Christl Holz
Mira sucht
das Herz der Welt
Illustrationen
von Sophie Kaiser
Impressum.. 3
Vorwort 4
Miras Versteck. 5
Durch Eis und Feuer / Wo bin ich daheim?. 8
Durch flüssig und fest / Wer bin ich?. 28
Durch eng und weit / Was soll ich tun?. 54
Durch viel und wenig / Was macht glücklich?. 83
Durch hoch und niedrig / Was macht froh?. 106
Ganz hinauf und hinab / Was ist das Ziel?. 133
Ehrenrunde als Dankfeier / Was macht frei?. 162
Nachwort 188
Text- und Bildgrundlage für diese eBook-Ausgabe:
Christl Holz, Mira sucht das Herz der Welt, Deuerling, Echtholz-Selbstverlag Oktober 2012, Hardcover, 270 Seiten
Illustrationen: Sophie Kaiser
Christl Holz, Talblick 8, 93180 Deuerling
christlholz@gmx.de
Homepage: http://www.geheimnisvolle-seelenwelt.de/
Hörprobe: http://www.youtube.com/watch?v=lpPordgYo04
Hörbuch, gelesen von Josef Nikolaus Holz
Mira ist ein phantasiebegabtes Mädchen mit einem guten Draht zum Himmel. Wie spannend und abenteuerlich es sein kann, sich auf die Macht der Liebe einzulassen, erlebt sie hautnah.
Die Geschichte - für Menschen ab 13 schrieb ich sie - will einfach mitnehmen und berühren.
Viel Freude daran!
Christl Holz
Wer an den psychologischen und theologischen Hintergründen interessiert ist, sei auf das Nachwort und die Deutungshilfen am Ende der Kapitel verwiesen. Man darf sie gerne auch überblättern.
Mira saß in ihrem Versteck am Waldrand, von dem aus ihr Elternhaus noch im Blickfeld, aber doch schon außer Rufweite war. Ganz aus der Nähe konnte sie hier eine Goldammer beobachten, die nicht weit über dem Boden im dichten Gestrüpp brütete. Nur ein aufmerksames Auge konnte den Vogel im Nest aus Grashalmen und gelblichem Moos erkennen. Wie gut getarnt er sich an seine Umgebung schmiegte! Wann schlüpften endlich die Jungen?
Mäuse und Eichhörnchen kamen furchtlos nah heran, als gehörte auch Mira selbstverständlich zu ihrem Lebensraum. Und wie der Wald duftete, so vertraut nach Harz, Laub und Pilzen und doch jedes Mal anders! Dieses Versteck war Miras Zuflucht und Paradies. Manchmal erträumte sie sich schöne Geschichten, in denen sie die Hauptrolle spielte oder machte einfach gar nichts.
Niemand fragte sie: »Was tust du?«, oder drängelte: »spiel doch was, triff dich mit deiner Freundin, übe Flöte, lies doch ein Buch!« Sie spielte ja gerne mit anderen Kindern, sie las viel und schaute gern fern. Aber am liebsten machte sie einfach gar nichts. »Unsere Mira ist ein wunderliches Kind«, hörte sie Mama mal zu Papa sagen. »Nicht wunderlich, sondern wunderbar!«, entgegnete Papa.
Miras Lieblingsplatz war eigentlich kein richtiges Versteck, eher ein Nest am Waldrand; ähnlich wie es Rehe benutzen. Ein großer Felsbrocken und die mächtigen Wurzeln einer Lärche bildeten gemeinsam eine Höhle. Mira hatte sich mit Moos eine Sitzfläche ausgepolstert. Der Baum trug seidenweiche Nadeln und schmückte sich mit kleinen roten Zapfen, die im Sonnenlicht feurig glühten. Seine zarten Zweige hingen senkrecht herab und reichten fast bis zum Boden. Mira schaute durch sie, wie durch einen hellgrünen Schnurvorhang, hinaus in den blauen Himmel und dachte an - nichts. Sie lauschte. Es war so wunderbar still. Sogar die Vögel hielten Siesta und schwiegen. Nur eine Hummel brummte und ein paar Grillen zirpten. Mira träumte nicht, sondern war hellwach und zugleich in sich selbst versunken. Ganz eins mit dieser kleinen Welt hier in der Höhle war sie ein Teil des Universums und doch ganz Mira, einfach sie selbst.
