Cover

Über dieses Buch

Havanna im 19. Jahrhundert. Eine Stadt, die von Sklaven, Mulatten, Freigelassenen und Entlaufenen wimmelt. Und von einer unüberschaubaren Kinderschar, in die Welt gesetzt von niemand anderem als dem Bischof der Stadt, dem tatsächlichen »Engel« vom Engelsberg. Hier treibt’s der Don mit der Mulattin, die Doña aus Rache mit dem schwarzen Koch. Cecilia will einen weißen Mann, Leonardo sein Vergnügen und Isabels Geld. Und die Engländer wollen, dass endlich Schluss ist mit der Sklaverei. Bigotterie und Grausamkeit bestimmen das tägliche Leben in Havanna, dazwischen aber scheint jeder Einzelne auf der Suche zu sein nach dem idealen geliebten Wesen, das letztendlich doch ein Spiegelbild seiner selbst sein müsste.

Reinaldo Arenas zeichnet mit fast magischer Fabulierkunst und bitterbösem Humor ein Sittengemälde der havannischen Gesellschaft. Ein Generalangriff auf alle Konventionen und Vorurteile der damaligen Zeit und zugleich die traurig-schöne Geschichte von Menschen voller Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.

»Einer der ungewöhnlichsten und erfrischendsten kubanischen Romane der letzten Jahrzehnte … zugleich ein Meisterwerk der literarischen Parodie und eine epochenübergreifende Allegorie der kubanischen Geschichte.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Der Autor

Reinaldo Arenas, »einer der ergreifendsten kubanischen Romanschriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Jesús Díaz), 1943 im Osten Kubas geboren. Kind der Revolution, von ihr verfemt und verstoßen. 1980 Flucht in die USA, 1990 in New York gestorben. Seine furiosen Memoiren »Bevor es Nacht wird« – Schelmenroman, éducation sexuelle und politisches Manifest zugleich – wurden zu einem weltweiten Bestseller, der von Julian Schnabel mit Javier Bardem in der Hauptrolle 2000 verfilmt wurde. Sie gehören zu den großen Konfessionen unserer Zeit: eine hymnische Schamlosigkeit.

Der Übersetzer

Klaus Laabs, geb. 1953, lebt als Übersetzer und Herausgeber in Berlin. Vorrangig übersetzt er Werke hispanoamerikanischer, französischer sowie frankophoner Autoren aus der Karibik und Afrika (u. a. César Aira, Reinaldo Arenas, Aimé Césaire und José Lezama Lima).

Reinaldo Arenas
Engelsberg

Roman

Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs
Mit einem Nachwort von Ottmar Ette

Edition diá

Inhalt

Über das Werk

Erster Teil: Die Familie
Kapitel 1: Die Mutter
Kapitel 2: Der Vater
Kapitel 3: Cecilia
Kapitel 4: Die Großmutter
Kapitel 5: Doña Rosa
Kapitel 6: Engelsberg
Kapitel 7: Die versammelte Familie

Zweiter Teil: Die Schwarzen und die Weißen
Kapitel 8: Der Ball
Kapitel 9: José Dolores
Kapitel 10: Nemesia Pimienta
Kapitel 11: Dionisios
Kapitel 12: Das Duell
Kapitel 13: Von der Liebe

Dritter Teil: Die Weißen und die Schwarzen
Kapitel 14: Isabel Ilincheta
Kapitel 15: Eine Tilburyausfahrt
Kapitel 16: Der Paseo del Prado
Kapitel 17: Das Zusammentreffen
Kapitel 18: Dolores Santa Cruz
Kapitel 19: Das Rendezvous
Kapitel 20: Der Generalkapitän
Kapitel 21: Die Freundschaft
Kapitel 22: Von der Liebe

Vierter Teil: Auf dem Lande
Kapitel 23: Auf der Kaffeepflanzung
Kapitel 24: Die Dampfmaschine
Kapitel 25: Die Romanze im Palmenhain
Kapitel 26: Die Verwirrung
Kapitel 27: Cirilo Villaverde
Kapitel 28: Das Weihnachtsabendmahl

