Roman
Aus dem Amerikanischen von Kai Kilian
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Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Great Gatsby
(New York: Charles Scribner’s Sons 1925).
Textgrundlage dieser Übersetzung ist die Ausgabe Oxford:
Oxford University Press 1998 [Oxford World’s Classics].
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2011 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9021-5
V002
www.anacondaverlag.de
Einmal mehr
für
Zelda
So trag denn den goldnen Hut, falls solches sie rührt;
Kannst du hoch fliegen, flieg auch für sie,
Bis sie ruft: »Goldbehüteter, hochfliegender Liebling,
Dich muss ich haben!«
– Thomas Parke D’Invilliers
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einen Rat, der mir seither nicht aus dem Kopf geht.
»Wann immer du glaubst, jemanden kritisieren zu müssen«, sagte er zu mir, »denk daran, dass unter all den Menschen auf dieser Welt niemand solche Vorzüge genossen hat wie du.«
Mehr sagte er nicht, doch auf eine zurückhaltende Art pflegten wir uns außerordentlich viel mitzuteilen, und ich verstand, dass er weit mehr meinte als das. Seither halte ich mich in der Regel mit jeglichem Urteil zurück, eine Angewohnheit, die mir schon zahlreiche merkwürdige Charaktere erschlossen hat, mich zugleich aber auch so manchem altgedienten Schwätzer in die Fänge trieb. Außergewöhnliche Naturen wittern diese Eigenschaft rasch, und sie klammern sich daran, sobald sie sie an einem gewöhnlichen Menschen bemerken; so kam es, dass ich auf dem College ungerechterweise bezichtigt wurde, ein Intrigant zu sein, da ich in die geheimen Nöte ausschweifend fremdartiger Männer eingeweiht war. Die meisten dieser Bekenntnisse kamen ungebeten – oft stellte ich mich schlafend, tat beschäftigt oder gab mich leichthin feindselig, sobald ich an irgendeinem untrüglichen Zeichen erkannte, dass ein vertrauliches Geständnis heraufdämmerte; im Großen und Ganzen nämlich sind die vertraulichen Geständnisse junger Männer, oder zumindest die Worte, in die sie sie kleiden, abgekupfert und durch offenkundige Heimlichkeiten verzerrt. Mit Urteilen zurückhaltend zu sein ist eine Sache grenzenloser Zuversicht. Ich bin noch immer leicht besorgt, dass mir etwas entgeht, sollte ich vergessen, dass, wie mein Vater hochnäsig fallenließ und ich hier hochnäsig wiederhole, der Sinn für grundlegenden Anstand nicht allen gleichermaßen in die Wiege gelegt ist.
Nachdem ich nun derart mit meiner Toleranz geprahlt habe, muss ich auch eingestehen, dass sie durchaus ihre Grenzen hat. Ein bestimmtes Verhalten mag auf harten Fels oder feuchtes Marschland gegründet sein, doch ab einem gewissen Punkt ist es mir gleich, worauf es sich gründet. Als ich letzten Herbst aus dem Osten zurückkehrte, wünschte ich mir die Welt auf ewig in Uniform und in einer Art moralischer Habachtstellung; ich legte keinen Wert mehr auf wilde Streifzüge mit privilegierten Einblicken in die menschliche Seele. Nur Gatsby, der Mann, der diesem Buch seinen Namen gibt, blieb von meiner Reaktion ausgenommen – Gatsby, der für all das stand, was ich aus tiefstem Herzen verachte. Falls Persönlichkeit nichts anderes ist als eine durchgehende Abfolge gelungener Gesten, so hatte er etwas Schillerndes an sich, eine erhöhte Sensibilität für die Verheißungen des Lebens, ähnlich einem dieser komplizierten Apparate, die noch zehntausend Meilen entfernt ein Erdbeben registrieren. Seine Empfänglichkeit hatte freilich nichts zu tun mit jener läppischen Erregbarkeit, die man als »schöpferische Wesensart« überhöht – sie war eine außergewöhnliche Gabe der Hoffnung, ein romantisches Vermögen, wie ich es bei keinem anderen je gefunden habe und wahrscheinlich nie wieder finden werde. Nein – Gatsby erwies sich am Ende als rechtschaffen; was mein Interesse an den kümmerlichen Leiden und kurzlebigen Freuden der Menschen vorübergehend erkalten ließ, war das, was an Gatsby zehrte, was als fauliger Dunst seinen Träumen entstieg.
