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Das Buch

Abbys bester Freund ist ihr Hund Tam. Die beiden sind ein perfektes Team, immer füreinander da, einfach unzertrennlich. Dann geschieht ein schrecklicher Autounfall, der die Freunde auseinanderreißt. Abby wird verletzt und Tam aus dem Wagen geschleudert.
Niemand kann den Hund finden. Doch Abby gibt die Hoffnung nicht auf!
Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt, das Leben in der Wildnis nicht gewohnt, hat auch Tam nur ein Ziel: Er will zurück zu Abby! Monatelang trotzt er allen Gefahren, aber dann wird es Winter ...

Die Autorin

© Todd Blackley

Bobbie Pyron studierte Psychologie und Anthropologie und ist Diplom-Bibliothekarin. Sie engagiert sich als Bibliothekarin in verschiedenen Verbänden und mochte schon immer alle Arten von Kinderbüchern. Sie lebt mit ihrem Mann in Park City, Utah.

www.bobbiepyron.com

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Teddy, Boo und Sherlock,
meine Inspiration und meine Seele.
Und für Todd, der meinem Herzen ein
sicheres Zuhause gegeben hat.

Es war ein fast per fekter Herbsttag. Der Oktoberhimmel war so blau und klar, dass ich blinzeln musste. Das Herbstlaub leuchtete bunt, und die Berge von Virginia sahen mit ihren Buckeln und Falten wie Patchworkdecken von meiner Großmutter Meemaw aus.

Mama drückte meine Schulter. »Du hättest dir für den Wettbewerb keinen besseren Tag wünschen können.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Tam und ich sind nicht wegen dem schönen Wett er hier.«

Mama runzelte die Stirn. »We gen des Wetters, Abby Whistler. Rede nicht wie ein Hinterwäld ler.«

Tam jaulte und tappte mit der Pfote nach meinem Bein. Ich beugte mich zu ihm hinunter und nahm ihn auf den Arm. Meine Mutter ignorierte ich, so gut ich konnte. Wegen einer Grammatikstunde waren wir auch nicht da, sondern wir wollten den Agilitätswettbewerb für Junioren von Südost-Virginia gewinnen.

Mama streckte die Hand aus und kitzelte Tams Vorderpfoten. Zufällig weiß ich, dass er das nicht mag. Er ist aber zu höflich, um es sich anmerken zu lassen.

Tam und ich sahen zu, wie Megan Smoot mit ihrem Hund Sydney über den Rasen lief. Sydney umrundete die letzten drei Hindernisse auf der linken statt auf der rechten Seite und ließ den letzten Sprung aus.

»Arme Megan«, sagte Mama. »Das kostet Punkte.«

»Megan hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Mücke«, sagte ich. »Es ist nicht Sydneys Schuld. Er hat nur gemacht, was sie ihm gesagt hat.«

Megan war fertig und winkte den Zuschauern halb herzig zu, während sie am Rand verschwand.

Der Lautsprecher verkündete knatternd: »Als Nächstes, meine Damen und Herren, haben wir die kleine Abby Whistler und ihren Shetland Sheepdog Tam. Sie sind die ganze Strecke von Harmony Gap in North Carolina bis zu uns gefahren. Lassen Sie sich von der Größe und Jugend der bei den nicht täuschen. Das ist das Team, das es zu schlagen gilt!«

Ich setzte Tam aufs Gras und zog meine Glückskappe tiefer ins Gesicht. »Ich verstehe nicht, warum alle dar auf rumreiten müssen, dass ich erst elf bin«, brummte ich.

Mama lachte. »Zeigt ihnen, was ihr könnt!«

Tam und ich traten in die Arena. Die Strecke lag vor uns. Wir mussten den Hindernislauf so schnell wie möglich und fehlerfrei hinter uns bringen.

Tam saß neben meinem linken Fuß und schaute mit seinem typischen Sheltie-Grinsen zu mir hoch. Sein rötlich-weißes Fell glänzte in der Sonne. Der sternförmige weiße Fleck auf seinem Kopf leuchtete. Ich lächelte ihn an. »Bist du bereit, es zu schaffen, mein Kleiner?«

Ich wartete auf ein Zeichen vom Tisch der Preisrichterin und hätte schwören können, dass sich ein ganzer Schwarm Krähen aus meinem Bauch in die Lüfte erhob, genau wie auf unseren Maisfeldern zu Hause.

Die Preisrichterin pfiff.

Tam und ich stürzten uns auf die Laufstrecke. Er flog durch den Autoreifen, rannte auf der steilen Seite des dreieckigen Rahmens hoch und schlitterte auf der anderen Seite hinunter. Er segelte wie mit Engelsflügeln über zwei Hindernisse, eins nach dem anderen, und ließ mich nie aus den Augen.

Manche Hundeführer schreien ihre Tiere fortwährend an. Andere geben ihren Hunden komische Handzeichen oder pfeifen, um ihnen zu sagen, wo sie hinlaufen und was sie tun müssen. Aber Tam und ich brauchten so etwas nicht. Wir verstanden uns auch so. Ich musste nur eine Schulter heben oder mit dem Kopf nicken, dann wusste er schon Bescheid. Tam verstand mich immer.

Er flog praktisch über die Laufplanke, raste durch den Tunnel und sprang am anderen Ende bellend heraus. Er schlängelte sich so leicht wie fließendes Wasser um die Stangen.