Fünfter Teil: Die Rückkehr
Kapitel 29: Das Wunder
Kapitel 30: Von der Liebe
Kapitel 31: Der Ball in der Philharmonischen Gesellschaft
Kapitel 32: Die Hochzeit

Sechster Teil: Schlüsse
Kapitel 33: Von der Liebe
Kapitel 34: Von der Liebe

Ottmar Ette: Lesen, Leben, Lieben

Impressum

Für Dolores M. Koch – weil ohne ihre Anregung dieses Buch niemals geschrieben worden wäre

Engel der Jiribilla, bete für uns. Und lächle.
José Lezama Lima

Über das Werk

Cecilia Valdés oder Der Engelsberg des kubanischen Schriftstellers Cirilo Villaverde ist einer der großen Romane des 19. Jahrhunderts. Der Autor begann seine Arbeit daran um 1839 in Havanna, ging dann ins Exil und beendete den Roman in New York, wo er ihn 1882 erstmals in abgeschlossener Form publizierte.

Dieses Werk gilt als Sittengemälde seiner Zeit und als Plädoyer gegen die Sklaverei, ist aber noch weit mehr. Es ist nicht nur der moralische Spiegel einer durch die Sklaverei verdorbenen (und reich gewordenen) Gesellschaft sowie des Schicksals der kubanischen Sklaven im vorigen Jahrhundert, sondern auch ein Generalangriff auf alle Konventionen und Vorurteile der damaligen Zeit (und im Allgemeinen auch der heutigen) – reiht sich in ihm doch ein Inzest an den anderen.

Denn nicht nur, dass im Zentrum von Cecilia Valdés die Liebesbeziehung zwischen den Halbgeschwistern Cecilia und Leonardo steht, der ganze Roman ist durchdrungen von geschickt angedeuteten, immer neuen inzestuösen Verflechtungen. Vielleicht liegen das Geheimnis und die Unsterblichkeit des Werkes darin, dass Villaverde uns mit diesen vollzogenen oder erträumten inzestuösen Beziehungen die ewige Tragödie des Menschen enthüllt, das heißt seine Einsamkeit, seine Vereinzelung, seine unstillbare Ruhelosigkeit und mithin die Suche nach einem idealen geliebten Wesen, das nur Spiegelbild – oder Reflex – von uns selbst sein kann.

Meine Neufassung des Romans will mehr als nur den Ursprungstext verdichten oder eine Lesart von ihm geben. Ich habe ihm bestimmte allgemeine Ideen, Stoffe und Metaphern entnommen und der Fantasie die Zügel schießen lassen. Somit stelle ich dem Leser nicht den Roman vor, den Cirilo Villaverde schrieb (was nicht nötig ist), sondern den, den ich an seiner Stelle geschrieben hätte. Verrat, natürlich. Aber gerade der Verrat ist eine der elementarsten Bedingungen künstlerischen Schaffens. Keine Dichtung kann Kopie oder einfach nur Abbild eines gegebenen Modells sein, nicht einmal der Wirklichkeit; sie wäre dann keine Dichtung mehr.

Das Um-Schreiben oder Parodieren ist so uralt, dass es zurückgeht bis fast auf die Geburt der Literatur selbst (oder zumindest ihrer ersten Glanzpunkte). Es genügt, daran zu erinnern, dass ebendies in der Antike Aischylos, Sophokles, Euripides und später Shakespeare sowie Racine taten, um nur die überragendsten Autoren aller Zeiten zu erwähnen. Die Großtuerei mit Originalsujets ist – wie schon Jorge Luis Borges treffend bemerkte – Lug und Trug jüngeren Datums. Genauso sahen es Alfonso Reyes mit seiner Grausamen Iphigenie, Virgilio Piñera mit seiner Electra Garrigó oder Mario Vargas Llosa mit dem Krieg am Ende der Welt. Bei derart illustren Vorläufern bedarf also selbst eine so plumpe Dreistigkeit wie die meine keiner größeren Rechtfertigung. Auf jeden Fall glaube ich, wenn wir als Material auf einen bekannten Stoff zurückgreifen, können wir vom Standpunkt der schöpferischen Erfindung aus sehr viel origineller sein, weil wir, anstatt uns um ein spezifisches Sujet sorgen zu müssen, uns frei in das reine Wesen der Fantasie und somit der wahren Schöpfung begeben.