Die Mitglieder meiner Familie leben seit drei Generationen als angesehene, wohlhabende Leute hier in dieser Stadt im Mittleren Westen. Die Carraways sind so etwas wie ein Clan, und es wird überliefert, wir stammten von den Dukes of Buccleuch ab, doch der eigentliche Gründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der einundfünfzig herkam, einen andern statt seiner in den Bürgerkrieg schickte und den Eisenwarengroßhandel eröffnete, den mein Vater noch heute betreibt.
Ich habe diesen Großonkel nie zu Gesicht bekommen, aber man sagt, ich sähe ihm recht ähnlich – mit besonderem Hinweis auf das ziemlich nüchterne Porträt, das im Büro meines Vaters hängt. Meinen Abschluss in New Haven machte ich 1915, genau ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, und kurz darauf nahm ich an jenem verspäteten Teutonenfeldzug teil, der als Großer Krieg in die Geschichte einging. Ich genoss den Vergeltungssturm derart gründlich, dass ich nach meiner Rückkehr keine Ruhe mehr fand. Statt als wärmender Nabel der Welt erschien mir der Mittlere Westen nun als zerklüfteter Rand des Universums – also beschloss ich, in den Osten zu gehen und mich im Aktienhandel zu versuchen. All meine Bekannten waren im Aktienhandel, sodass ich annahm, einen Mann mehr werde er wohl noch ernähren können. Meine Onkel und Tanten beratschlagten die Sache, als ginge es um das richtige College für mich. Schließlich setzten sie sehr ernste, unschlüssige Mienen auf und sagten: »Also schön – ja-a.« Vater willigte ein, mich ein Jahr lang zu finanzieren, und nach ein paar Verzögerungen kam ich im Frühjahr zweiundzwanzig – für immer, wie ich dachte – an die Ostküste.
Am praktischsten wäre gewesen, in der Stadt eine Bleibe zu finden, doch der Frühling war damals recht warm und ich kam geradewegs aus einer ländlichen Gegend mit viel Grün und freundlichen Bäumen, sodass ich es für eine gute Idee hielt, als ein junger Kollege mir vorschlug, gemeinsam ein Haus in einem Vorort zu mieten. Er fand auch tatsächlich ein Haus, eine einstöckige verwitterte Pappschachtel für achtzig Dollar im Monat, doch in letzter Minute beorderte ihn die Firma nach Washington und ich zog allein aufs Land. Ich hatte einen Hund – zumindest für ein paar Tage, bis er davonlief –, einen alten Dodge und eine Finnin, die mir das Bett machte und das Frühstück zubereitete und über den Elektroherd gebeugt finnische Weisheiten vor sich hin murmelte.
Für einen Tag oder mehr war es einsam, bis mich eines Morgens auf der Straße ein Mann ansprach, der wohl noch nach mir eingetroffen war.
»Wie kommt man von hier nach West Egg Village?«, fragte er ratlos.
Ich sagte es ihm. Und als ich weiterging, war ich nicht mehr einsam. Ich war ein Wegweiser, ein Pfadfinder, ein echter Siedler. Ganz beiläufig hatte er mich zum rechtmäßigen Bürger dieser Gegend gemacht.
Und so, unter dem Sonnenschein und den kräftig ausschlagenden Bäumen, an denen die Blätter wie im Zeitraffer wuchsen, kam mir die vertraute Gewissheit, dass mit dem Sommer das Leben von Neuem begann.
Zunächst gab es so viel zu lesen, dann auch so viel Kraft aus der frischen, belebenden Luft zu ziehen. Ich kaufte ein Dutzend Bände über das Banken- und Kreditwesen sowie über Anlagepapiere, sie standen rot und golden in meinem Regal wie frisch geprägte Münzen und schienen jene funkelnden Geheimnisse preisgeben zu wollen, um die nur Midas und Morgan und Mæcenas wussten. Ich hatte mir fest vorgenommen, nebenher noch viele andere Bücher zu lesen. Im College war ich literarisch recht interessiert gewesen – in einem Jahr hatte ich sogar eine Reihe todernster und ziemlich trivialer Leitartikel für die Yale News geschrieben –, und nun würde ich all diese Dinge zurück in mein Leben holen und wieder zum beschränktesten aller Experten werden, zum »vielseitig gebildeten Mann«. Das ist beileibe nicht bloß ein Sinnspruch – schließlich lässt sich das Leben weit besser überblicken, wenn man es nur durch ein einziges Fenster betrachtet.