In diesem Augenblick war alles, ja alles gut. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, aber plötzlich hatte sie Augen und Ohren für eine andere Wirklichkeit. »Lieber Gott«, fragte sie sich staunend, »wo bin ich hier?« Überraschend, aber doch wie selbstverständlich, vernahm sie eine Stimme:
»Im Herzen der Welt.«
In pure Seligkeit getaucht, verharrte Mira regungslos, um den wunderbaren Moment nicht zu stören. Sie wollte immer hier bleiben. Schließlich musste sie sich aber doch aus ihrer Versunkenheit lösen, um sich genussvoll räkeln zu können. »Wer hatte zu ihr gesprochen? Das Rotkehlchen, das über ihr in der Lärche saß? Ein Fabeltier oder ein Engel? War die Stimme von außen oder von innen gekommen?«
Mira ging, leise in sich hinein lachend, nach Hause. Sie wusste, dass sie ab heute eine Geheimnisträgerin war. Ihr Erlebnis würde sie hüten wie einen Schatz.
»Wo warst du denn so lange?«, fragte Mama.
»Ich habe der Goldammer beim Brüten zugeschaut.«
»Du musst beruflich mal mit Tieren arbeiten oder Naturforscherin werden!«
Ja, das konnte sich Mira auch vorstellen. Aber vor allem wollte sie das Herz der Welt erforschen.
Mira ging fast jeden Tag zu ihrem Versteck. Die Goldammern waren längst geschlüpft und hatten ihr Nest verlassen. Eine unsagbare Sehnsucht nach dem Herzen der Welt trieb sie hin. Aber das Versteck erschien ihr wie entzaubert. Es tat zwar gut, nichts zu tun und einfach nur da zu sein, zusammen mit den Blumen, Sträuchern, Bäumen, mit den Ameisen, Würmern und Vögeln. Aber sie suchte mehr. »Hier musste doch der Eingang zum Herzen der Welt sein«, vermutete sie. »Ich will ihn finden.«
Die Ferien gingen zu Ende. Der Schulalltag mit den vielen Hausaufgaben ließ Mira wenig Zeit, sich in ihr Versteck zurückzuziehen. Allmählich verblasste das Erlebnis und sie fand ihre Sehnsucht nach dem Herzen der Welt ein wenig verrückt und kindisch.
Am Dienstagabend der dritten Schulwoche rief die Mutter einer Klassenkameradin an und teilte Mira behutsam mit, dass ihre Freundin Tina schwer verunglückt sei. Tina war mit dem Rad unterwegs gewesen und von einem Lastwagen erfasst worden. »Schädelhirntrauma«, hieß es. Mira fror und schlotterte am ganzen Körper. Mama holte das Fieberthermometer. Mira hatte etwas Temperatur. Das komme von dem Schock, meinte Mama.
»Tina wird schon wieder gesund, man darf die Hoffnung nie aufgeben!« Bei diesen Worten liefen Mama Tränen übers Gesicht. »Nein!« Mira fühlte im Innersten, dass Tina sterben werde.
»Sterben!«
Mira bekam wieder Schüttelfrost. Sie ging früh zu Bett. Mama streichelte sie noch lange und ließ sie dann allein. Den Lastwagen vor Augen, der Tina erfasst hatte sah sie diese blutend am Straßenrand liegen. Mira wurde jetzt ganz heiß und der Schweiß rann ihr in Bächen über den Rücken. Sie musste sich umziehen. Papa kam heute etwas später nach Hause. Er schaute noch zu Mira herein. Mira stellte sich schlafend. Papa machte ihr ein Kreuz auf die Stirn und segnete sie, wie er es öfter tat. »Gott beschütze dich!« Da schnellte Mira hoch und schrie schluchzend auf: »Warum hat er dann Tina nicht beschützt?«
Papa war erschrocken und ganz hilflos. »Wir verstehen wenig von der Welt, Mira. Warum gibt es so viel Leid und den frühen Tod? Warum trifft es diese Menschen und jene nicht? Aber vielleicht hat Gott keine Angst vor dem Tod und beschützt uns auch noch im Tod. Er ist ja das Leben.« Auch Papa sah traurig aus. »Seltsam«, dachte Mira. »Wenn es Gott wirklich gibt und er, wie Papa sagt, das Leben ist, dann ist Gott ja das Gegenteil vom Tod.«
Als Mira am nächsten Morgen in den Schulbus stieg, waren die meisten Kinder bedrückt und still. Nur Konrad witzelte noch alberner herum als sonst. In der Klasse gab es nur ein Thema: Tinas Unfall.