Die Schlüsse, mit denen das Buch endet, sind daher auch nicht unbedingt diejenigen, zu denen Villaverde in seinem Werk gelangt ist. Dennoch glaube ich in seinem wie in meinem Text zu sehen, was das Erbe des Menschengeschlechts ist und was wir als bescheidene Sprachrohre (oder Schriftsteller) widerspiegeln: die unermüdliche Suche nach Erlösung, eine Suche, die trotz immer neuer Niedertracht – oder vielleicht gerade wegen ihr – niemals enden wird.

Reinaldo Arenas

Erster Teil
Die Familie

Kapitel 1
Die Mutter

Von ihrem Schlafzimmer aus, dem der ganzen Familie, hört Rosario, neben sich ihre gerade erst geborene Tochter, eine Kalesche vorfahren. Doña Josefa öffnet die Tür, und Rosario lauscht, wie ihre Mutter mit dem Mann spricht, der ihr Liebhaber war, Don Cándido de Gamboa.

»Ich bin gekommen, um die Kleine zu holen.«

»Wohin wollen Sie sie bringen?«

»Ins Waisenhaus. Ich werde mich darum kümmern, dass es ihr an nichts fehlen wird. Aber niemand darf wissen, dass ich ihr Vater bin.«

»Und Rosario?«

»Sie muss verstehen, dass es die einzige Lösung ist. Sie wird ja wohl nicht so verrückt gewesen sein, sich einzubilden, ich würde die Kleine als meine Tochter anerkennen.«

Don Cándido und Josefa betreten jetzt das Schlafzimmer. Sie nehmen den Säugling, der wie widerwillig weint und sofort verstummt.

»Rosario«, sagt Josefa, schon mit dem Enkelkind auf dem Arm in der Tür, »es ist das Beste für alle …«

Rosario sagt nichts. Sie schließt die Augen und scheint zu schlafen. Doch so, mit geschlossenen Augen, kann sie noch besser ihr ganzes Leben überschauen: Enkelin einer Sklavin und eines weißen, unbekannten Mannes; Tochter einer dunkelbraunen Mulattin und eines weißen, unbekannten Mannes; sie selbst Mulattin, Geliebte eines weißen Mannes, der sie nun verlässt, und Mutter eines Mädchens, das ebenfalls nicht wissen wird, wer sein Vater war. Jetzt versteht sie, dass sie nur Gegenstand der Lust des Mannes war, der ihre Tochter mit sich nimmt, und dass Elend, Verachtung und Verlassenheit alles sind, was sie besitzt. Und sie versteht noch mehr, sie versteht, dass in dieser Welt, in der sie lebt (oder wohnt), kein Platz ist für sie, nicht einmal im Vergessen.

Denn sie wird auf die Straße hinaustreten müssen, arbeiten und gerade diejenigen sehen und ihnen dienen müssen, von denen sie verachtet und erniedrigt wird. Heuchlerisch wird sie voller Demut die Hand küssen müssen, die sie lieber abgeschnitten sähe oder selber abschneiden würde.

Jetzt öffnet Rosario die Augen und schaut zu dem kleinen Altar, wo die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes mit dem Kinde steht.

»Welcher Trost«, fragt sie, oder fragt sie sich, »wird mir helfen können weiterzuleben?«

(Weil das Schlimmste von allem nicht war, dass man ihr die Tochter wegnahm, sondern dass es der Kindesvater selbst war, der sie ihr wegnahm, der Mann, den sie geliebt hatte und immer noch liebte. Und als er es tat, sah er sie, die Mutter, dabei nicht einmal an.)

»Der Wahnsinn, der Wahnsinn«, meinte sie von fern ein besänftigendes, einwiegendes Gurren zu vernehmen, als wäre sie selbst es, die ihren Geliebten oder wenigstens die Frucht dieser Liebe mit ihrem Gurren einwiegte.