Das Ende des Parcours war in Sicht. Jetzt waren nur noch die Wippe und zwei hohe Sprünge zu bewältigen. Ich glaube, die Zuschauer waren aufgestanden und feuerten uns an, aber ich hörte sie nicht. Für mich gab es nur Tam und mich und die strahlende Sonne.

Wir liefen bis ans Ende der Strecke und durch die Ziellinie. Tam flog in meine Arme und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Als ich auf die Uhr schaute, sprang mir das Herz fast aus der Brust: Wir hatten gewonnen.

Mama und ich luden unsere Sachen auf den Pick-up, als Megan angeschlichen kam. Mit ihrem falschen Lächeln sagte sie: »Glückwunsch zum ersten Platz, Abby! Du und Sam – ihr wart einfach super!«

Ich starrte sie an. Die Sonne, die auf ihrer Zahnspange blitzte, blendete mich. »Er heißt Tam und nicht Sam!«, sagte ich bissig, weil Megan haargenau Bescheid wusste. Schließlich redeten wir bei jedem Wettbewerb immer das Gleiche.

»Ah ja«, sagte sie. »Jedenfalls findet am nächsten Wochenende bei mir zu Hause für jeden im Hundeführer-Jugend-Klub eine Pizzaparty statt. Du bist herzlich eingeladen, auch wenn du immer noch kein Mitglied bist.«

Ich schaute weg. »Tam und ich haben am Wochenende wahrscheinlich zu tun.« Was, wusste ich nicht. Aber ich hätte lieber einen Tag auf dem Zahnarztstuhl verbracht, als zu ihrer Party zu gehen.

Megan lachte. »Ohne Hunde, Doofi. Die Party ist nur für uns. Wird lustig.«

Damit war die Sache geklärt. Ohne Tam würde ich nirgendwo hingehen.

Megan entfernte sich und warf ihre Haare in alle Richtungen.

»Wird lustig«, sagte ich mit hoher, sirrender Stimme und klang wie eine lästige Mücke.

»Vielleicht ja doch«, sagte Mama.

Ich schnaubte. »Ich war letztes Jahr auf ihrer Party, weißt du noch? Sie war alles, nur nicht lustig.« Alle Jungs und Mädchen im Hundeführer-Jugend-Klub waren aus Städten wie Asheville, Hendersonville und Weaverville gekommen. Sie redeten mit mir, als ob ich ein blödes Gör von Hinterwäldlern wäre. Ein Landei. Mama hatte keine Ahnung, wie sich das anfühlte. Sie war in der Stadt groß geworden.

Aber Tam verstand mich. Tam hat mich immer verstanden.

Mama wischte sich die Haare aus den Augen. »Es würde dir nicht schaden, dir auch mal ein paar zweibeinige Freunde zuzulegen, weißt du? Jeder braucht Freunde.«

»Ich habe Olivia«, sagte ich. »Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hatte sie zwei Beine.«

Mama lächelte. »Olivia ist eine gute Freundin. Aber es würde dir nicht schaden, deinen Horizont ein bisschen zu erweitern und ein paar Jugendliche kennenzulernen, die nicht in Harmony Gap leben.«

Ich hob Tam in seine Kiste auf der Pritsche des Pick-ups, was ich hasste, weil er mich dann immer mit seinen schokoladenbraunen Augen ansah, als ob ich das Schlimmste überhaupt tat. Aber Mama war sehr eigen, wenn es um ihren nagelneuen Truck ging. Wäre es Daddys alter Kleinbus gewesen, hätte Tam vorn bei uns sitzen können.

Ich fummelte am Riegel der Kiste herum. Er war so alt und verrostet, dass er nicht richtig einrastete.

»Nun mach schon, Abby! Ich möchte ein Stück weit auf dem Blue Ridge Parkway in den Bergen fahren, bevor wir irgendwo haltmachen. Es wäre schön, die herbstliche Färbung der Bäume zu sehen.«

Ich steckte meine Finger durch den Draht der Öffnung in der Kiste und streichelte den weißen Stern auf Tams Kopf.

Tam leckte meine Fingerspitzen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Du weißt, wie Mama ist.« Ich steckte ihm ein Stück Käse zu und kraulte seinen zarten Kopf.

»Los, beeil dich, Abby«, rief Mama und beugte sich aus dem Fenster.

»Okay, okay«, sagte ich.

Ich kraulte Tam ein letztes Mal an dem Fleck hinterm Ohr, was ihm gefällt. »Mach dir keine Sorgen, Tam«, sagte ich. »Wir sind bald zu Hause. Alles wird gut.«

Der Hund wartete. Er beobachtete, wie das Mädchen am Wagen entlangging und die Tür öffnete. Bestimmt würde es zurückkommen, die Kiste aufmachen und ihn auf den Arm nehmen. Dann wäre alles so, wie es sein sollte.

Die Autotür schlug zu. Der Motor rumpelte. Tam heulte und schlug mit der Pfote auf die Tür aus Draht. Wo war das Mädchen, sein Mädchen, mit seinem Geruch nach Gras, Seife und Schweiß und dem Schlag seines Herzens an seinem Ohr? Ob wohl keine anderthalb Meter zwischen dem Hund und dem Mädchen lagen, war es für Tam, als seien es Hunderte von Kilometern.

Die Kiste wackelte und hüpfte auf der Pritsche des Pick-ups herum. Tam seufzte und legte sich auf das alte Handtuch auf dem Boden und schlief.