Nach der großen Pause kam die Klassenlehrerin mit ernster Miene zur Tür herein und teilte mit, dass Tina im Krankenhaus verstorben sei. Sie fragte die Kinder, welche Erfahrungen sie bereits mit Tod und Trauer hätten. Einige erzählten vom Tod der Oma oder des Opas. Andere hatten eine Katze oder ein Meerschweinchen betrauern müssen. Viele weinten. Mira sagte nichts und konnte alles, was um sie herum geschah, kaum aufnehmen. Sie war wie in Watte gepackt und dennoch war ihr eiskalt. Ihre Arme und Beine fühlten sich taub an.
Tinas Klasse bekam nach dieser Stunde schulfrei. Die Eltern wurden verständigt. Mama empfing Mira an der Bushaltestelle und nahm sie in die Arme. Mira aber war ganz steif und unnahbar. Schweigend gingen sie nach Hause. Mira konnte kaum etwas essen. Sie entschuldigte sich: »Ich geh zum Nest der Goldammer.« Mama verstand, dass Mira allein sein wollte. »Geh nur und komm nicht zu spät zurück!«
Mira ging in ihr Versteck und starrte auf das leere Nest der Goldammer. Es sah so verlassen und öde aus. Eine bisher unbekannte Panik packte und schüttelte sie. Sie schrie laut, bis sie nicht mehr schreien konnte. So etwas war ihr noch nie passiert. Als schlüge jemand auf sie ein: »Tina ist tot, tot, tot, tot!« Schließlich wimmerte sie: »Hilft mir denn keiner, Mama, Papa!«
Ein Knacken in den Zweigen im Busch nebenan ließ sie auffahren. Ein junger Hase guckte sie erschrocken an. Sie sahen einander in die Augen, beide voller Schreck. »Ich tu dir doch nichts!«, flüsterte Mira. Ach war der niedlich!
»Willst du zum Herzen der Welt?«
Verwundert drehte sich Mira in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein Junge stand vor ihr, etwa so alt wie sie oder vielleicht auch schon 14 oder 15 Jahre alt. Es war eine lichte Erscheinung, ein Engel? Aber der Engel hatte ein paar eitrige Pickel im hübschen Gesicht.
»Ich heiße Andi. Willst du zum Herzen der Welt?«, wiederholte er.
»Kennst du den Weg?«
»Ich führ dich hin.«
»Wann?«
»Jetzt, wenn du willst.«
»Ich muss aber in einer Stunde zu Hause sein.«
»Kein Problem!«
»Dann kann der Weg nicht weit sein?«
»O, doch! Aber auf dieser Reise gilt eine andere Zeitrechnung. Ich bring dich pünktlich zurück. Die Reise ist jedoch abenteuerlich und gefährlich. Du musst sehr tapfer sein und gütig zu allem, was lebt oder gar schwächer ist als du.«
»Du redest ja ganz schön geschwollen daher!«
Andi ließ sich nicht beirren. Mira aber spürte eine große Zuneigung zu diesem Jungen und vertraute ihm. Dabei war sie doch sonst Jungs gegenüber eher schüchtern und die meisten fand sie sowieso doof. Dieser Andi aber war wie aus einer anderen Welt.
»Komm! Sei freundlich gesinnt und mutig! Ich helfe dir.«
Das klang feierlich und sehr bestimmt. Mira wollte es sich merken.
Andi kündigte an: »Wir müssen durch Feuer und Eis.«
»Eis? Ich liebe Erdbeereis.«
»Es ist eher ein Eisregen auf die Seele und ein Schneesturm der Gefühle!«
»Willst du mir Angst machen?«
»Natürlich nicht! Wir werden beschützt.«
Mira war schon oft im Wald gewesen, meist mit Mama und Papa, ihrem kleinen Bruder Dennis und Mister White. Mister White war mittlerweile ein alter Spitz, der Arthritis in den Sprunggelenken hatte. Trotzdem musste man ihn im Wald an die Leine nehmen. Denn wenn es irgendwo raschelte, ging der Jagdinstinkt mit ihm durch und er konnte rennen wie ein junger Hund. Mira liebte den Wald und wäre gerne auch mal allein spazieren gegangen. Aber es war verboten und auch ein wenig unheimlich.