»Der Wahnsinn, der Wahnsinn …«, echote jemand mit noch sanfterer, weicherer Stimme.

Und Rosario Alarcón verlor den Verstand.

Kapitel 2
Der Vater

Verrückt, natürlich. Rosario muss völlig verrückt gewesen sein zu glauben, ich, Don Cándido de Gamboa y Lanza, künftiger Graf des Hauses Gamboa – ein Titel, den ich schon teuer genug den Königen von Spanien höchstselbst bezahlt habe –, würde öffentlich ein uneheliches Kind anerkennen, das ich ungewollt von einer fast schwarzen Mulattin habe wie ihr, der Rosario.

Aber mit den Negern geht das nie gut; gibst du ihnen die Knute, bist du ein Despot, gibst du sie ihnen nicht, bist du ein Trottel, und sie stehlen dir sogar die Glut aus dem Herd. Ich bin wirklich einfach zu gut gewesen. Wer sonst auf dieser Welt kümmert sich schon um eine natürliche Tochter, die er aus purer Lust von einer Negerin hat? Kein Mensch. Einzig Cándido Gamboa. Wer hat es denn ermöglicht, dass unsere Tochter, Cecilia, Mulattin und alles, im Armenhaus eine Erziehung bekommen hat und dass es ihr an nichts fehlte, genauso wenig wie ihrer Großmutter und ihrer Mutter? Für alle habe ich gesorgt, mit meiner Arbeit, mit meinem Vermögen. Und immer noch reden sie schlecht von mir! Was wollen sie? Soll ich Cecilia bei mir aufnehmen, noch eine Tochter? Soll ich sie in meinem Haus zusammen mit meinen anerkannten Kindern leben lassen? Soll die Tochter einer Negerin mit meinen weißen Töchtern zusammenleben, und mit meinem Sohn Leonardito? Soll meine eigene Gattin, die Señora Doña Rosa de Gamboa, eine künftige Gräfin, mit der kleinen Mulattin im Tilbury ausfahren, als ob es ihr leibliches Kind wäre? Was würden da die Leute sagen! Und womöglich ist Cecilia gar nicht von mir, sondern von einem Neger aus der Baracke! Das wäre erst was!

In einem Land von Negern und Mulatten muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Das beste Beispiel liefert ja zu allem Unglück Cecilia selbst, die jetzt schon zwölf Jahre alt ist – ja, zwölf Jahre ist es her, dass Rosario den Verstand verloren hat –, Cecilia ist fast schon eine Frau, und sie tut nichts anderes, als sich auf den Straßen und Plätzen herumzutreiben, Tag und Nacht herumzustromern, zu spielen, mit den Negern wie auch mit den Mulatten und Weißen. Das nimmt bestimmt kein gutes Ende mit ihr … Natürlich, wenn man erfährt, dass ich ihr Vater bin, wird es heißen, ich wäre ein Unmensch, weil ich sie nicht als legitimes Kind anerkannt habe. Dabei besuche ich jede Woche ihre Großmutter und gebe ihr eine Unze Gold für die Pflege der Kleinen. Eine Unze Gold! Und ich dränge darauf, dass sie sich nicht mit den Negern abgibt, und auch nicht mit den Mulatten, und dass sie früh nach Hause kommt. Aber bei ihrer Großmutter, wie kann es anders sein bei einer Negerin, gehen die Worte in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.

Gestern war Cecilia sogar hier. In meinem eigenen Haus! Meine Töchter haben sie auf der Straße vorbeigehen sehen und zum Spielen eingeladen. Tausend Fragen stellten sie ihr und waren entzückt vom Kraushaar der kleinen Mulattin. Ich habe heimlich einen Blick auf sie geworfen und bei mir gedacht: meiner Tochter Adela wie aus dem Gesicht geschnitten … Ich glaube, sogar meine Frau, der Teufel soll sie holen, bemerkte die Ähnlichkeit und wurde ernst. Sollte sie erfahren, dass dieses Mulattenmädel meine Tochter ist, wäre das für die Familie und den Ruf des Hauses Gamboa eine Katastrophe. Dabei hat hier jeder was vom Kongo, wenn nicht vom Kalabar! Wie sollte das auch anders sein, wo doch diese halb nackten Negerinnen sogar auf dem Weg von der Küche ins Speisezimmer tausendmal mit dem Arsch wackeln! Diese Körper, diese Hüften … Ich aber habe nichts von einem Neger, zum Glück bin ich nicht mal Kreole. Waschechter Spanier, mein Vermögen habe ich im Schweiße meines Angesichts gemacht.