Der Zufall wollte es, dass ich ein Haus in einer der eigenartigsten Gemeinden Nordamerikas gemietet hatte. Es lag auf jener schmalen, wild-turbulenten Insel, die sich direkt östlich von New York erstreckt – und auf der es, neben anderen Launen der Natur, zwei ungewöhnliche Landgebilde gibt. Zwanzig Meilen vom Stadtzentrum entfernt ragen zwei riesige Eier, gleich in ihren Umrissen und nur durch eine hübsche Bucht voneinander getrennt, in die wohl kultivierteste Salzwasserfläche der westlichen Hemisphäre hinaus: den großen nassen Scheunenhof des Long Island Sound. Es sind keine perfekten Ovale – wie das Ei in der Kolumbus-Geschichte sind sie beide am Landende platt gedrückt –, doch ihre so ähnliche Gestalt muss den über sie hinwegfliegenden Möwen ein Quell fortwährender Verwunderung sein. Für alle Flügellosen dagegen dürfte der Umstand interessanter sein, dass sie abseits von Größe und Form völlig verschieden waren.
Ich wohnte in West Egg, dem – nun ja, dem weniger mondänen der beiden Inselteile, wenngleich dieses Etikett den bizarren und ziemlich beunruhigenden Kontrast zwischen ihnen nur höchst oberflächlich beschreibt. Mein Haus stand genau an der Spitze des Eis, keine fünfzig Meter vom Ufer entfernt und zwischen zwei riesige Villen gequetscht, die für zwölf- und fünfzehntausend Dollar pro Saison vermietet wurden. Die zu meiner Rechten war ein in jeder Hinsicht gigantischer Kasten – ein detailgetreuer Nachbau irgendeines Hôtel de Ville in der Normandie mit einem Turm an der Seite, funkelnagelneu unter einem dünnen Bartgespinst aus jungem Efeu, mit einem marmornen Swimmingpool und mehr als vierzig Morgen Park- und Rasenfläche. Dies war Gatsbys Anwesen. Oder vielmehr, da ich Mr Gatsby noch nicht kannte, das Anwesen, das ein Herr dieses Namens bewohnte. Mein eigenes Haus war ein Schandfleck, allerdings ein kleiner Schandfleck, den man geflissentlich übersah, und so konnte ich den Blick aufs Wasser, die Aussicht auf Teile des nachbarlichen Gartens und die tröstliche Nähe von Millionären genießen – und das Ganze für achtzig Dollar im Monat.
Jenseits der geschwungenen Bucht glänzten die weißen Paläste des mondänen East Egg am Ufer, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers an jenem Abend, als ich dort hinüberfuhr, um mit den Buchanans zu Abend zu essen. Daisy war die Tochter einer Cousine zweiten Grades von mir, und Tom kannte ich noch vom College. Gleich nach dem Krieg hatte ich zwei Tage bei ihnen in Chicago verbracht.
Daisys Mann hatte sich vielfach als Sportler hervorgetan und war unter anderem einer der schlagkräftigsten Verteidiger gewesen, die je für New Haven Football gespielt hatten – gewissermaßen eine Art Volksheld, einer jener Männer, die es mit einundzwanzig zu solch spezieller Höchstleistung bringen, dass der Rest ihres Lebens nach Abstieg schmeckt. Seine Familie war unverschämt wohlhabend – schon auf dem College hatte sein verschwenderischer Umgang mit Geld für Unmut gesorgt –, doch die Art und Weise, in der er nun Chicago verlassen hatte und an die Ostküste gezogen war, verschlug einem schier die Sprache: So hatte er eine ganze Koppel von Polo-Ponys aus Lake Forest mit herübergebracht. Es war kaum zu begreifen, dass ein Mann in meinem Alter derart reich sein konnte.
Weshalb sie an die Ostküste kamen, weiß ich nicht. Zuvor hatten sie ohne besonderen Grund ein Jahr in Frankreich verbracht und sich dann rastlos mal hierhin, mal dorthin treiben lassen, wo immer die Leute Polo spielten und gemeinsam reich waren. Dieser Umzug sei nun endgültig, sagte Daisy am Telefon, aber das glaubte ich nicht – ich konnte ihr zwar nicht ins Herz sehen, doch ich hatte das Gefühl, Tom würde sein Leben lang weiter umhertreiben, ein bisschen wehmütig auf der Suche nach der erregenden Wildheit irgendeines unwiederbringlichen Football-Spiels.