Nun zog Andi sie hinter sich her. Sie kannte das erste Wegstück noch recht gut. Hier hatte sie mit Freunden mal eine Hütte aus Ästen und Zweigen gebaut, die inzwischen ziemlich verfallen aussah. Doch auf einmal kannte sie sich nicht mehr aus. Alles wirkte so fremd und sie schauderte. Andi war plötzlich sehr wortkarg. Mit Luchsaugen schien er die Umgebung zu beobachten und wie ein Tier Gefahren zu wittern. Sie machten keinen Lärm. Das Knacken der Ästchen unter ihren Schritten und das Rascheln des Laubes gingen unter in all den kleinen Geräuschen des Waldes.
Es war seltsam still. Mira, die sonst die Stille so genießen konnte, fand diese Art von Stille unheimlich. »Wenn wir uns wie Hänsel und Gretel verlaufen«? Ein wenig zweifelte sie, ob es richtig gewesen war, so weit von zu Hause wegzulaufen. Andi spürte wohl ihre Angst und nahm sie fest bei der Hand. O Schreck! Fast gleichzeitig bemerkten sie die Gefahr: Eine dunkle, bis auf die Augen vermummte Gestalt stand am Ende des Weges. Regungslos wie ein Reptil schien sie auf der Lauer zu liegen. Ihre Augen stierten vor sich hin. Oder hatte sie die Kinder bereits ins Visier genommen?
»Als wenn sie durch mich hindurchsähe!«, entsetzte sich Mira. Sie fror innerlich und wünschte sich weit weg von hier.
»Es ist die Gruselhexe«, flüsterte Andi ihr zu. »Sie ähnelt der bösen Stiefmutter in den Märchen. Ihr Gesichtsausdruck ist völlig unbewegt und ausdruckslos. Sie sieht schlecht, hört schlecht, ja sie ist wie in Watte gepackt und spürt sich selber nicht. Das musst du wissen, wenn du ihr begegnest. Leider hat sie ein Herz aus Stein und ist zudem schrecklich feige.«
Mira sah, dass in einem großen Kreis um die Gestalt herum kein Leben war, als würde dieses im Keim erstickt. Alles war erfroren, zu Eis erstarrt, ohne Farbe, ohne Duft. Mira schlotterte und war plötzlich ganz mutlos.»Lass uns umkehren, ich will heim zu Mama und Papa!«»Na, beim ersten Abenteuer schon kneifen?«, spottete Andi. »Wir kommen an ihr vorbei. Ich zeig dir, wie es geht. Aber wir müssen auf eine günstige Gelegenheit warten.« Mira war es immer noch unheimlich, aber die Neugierde überwog jetzt. Sie warteten im Gebüsch und rückten eng zusammen, weil sie fröstelten. Die Gestalt rührte sich nicht vom Fleck. Mira war steif vor Kälte. Sie gab sich Mühe, ja nicht einzuschlafen und womöglich zu erfrieren. Im Halbschlaf sah sie ihre Freundin Tina vor sich, die jetzt tot war und bald beerdigt werden sollte. Ob Tina auch fror? Im Leichenhaus? Mira schauderte. Die ganze Welt erschien ihr abweisend, gefährlich und fremd. Sie fühlte sich schrecklich einsam und ungeborgen. Andi stupste sie an. Eine Katze mit zwei kleinen Kätzchen war auf Wanderschaft. Die Mutter war weiß und grau getigert, die beiden Kinder waren fast ganz weiß und hatten hellgraue Flecken im kuscheligen Fell. Mira wagte es aber nicht, sich zu rühren, um sie zu locken oder zu streicheln. Die Gruselhexe sollte nicht auf sie aufmerksam werden.
»Hoffentlich gehen die Katzen nicht noch näher zur Gruselhexe hin«, flüsterte sie.
»Tiere haben einen sechsten Sinn. Sie spüren die Gefahr frühzeitig«, beruhigte sie Andi.
Das Muttertier wurde tatsächlich unruhig und machte kehrt. Als ihr die Kätzchen nicht folgen wollten, stupste sie diese energisch an. Eines der Jungen wurde von seiner Mutter schließlich am Genick gepackt und in Sicherheit gebracht. Das andere machte einen Satz in die falsche Richtung und lief unbekümmert weiter hin zum Bannkreis der Gruselhexe. Jetzt stand es ganz steif da und starrte die kalte Gestalt an. Die Mutterkatze war nicht mehr zu sehen. Mira sprang auf: »Ich muss es holen!« Andi hielt sie zurück: »Nein! Jetzt nicht!«
Er begann leise zu miauen. Täuschend echt konnte er eine Katzenmutter nachahmen. Das Kätzchen wandte sofort den Blick von der kalten Gestalt ab und antwortete mit einem sehnsüchtigen »Miau« Es hielt Ausschau nach seiner Mutter.