Ich war Maurer und Zimmermann, habe mit Holz und Ziegeln gehandelt, und vor allem habe ich mein Vermögen und manchmal sogar die eigene Haut riskiert, um Kohlensäcke herbeizuschaffen, Neger aus Afrika, und sie hier den Plantagenbesitzern zu verkaufen, womit ich zur Entwicklung dieser Insel und dieses undankbaren Volks beigetragen habe. Es stimmt schon, dass mir auch die Heirat mit Rosa zuträglich war, sie besaß Vermögen. Aber ich habe es durch meine Arbeit verdreifacht. Mir gehört eine Zuckermühle samt Plantagen, eine Kaffeepflanzung und eine Baracke voll neuer Neger. Im Zentrum von Havanna besitze ich ein Stadthaus mit großer Kutschenvorhalle und mehreren Tilburys. Mein Sohn lernt am Seminar von San Carlos. Und ich habe mir alles, meinen gesamten Besitz, hart erarbeitet. Dann heißt es noch, ich wäre ein schlechter Mensch und würde meinen Sklaven den erstbesten Gegenstand, der mir in die Hände kommt, an den Kopf schmeißen! Von wegen! Ich zerschlage an ihren Köpfen nur Tonteller, Glasglocken, Kupfertöpfe oder Küchenstühle. Wertloses Zeug.

Kapitel 3
Cecilia

Sie war zwölf Jahre alt, und ihre Leidenschaft war es umherzuwandern, besser gesagt, zu stromern: sich unter dem Geklapper der Holzsohlen ihrer Sandalen im Wirrwarr der Straßen Havannas zu verlieren. Von der Hafenbehörde bis zum Monserrate-Tor zu gehen und wieder zurück, Plätze und Kirche zu betreten mit laut hallendem Schritt.

Manchmal, ohne dass ihre Großmutter es wusste, lief sie bis hinter die Stadtmauer und spazierte durch ganz Manglar. Sie klopfte sogar an die Tür irgendeines Hauses, und bevor sie Antwort erhielt, rannte sie, eine hoch aufwirbelnde Staubwolke hinter sich herziehend, fort. Andere Male schlüpfte sie ohne Erlaubnis in den Innenhof des Klosters der Patres von Bethlehem und sorgte bei den Geistlichen für großen Aufruhr, ob jung oder alt.

»Cecilia, Cecilia«, schien sie die Stimme ihrer Großmutter zu hören, die vom Haus in der Gasse San Juan de Dios nach ihr rief. Doch sie, Cecilia, unterhielt sich gerade mit den Töchtern von Cándido Gamboa, vor allem mit seinem Sohn, der nicht die kleinste Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, sie zu zwicken oder sie bis zum Markt auf dem alten Platz zu begleiten, wo freigelassene Schwarze, Mulatten und selbst Spanier aus vollem Halse alle möglichen Waren anpriesen, vom Messer bis zum Pfau, von Gummihosenträgern bis hin zum transportablen Galgen.

Doch ihre Leidenschaft war noch nicht Leonardo, sondern die Straße. Es schien sie nirgendwo zu halten. In der prallen Mittagssonne, wenn sich alle in der Stadt, bis auf die Sklaven, ein Nickerchen gönnten, hallte das Geklapper ihrer Sandalen ungestüm auf dem Kopfsteinpflaster, den Holzbrücken und sogar auf den Tonziegeln der Dächer wider, die zu dieser Stunde unter ihrem Schritt zerbrachen – sehr zum Ärger der Hausbesitzer und der Sklaven, die ihr auf Befehl ihres Herrn durch die ganze Stadt hinterherjagen mussten, ohne sie je einzufangen.