Et was schüttelte den Hund. Der Wagen kreischte. Er schleuderte erst in die eine Richtung, dann in die andere und warf Tam und die Kiste gegen die Blechwände. Ein ekelhafter Geruch nach verbranntem Gummi stieg dem Hund in die Nase.

Tam jaulte und rappelte sich auf. Es krachte, Metall riss und platzte, Glas splitterte. Der Wagen pflügte durch dichte grüne Wände aus Rhododendron- und Lorbeerbüschen. Die Schreie des Mädchens und der Frau machten dem Hund Angst.

Dann wurde seine Welt auf den Kopf gestellt. Bäume schlugen über ihm Purzelbäume, der Erdboden wurde zum Himmel. Tam segelte hoch und immer höher und wirbelte durch die Luft, eine steile Böschung hinunter und weg von allem, was er kannte.

Stille. Starre.

Et was zog den Hund aus der Dunkelheit. Es war seine Stimme, die ihn rief. Das Mädchen hatte Angst. Er musste zu ihm. Jetzt. So fort.

Tam stand auf. Ein Schmerz zuckte durch seine Schulter und seine Hüfte. Seine Pfoten hatten sich in dem alten Handtuch verheddert, das das Mädchen in die Kiste gelegt hatte. Seine Beine wollten ihn nicht tragen.

Er heulte und lauschte. Aber er hörte nur leises Rascheln im Unterholz, das Knacken eines Zweiges, nicht seine Stimme. Der scharfe Geruch nach Wasser stieg zu ihm auf.

Tam zitterte. Die Erinnerung an die Schreie des Mädchens er füllte ihn mit Panik.

Tam bellte und kratzte an den Wänden der Kiste. Er warf sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Drahttür. Die Kiste, die am Rand eines Felsbrockens balancierte, kippte. Hund und Kiste rutschten am Felsen entlang und fielen klatschend in den kleinen Fluss darunter. Die Strömung er fasste sie und trieb sie in schnellen Drehungen vom Ufer weg.

Eisiges Wasser drang durch die Schlitze in der Kiste. Tam hasste Wasser. Er schwamm nicht gern. Er mochte es nicht, wenn seine Pfoten nass wurden. Das Wasser stieg. Tam be kam furchtbare Angst. Er kauerte in einer Ecke, schlug dann wie der mit den Pfoten gegen die Tür und zerriss sich da bei die Ballen.

Er drückte an die Tür. Rost und Alter hatten da für gesorgt, dass der Riegel nicht richtig eingerastet war. Die Tür gab nach. Tam tauchte in das dunkle, rauschende Wasser. Ob wohl es ihn mitreißen wollte, blieben die Hundemarken an der Drahttür hängen und hielten Tam fest.

Er zerrte. Er warf den Kopf wie wild hin und her. Wasser strömte in sein Maul und in die Nase. Er stemmte die Vorderpfoten gegen die Kiste, senkte den Kopf und zog ihn zurück. So befreite er sich von seinem Hals band und den Marken, die je dem sagten, wer er war und dass er dem Mädchen gehörte. Die Strömung er fasste ihn und wirbelte ihn flussabwärts, weg von der Kiste, dem Halsband und der Erinnerung an das warme weiche Bett, das er mit seinem Mädchen geteilt hatte.

Ich er wachte aus dunklem, wässrigem Schlaf. Mein Herz schlug tausendmal in der Minute. Das Licht war hell. Ich musste mich anstrengen, um die vertrauten Dinge in meinem Zimmer zu erkennen. Meine Stein- und Federsammlung auf dem Bücherregal. Die Landkarten, die ich an die Wand geheftet hatte. Meine alte Gitarre. Die Pokale und Bänder, die Tam und ich in den letzten bei den Jahren gewonnen hatten. Und Tams warmen Körper, der sich an meinen schmiegte.

Tam! Gleich da am Rand meines Gehirns … ich hatte geträumt, et was Schlimmes war mit ihm passiert. Ich begriff es nicht und konnte mich nicht erinnern, aber ich musste.

Ich versuchte, mich aufzusetzen. »Oh!«, rief ich aus.

Eine warme Hand drückte mich wie der aufs Bett. »Bleib ruhig liegen, Abby.« Mamas Stimme.

Langsam er kannte ich sie. Ein Arm lag in einer blauen Schlinge, am anderen Arm hatte sie einen weißen Verband. Eine Gesichtshälfte war geschwollen und hatte blaue Flecken. Das Erschreckendste war aber ihr Blick.

»Was … wo bin ich?«, fragte ich und versuchte, mich wieder aufzurichten.

»Du bist im Krankenhaus, Abby. Wir hatten einen schweren Unfall. Weißt du es nicht mehr?« Sie strich mir die Haare aus der Stirn. So, wie sie es schon tausendmal getan hatte, wenn ich krank oder traurig war.

»Daddy ist auf dem Weg zu uns«, sagte Mama. »Er wird bald hier sein.« Sie redete immer schneller. »Sobald die Ärzte sagen, dass du nach Hause darfst, fahren wir. Und diesmal nicht auf der Hochstraße des Nationalparks. Das war keine gute Idee von mir. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe …«

»Tam!«, rief ich aus und schnitt ihr das Wort ab. Panik ließ mein Inneres zu Eis erstarren. »Wo ist Tam?«

Sie seufzte und schaute weg.