»Jetzt lauf und hol es!«
Mira schlich sich an. Das Kätzchen lauschte den Lockrufen Andis, seiner vermeintlichen Mutter, und ließ sich von Mira widerstandslos fangen. Mira wurde so freundlich und warm ums Herz, sie fror kein bisschen mehr. Sie hatte die Gruselhexe beinah vergessen, so entzückt war sie von dem Kätzchen. Sie hielt es in den Händen und das Kätzchen schmiegte sich an sie. Mira fühlte seinen Herzschlag. Auch Miras Herz pochte laut und plötzlich hatte sie das Gefühl, sie sei selbst dieses Kätzchen. Sie fühlte sich jedenfalls ganz eins mit ihm und herrlich geborgen.
»Komm, jetzt können wir ohne weiteres an der Gruselhexe vorbeigehen. Unser Herz ist erwärmt.« Andi nahm Mira an der Hand und Mira hielt das Kätzchen eng an sich gepresst. Mit der Linken machte Andi eine gebieterische Geste zur Gruselhexe hin und sprach: »Weiche!« Die Gruselhexe wich zurück und machte den Weg frei.
»Warum hast du mich nicht gleich zu Anfang das Kätzchen retten lassen?«, fragte Mira.
»Das Kätzchen war im Bannkreis der Gruselhexe und wäre nicht freiwillig mit dir gekommen. Du hättest große Angst bekommen. Ihr wäret beide versteinert worden oder zu Eis erstarrt. Die kalte Hexe hat jetzt keine Macht mehr über euch, weil die Liebe zwischen dir und dem Kätzchen sogar Steine erweichen kann. Du warst mutig und sehr freundlich zum Kätzchen und zu dir selbst«, lobte sie Andi. »Das bringt uns dem Herzen der Welt sehr viel näher. Wir haben schon den halben Weg zurückgelegt.«
Mit dem Kätzchen in den Händen, musste Mira einen Bach überqueren. Danach lief sie leichtfüßig weiter und war sehr fröhlich. Sie mussten das Ziel erreichen, bevor das Kätzchen großen Hunger bekam. Sie hatten ja keine Milch. Mira benetzte ihre Finger mit Wasser und ließ es daran saugen. Sie liefen über eine Wiese, auf der ein paar Schafe weideten. Der Himmel war strahlend blau und nur ganz leicht bewölkt. Eine angenehm frische Brise wehte. Doch aus heiterem Himmel fuhr plötzlich ein Blitz hernieder und schlug krachend in ein Gebüsch nicht weit von ihnen ein. Augenblicklich war der Himmel von dunklen Wolken verhangen und die Umgebung in ein bedrohliches, graugrünes Licht getaucht. Auch Andi war völlig überrumpelt, hockte sich aber sofort auf den Boden und zog Mira zu sich herunter. Langsam bewegten sie sich rückwärts, wo sie sich in eine Mulde ducken konnten.
»Der grausame Gustav muss in der Nähe sein!«, flüsterte Andi. »Nicht erschrecken!« Das war leichter gesagt als getan. Mit wildem Gebrüll brach die Bestie aus dem Gebüsch hervor, in das zuvor der Blitz eingeschlagen hatte und stürzte sich auf ein Schaf. Mit seiner Pranke zerriss er es vor ihren Augen in Stücke. Das Blut spritzte. Die Bestie sah fast wie ein Löwe aus, der Kopf jedoch ähnelte einem Wolf. Allerdings saß eine Menschennase über seinem Maul und blutunterlaufene Menschenaugen ließen Mira vor Schreck erstarren. Sie wollte davonlaufen, war jedoch wie tot. Ihr Körper gehorchte nicht. Ihre Knie wurden weich und schlotterten. »Das arme Schaf!« Sie starrte entsetzt auf die Fleischstücke, auf das herausquellende Gedärm und das Blut. Der grausame Unfall ihrer Freundin stand ihr gleichzeitig vor Augen. Auch sie hatte sicher geblutet und schrecklich ausgesehen, als sie da unterm Lastwagen lag. Mira stieg das Blut zu Kopf. Ihr wurde so heiß wie noch nie in ihrem Leben. Schweiß brach aus allen Poren hervor. Der Schrecken hatte sie tief getroffen, so dass das Herz fast aufhörte zu schlagen. Es war unsagbar schwach. Mira fühlte sich dem Geschehen wehrlos ausgeliefert.