»Cecilia«, riefen sie die schwarzen Frauen, um ihr eine frisch von der Kochplatte genommene Tortilla zu schenken, und die Mädchen, um sie an den Haaren zu ziehen, und die Jungen, damit sie mit ihnen Ball spielte, und die Greisinnen, um sie zu fragen, wie es der alten Josefa gehe. Doch sie antwortete nicht. Es machte ihr nicht Spaß, irgendwo anzukommen, sondern weiterzuziehen, weiterzurennen. Immer weiter.

Sie wusste, wenn sie stehen bliebe, würde es unausweichlich mit der Fragerei losgehen. Bist du Schwarze oder Weiße? Wer ist dein Vater? Wer sorgt für dich? Was ist deine Geschichte? Stimmt es, dass du im Findelhaus warst?

Und ihre Geschichte war, zumindest für sie, ein Rätsel. Alles, was ihr bei des Rätsels Lösung weiterhelfen könnte, waren eine Mulattengroßmutter, von der niemand wusste, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritt, eine schwarze Urgroßmutter, von der es hieß, sie sei eine Hexe, eine Narbe auf der rechten Schulter sowie der Familienname Valdés, auf den im Findelhaus die Kinder unbekannter Eltern getauft werden.

Alle anderen haben Geschwister, Eltern, jemanden zum Hassen oder Lieben, zum Ähnlichsehen oder Verfluchen. Sie hat die Straßen, die Torwege und den hellen Tag. Sie hat nur sich selbst, und darum weiß (oder ahnt) sie, dass sie, wenn sie aufhört zu lärmen, aufhört zu sein.

Kapitel 4
Die Großmutter

Wenn Cecilia, stets spät in der Nacht, nach Hause kommt, liegt Doña Josefa noch wach und wartet auf sie. Sie hat Angst, das Mädchen könnte eines Tages nicht zurückkehren. Sie hat Angst – sieht schon voraus –, dass ihre Enkeltochter ein Schicksal so trostlos wie das ihre oder das ihrer Tochter Rosario oder das ihrer eigenen Mutter erwartet.

Cecilia würde sich in einen weißen Mann verlieben, der sie als Geliebte benutzen würde, eine Frau, die man heimlich besuchte, wenn man sich zu erholen wünschte.

Tatsächlich war Cecilia bereits in einen weißen Mann verliebt, auch wenn sie es selbst vielleicht nicht wusste. Doch sie, die Großmutter, hatte die elegante Gestalt eines jungen Herrn gesehen, der mit ihrer Enkelin am Fenstergitter plauderte. Sie sprachen mit leiser Stimme, und offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass sie sich trafen. Womöglich war dieser Mann, wenn sie, die Großmutter, nicht da war, schon im Haus gewesen; vielleicht waren sie bereits ein Liebespaar.

Geräuschlos wie ein Schatten, in der für sie schon typischen Art, war Doña Josefa zur Wohnstube gehuscht und hatte den schmucken Burschen erkannt. Es war Leonardo Gamboa, der Sohn Don Cándidos: Cecilias Bruder. Er war es, der ihr den Hof machte. Und er war der Mann, den Cecilia liebte, und zwar nicht wie einen Bruder.

Kein Zweifel, es ist ein Fluch oder ein böser Streich, dachte die Großmutter, als sie sich in ihr Zimmer flüchtete und die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes anschaute, die im Licht einer Kerze in ihrer Andachtsnische schimmerte. Cecilia Valdés’ Herkunft war so geheim gehalten worden, dass sich, ohne dass er es wusste, ausgerechnet ihr eigener Bruder in sie verliebt hatte. Und sie sich in ihn. Das war das Schlimmste.

Was würde Don Cándido sagen, wenn er es erführe? Denn früher oder später wüsste er davon. Womöglich würde er befehlen, seine Tochter zu töten, zumindest aber sie aus der Stadt vertreiben; ihr würde er die Unterstützung entziehen, und sie würden beide verhungern.

