässt sich reliabel messen mit der Rosenberg-Skala (Rosenberg, 1965; deutsche Übersetzung durch Ferring & Filipp, 1996), die den globalen Selbstwert auf einer Dimension mit mehreren Items misst (z. B. »Ich besitze eine Reihe guter Eigenschaften.«). Im bereichsspezifischen Ansatz wird der Selbstwert als Summe positiver Selbstbewertungen aus mehreren (Lebens-)Bereichen betrachtet. Beispielsweise misst die Multidimensionale Selbstwertskala (MSWS) von Schütz et al. (2016) den Selbstwert als Summe aus den Skalenwerten: (1) Emotionale Selbstwertschätzung, (2) Soziale Selbstwertschätzung: Sicherheit im Kontakt, (3) Soziale Selbstwertschätzung: Umgang mit Kritik, (4) Leistungsbezogene Selbstwertschätzung, (5) Körperbezogene Selbstwertschätzung: physische Attraktivität und (6) Körperbezogene Selbstwertschätzung: Sportlichkeit. Sie erlaubt damit eine differenziertere Betrachtung individueller »Selbstwerte«, die ja von Lebensbereich zu Lebensbereich unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.
Selbstwert und Selbstvertrauen sind sozial hoch erwünschte Eigenschaften. Das liegt auch daran, dass ihnen Zusammenhänge mit allen möglichen positiv bewerteten Eigenschaften und Verhaltensweisen unterstellt werden.
Enge theoretische Zusammenhänge gibt es zwischen dem Selbstwert und dem Konzept der Depression nach Beck sowie der Theorie der erlernten Hilflosigkeit. Nach dem kognitiven Modell der Depression von Beck (1974) werden Depressionen verursacht durch kognitive Verzerrungen. Zu diesen Verzerrungen gehört auch eine negative Sicht auf die eigene Person, die sich beispielsweise äußert in einer sehr geringen Meinung über die eigenen Begabungen, Kompetenzen oder sozialen Beziehungen. Diese negative Sicht des Selbst ist praktisch deckungsgleich mit einem sehr niedrigen Selbstwert. Nach Seligmans Depressionsmodell (Seligman, 1975; Abramson, Seligman & Teasdale, 1978) sind Depressionen das Resultat der Erfahrung von fehlender Kontrolle über subjektiv wichtige Bedingungen. Dies kann z. B. gegeben sein, wenn jemand viel Geld verliert durch einen unvorhersehbaren Wertverlust seiner Geldanlage oder durch die Zuwendung seiner Partnerin zu einer anderen Person, ohne dass erkennbare Probleme in der Beziehung bestanden. Depressive Personen verarbeiten solche Erfahrungen global, stabil und internal, d. h., sie gehen davon aus, dass sie auch über andere wichtige Bedingungen keine Kontrolle besitzen (= global), dass sich das nicht ändern wird (= stabil) und dass sie daran selbst schuld sind (= internal). Diese Haltung führt zu einer generalisierten Misserfolgserwartung hinsichtlich zukünftiger Ereignisse. Diese generalisierte Misserfolgserwartung wiederum entspricht genau einem sehr gering ausgeprägten Selbstvertrauen.
Wie diese theoretische Nähe bereits nahe legt, sind auch die empirischen Korrelationen zwischen Selbstwert und Depressivität sehr hoch (z. B. Stiensmeier-Pelster et al., 1994; Überblick in Kanning, 2000). Es ist nicht überraschend, dass dabei akut depressive Patienten einen geringeren Selbstwert angeben als remittierte Patienten nach einer depressiven Episode (Essau et al., 1999). Der Zusammenhang zwischen Selbstwert und Depressivität lässt sich übrigens auch experimentell nachweisen. Hannover (1988) gab nach einem Leistungstest den Probanden manipulierte Rückmeldung über ihre Leistungen. Es zeigte sich, dass Probanden, die eine vergleichsweise schlechtere eigene Leistung mitgeteilt bekamen, ihre eigene Leistung auch selbst negativ beurteilen. Dieses Selbsturteil ging wiederum mit situationaler depressiver Verstimmung einher.