So fuhr ich also eines warmen windigen Abends hinüber nach East Egg, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich kaum richtig kannte. Ihr Haus war noch prachtvoller, als ich erwartet hatte, eine freundliche rot-weiße Villa im georginischen Kolonialstil mit Blick auf die Bucht. Der Rasen begann direkt am Strand, lief über eine Viertelmeile auf die Eingangstür zu, sprang dabei über Sonnenuhren und Steinpfade und flammhelle Beete – und endlich beim Haus angelangt, drängte er wie noch im Schwung seines Laufs in leuchtenden Reben die Seitenwand hinauf. Die Front war von einer Reihe Fenstertüren durchbrochen, die jetzt glühend das goldene Licht spiegelten und, weit geöffnet, die warme Brise des frühen Abends hineinließen. Tom Buchanan stand im Reitdress breitbeinig auf der Veranda.
Er hatte sich verändert seit seiner Zeit in New Haven. Jetzt war er ein stämmiger Dreißiger mit strohigem Haar, einem leicht verhärteten Zug um den Mund und herablassendem Auftreten. Zwei hochmütig funkelnde Augen hatten die Herrschaft über sein Gesicht angetreten und verliehen ihm einen Ausdruck, als recke er sich unentwegt angriffslustig vor. Selbst der eher feminine Schick seiner Reitkleidung vermochte die enorme Kraft dieses Körpers nicht zu verbergen – seine Waden schienen noch die oberste Schnürung der blitzblanken Stiefel sprengen zu wollen, und wenn er unter der dünnen Jacke seine Schulter bewegte, sah man ein riesiges Muskelpaket zucken. Es war ein Körper von gewaltiger Wucht – ein unbarmherziger Körper.
Seine Sprechstimme, ein rauer, heiserer Tenor, verstärkte noch den Eindruck der Reizbarkeit, den er vermittelte. Ein Anflug von überheblicher Geringschätzung lag darin, selbst gegenüber Menschen, die er mochte – und in New Haven hatte es viele gegeben, die ihn abgrundtief hassten.
»Nun, du musst nicht glauben, dass meine Meinung in dieser Sache unumstößlich ist«, schien er zu sagen, »nur weil ich stärker und männlicher bin als du.« Wir hatten derselben Senior Society angehört, und obwohl wir nie wirklich befreundet gewesen waren, hatte ich schon damals den Eindruck, dass er mich akzeptierte und auf seine schroffe und wehmütig trotzige Weise wollte, dass ich ihn gern hatte.
Wir unterhielten uns ein paar Minuten auf der sonnigen Veranda.
»Nettes Plätzchen, das ich hier habe«, sagte er und seine Augen irrlichterten rastlos umher.
Er nahm mich beim Arm, drehte mich um und wies mir dabei mit einem Schwung seiner breiten flachen Hand den Ausblick von der Veranda, der einen niedriger gelegenen italienischen Garten, einen halben Morgen tiefdunkler, intensiv duftender Rosen und ein stumpfnasiges Motorboot einschloss, das vor der Küste in der Strömung schaukelte.
»Es gehörte Demaine, dem Ölunternehmer.« Wieder drehte er mich herum, höflich und abrupt. »Lass uns hineingehen.«
Wir durchquerten eine hohe Eingangshalle und gelangten in einen lichten, rosenfarbenen Raum, den Fenstertüren an beiden Seiten vage mit dem Innern des Hauses verbanden. Die Fenster waren weit geöffnet und hoben sich strahlend weiß vom frischen Gras draußen ab, das ein kleines Stück ins Haus hineinzuwachsen schien. Eine Brise ging durch den Raum, wehte Vorhänge wie blasse Fahnen zur einen Seite herein und zur andern hinaus, wirbelte sie hinauf zur glasierten Hochzeitstorte von Zimmerdecke, kräuselte den weinfarbenen Teppich und hinterließ darauf ein Schattenspiel wie der Wind auf dem Meer.
Der einzige vollkommen unverrückbare Gegenstand im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen schwebten wie auf einem fest verankerten Ballon. Beide waren ganz in Weiß, und ihre Kleider wogten und flatterten, als wären sie nach einem kurzen Flug ums Haus eben erst wieder hereingeweht worden. Einige Augenblicke stand ich wohl nur so da, lauschte dem Schlagen und Peitschen der Vorhänge und dem Ächzen eines Bildes an der Wand. Dann ertönte ein dumpfer Knall, als Tom Buchanan die hinteren Fenster schloss, der im Zimmer gefangene Luftzug erstarb und die Vorhänge und der Teppich und die jungen Frauen sanken langsam zu Boden.