War es schließlich – dachte Doña Josefa weiter – nicht logisch, dass sich Cecilia einen weißen Mann suchte? Was für eine Zukunft erwartete sie denn, wenn sie in einem Sklavenland einen Mulatten oder einen Neger heiratete? Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Schneiderin oder Köchin. Wenn überhaupt. Sie war schon achtzehn Jahre alt. Niemand konnte beim ersten Hinschauen denken, dass sie schwarzrassig war. Vielleicht würde sie sogar einen weißen Mann heiraten können, Kinder haben. Um ihr nicht zu schaden, würde sie, die Großmutter, sie nie wiedersehen. Was Rosario Alarcón anging, nach den Worten der Nonnen vom Frauenhaus eine bedauernswerte Geisteskranke, so würde sie sich niemals um ihre Tochter kümmern. Cecilias Vergangenheit bestand nur aus einer halbmondförmigen Narbe, die Doña Josefa ihr eingeritzt hatte, um sie unter den vielen Kindern namenloser Väter im Findelhaus wiederzuerkennen.

Wenn es Cecilias Schicksal – und Wunsch – war, mit einem weißen Mann zu leben, durfte dieser Mann natürlich nicht ihr eigener Bruder sein, sagte sich Doña Josefa und beschloss, trotz allem, unverzüglich Don Cándido Gamboa aufzusuchen, um zu sehen, wie sie dieser Angelegenheit, ohne schlimmere Folgen und ohne dass Doña Rosa davon erführe, ein Ende machen könnten.

Kapitel 5
Doña Rosa

Doña Rosa Sandoval y de Gamboa war als gute Ehefrau eifersüchtig und misstrauisch. Daher glaubte sie von Anbeginn nicht den Worten ihres Gatten Don Cándido Gamboa, wenn dieser, um die Nächte außer Haus zu verbringen, eine dringende Versammlung mit Plantagenbesitzern oder Sklavenhändlern vorschob. Mit viel Geschick fädelte sie es ein, dass der Sklave Dionisios, der als Chefkoch arbeitete (und zu dem sie verhältnismäßig großes Vertrauen hatte), in mancherlei aufwendiger Verkleidung ihrem Manne nachspionierte.

Das Ergebnis dieser Nachforschungen ließ nicht lange auf sich warten:

»Der Herr hat ne Liebschaft mit ner bildschöne Mulattin. Se wohnt inner Gasse San Juan de Dios und hat ihm grad n Mulattentöchtel geborn, wirklich n Goldkind. Bei meine Seel, wenn Se diss sehn tätn. Schaut genauso aus wie Ihr Töchtel Adela!«

»Da hat also Don Cándido eine Tochter mit einer Negerin …«

»Mit ner Negerin nich, Señora, ner Mulattin.«

»Das ist dasselbe, Dummkopf!«, unterbrach ihn Doña Rosa, ließ ihre Augen nicht ab von ihrem schwarzen Koch und befahl ihm: »Mach die Tür zu und zieh dich auf der Stelle aus!«

»Aber Herrin! Was hab ich bös getan? Hab nur Ihre Befehle gehorcht, und was ich sag, is de Wahrheit. Warum wolln Se mir de Peitsche gehm?«

»Niemand wird dir die Peitsche geben, Dionisios«, erwiderte Doña Rosa. »Ich habe dir lediglich befohlen, dich auszuziehen.«

Noch ängstlich zog sich Dionisios die weiten, abgetragenen Hanfhosen aus und rechnete damit, dass jeden Moment der Ochsenziemer auf seinen Rücken klatschte. Doch Doña Rosa, anstatt ihn zu schlagen, trat an ihn heran und nahm sachkundig seinen Körper in Augenschein. Sie prüfte Lymphknoten, Knie, Handflächen und Fußsohlen, ließ ihn die Zunge herausstrecken und wog mehrere Male in der Hand Glied und Hoden ab.