»Schau nicht hin!«, befahl Andi ganz streng. Nur mit entschlossener Willenskraft konnte sie seiner Anweisung Folge leisten.
»Er hat uns schon gewittert. Bleib mit dem Kätzchen hier und schau nicht hin!«, befahl er nochmal flüsternd. »Der grausame Gustav ist schrecklich feige, ist er doch nur stark auf Kosten der Kleinen, Behinderten und Schwachen.«
Vorsichtig rückte Andi Zentimeter um Zentimeter ein gutes Stück von Mira weg. Schließlich erhob er sich und trat aufrecht und geschmeidig, wie ein japanischer Schwertkämpfer, ein paar Schritte auf die Bestie zu. Diese war mit Ihrem Schaf beschäftigt und tat so, als interessiere sie sich nicht für Andi. Doch plötzlich erscholl ein rohes, höhnisches Gelächter: »Du hältst mich wohl für blöd!«, brüllte sie. »Du kleiner Wicht interessierst mich nicht, ich will deine Süße da hinten sehen.« Drohend fletschte das Monster die Zähne. »Sie soll hervorkommen, oder ich schlachte euch alle beide!«
Andi winkte Mira zu sich. Miras Haare sträubten sich, sie bekam eine Gänsehaut. Zitternd schlüpfte sie an seine Seite, ihr Kätzchen fest an sich gedrückt. Dann geschah etwas Unfassbares.
Andi befahl Mira laut, so dass es auch der grausame Gustav hören musste: »Gib ihm dein Kätzchen! Vielleicht lässt er uns dann laufen.«
Mira sah Andi ungläubig an. Sie war entsetzt. Eine ungeheure Wut stieg in ihr auf. »Nein!«, schrie sie empört. »Nein, ich will nicht!«
»Hast du gehört?«, fragte Andi nicht unfreundlich die Bestie. »Sie will nicht.« Ganz ruhig, aber unmissverständlich in Gebärde und Ton rief er: »Bis hierher und nicht weiter!«
Die Bestie zeigte ihr gefährliches Wolfsgebiss. Vor allem die hinteren Zähne waren richtige Vampirhauer. Mira erschauerte.
»Das ist eine Demutsgebärde!«, erklärte Andi Mira.
Feige zog der grausame Gustav den Schwanz ein. Er hatte an der Ausstrahlung der Kinder erkannt, dass er unterlegen war.
»Komm, wir gehen!«, verfügte Andi.
Sie gingen nicht zu schnell und nicht zu langsam an ihm vorbei, ohne sich umzusehen. Mira aber war noch immer wütend auf Andi und fragte ihn empört: »Wolltest du tatsächlich, dass ich mein allerliebstes Kätzchen hergebe?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe dich nur provoziert, damit du energisch gegen die Bestie auftrittst und ihr klare Grenzen setzt.«
»Das Provozieren ist dir gelungen. Dass du so fies sein kannst, hätt ich dir nicht zugetraut! Ich bin immer noch sauer auf dich.«
»Es war sehr gefährlich. Wenn der grausame Gustav das Kätzchen, auf das er es abgesehen hatte, von dir gefordert hätte, wärst du womöglich in der Schockstarre verblieben und hättest ihm keine Grenzen gesetzt. So haben wir ihn gemeinsam besiegt und du bist dabei erstarkt.«
Mira und Andi liefen jetzt schneller. Sie hörten Säbel rasseln, Messer wetzen, Kanonenschüsse und Schlachtrufe. Mira fürchtete sich: »Ist hier Krieg?«
»Überall, wo man den grausamen Gustav nicht kompromisslos in seine Schranken weist, ist Krieg. Schau nicht hin! Solche Schreckensbilder schüchtern ein und zerstören Kinderseelen.«
»Ich bekomme schon wieder so eine Wut, ich könnte ihn zermalmen.«
»Die Wut darf dich aber nicht übermannen, sonst gewinnt er neue Macht über dich. Ein tapferer Krieger muss selbst in der äußersten Gefahr noch Stärke mit Güte vereinen. Er geht mit seinem Gegner um, wie ein Dompteur mit seinen wilden Tieren, freundlich, aber bestimmt.«
Andi und Mira waren schon ganz außer Puste. Wie oft war Mira hingefallen und sofort wieder aufgestanden. Erst jetzt merkte sie, wie zerkratzt ihre Beine waren. Auf ihr Kätzchen aber hatte sie gut aufgepasst. Es war munter und zufrieden.
