Traumbild der Ahnen
Aus antiken Quellen glaubte man auf das Wesen der Germanen schließen zu können. Daraus entwickelte sich seit der Renaissance ein Mythos, den Nationalisten in dumpfe Ideologie umdeuteten.
Von Georg Bönisch
Der Feldherr stürzte sich ins Schwert, voller Scham und voller Schuldgefühl. Etliche seiner Offiziere taten es ihm nach, während einfache Soldaten den noch qualvolleren Tod suchten – sie sprangen ins Moor. Tausende ihrer Kameraden waren da auf dem Schlachtfeld schon gestorben, durchbohrt, enthauptet, massakriert. Daheim im sieggewohnten Rom, weit über tausend Kilometer vom Schauplatz der Niederlage in Germanien entfernt, fiel Kaiser Augustus, der Imperator Caesar, Sohn des Gottes, der Pontifex maximus, aus höchsten Berufssphären in tiefste Verzweiflung. Monatelang ließ er Haupthaar und Bart wachsen, wieder und wieder stieß er mit dem Kopf gegen eine Tür und rief, angeblich: »Varus, gib mir meine Legionen zurück.«
Was da geschehen war im Jahre 9 nach der Zeitenwende, im Lande von offenbar ungeschlachten Wilden, von Barbaren, von Menschen, an denen außer Stimme und Gliedern nichts Menschliches gewesen sein soll, hat der wortgewaltige Historiker Theodor Mommsen mit nur einem Wort umschrieben: Varuskatastrophe.
Für die allermeisten Römer, Augustus und seine Entourage ausgenommen, schien sie dennoch wenig bemerkenswert und schnell vergessen. Dann aber war es etliche Jahrzehnte später ausgerechnet ein Römer, der die verlorene Schlacht zu einem weltpolitischen Ereignis umdeutete – der Ex-Senator und Schriftsteller Publius Cornelius Tacitus. Eines seiner schmalen Werke trug (auf Deutsch) den Titel »Über die Herkunft und die Lage der Germanen« und ein anderes »Annales«, und Tacitus tat so, als seien die Germanen eine in sich geschlossene Ethnie, ein richtiges Volk, gefährlich wie die großen Gegner Roms. Die Parther, die Karthager, die Gallier.
Nein, Germanen waren ein bunter Mix aus Stämmen, die höchstens regionale Bedeutung besaßen: Chatten und Chauken, Angrivarier und Brukterer, Hermunduren oder Usipeter, Semnonen und Triboker. Und Cherusker. Ihr Chefstratege Arminius hatte die drei Varus-Legionen in tagelangen Attacken aufgerieben; Tacitus setzte ihm ein Denkmal. »Ohne Zweifel« sei Arminius der »Befreier Germaniens« gewesen, schrieb er. Schon deshalb ein Befreier, weil er Rom nicht, »wie andere Könige und Anführer, in den Frühzeiten, sondern … auf dem Höhepunkt herausgefordert« hatte. Held Arminius, ein Siegertyp, der ein Volk repräsentierte, das »unvermischt« war, wie ein deutscher Schriftsteller und Denker im 19. Jahrhundert festhielt. Und keineswegs »verbastardet« durch fremde Völker. Arminius, der Bewahrer reinrassiger Gene. Germanischer Gene.
Aus den Phantasieerzählungen des Tacitus, der nie in Germanien war, konstruierten hierzulande Protagonisten des deutschen Humanismus fast anderthalb Jahrtausende später ein politisches Modell ganz früher territorialer Einheit: die römischen Texte gewissermaßen als Gründungsurkunde einer germanisch-deutschen Nation. Gleichzeitig verschafften diese Texte den Deutschen auch das »Adelsprädikat eines Altertums, das genauso weit zurückreichte wie das der Nationen, die sich von der lateinischen Antike ableiteten«, urteilt der Sozialgeschichtler Michael Werner. Wahrscheinlich hatte Tacitus nur die von ihm unterstellte Dekadenz seiner Landsleute brandmarken wollen und deshalb die – vermeintlich positiven – Attribute der Germanen herausgestellt: einfach, tapfer, treu, gerecht, ehrenwert. Und rein.