»Ich hoffe«, sagte sie am Schluss ihrer gründlichen Erkundung, »du hast keine dieser ansteckenden Krankheiten der Barackenneger.«

»Ich hatt nix und hab nix, Señora. Außer Schwazze Blattern, die mir übel zurichteten, als se mich aus Großguinea holtn.«

»Gut. Dann hör zu, was du zu tun hast: Auf der Stelle wirst du mich begatten und mir einen Neger machen. Einen Neger, verstanden! Wenn nicht, wanderst du an die Kessel in der Zuckermühle, wo aus dir brauner Kandis wird.«

»Herrin, bei der Liebe Gottes!«

»Kein Wort mehr, und an die Arbeit!«, befahl die aufgebrachte Doña Rosa, legte ihr weites Hauskleid ab und stand splitternackt vor dem furchtsamen Sklaven.

Der war noch ganz verwirrt und zögerte. Doch Doña Rosa warf ihm so drohende Blicke zu, dass er um sein Leben bangte und seinen Körper den ausladenden Proportionen seiner Herrin näherte.

»Vergiss nicht, dass ich dir einen Neger befohlen habe!«, sagte Doña Rosa noch einmal mit Nachdruck.

»Señora, ich weiß nich, ob mein Talent groß genuch is«, stammelte der Koch.

»Schweig und mach, dass du fertig wirst«, unterbrach ihn Doña Rosa wieder. »Don Cándido kann jeden Moment kommen und dir den Kopf abschneiden.«

Nach abgeschlossener Paarung erklärte Doña Rosa:

»Gut, jetzt musst du noch wissen, wenn du irgendwem ein Wort davon sagst, was du mit mir gemacht hast, bleiben dir keine vierundzwanzig Stunden mehr, um es noch einmal zu versuchen.«

»Nix hab ich mit meiner Herrin gemacht«, beteuerte der Sklave, als er in seine Hosen schlüpfte.

»Wie, nichts gemacht? Unverschämter Kerl!«, protestierte Doña Rosa erzürnt und befriedigt. »Und jetzt fort mit dir! Fort! Ab in die Küche! Meine Ehre ist bestens wiederhergestellt.«

Kapitel 6
Engelsberg

Neun Monate später, als Doña Rosa schon die Wehen spürte und weil sie wusste, dass sie in ihrem Haus natürlich kein schwarzes Kind zur Welt bringen konnte, ging sie zur Engelskirche auf dem Engelsberg und bat darum, ob ihrer gesellschaftlichen Stellung beim Bischof höchstpersönlich, Señor Don Manuel Morell de Ohcaña y Echerre, die Beichte ablegen zu dürfen.

Dieser unvergleichliche Prälat – unvergleichlich sowohl in seiner Hässlichkeit wie auch in seinen Freveltaten – hatte es gegen den unverhüllten Widerstand des Marquis de Someruelos und der seit Langem verwitweten Herzogin de Valero erreicht, den Bischofssitz von Havannas Kathedrale auf den Engelsberg zu verlegen, und dort amtierte er mit einer Herrlichkeit und Pracht, welche selbst die Zeremonien seines Vorgängers übertraf, des Señor de Espada.

In Wirklichkeit hatte es den inzwischen berühmt gewordenen Engelsberg in Havanna vor der Ankunft des Bischofs de Espada gar nicht gegeben, an der Stelle hatte sich vielmehr eine Senke befunden. Er war es, der dort die Engelskirche errichten ließ und den berühmten Friedhof gründete, der heute seinen Namen trägt. Es waren so viele Tote (vor allem während der Amtszeit Echerres), die auf dem Gottesacker direkt unter der Kirche begraben wurden, dass sich die Grabstätte rasch in eine alles überragende Erhebung verwandelte, auf der das mit Säulen, Türmchen, Schnörkelwerk, Traufröhren, Gesimsen, Voluten und völlig unnötigen Archivolten überladene Gotteshaus und Kirchenschiff immer weiter in die Höhe wuchs. Indem die Gruft mit Leichen gefüllt wurde, verwandelte sie sich in einen gewaltigen Grabhügel, und über dieser Anhäufung von Knochen reckte sich weiter die Kirche empor, die inzwischen manchmal schon bis in die Wolken ragte.