»Mama?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine Faust packte mein Herz und drückte es zusammen. Meine Mama weint nie. Sie hatte nicht einmal geweint, als ihr Lieblingslama im Frühjahr starb. Nicht, als sie sich beim Schnippeln von Apfelstücken in den Finger schnitt, weil ich unbedingt einen Kuchen wollte. Nicht, als Daddy mit seiner Band wochenlang unterwegs war.

Sie schob einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sie machte kleine Falten in meine Decke, noch eine und noch eine. »Als wir von der Straße abgekommen sind und durch die Leitplanke fuhren, wurde Tams Kiste vom Auto herunter geschleudert.«

Ich presste die Augen zusammen. Bilder tauchten blitzartig vor mir auf: Die Medaille für den ersten Platz, die Tam und ich beim Wettbewerb gewonnen hatten. Die kurvige Straße in den Bergen von Virginia. Plötzlich etwas Braunes. Der Pick-up, der in alle Richtungen zu trudeln schien. Dann … Schwärze.

Tränen liefen mir übers Gesicht. »Ist er tot?«, flüsterte ich und konnte die Worte kaum herausbringen.

Keine Antwort. Ich schlug die Augen auf. »Mama?«

»Ich weiß es nicht, Abby.«

»Was soll das heißen, du weißt es nicht?«

Mama sah mich mit ihren grauen Augen an. Die gleichen Augen wie meine. »Das heißt, ich weiß es nicht, weil seine Kiste vom Auto geworfen wurde. Und er war drin.«

»Hast du ihn nicht gesucht?«

Sie ging ans Fenster. »Abby, wir hatten einen schweren Unfall. Wir waren beide – ich weiß nicht, wie lang – bewusstlos. Als ich zu mir kam, war überall Blut, und du hast nicht mehr reagiert.« Sie drehte mir den Rücken zu. Mit einer Stimme, die ich kaum verstand, sagte sie: »Ich wusste nicht, ob …«

»Aber Tam …«

Sie drehte sich um und unterbrach mich. »Das Wichtigste warst du, Abby! An Tam habe ich, ehrlich gesagt, gar nicht gedacht. Ich musste so schnell wie möglich Hilfe holen.«

»Vielleicht ist er noch da draußen!«, schrie ich. »Vielleicht ist er verletzt!«

»Ich habe der Polizei Bescheid gesagt. Sie haben versprochen, gleich Polizisten und Leute vom Tierschutz loszuschicken, um Tam zu suchen.«

»Und?«

Mama wurde still. »Sie haben ihn noch nicht gefunden, aber sie haben versprochen, die Suche fortzusetzen.«

Ich konnte nicht atmen. Jeder Millimeter meines Gehirns strengte sich an, um die einzelnen Teile zusammenzufügen.

In diesem Moment ging die Tür auf und Daddys breite Schultern füllten den Rahmen aus. Seine wilden Haare flogen um ihn herum. Als er Mama sah, zogen sich seine Augenbrauen besorgt zusammen. Aber als er mich sah, wurde sein Gesicht weiß.

Mit zwei langen Schritten durchquerte er den Raum und nahm mich vorsichtig in die Arme. Zum ersten Mal heulte ich los. »Oh, Daddy«, schluchzte ich in sein Hemd. »Ich habe Tam verloren.« Ich umklammerte die Hand meines Vaters. »Wir müssen da wieder rauf, Daddy, und ihn suchen! Vielleicht ist er schwer verletzt.«

Er zog die Augenbrauen hoch und sah Mama an.

Mama schüttelte den Kopf. »Abby, du hast eine Gehirnerschütterung, und ein Knöchel ist angeknackst. Der Arzt entlässt dich heute noch nicht.«

»Mir geht’s gut«, sagte ich und schlug die Decke zurück. »Tam ist wahrscheinlich genau da, wo wir den Unfall hatten, und wartet in seiner Kiste auf uns.«

Mama und Daddy tauschten wieder Blicke.

Daddy sagte: »Mäuschen, seit dem Unfall ist ein ganzer Tag vergangen.«

Wie war das möglich? »Dann müssen wir unbedingt da rauf! Er sucht mich. Ich spür’s.«

»Das geht nicht, Abby«, sagte Mama. »Der Arzt sagt, ich muss übermorgen nach Asheville fahren und im Krankenhaus einen Spezialisten für meine Schulter aufsuchen.«

Ich saß in einer Falle, aber ich musste zu Tam!

Mama wandte sich Daddy zu. »Könntest du jetzt hochfahren, Ian, und dich dort umsehen? Ich kann dir genau sagen, wo es war.«

»Ich muss mit«, sagte ich und schwenkte meine Beine über die Bettkante. Die Schmerzen waren so stark, dass mir fast schlecht wurde.

Mama hielt mich mit ihrer gesunden Hand an der Schulter fest. Ihr Gesicht war grau. »Beruhige dich, Abby. Eins nach dem anderen. Lass uns zuerst mit dem Arzt reden und herausfinden, wann er dich entlassen kann. Sobald er sagt, dass du gehen kannst, fahren wir in die Berge und suchen Tam. «

»Aber …«, wollte ich protestieren.

Daddy be rührte meine Lippen mit dem Finger. »Sei still, mein Schatz. Wer weiß? Viel leicht hat ihn schon jemand gefunden. Er hat doch Hundemarken am Halsband.«

»Und einen Mikrochip«, fügte meine Mutter hinzu.