Der Selbstwert korreliert außer mit der Depressivität auch mit nahezu allen psychischen Störungen bzw. Symptomen. Neben dem Einfluss psychischer Störungen ganz generell (Rudolf, 1999) werden z. B. für folgende Störungen Zusammenhänge beschrieben: Sörgaard et al. (2002) untersuchten den Selbstwert von schizophrenen Patienten und fanden ihn in erster Linie mit der aktuellen psychischen Gesundheit korreliert. Auch Patienten mit Zwängen und Ängsten besitzen einen niedrigen Selbstwert (Ehntholt, Salkovskis & Rimes, 1999; Solomon, Greenberg & Pyszczynski, 1991). Das gilt u. a. auch für soziale Ängste sowie Ängstlichkeit ganz allgemein (Kanning, 2000; Glashouwer et al., 2013), für Bulimie (Egger, Lechner & Freidl 1997) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (Vater et al., 2010).
Nicht nur psychische Störungen bzw. Symptome hängen mit dem Selbstwert zusammen, sondern auch viele andere Variablen, die allgemein mit Wohlbefinden in Zusammenhang gebracht werden können. Dazu gehören Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden (Kanning, 2000), aber auch soziale Schichtzugehörigkeit und Armut (Klocke, 1996). Solche Zusammenhänge sind unmittelbar einleuchtend – bei Menschen, die mit ihrem Leben und ihrem sozialen Status zufrieden sein können, zeigt sich dies auch in einem relativ hohen Selbstwert. Genau umgekehrt sind die Resultate, wenn man sich mit dem Zusammenhang zwischen Problemen bzw. Problemverhalten und dem Selbstwert befasst. Das Vorliegen von Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenkonsum oder problematisches Spielverhalten etwa geht mit einem geringeren Selbstwert einher (Bensel, 1998; van Rennings, 1998; Zimmerman et al., 1997).
Der Selbstwert hängt auch davon ab, wie kompetent sich Menschen erleben (z. B. Judge & Bono, 2001). Das ist fast überflüssig zu erwähnen, da kompetenzbezogenes Selbstvertrauen per definitionem ein Teilbereich des Selbstwertes ist. Laut Harter (1993) finden sich auch empirische Belege für die erwähnte Annahme von James, wonach der Selbstwert nur von der wahrgenommenen eigenen Kompetenz in subjektiv wichtigen Bereichen beeinflusst wird. Eine sportliche Begabung beispielsweise wird nur dann den Selbstwert erhöhen, wenn die betreffende Person auch Wert darauf legt, sich sportlich zu betätigen. Der Selbstwert korreliert außerdem mit der individuellen Zielsetzung in dem Sinne, dass Menschen mit hohem Selbstwert sich hohe, aber realistische Ziele setzen. Personen mit einem niedrigen Selbstwert dagegen stecken sich oft zu niedrige Ziele (Schütz, 2000). Das zeigt, dass der Selbstwert möglicherweise manchmal auch eine Voraussetzung für Erfolg sein kann, weil mit schlechtem Selbstwert eher weniger erfolgversprechende Ziele verfolgt werden. Weiterhin gibt es Zusammenhänge zwischen dem Selbstwert und der Klarheit und Stabilität des Selbstkonzeptes – wer ein sicheres und stabiles Bild von sich selbst hat, also in seiner Identität gut gefestigt ist, der weist üblicherweise auch einen höheren Selbstwert auf (Schütz, 2000).
Ein sehr deutlicher Zusammenhang besteht auch zwischen dem Selbstwert und dem körperlichen Selbstbild. Der Selbstwert hängt stark davon ab, wie attraktiv sich eine Person einschätzt (Harter, 1993), übergewichtige Menschen haben tendenziell einen geringeren Selbstwert. Dies gilt auch schon für Kinder. Mädchen orientieren sich beispielsweise lange vor der Pubertät bereits am gegenwärtigen untergewichtigen weiblichen Schlankheitsideal (Kreikebaum, 1999). Dies spiegelt sich auch in dem erwähnten Zusammenhang zwischen Essstörungen und Selbstwertproblemen.