Die Jüngere der beiden kannte ich nicht. Sie lag ausgestreckt auf ihrer Seite des Diwans, vollkommen reglos und mit leicht erhobenem Kinn, als balancierte sie etwas darauf, das jeden Moment herunterzufallen drohte. Falls sie mich aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ sie es sich nicht anmerken – unwillkürlich hätte ich fast eine Entschuldigung gemurmelt, dass ich sie durch mein Erscheinen gestört hatte.
Das andere Mädchen, Daisy, machte Anstalten, sich zu erheben – sie lehnte sich mit gewissenhafter Miene ein wenig nach vorn –, dann lachte sie, ein albernes, bezauberndes kleines Lachen, und ich lachte auch und trat näher ins Zimmer.
»Ich bin wie g-gelähmt vor Freude.«
Sie lachte erneut, als hätte sie etwas sehr Geistreiches gesagt, und hielt für einen Moment meine Hand, während sie mir von unten herauf ins Gesicht sah mit einem Blick, der versicherte, dass sie sich niemanden auf der Welt so sehr herbeigewünscht hatte wie mich. Das war so ihre Art. Wispernd gab sie mir zu verstehen, der Nachname des balancierenden Mädchens sei Baker. (Manch einen habe ich sagen hören, Daisys Wispern diene nur dazu, dass die Leute sich zu ihr hinüberneigen; ein belangloser Vorwurf, der es nicht weniger hinreißend machte.)
Miss Bakers Lippen jedenfalls zitterten kurz, sie nickte mir fast unmerklich zu und legte dann rasch ihren Kopf zurück in den Nacken – offenbar war der Gegenstand, den sie balancierte, ein wenig ins Wanken geraten und hatte ihr dadurch einen leichten Schreck versetzt. Wiederum lag mir eine Entschuldigung auf der Zunge. Die Zurschaustellung derart vollkommener Selbstgenügsamkeit ringt mir fast jedes Mal ehrfürchtige Hochachtung ab.
Ich wandte den Blick wieder meiner Cousine zu, die mir jetzt mit ihrer leisen, elektrisierenden Stimme Fragen zu stellen begann. Es war eine Stimme, der das Ohr in alle Höhen und Tiefen folgt, als wäre jeder Satz ein Arrangement von Noten, das kein zweites Mal so erklingt. Daisy hatte ein trauriges, hübsches Gesicht mit leuchtenden Stellen darin, leuchtenden Augen und einem leuchtenden, sinnlichen Mund, doch in ihrer Stimme lag eine Erregung, die Männer, denen sie etwas bedeutet hatte, nur schwer vergessen konnten: ein singendes Drängen, ein raunendes »Hör doch«, eine Verheißung, sie habe eben erst köstliche, aufregende Dinge erlebt und schon die nächste Stunde halte weitere köstliche, aufregende Dinge für sie bereit.
Ich erzählte ihr, dass ich auf meinem Weg an die Ostküste einen Tag in Chicago haltgemacht hatte und ihr von einem Dutzend Leute herzliche Grüße ausrichten sollte.
»Vermissen sie mich?«, rief sie verzückt.
»Die ganze Stadt ist untröstlich. Die Autos fahren zum Zeichen der Trauer allesamt mit schwarz gestrichenen linken Hinterreifen, und am Nordufer herrscht in der Nacht ein einziges stetiges Wehklagen.«
»Wie herrlich! Lass uns zurückgehen, Tom. Gleich morgen!« Dann fügte sie wie beiläufig hinzu: »Du solltest die Kleine sehen.«
»Das würde ich gern.«
»Sie schläft. Sie ist jetzt zwei Jahre alt. Hast du sie noch nie gesehen?«
»Nein, nie.«
»Nun, das solltest du aber. Sie ist –«
Tom Buchanan, der währenddessen ruhelos durch den Raum gewandert war, blieb stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Was treibst du so, Nick?«
»Ich bin Börsenmakler.«
»Für wen?«
Ich sagte es ihm.
»Nie von denen gehört«, bemerkte er entschieden.
Das ärgerte mich.