»Außerdem war er in seiner Kiste«, sagte Daddy. »So kommt er nicht weit.«

Sie lächelten beide, aber an ihren Au gen war abzulesen, dass sie selbst nicht daran glaubten.

Die Sonnenstrahlen verbrannten den Nebel, der über dem Fluss schwebte. Der Wald war schon lange wach, bevor die Strahlen zu dem Lager durchgedrungen waren, das Tam sich unter einer umgestürzten Birke bereitet hatte. Eichhörnchen und Streifenhörnchen sammelten emsig Eicheln als Vorrat für die kommenden Wintermonate. Rotfüchse polsterten ihre Bauten mit Blättern aus, und Gänse flogen am Himmel über sie hin weg und wiesen den Weg nach Süden. Im Oktober war das Leben in den Bergen ein Wett lauf mit der Zeit.

Tam wusste nichts von Schnee und Eis, die ein paar Wochen später kommen würden. Als er versuchte, sich von der feuchten Erde zu erheben, wusste er nur, wie sehr ihm sein wunder Körper weh tat und wie hungrig er war.

Stöhnend humpelte er zum Fluss und trank, wo bei er acht gab, sich die Pfoten nicht nass zu machen. Er hob den Kopf und schnupperte in der feuchten Luft, in der sich alle möglichen Gerüche kreuzten. Zu je der anderen Zeit wäre Tam seiner Nase wie ein Fisch an der Leine durch die Duftströme gefolgt.

Aber Tam war verletzt. Und ein verletzter Hund weiß, dass es nur eines für ihn gibt: sich zu verbergen und keinen Laut von sich zu geben.

Er trank noch ein mal und hinkte dann zurück zu seinem Versteck. Wimmernd legte er sich auf die Erde. Als ein großes graues Eichhörnchen auf dem umgestürzten Baum hin und her lief, rührte er sich nicht. Er schlief, als zwei Virginia-Hirsche zum Fluss herunterkletterten, um zu trinken. Und als der Mond über dem Bergrücken erschien und eine große Eule über einer entfernten Wiese auf die Jagd ging, träumte Tam von heißer Bratensoße und Rindfleischbrocken, die man ihm neben dem Holzofen zu Hause bei seinem Mädchen vorsetzte.

Daddy zog die Luft durch die Zähne. »Mein Gott.« Er starrte auf die zerknautschte Leitplanke und die Reifenspuren.

»Tam«, sagte ich, »erinnerst du dich?«

»Richtig«, sagte Daddy.

Es hatte einen ganzen Tag gedauert, bis der Arzt mich aus dem stinkigen Krankenhaus entließ. Vergeudete Zeit, in der wir Tam hätten suchen können.

Daddy und Mama stiegen aus dem Bus. Ich öffnete die hintere Tür und versuchte, mit den Krücken voran auszusteigen. Mama kam schnell zu mir. »Nein, Abby, du bleibst hier. Die Straße ist zu schmal. Daddy und ich rufen ihn.«

»Aber er muss meine Stimme hören«, sagte ich. »Wenn er Angst hat oder verletzt ist, antwortet er euch viel leicht nicht.«

Seufzend half mir Mama, auf recht zu stehen und mich am Auto abzustützen. Ich holte tief Luft und rief so laut ich konnte: »Tam! Komm her, Tam!« Wir lauschten – Bellen? Klirrende Hundemarken? Nichts. Ich rief noch ein mal. Und wie der und wie der und wie der. Bis ich heiser wurde.

Daddy sah sich die Stelle genauer an, wo der Pick-up Bäume und Büsche durchpflügt hatte. Abgebrochene Äste und Glassplitter markierten die Spur. »Die Kiste hätte hier runterfallen müssen«, sagte er. »Ich schau mal nach.«

»Die Kiste müsste leicht zu entdecken sein«, sagte Mama.

Er verschwand zwischen den Bäumen. Ich hielt den Atem an, damit ich Daddy rufen hörte: Ich hab ihn! Er ist okay!

Meine unerreichte Rekordleistung im Luftanhalten war bis zu diesem Tag eine Minute und dreiundvierzig Sekunden. Jetzt brach ich den Rekord um einiges. Aber ich hörte nur den Wind und Vögel und Mama, die mit den Fingern auf der Autotür herumtrommelte.

Sie streckte die Hand aus und schob meine Finger aus meinem Gesicht. »Hör auf, an den Haaren herumzukauen, Abby.«

Ich ließ das feuchte Ende meines Zopfes los. »Daddy ist schon stundenlang weg, Mama. Wieso braucht er denn so lang?«

Mama schaute auf die Uhr. »Er ist erst eine Viertelstunde unterwegs. Bestimmt kommt er gleich zurück.« Daddy kletterte über die Leitplanke. Sein Gesicht war rot und traurig. Er schüttelte den Kopf. »Keine Spur von ihm, Maus.«

»Nicht einmal von seiner Kiste?«, fragte Mama.

Daddy wischte sich die Hände an der Jeans ab. »Das Problem ist, dass die Böschung auf den Rand eines schmalen Felsens stößt. Danach geht es steil hinunter in den Fluss. Es gibt kein Ufer oder so etwas. Nur Steine und viel Wasser.«

Ein riesiger Kloß setzte sich in meinem Hals fest. Ich zwinkerte die Tränen zurück.

»Daddy, bestimmt kann man etwas weiter oben zum Wasser runter«, sagte ich.