Die enge Verbindung zwischen dem Selbstwert und der körperlichen Erscheinung ist nachvollziehbar. In unserer Gesellschaft spielen Aussehen, Gewicht und Figur eine wichtige Rolle in der sozialen Bewertung. Geht man davon aus, dass der Selbstwert zu einem hohen Anteil auch über soziale Bewertungen vermittelt wird, so ist die Bedeutung der eigenen Attraktivität für den eigenen Selbstwert selbstverständlich. Diese Bedeutsamkeit der sozialen Bewertung für den Einfluss des eigenen Aussehens auf den Selbstwert zeigen z. B. Schmidt & Steins (2000). Hier beeinflussten Übergewicht sowie sichtbare Anzeichen chronischer Krankheiten den Selbstwert (von Kindern) nur bezogen auf die öffentlichen Lebensbereiche »Freizeit« und »Schule«, aber nicht für den privaten Bereich der Familie.
Die Bedeutsamkeit sozialer Rückmeldungen zeigt sich auch in anderen Bereichen. Nachgewiesenermaßen hängt der Selbstwert zusammen mit sozialen Variablen wie Beliebtheit, sozialer Kompetenz und sozialer Integration (Kanning, 2000), geringer Schüchternheit, dem Vorhandensein eines Partners (Neyer, 1999) und der wahrgenommenen sozialen Unterstützung (Harter, 1993). Menschen, die sozial integriert und beliebt sind, in einer Partnerschaft leben und sich kompetent durchzusetzen wissen, haben üblicherweise auch einen hohen Selbstwert. Schütz (2000) berichtet in Bezug auf das Verhalten in Partnerschaften, dass Personen mit hohem Selbstwert, die sich also ihrer sozialen Integration recht sicher sein können, eher individuelle Ziele verfolgen und weniger an den Bedürfnissen des Partners orientiert sind. Personen mit geringem Selbstwert dagegen, die sich sozial weniger anerkannt fühlen, richten sich eher auf partnerschaftliche Ziele aus und orientieren sich stark am Partner. Analog sind Personen mit niedrigem Selbstwert eher sozial, Personen mit hohem Selbstwert eher individualistisch orientiert. Dazu passt auch, dass Frauen, denen ja grundsätzlich eine stärkere soziale Orientierung als Männern zugesprochen wird, in manchen Studien auch einen geringeren Selbstwert aufweisen (Schütz, 2000).
In diesem Zusammenhang weist Schütz (2000) darauf hin, dass ein relativ hoher Selbstwert zwar prinzipiell sozial adaptiv ist, weil er ermöglicht, sich hohe Ziele zu stecken und zu verfolgen. Wenn der Selbstwert jedoch zu hoch ausfällt, sinkt die Adaptivität wieder. Menschen, die ihre eigene Attraktivität und Begabung stark überschätzen, individuelle Ziele weit vor Beziehungsziele stellen, die eigene Verantwortung für Konflikte unterschätzen und in ihrer Selbstdarstellung sehr dominant sind, geraten häufiger in soziale Konflikte. Sie nehmen sich selbst so wichtig und beachten andere so wenig, dass sie nicht in der Lage sind, bei Meinungsverschiedenheiten angemessene Kompromisse auszuhandeln u. Ä. Davon sind sie möglicherweise selbst häufig nur wenig beeinträchtigt, die soziale Umgebung kann darunter jedoch sehr leiden. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Thema findet sich sowohl bei Schütz (2005) als auch bei Schütz und Hoge (2007).