»Sind wir bald da? Ich kann nicht mehr«, hechelte Mira.
»Nur noch ein Katzensprung!«
»Schau doch das hübsche Häuschen mit dem schönen Garten!«
Ein süßer, betörender Duft lag in der Luft. Eine wunderschöne Frau betrachtete ihre Lilien. So viele Lilien in allen Farben! Als sie die Kinder kommen sah, winkte sie ihnen freundlich zu.
»Welch eine schöne Fee! Wir sind da! Hey Andi, wir sind am Ziel!«, rief Mira begeistert.
Es irritierte und ärgerte sie ein wenig, dass Andi so finster drein sah. Ein kleiner, etwas zu rundlicher Pudel lief Mira entgegen und schnupperte zutraulich am Kätzchen. Das Hündchen sah ja wirklich putzig aus. Es hatte rosa Schleifchen ins Haar gebunden und trug über dem gestylten Fell ein Mäntelchen aus schneeweißer Spitze. Das Glöckchen am Halsband des Pudels bimmelte, als er angelaufen kam.
»Ach wie süß!«, rief Mira entzückt. Ihr kamen aber Zweifel, ob der Hund glücklich war. Blickte er sie nicht mit todtraurigen Augen an? Die schöne Frau nahm den Pudel in den Arm, drückte ihn inniglich, küsste ihn auf die Schnauze und nannte ihn »mein Herzchen«.
»Das Hündchen hats doch wirklich gut«, dachte Mira.
»Das Kätzchen braucht dringend Milch«, fand die schöne Fee. »Ich bring ihm Milch mit Honig, die schmeckt ihm bestimmt.«
Gesagt getan. Sie reichte ihm ein Schälchen Milch und gab zwei große Löffel Honig hinein. Den Kindern setzte sie Limonade vor. Das Kätzchen schlürfte gierig.
»O mein süßes Kätzchen, mein kleines, liebes Fleckilein!«, schmachtete sie und kraulte es ungestüm, während es trank. Mira fiel ein, dass sie dem Kätzchen noch keinen Namen gegeben hatte. Ihr gefiel gar nicht, dass die Frau es »mein Fleckilein« nannte. »Es heißt nicht Fleckilein, sondern Tina, wie meine verstorbene Freundin«, unterbrach sie energisch die schöne Fee. Sie bedankte sich höflich für die Bewirtung und forderte Andi auf:
»Wir müssen jetzt gehen. Wir sind noch nicht am Ziel.«
Andi sah sie bewundernd an. Als sie außer Hörweite waren, meinte Mira: »Das war doch eine ekelhafte Hexe! Viel zu süß und klebrig wie Honig!«
»Ganz richtig! Sie ist ein Angstmonster bzw. eine Schattenmacht, eine nahe Verwandte der Gruselhexe. Beide sind auf ihre Weise Rabenmütter.«
»Ich hätte nie gedacht, dass Angstmonster so hübsch und liebevoll sein können und so angenehm duften!«
Mira ging schon in die achte Klasse, war eine gute Schülerin und mochte fast alle Fächer, außer Englisch. Dabei hatte sie sich so auf den Englischunterricht bei Herrn Bäumler, dem neuen Lehrer an der Schule, gefreut. Dieser war ein junger, gut aussehender Referendar, der sehr beliebt und immer gut drauf war. Aber gleich in der ersten Unterrichtsstunde hatte er ihre Aussprache kritisiert. Er hatte sie nachgeäfft und dabei sehr übertrieben, so dass sich sein Englisch wie Bayrisch anhörte. Die ganze Klasse hatte schallend gelacht. Obwohl viele Mitschüler ähnliche Probleme mit der Aussprache hatten wie Mira, wagte sie nicht mehr, sich freiwillig zu melden. Sie war tief verunsichert und verstummte im Unterricht. Die letzte Schulaufgabe hatte sie auch verpatzt.