»Das denke ich auch«, sagte er.

Wir fuhren eine kurze Strecke. Daddy kletterte wieder über die Leitplanke und ging in den Wald, während ich meinen Hund rief. Nichts.

Dann kehrten wir um und taten das Gleiche. Ich rief, wartete und lauschte. Die Sonne erreichte die Baumspitzen. Nach einer Weile stand sie direkt über uns. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass Daddy so lange wegblieb. Mama legte sich auf den Rücksitz. Sie sah aus, als ob es ihr nicht gut ging. Ich blieb neben dem Wagen stehen und beobachtete die Stelle, an der Daddy mit Tam wieder auftauchen würde.

Aber er kam allein aus dem Wald. »Tut mir leid, Schatz«, sagte er.

»Tam muss doch irgendwo sein«, sagte ich.

Mama richtete sich auf. »Okay, dann fahren wir jetzt rauf zum Besucherzentrum und den Parkwächtern.«

Ich wusste, dass sie recht hatte, wollte aber nicht wegfahren. Tam würde bestimmt zurückkommen, wenn er könnte.

Daddy legte den Arm um meine Schulter und sagte: »Komm, Maus, lass uns fahren!«

Ich riss mich von ihm los und zischte auf meinen Krücken los. Seit ich ein bisschen Übung hatte, kam ich ziemlich schnell voran.

»Abigail Andrea Whistler, bleib so fort stehen!«, schrie Mama.

»Ich muss ihn finden, Mama!«, rief ich über meine Schulter zurück. »Ich weiß, dass er …«

Das Ende meiner linken Krücke verfehlte den Straßenrand. Ich stürzte kopfüber auf den Schott er. Bevor ich Zeit hatte, zu zwinkern, zog mich Daddy in seine langen Arme.

Mama wischte mir Kieselsteine und Erde aus dem Gesicht. »Ehrlich, Abby! Als der liebe Gott Gene mit Sturheit ver teilt hat, hast du die meisten abgekriegt.«

Daddy hob mich hoch. »Komm schon, Abby, Tam ist nicht da.«

Tam trank mit geschlossenen Au gen am Fluss. Die Rippen und Hüften taten ihm immer noch weh. In seinem Bauch rumpelte es. Er hatte seit dem Morgen, an dem der Unfall geschah, nichts mehr gefressen.

Dann hörte er et was. Zu erst so leise, dass selbst er mit seinem feinen Gehör nicht sicher war, ob er sich nicht vielleicht täuschte. Er richtete die Ohren nach vorn. Wasser tropfte aus seiner Schnauze.

Stille.

Als er den Kopf senkte, hörte er es wie der, dieses Mal deutlicher. Je der Muskel seines Körpers spannte sich an. So leise, dass ein menschliches Ohr es niemals hätte wahrnehmen können, hörte er seine Stimme. »Tam! Tam!«

Er bellte ein mal, zwei mal und lauschte wie der. Der Ruf kam aus dem Norden. Tam drehte sich, bellte noch ein mal und bahnte sich seinen Weg am Ufer entlang. Er wusste nicht, dass zwischen ihm und dem Mädchen viele Kilometer weit Rhododendron- und Lorbeerbüsche so dicht beieinanderstanden, dass kein Mensch sich hätte durchzwängen können. Er konnte nicht ahnen, dass es Stunden dauern würde, um sich stromaufwärts zu kämpfen.

Er wusste nur, dass sein Mädchen ihn rief. In all den Jahren, an die er sich erinnerte, war diese Stimme seine Welt, sein Kompass gewesen. Und wenn der Mensch ruft, der einem Hund das Liebste auf der Welt ist, dann muss er zu ihm laufen.

»Ich habe von Ihrem Unfall gehört«, sagte der Ranger im Besucherzentrum des Nationalparks am Buckelfelsen, nach dem Mama ihm er klärt hatte, wer wir waren. »Hier oben kommt es ständig zu Unfällen mit Rehen. Man sollte meinen, dass sie es endlich kapieren.«

Ich wusste nicht, ob er von den Rehen oder den Autofahrern sprach.

Ich räusperte mich. »Mein Hund war in einer Kiste, hinten auf dem Pick-up. Als wir in die Leitplanke gefahren sind, ist er rausgeflogen.«

»Wir sind gerade an der Stelle gewesen, wo sie von der Straße abgekommen sind«, sagte Daddy. »Ich habe mich über all umgeschaut. Wir sind so gar einen halben Kilometer weiter raufgefahren und bis zum Bach runtergeklettert und dann noch einen Kilometer zurückgefahren und wie der den Abhang runter. Keine Spur von ihm oder der Kiste.«

Der Ranger seufzte. »Die Leute verlieren hier oft ihre Hunde.«

Ich drückte dem Mann ein paar Zettel mit Tams Foto in die Hände. »Das ist Tam. Er ist nicht nur irgendein Hund. Er ist ein Champion.« Und mein bester Freund.

Der Ranger schaute sich das Bild genauer an und lächelte. »Ein kleiner Lassie.«

»Sie kennen sich mit Shelties aus?«, fragte Mama.

»Meine Frau ist damit aufgewachsen. Sie liebt die kleinen Hunde. Wir hätten selbst einen, wenn mein Sohn nicht gegen Hundehaare allergisch wäre.«

Daddy legte die restlichen Zettel auf die Theke. Könnten Sie die für uns ankleben?«

»Es gibt eine Belohnung«, sagte ich.