Sucht man nach empirischen Hinweisen zur Entwicklung des Selbstwertes, so stößt man auf Zusammenhänge zwischen dem Selbstwert und Merkmalen des Familienklimas in der Kindheit. Ein strafendes Familienklima führt zu geringerem Selbstwert (Hefler, Böhnke & Butz, 1999), während Unterstützung und Nachsicht durch die Eltern mit einem höheren Selbstwert der Kinder einhergeht (Scott et al., 1991; van Aken, Asendorpf & Wilpers, 1996; Böhm, Emslander & Grossmann, 2001). Harter (1993) berichtet außerdem, dass der Selbstwert von Kindern zusammenhängt mit der Konditionalität von Unterstützung. Wenn Kinder und Jugendliche bedingungslose Unterstützung von Eltern oder Freunden erfahren, resultiert ein höherer Selbstwert, als wenn die Unterstützung an Bedingungen geknüpft ist.
Diese Befunde zur Bedeutung der kindlichen Beziehungen für die Entwicklung des Selbstwertes stimmen mit wichtigen psychotherapeutischen Annahmen überein. In der Psychoanalyse sowie der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie hat es eine lange Tradition, frühkindliche Beziehungen als wichtige Ursache für die spätere Entstehung psychischer Störungen und Selbstwertprobleme zu betrachten. Mit dem Konzept der »Lerngeschichte« räumt mittlerweile auch die moderne Verhaltenstherapie dem kindlichen Beziehungserleben eine nicht unwesentliche Bedeutung ein (z. B. Margraf & Schneider, 2009). In KVT-Weiterentwicklungen wie der Schematherapie (z. B. Jacob & Arntz, 2011) wird der biografische Hintergrund noch weitaus stärker betont. Aber auch unabhängig von Psychotherapie-Theorien macht es die hohe Bedeutung sozialer Reaktionen für den Selbstwert plausibel, dass das soziale Klima, das in wichtigen Entwicklungszeiträumen herrscht, seine Spuren im Selbstkonzept hinterlässt.
Die bisherige Übersicht zeigt, dass der Selbstwert mit einer breiten Palette von Problemen, Verhaltensweisen und Eigenschaften zusammenhängt. Der Zusammenhang zeigt sich in dem Sinne, dass selbstwertstarke Personen positiv beschrieben werden können und sich auch selbst als positiv erleben. Menschen mit hohem Selbstwert leiden weniger unter psychischen Störungen und Symptomen, fühlen sich attraktiver, kompetenter und sozial besser eingebunden und verfolgen eigene Ziele konsequenter als Menschen mit niedrigem Selbstwert. Dabei gehören sie häufig sozial eher besser gestellten Schichten an. Folgerichtig besitzen sie auch ein höheres Maß an Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden. Insofern lässt sich der Selbstwert auch als Coping-Ressource oder gesundheitsbezogener Schutzfaktor verstehen (Mittag, 1998), dessen Ausprägung wesentlich vom Erleben eigener Kompetenz abhängt. Entwicklungsgeschichtlich sind dafür kindliche Beziehungserfahrungen von Bedeutung.
Alle unsere Ausführungen zeigen, dass eine hohe Ausprägung des Selbstwertes ideal ist. Allerdings sollte man dabei nicht übersehen, dass der Selbstwert auch zu hoch ausfallen kann – bei maßloser Selbstüberschätzung kann es leicht zu sozialen und emotionalen Problemen kommen (Cain, Pincus & Ansell, 2008).
Alle bisher berichteten Zusammenhänge sagen isoliert betrachtet noch nichts über die darin enthaltene Kausalrichtung aus. Beeinflusst der Selbstwert Stimmung, soziales Verhalten und Kompetenz, sodass man nur viel von sich halten muss, um glücklich, beliebt und erfolgreich zu sein? Oder ist es umgekehrt so, dass Erfolg, soziale Beliebtheit und eine gute Stimmung zu einem hohen Selbstwert führen? Für beide Hypothesen lassen sich »Pros« und »Contras« finden.