Katharina und Sabine sprachen zu Hause hochdeutsch. Ihr Englisch klang wirklich gut. Sie schwärmten für Herrn Bäumler und standen bei ihm hoch im Kurs. Oft wurden sie als Vorbilder hingestellt. Die beiden waren überhaupt sehr selbstbewusst und gewandt. Sie stritten sogar manchmal mit den Lehrern. Das hätte Mira nie gewagt. Von klein auf hatten die beiden Freundinnen bereits eine Ballettschule besucht und jetzt spielten sie in einer Theatergruppe der Schule. Mira fühlte sich neben diesen Stadtmädchen wie ein dummes Mädel vom Lande. Dabei waren die beiden nett, auch zu Mira. Bei der Klassensprecherwahl hatte Mira, wie die meisten anderen auch, Sabine ihre Stimme gegeben. Ach wie gerne spielte Mira in der Theatergruppe mit! Als jedoch die Deutschlehrerin sie fast bedrängte, mitzumachen, log sie, sie hätte an diesem Tag zu Hause Flötenunterricht. Womöglich lachen sie mich aus, wenn ich auf der Bühne kein gutes Hochdeutsch spreche, fürchtete Mira. Katharina und Sabine beeindruckten sie sehr. Ja, sie waren jemand in der Klasse, galten auch bei den Jungs etwas und hatten etwas zu sagen.
Mira hockte in ihrem Versteck. Sie hing trüben Gedanken nach und fühlte sich so einflusslos und abgrundtief dumm. »Sabine ist so toll. Und ich? Herr Bäumler übersieht mich einfach. Ich bin doch weder hässlich, noch blöd! Vielleicht doch? Niemand kommt auf die Idee, mich zur Klassensprecherin zu wählen. Habe ich denn gar nichts zu bieten? Bin ich denn ein Niemand? Wer bin ich wirklich?«
»Für mich bist du wichtig!«
Mira freute sich sehr, als sie Andi erblickte. Wie oft hatte sie im Versteck an ihn gedacht und gehofft, er käme wieder. Heute hatte sie überhaupt nicht mit ihm gerechnet und nun stand er da.
»Machen wir uns auf den Weg?«
»Zum Herz der Welt? Ja gerne! Doch ich fürchte, ich bin heute gar nicht tapfer.«
»Heut musst du vor allem wahrhaftig und treu sein.«
»Du redest manchmal in so altmodischen Worten. Was meinst du mit wahrhaftig und treu?«
»Wahrhaftig ist, wer sich in allen Lebenslagen ein reines Herz bewahrt.«
»Ein reines Herz? Du spinnst schon ein bisschen.«
»Komm mit! Ich lade dich auf ein Eis ein.«
Andi fasste Mira bei der Hand und sie gingen ein kleines Stück durch den Wald. Doch bald schon wurde der Weg breit und sie kamen auf eine belebte Straße. Vor ihnen lag eine ziemlich große Stadt. Die Menschen auf der Straße waren sehr gesprächig und weltoffen. Sie plauderten gern mit ihnen und fragten, wo sie herkämen und wohin sie wollten. Ein Bus hielt an. Der Busfahrer winkte sie herein.
»Wir haben kein Ticket«, zögerte Andi.
»Setzt euch, heute kommt schon keine Kontrolle«, erwiderte der Busfahrer lachend.
Am Stadtplatz stiegen sie aus und Andi steuerte auf eine Eisdiele zu. Viele bunte Sonnenschirme spendeten Schatten. Die beiden ließen sich an einem der Tische nieder und bestellten einen Riesenbecher mit frischen Erdbeeren.
»Die Erdbeerzeit ist längst vorbei«, dachte Andi laut. »Sie haben sicher eine weite Reise hinter sich.«
Mira wunderte sich: »So viele Reisende! Sieh nur!«
Die meisten Menschen waren jung und in kleinen Grüppchen unterwegs. Sie zogen Rollkoffer hinter sich her und spielten nebenher mit ihren Handys, iPods oder iPhones.
»Sie sehen aus wie bunte Fische, die in einem großen Fluss mit dem Strom schwimmen. Wie eilig sie es haben! Hier sind anscheinend bunte Brillen groß in Mode. Schau nur, fast alle tragen Brillen mit eingefärbten Gläsern! Dieser Mann sollte mal seine Brille putzen! Sieh nur, wie schmutzig sie ist! Er kann doch niemals scharf sehen!«