Der Ranger fuhr mit dem Finger um das Bild. »Sieger beim Hindernislauf? Das habe ich mir mal im Fernsehen angeschaut. Meine Frau guckt ständig Tiersendungen. Eigentlich bringen wir keine persönlichen Mitteilungen an.«

»Tam ist für meine Tochter aber sehr, sehr wichtig«, sagte Mama. »Und für uns auch.«

Er musterte mich mit meinen Krücken und Mama mit ihrem verbundenen Arm und der komplizierten Schlinge. »Hier in der Nähe sind Toiletten und Picknickplätze. Ich denke, ich kann dort ein paar anbringen.«

Daddys Gesicht strahlte vor Erleichterung. »Wir wären Ihnen wirklich sehr dankbar. Wir fahren jetzt nach Hause, aber wenn ihn jemand findet oder irgendetwas über ihn weiß, kann er uns anrufen. Die Telefonnummer steht auf dem Zettel.«

Der Ranger sah sich die Nummer unter Tams Bild an. »Ist das irgendwo in North Carolina?«

Daddy nickte. »Ungefähr siebzig Kilometer südlich von Asheville in einem kleinen Ort namens Harmony Gap. Wir wohnen etwas außerhalb in Wild Cat Cove.«

Der Ranger pfiff. »Am anderen Ende vom Blue Ridge Parkway. Das ist aber ’ne ganz schöne Strecke von Virginia.«

»Wenn ihn jemand findet, holen wir ihn sofort ab«, sagte ich. So weit konnte es doch auch wieder nicht sein.

Der Ranger seufzte und nahm die Zettel vom Schreibtisch. »Hoffen wir, dass ihn bald jemand findet, Kleine. Hier oben lässt der Winter nicht lange auf sich warten. Sowie er einsetzt, ist die Straße fast nicht mehr befahrbar. Dann kommen die Leute erst im Frühjahr wieder.«

Mir fiel das Herz hinunter bis zu den Turnschuhen.

Nachdem Daddy mein Bein auf dem Rücksitz auf Kissen gebettet hatte, sagte ich: »Können wir noch mal zurückfahren und nachschauen?«

»Nein, Abby«, sagte Mama.

»Aber vielleicht ist er jetzt da!«

»Das sind fast zwanzig Kilometer. Außerdem wird es bald dunkel.«

»Na und?« Mir war es egal, wie sehr Mama es hasst, wenn ich das sage.

»Wir könnten wieder in Waynesboro übernachten, morgen zurückfahren und weitersuchen«, sagte ich.

Diesmal drehte sich Daddy zu mir um. »Abby, ihr müsst beide nach Hause. Deine Mutter fährt morgen nach Asheville zum Arzt, und deine Großmutter ist außer sich vor Sorge. Außerdem«, fügte er hinzu und rieb sich den Nacken, »haben wir nicht so viel Geld, dass wir ständig in Motels übernachten können.«

»Aber Daddy, wir können doch Tam nicht einfach zurücklassen! Er ist …«

Daddys Blick aus seinen blauen Augen, die sonst immer lachten, wurde hart. »Ein Hund, Abby. Er ist ein Hund. Ich weiß, wie viel er dir bedeutet, aber du und deine Mutter seid mir im Augenblick wichtiger.« Er drehte sich wieder nach vorn und fuhr mit dem Kleinbus auf die Straße.

Ich war entsetzt über die Hartherzigkeit meines Vaters. Es war, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen.

»Ich wette, inzwischen hat schon jemand angerufen«, sagte Mama. Sie berührte Daddys Schulter und fügte hinzu: »Ich denke, nächstes oder übernächstes Wochenende fahren wir wieder her.«

»Aber Mama, wenn er in der Kiste festsitzt, verhungert oder verdurstet er doch!«

Daddy sah mich im Rückspiegel an. »Mehr können wir im Moment nicht tun, mein Schatz. Außerdem ist Tam ein zäher Bursche.«

Jeder Meter auf der Straße tat mir in der Seele weh. »Versprochen?«, fragte ich. »Versprecht ihr mir, dass wir zurückfahren?«

Mama streckte die Hand aus und drückte meine. »Wir werden es versuchen.«

An der Ausfahrt nach Roanoke bogen wir ab. Der Wald und die Bäume lagen hinter uns wie eine geheimnisvolle grüne Wand.

Tam schnüffelte an der Stelle herum, an der Abby nur ein paar Stunden zu vor gestanden hatte. Er roch auch die Frau und den großen Mann, aber den Duft seines Mädchens nahm er freudig in sich auf. Es war aber nicht sein üblicher Geruch nach Gras und Äpfeln und dem einzigartigen Duftgemisch seines Körpers. Es roch auch nach Schmerzen und Angst, was er nicht verstand.

Tam be griff je doch, dass es da gewesen war. Also musste er warten. Er hatte oft gewartet, manch mal eine halbe Ewigkeit. Wenn die Sonne über dem Bergrücken auftauchte, ging sein Mädchen weg und war erst wie der da, wenn die Schatten lang wurden. Aber es kam immer zurück. Der große Bus blieb ratternd neben dem Briefasten am Fuß des Hügels stehen. Sein Mädchen sprang die Stufen des Busses herunter und rief: »Tam! Komm her, Tam!« Die süßesten Laute, die der Sheltie den ganzen Tag lang gehört hatte. Dann stürzte er sich von der Veranda, als ob er Flügel hätte, und rannte den Hügel hinab. Wenn er und sein Mädchen zusammen waren, war alles so, wie es sein sollte.