Es gibt Autoren, die dezidiert die Ansicht vertreten, dass der Selbstwert der primäre Faktor sei. Nach dieser Sichtweise ist ein niedriger Selbstwert ursächlich verantwortlich für die verschiedensten Probleme. Mecca et al. (1989) etwa vertreten die für die 80er und 90er Jahre typische Position, dass die Gesellschaft rundum glücklich und frei von Problemen wäre, wenn es nur gelänge, allen ihren Mitgliedern zu einem hoch ausgeprägten Selbstwert zu verhelfen.
Implizit wird die Annahme, dass ein hoher Selbstwert zu Kompetenz und psychischer Stabilität führt, auch von den Autoren vieler Therapie- und Selbsthilfebücher vertreten. Dies trifft auf all jene Ansätze zur Selbstwertsteigerung zu, die in erster Linie auf eine Veränderung der Einschätzung der eigenen Person abzielen (z. B. Merkle, 1999; Dombrowski, 1998), um den Selbstwert und damit auch das Befinden des Patienten zu verbessern.
Baumeister et al. (2003, 2005) haben sich mit dieser Frage auf der Grundlage der vorliegenden empirischen Literatur sehr ausführlich und fundiert beschäftigt. Sie schlussfolgern daraus, dass ein hoher Selbstwert in schulischen, beruflichen oder sozialen Bereichen nicht zu besseren Leistungen und Erfolgen führt, sondern eher deren Resultat ist. Experimentelle Studien zeigen demnach keinen positiven Einfluss eines hohen Selbstwertes auf die Ergebnisse von Leistungstests; allerdings fällt es Menschen mit hohem Selbstwert leichter, auch nach einem Misserfolg weiterzumachen. Vergleichbar damit trauen es sich Menschen mit hohem Selbstwert eher zu, (Führungs-)Aufgaben zu übernehmen – und tun dies daher auch mit höherer Wahrscheinlichkeit.
Allerdings sehen sie einen klaren Zusammenhang zwischen Selbstwert einerseits und Glück und Zufriedenheit andererseits, wobei ein hoher Selbstwert zu stärkerem subjektivem Glücksempfinden führt und dadurch möglicherweise auch vor Depressionen schützen kann. Im Gegensatz dazu scheint es jedoch nicht zuzutreffen, dass ein hoher Selbstwert vor Problemverhaltensweisen schützt, also z. B. Kinder oder Jugendliche vom Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum oder frühen sexuellen Beziehungen abhält. Im Gegenteil ist hoher Selbstwert eher mit einer Neigung assoziiert, Neues auszuprobieren, was die genannten Verhaltensweisen sogar verstärken kann.
Hingegen scheinen Selbstkontrolle und Selbstregulation Persönlichkeitsmerkmale zu sein, die schulischen, sozialen oder beruflichen Erfolg kausal bedingen (Baumeister et al., 2006; Tangney et al., 2004). Damit ist die Fähigkeit gemeint, eigene Standards und Reaktionsmuster so zu verändern, dass man gegebene Standards und Ziele erreichen kann.
Hohe Selbstkontrolle zeigt sich in den verschiedensten Bereichen menschlichen Handelns und lässt sich durch gezieltes Training verbessern (Baumeister et al., 2006).
Insgesamt ist es also einerseits wichtig, dass Menschen mit geringem Selbstwert lernen, sich selbst zunächst auch unabhängig von ihren Leistungen positiver zu bewerten; dies kann ihr Wohlbefinden steigern und sie ermutigen, Dinge anzupacken, die sie sich aufgrund ihres geringen Selbstwertes nicht zutrauen, obwohl sie sie möglicherweise gut bewältigen könnten. Daneben ist es jedoch zur Förderung von konkreten Erfolgen, die ja wiederum den Selbstwert steigern, unabdingbar, auch Selbstkontrolle und Selbstregulation zu verbessern.