»Wart’s ab«, erwiderte ich. »Das wirst du schon noch, wenn du im Osten bleibst.«
»Oh, ich bleibe im Osten, keine Sorge«, sagte er, blickte erst kurz zu Daisy und dann wieder zu mir, als sei er wegen irgendetwas auf der Hut. »Nur ein gottverdammter Idiot würde anderswo leben wollen.«
An diesem Punkt sagte Miss Baker: »Allerdings!«, und zwar derart unvermittelt, dass ich erschrak – es war das erste Wort, das sie von sich gab, seit ich den Raum betreten hatte. Offenkundig überraschte es sie ebenso sehr wie mich, denn sie gähnte und stand dann mit einer Folge schneller, flinker Bewegungen auf.
»Ich bin ganz steif«, klagte sie. »Ich muss eine halbe Ewigkeit auf diesem Sofa gelegen haben.«
»Sieh nicht mich an«, gab Daisy zurück, »ich habe den ganzen Nachmittag versucht, dich zu einem Trip nach New York zu bewegen.«
»Nein, danke«, sagte Miss Baker mit Blick auf die vier Cocktails, die gerade aus dem Anrichteraum hereingebracht wurden, »ich bin strikt im Training.«
Ihr Gastgeber sah sie ungläubig an.
»Ach wirklich!« Er schüttete seinen Drink hinunter, als wäre er nur ein Tropfen auf dem Boden des Glases. »Wie du je irgendwas fertigbringst, ist mir ein Rätsel.«
Ich warf einen Blick auf Miss Baker und fragte mich, was es wohl war, das sie ›fertigbrachte‹. Es gefiel mir, sie anzusehen. Sie war ein schlankes, flachbrüstiges Mädchen mit einer aufrechten Körperhaltung, die sie noch unterstrich, indem sie die Schultern zurücknahm und sich straffte wie ein junger Kadett. Ihre grauen, sonnenstrapazierten Augen erwiderten meinen Blick mit höflicher Neugier aus einem blassen, reizenden, unzufriedenen Gesicht. Jetzt fiel mir ein, dass ich sie oder zumindest ein Bild von ihr irgendwo schon einmal gesehen hatte.
»Sie wohnen also in West Egg«, bemerkte sie abschätzig. »Ich kenne dort jemanden.«
»Ich kenne nicht einen einzigen –«
»Sie müssen doch Gatsby kennen.«
»Gatsby?«, fragte Daisy dazwischen. »Welchen Gatsby?«
Bevor ich antworten konnte, dass er mein Nachbar war, rief man uns zum Essen; und indem er seinen sehnigen Arm gebieterisch unter meinen klemmte, beförderte Tom Buchanan mich aus dem Raum, als bewegte er eine Schachfigur auf ein anderes Feld.
Feingliedrig, träge, die Hände leicht auf die Hüften gelegt, schlenderten die beiden jungen Frauen uns voran auf eine rosenfarbene, sich zum Sonnenuntergang öffnende Veranda, wo vier Kerzen auf einem Tisch im schwächer gewordenen Wind flackerten.
»Wozu Kerzen?«, beschwerte Daisy sich stirnrunzelnd. Sie schnippte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen haben wir den längsten Tag des Jahres.« Sie blickte uns strahlend an. »Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasst ihn dann? Ich jedenfalls warte immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasse ihn dann.«
»Wir sollten uns irgendwas vornehmen«, gähnte Miss Baker und setzte sich an den Tisch, als ginge sie zu Bett.
»Also gut«, sagte Daisy. »Was sollen wir uns vornehmen?« Ratlos wandte sie sich an mich. »Was nehmen Menschen sich vor?«
Bevor ich antworten konnte, heftete sie ihren Blick mit entsetztem Ausdruck auf ihren kleinen Finger.
»Seht nur!«, klagte sie. »Ich hab mich verletzt.«
Wir sahen genauer hin – der Knöchel war dunkelblau.
»Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß, du wolltest es nicht, aber du warst es trotzdem. Das habe ich nun davon, dass ich so ein Untier von Mann geheiratet habe, ein riesiges, klotziges, grobschlächtiges Exemplar eines –«
»Ich hasse das Wort grobschlächtig«, unterbrach Tom sie gereizt, »auch im Scherz.«
»Grobschlächtig«, beharrte Daisy.