Er konnte nicht ahnen, dass sein Text irgendwann als Morgenrot deutscher Geschichte aufscheinen würde: guter Germane gleich guter Deutscher, germanisches Blut gleich deutsches Blut, germanischer Boden gleich deutscher Boden. Blut und Boden, völkisches Denken, das letztlich in der tödlichen Obsession der Nazi-Tyrannei sein Ende fand. Deshalb ist die Varuskatastrophe auch eine deutsche Katastrophe. Adolf Hitler, der die Hauptverantwortung trug für die Ermordung von sechs Millionen Juden, hatte einen frühen Entwurf seines Pamphlets »Mein Kampf« entsprechend tituliert: »Die germanische Revolution«, und ihm, dem »Führer des Großgermanischen Reiches«, wie ihn dann sein SS-Chef Heinrich Himmler umgarnte, schwebte vor, die Reichshauptstadt Berlin zur Welthauptstadt eines »germanischen Staates der germanischen Nationen« zu machen, Name: Germania. Bald danach lag alles in Trümmern.
Es ist nachgerade bizarr, dass die Sichtweise eines Römers die Germanen als geschichtliches Ereignis festschrieb – und damit viele Generationen später eine Manie auslöste, eine Ideologie begründete und einen Mythos: den Germanenmythos.
Bis heute können Wissenschaftler schon die scheinbar am leichtesten zu beantwortende Frage nicht beantworten – woher denn eigentlich der Name stammt, der für alles die Ursache war. Mindestens 50 Theorien existieren, und ihre Begründungen füllen Bibliotheksregale akademischer Einrichtungen. Kommt die Begrifflichkeit »Germanen« aus dem Lateinischen – und ist sie ein Kürzel von »verum germen nobilitatis«? »Wahrer Kern der Vortrefflichkeit«, wie die wörtliche Übersetzung heißt? Oder steckt in ihr, wie manche Pennäler meinen, der Name »Ger«? Jene kurze Lanze germanischer Soldaten, bekannt aus Kreuzworträtseln? Stammt der Name etwa aus dem Keltischen? Oder aus dem Hebräischen, dem Illyrischen, dem Ligurischen? Es ist einfach: Niemand weiß es.
Und zu dieser allgemeinen Wirrnis gehört, dass die Bezeichnung »Germanist« anfangs keinesfalls auf einen Spezialisten dieses Sujets deutete – ein Germanist war vielmehr der, der sich mit deutschem Recht beschäftigte, ein Romanist kümmerte sich um römisches Recht. Erst Jacob Grimm, einer der beiden Märchenbrüder, schlug 1846 vor, auch »Sprachforscher, Literaturhistoriker, Religions-, Wirtschafts- und Staatsforscher der germanischen Völker« so zu benennen.
Bis weit ins Mittelalter hatte sich für diese Vorfahren kaum jemand interessiert, es dominierten andere Themen: Reichsgeschichte etwa und Kirchengeschichte. Da sei kein Platz gewesen für Erinnerungen oder gar die »Gedächtniskultur eines germanischen Sieges in augusteischer Zeit über Rom und eines Helden Arminius«, sagt der Althistoriker Rainer Wiegels. Dann kam das Jahr 1425, jenes Jahr, in dem der findige Manuskriptjäger Poggio Bracciolini nach Rom eine Sensation meldete – den Fund einer Abschrift des verschollenen Tacitus-Textes in einem deutschen Kloster. Ein Gesandter des Papstes brachte sie nach Italien, wo schließlich eine Abschrift dieser Abschrift im Städtchen Jesi nahe der Adriaküste deponiert wurde. Und von der lateinischen Ortsbezeichnung hat sie bis heute den Namen: Codex Aesinas.