Tam seufzte, legte sich neben den Fleck am Straßenrand, wo sein Duft am stärksten war, und schloss die Augen. Der Duft des Mädchens und der Geruch nach Gras und Wasser trugen ihn nach Hause.

Zwei Tage lang blieb Tam in der Nähe des Flecks mit seinem Duft. Ab und zu fuhr ein Auto vor bei, und Tam beobachtete es vom Unterholz aus. Aber die Autos hielten nie an.

Am dritten Tag trieb der Regen Tam vom Straßenrand in den tiefen Wald. Selbst unter dem dichten Dach des Berglorbeers und dem undurchdringlichen Netz der Fang arme des Geißblatts fand ihn der Regen und durchnässte sein dichtes Fell.

Tam stöhnte und rollte sich noch enger zusammen. Er zitterte, als Regen und Wind über ihm heulten. Sein Magen knurrte. Wie der war ein Tag ohne Futter vergangen.

Endlich hörte es auf zu regnen. Tam kletterte die Böschung hin auf zur Straße. Er schnupperte an der Stelle herum, an der er das Mädchen gerochen hatte. Sein Duft und die Gerüche der Frau und des großen Mannes waren verschwun den. Sosehr seine Nase auch den Boden ab suchte, konnte sie seinen Duft nicht mehr finden. Tam roch nur faulende Blätter und die beißenden Dämpfe von nassem Asphalt. Verwirrt und traurig stand er am Straßenrand.

Was sollte er nur tun? Ohne seinen Duft, um ihn zu leiten, war er verloren. Tam zitterte vor Einsamkeit.

Die Schatten des späten Nachmittags wurden lang. Etwas regte sich tief in seinem Innern.

Gänsen braucht man nicht zu sagen, dass sie nach Süden fliegen müssen. Der Fuchs weiß, wann er für seine Jungen, die bald geboren werden, einen Bau graben muss. Und Tam wusste, dass die Zeit gekommen war, sein Mädchen zu suchen.

Tam hob die Nase in die Luft und schnupperte. Er trottete die Straße ent lang nach Norden. Er blieb stehen und ging ein bisschen weiter. Dann blieb er wie der stehen und schnüffelte. Im Norden war nichts. Tam drehte sich um und trottete nach Süden. Je weiter er ging, desto stärker zog es ihn in diese Richtung – so sicher wie die Nadel eines Kompasses. Nach Süden musste er gehen! Bald würde er sein geliebtes Mädchen wiedersehen, und alles wäre, wie es sein sollte.

Er konnte nicht wissen, wie viele Kilometer und welch eine Wildnis zwischen ihm und seinem Zu hause lagen. Ein Hund misst Entfernungen nicht nach Kilometern oder Tagen. Ein Hund weiß nur, dass je der Schritt und je der Herz schlag ihn dem Ziel seiner Sehnsucht näher bringen. Je der, der Tam leichtfüßig am Straßenrand entlangtraben sah, er kannte einen Hund, der nach Hause lief.

Ich saß auf der Fensterbank in meinem Zimmer und lauschte der Stille. Kein Klingeln der Marken an Tams Hals band, kein Klicken seiner Krallen auf den Holzböden. Nichts als elende Stille. Ich fühlte mich durch und durch mies. Die zwei Tage, seit wir wie der zu Hause waren, kamen mir vor wie zwanzig Tage.

Meine Au gen blieben an der alten Gitarre in der Ecke hängen. In den drei Jahren, in denen ich Tam besaß, hatte ich sie so gut wie nie angefasst. Ich war mit meinem Hund viel zu beschäftigt gewesen.

Jetzt, wo meine Arme und mein Herz leer waren, wollte ich die Gitarre unbedingt in den Händen halten. Ich wollte ihr tröstliches Gewicht spüren und ihre Saiten summen hören.

Ich war gerade da bei, mich zu erheben, als es klopfte. Meemaw öffnete die Tür. Sie stand groß und kerzengerade wie eine Kiefer da. Den langen Zopf hatte sie wie eine leuchtende Krone um den Kopf gewunden.

»Abby, mein Schatz, du hast Besuch«, sagte sie.

Ich ließ mich wie der auf die Bank plumpsen.

Meemaw machte die Tür weit auf, und meine Freundin Olivia McButtars, das kleinste, schüchternste und klügste Mädchen der sechsten Klasse – vielleicht auf der ganzen Welt –, kam herein.

Olivia sah mich durch ihre großen Brillengläser an. Die meisten Kinder in der Schule sagen, dass ihre hellgrünen Augen unheimlich sind. Es ist, als ob sie einem direkt in die Seele schauen. Aber ich finde das gar nicht schlecht.

Sie durchquerte das Zimmer und setzte sich neben mich. Sie seufzte. »Tut mir leid wegen Tam.« Kein Small Talk für Olivia. Sie kam gleich zur Sache.

»Ich weiß einfach nicht, was ich tun oder denken soll«, sagte ich um einen dicken Knoten aus Tränen in meinem Hals herum. »Das macht mich so wütend, dass ich spucken könnte.«

Olivia berührte meinen Handrücken so leicht wie ein Schmetterling. »Ich weiß genau, was du meinst.« Und das sagte sie nicht nur, um nett zu sein. Sie wusste es wirklich.