Manchmal redeten sie und Miss Baker gleichzeitig, unaufdringlich und mit einer neckischen Flatterhaftigkeit, die nie ganz zum Geplauder wurde, die so kühl war wie ihre weißen Kleider und ihre teilnahmslosen, nichts begehrenden Blicke. Sie waren hier, sie nahmen Tom und mich hin und machten den allenfalls höflichen, netten Versuch, zu unterhalten oder sich unterhalten zu lassen. Sie wussten, bald würde das Essen vorbei sein, und etwas später würde auch der Abend vorbei und erledigt sein. Wie vollkommen anders war das im Westen, wo man solche Abende von einer Etappe zur nächsten und bis an ihr Ende jagte, in unablässig enttäuschter Erwartung oder in blanker Furcht vor dem Augenblick selbst.
»Deinetwegen fühle ich mich schon ganz unzivilisiert, Daisy«, gestand ich bei meinem zweiten Glas korkigen, aber ziemlich imposanten Bordeaux’. »Kannst du nicht mal über die Ernte oder so etwas reden?«
Meine Bemerkung bezog sich auf gar nichts Bestimmtes, doch sie wurde auf unerwartete Weise aufgegriffen.
»Die Zivilisation geht sowieso vor die Hunde«, platzte Tom lautstark heraus. »Ich bin bei so was inzwischen ein schrecklicher Schwarzseher. Hast du ›Der Aufstieg der farbigen Völker‹ von diesem Goddard gelesen?«
»Habe ich nicht, nein«, erwiderte ich, etwas befremdet über seinen Ton.
»Tja, ist ein gutes Buch, sollte jeder gelesen haben. Der Tenor ist, dass, wenn wir nicht aufpassen, die weiße Rasse vollständig – vollständig überschwemmt wird. Ist alles wissenschaftlich belegt; alles erwiesene Tatsache.«
»Tom wird jeden Tag tiefsinniger«, sagte Daisy mit einem Ausdruck gedankenloser Traurigkeit. »Er liest schwierige Bücher mit langen Wörtern darin. Wie hieß noch das Wort, das wir –«
»Nun, diese Bücher sind allesamt wissenschaftlich«, insistierte Tom und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Der Bursche hat das Ganze gründlich durchdacht. Wir, die überlegene Rasse, müssen auf der Hut sein, sonst werden diese anderen Rassen die Macht übernehmen.«
»Wir müssen sie niederschlagen«, flüsterte Daisy und blinzelte grimmig in die glühende Sonne.
»Ihr solltet in Kalifornien leben –«, begann Miss Baker, doch Tom unterbrach sie, indem er heftig auf seinem Stuhl herumrutschte.
»Er sagt, wir gehören zur nordischen Rasse. Ich und du und du und –« Nach kaum merklichem Zögern schloss er mit einem leichten Nicken auch Daisy mit ein, und sie zwinkerte mir abermals zu. »– und wir haben all das hervorgebracht, was Zivilisation ausmacht – na ja, Wissenschaft und Kunst und das alles. Versteht ihr?«
Seine Konzentration hatte etwas Klägliches, als würde ihm seine Selbstgefälligkeit, heftiger denn je, nicht mehr genügen. Als fast unmittelbar darauf im Haus das Telefon klingelte und der Butler die Veranda verließ, nutzte Daisy die kurze Unterbrechung und neigte sich zu mir herüber.
»Ich verrate dir ein Familiengeheimnis«, flüsterte sie lebhaft. »Es geht um die Nase des Butlers. Willst du sie hören, die Geschichte von der Nase des Butlers?«
»Deswegen bin ich ja hergekommen.«
»Nun, er ist nicht immer Butler gewesen; davor hat er als Silberputzer bei irgendwelchen Leuten in New York gearbeitet, die ein Silberservice für zweihundert Gäste besaßen. Das musste er von morgens bis abends polieren, bis die Politur eines Tages seine Nase anzugreifen begann –«
»Die Sache wurde immer schlimmer«, warf Miss Baker ein.
»Genau. Die Sache wurde immer schlimmer, und schließlich musste er seine Anstellung aufgeben.«
Einen Augenblick lang strichen die letzten Sonnenstrahlen mit zärtlicher Hingabe über ihr glühendes Gesicht; ihre Stimme zwang mich immer weiter nach vorn, während ich ihr atemlos lauschte – dann erlosch das Glühen, zögernd, bedauernd wich alles Licht von ihr, wie Kinder in der Abenddämmerung eine heitere Straße verlassen.
Der Butler kam zurück und flüsterte Tom etwas ins Ohr, worauf dieser die Stirn runzelte, seinen Stuhl zurückschob und wortlos ins Haus ging. Als hätte seine Abwesenheit etwas in ihr zu neuem Leben erweckt, lehnte Daisy sich abermals vor, mit glühender, singender Stimme.