Im vorhergehenden Abschnitt wurden Zusammenhänge des Selbstwertes mit anderen Variablen oder Konstrukten wie Störungen, Persönlichkeitseigenschaften oder Entwicklungsbedingungen erörtert. Solche Variablen sind meist abstrakte Konzepte, die nicht direkt beobachtet werden können, sondern eher indirekt, beispielsweise mit Fragebögen, erhoben werden. In diesem Abschnitt soll die Betrachtungsweise heruntergebrochen werden von dieser theoretischen Perspektive auf eine konkretere Ebene, die dem individuellen Erleben und Handeln näher steht. Im Folgenden geht es darum, welche konkreten Bedingungen, Erfahrungen oder Verhaltensweisen geeignet sind, den Selbstwert zu stärken oder auch zu schwächen. Dabei handelt es sich also um Aspekte, die entweder direkt beobachtet werden können oder über die unmittelbar Auskunft gegeben werden kann. Was erleben Menschen als Quellen, aus denen sich ihr Selbstwert speist, bzw. durch welche Erfahrungen wird der Selbstwert geschwächt oder bedroht?
Diese »Quellen des Selbstwertes« können nicht vollständig unabhängig sein von den »Korrelaten des Selbstwertes«, die im vorherigen Abschnitt behandelt wurden. Im Gegenteil, es lassen sich manche Selbstwert-Quellen auch als Indikatoren für die bereits betrachteten Variablen oder theoretischen Konstrukte verstehen. Wir nehmen diese Überschneidung gerne in Kauf, weil sie Ausdruck der Verbindung zwischen wissenschaftlich-theoretischen Aussagen und realen menschlichen Erfahrungen ist.
Im Rahmen sozialpsychologischer Forschung zum Selbstwert sind verschiedene experimentelle Anordnungen entwickelt worden, die eine Stärkung oder Schwächung des Selbstwertes induzieren sollen. Die dabei eingesetzten Strategien der Selbstwertstärkung oder -schwächung müssen, da es sich um experimentelle Forschung handelt, einerseits einfach und standardisiert eingesetzt werden können, andererseits möglichst sicher den Selbstwert-Effekt hervorrufen. Solche simplen und sicheren Quellen des Selbstwertes sind in erster Linie positive Leistungsrückmeldungen, also Lob für gezeigte Leistungen (s. a. Möller, 2000). Dabei ist es wichtig, neben absoluten Leistungswerten auch soziale Vergleichsinformationen zu liefern. Die Aussage »Sie haben diese Aufgabe von allen bisherigen Teilnehmern am besten gelöst« ist z. B. stärker selbstwertförderlich als »Sie haben diese Aufgabe perfekt gelöst«.
Umgekehrt wird der Selbstwert geschwächt durch negative Leistungsrückmeldungen bzw. Frustration. Auch hier ist der soziale Bezug von Bedeutung. »Sie haben diese Aufgabe von allen Teilnehmern bisher am schlechtesten gelöst« trifft den Selbstwert härter als die Rückmeldung »Sie haben extrem viele Fehler gemacht«. Noch stärkere Selbstwertbedrohungen als Frustrationen sind in Experimenten (verbale) Angriffe (Laux & Weber, 1993). Angriffe verletzen den Selbstwert besonders stark, wenn sie nach Selbstöffnung erfolgen und die dabei gegebenen Informationen ausnutzen oder wenn sie wunde Punkte treffen.
Neben Untersuchungen, in denen der Selbstwert experimentell beeinflusst wird, um bestimmte Effekte der Selbstwertdynamik zu untersuchen, gibt es auch Studien, die den Einfluss bestimmter Erfahrungen oder Handlungsweisen auf den Selbstwert prüfen. Die im Folgenden zusammengefassten Quellen oder Bedrohungen des Selbstwertes waren jeweils einzeln Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Dadurch stehen sie hier etwas unverbunden nebeneinander. Da üblicherweise nicht mehrere Quellen des Selbstwertes gleichzeitig untersucht werden, lässt sich über die jeweilige Gewichtung einzelner Punkte im Vergleich zu den anderen wenig sagen.