»Ich sehe dich so gern an meinem Tisch, Nick. Du erinnerst mich an – an eine Rose, eine vollkommene Rose. Findest du nicht?« Sie wandte sich um Zustimmung an Miss Baker. »Eine vollkommene Rose?«
Das war Unsinn. Ich erinnere nicht einmal entfernt an eine Rose. Sie improvisierte nur, doch sie verströmte dabei eine betörende Wärme, als versuchte ihr Herz, zu dir herauszukommen, verborgen in einem dieser atemlosen, erregenden Wörter. Dann plötzlich warf sie ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus.
Miss Baker und ich wechselten einen kurzen, bewusst ausdruckslosen Blick. Ich wollte gerade etwas sagen, als sie sich flink aufrichtete und mir ein warnendes »Sch!« zuwarf. Im angrenzenden Zimmer war ein gedämpftes, aufgebrachtes Flüstern zu hören, und Miss Baker beugte sich ungeniert vor, um zu lauschen. Das Flüstern war einen Augenblick lang fast zu verstehen, verebbte, brandete leidenschaftlich auf und versiegte dann ganz.
»Dieser Mr Gatsby, den Sie erwähnt haben, er ist mein Nachbar –«, begann ich.
»Nicht reden. Ich will hören, was passiert.«
»Passiert denn was?«, fragte ich arglos.
»Soll das heißen, Sie wissen es nicht?«, entgegnete Miss Baker ehrlich erstaunt. »Ich dachte, alle Welt wüsste es.«
»Ich nicht.«
»Na ja …«, sagte sie zögernd, »Tom hat da so eine Frau in New York.«
»So eine Frau?«, wiederholte ich einfältig.
Miss Baker nickte.
»Sie sollte doch wenigstens so viel Anstand besitzen, ihn nicht zur Essenszeit anzurufen. Finden Sie nicht?«
Noch ehe ich ganz begriffen hatte, was sie meinte, hörte man ein Kleid rascheln und Lederstiefel knarren und Tom und Daisy standen wieder bei uns am Tisch.
»Tja, so ist das manchmal!«, rief Daisy angestrengt fröhlich.
Sie setzte sich, warf erst Miss Baker, dann mir einen forschenden Blick zu und fuhr fort: »Ich habe eben mal kurz nach draußen geschaut, dort ist es richtig romantisch. Da sitzt ein Vogel auf dem Rasen, eine Nachtigall, glaube ich, die bestimmt mit der Cunard oder der White Star Line herübergekommen ist. Sie singt und singt –« Ihre Stimme sang: »Ist das nicht romantisch, Tom?«
»Sehr romantisch«, sagte er, und dann kläglich, an mich gewandt: »Wenn es nach dem Essen noch hell genug ist, würde ich dir gern die Stallungen zeigen.«
Im Haus klingelte das Telefon, durchdringend, und während Daisy Tom ansah und entschieden den Kopf schüttelte, löste sich das Thema Stallungen, lösten sich sämtliche Themen buchstäblich in Luft auf. An die letzten fünf Minuten bei Tisch erinnere ich mich nur bruchstückhaft, ich weiß noch, dass jemand sinnlos die Kerzen wieder entzündete und dass ich jedem offen ins Gesicht sehen und doch allen Blicken ausweichen wollte. Ich konnte nicht ahnen, was in Daisy und Tom vorging, aber ich glaube, dass selbst Miss Baker, die sich eine gewisse robuste Skepsis anerzogen zu haben schien, das schrille metallische Drängen dieses fünften Gastes nicht völlig aus ihrem Kopf verbannen konnte. Einem anderen Naturell wäre die Situation vielleicht faszinierend erschienen – ich aber hätte am liebsten augenblicklich die Polizei gerufen.
Die Pferde wurden natürlich mit keinem Wort mehr erwähnt. Tom und Miss Baker schlenderten, mit einigen Armlängen Zwielicht zwischen ihnen, zurück in die Bibliothek wie zur Nachtwache bei einem tatsächlich greifbaren Körper, während ich mich freundlich interessiert und ein wenig verschlossen gab und Daisy über eine Reihe miteinander verbundener Veranden zur Vorderseite des Hauses folgte. Dort setzten wir uns im tiefen Abendschatten Seite an Seite auf eine Korbbank.