Rigorose Italiener, besser: Papstgetreue, schlachteten die »Germania« binnen kurzem, in schlechter Dialektik, an zwei Fronten aus. Einerseits lobten sie die von Tacitus beschriebenen militärischen Fähigkeiten der Germanen und deren Freiheitsliebe – um den deutschen Kaiser zum gemeinsamen Kampf gegen die Türken zu gewinnen; andererseits machten sie sich lustig über unkultivierte Typen aus den Wäldern Germaniens – um Geld zu sparen. Der deutsche Episkopat hatte nämlich laute Beschwerde geführt, die Kurie beute ihn finanziell aus, gebe ihn dem Elend preis und verurteile ihn auf diese Weise zur Machtlosigkeit. Rom hielt in der Schrift »De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae descriptio« dagegen, gerade Tacitus sei doch der Beweis dafür, dass aus dem Barbarentum der frühen Zeit eine wohlhabende Kulturnation entstanden sei – dank des Christentums. Ein Germane, stünde er jetzt auf von den Toten, sehe nun »blühende Städte, sanftmütige Menschen, heilige Handlungen des Gottesdienstes«. Also sei Deutschland in der Dankesschuld dem Papst gegenüber, »darum seid fein bescheiden«.
Die Römer nahmen die Ergüsse ihres Vorfahren Tacitus ganz offensichtlich nicht für bare Münze, anders als die deutschen Humanisten. Zudem ärgerte es sie, dass mancher Schmeichler in Wirklichkeit ganz anders dachte. Jener Mann, der unablässig die Vorzüge germanischer Soldaten pries, schimpfte insgeheim die Deutschen als kulturlos, ihr Essen sei übel, das Wetter entsetzlich. Solcherlei Herablassungen stachelten den Patriotismus erst recht an – immer die Germanen im Blick und ihre Lichtgestalt Arminius. Schließlich, so der Dichter Heinrich Bebel zu Beginn des 16. Jahrhunderts, seien die Deutschen sich seit alters her immer treu geblieben, als freies, unabhängiges Volk. »Macht euch, deutsche Männer, die Sinnesart eurer Ahnen zu eigen«, beschwor zur selben Zeit Conrad Celtis, ein einflussreicher Intellektueller, seine Landsleute. »Wendet eure Augen zu den Bastionen Deutschlands und fügt seine zerrissenen und auseinandergezogenen Grenzen wieder zusammen« – Deutschland, eine Nation. Das war der Traum.
Der Germane hatte seinen Platz gefunden im Bewusstsein der Bildungselite, schnell war die Gleichung germanisch = deutsch da, weil die taciteischen Darstellungen die Vordenker geradezu aufriefen, mit deren Hilfe »die Wesenszüge ihres Volkes zu bestimmen«, formuliert die Historikerin Stefanie Dick. Also war es auch an der Zeit, den Namen des Urhelden Arminius einzudeutschen; jetzt hieß er Hermann. Es könnte sein, dass Martin Luther dafür sorgte. »Wenn ich ein poet wer«, schrieb er jedenfalls über Arminius, »so wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib. Hat Hertzog Herman geheißen.«
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts schätzten ihn, aber sie begeisterten sich letztlich nicht so richtig für Hermann und die Germanen – auch nicht die späteren Größen Friedrich Schiller oder Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Wolfgang von Goethe. In »Dichtung und Wahrheit« schrieb Goethe: »Warum hätte mich … bewegen sollen, Wodan für Jupiter und Thor für Mars zu setzen und statt der südlichen genau umschriebenen Figuren, Nebelbilder, ja bloße Wortklänge in meinen Dichtungen einzuführen?« Seinem Vertrauten Johann Peter Eckermann sagte er, ein Kerl wie Hermann liege »zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis, niemand weiß, was er damit machen soll«. Aber Goethe täuschte sich schwer, denn Hermann der Cherusker, der Germane, spielte eine ganz wichtige Rolle, lange bevor ihm auf der Grotenburg im Teutoburger Wald ein Denkmal gesetzt wurde – als nämlich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts das deutsche Bürgertum auf der Suche nach einer nationalen Identität war, wieder einmal.
Das Reich zerrissen, Kleinstaaterei, nur aufs eigene Wohl bedachte Landesherren, politische Lähmung: In dieser Phase deutete ausgerechnet ein Franzose, der Jurist und Philosoph Montesquieu, die »Germania« als den Entwurf einer freien Gesellschaft. »Dieses schöne System ist in den Wäldern erfunden worden«, den germanischen. Seine Informationen bezog er aus dem »trefflichen Werk des Tacitus«. Montesquieu verstieg sich gar zu der schrägen These, die »Sitten der Germanen« hätten die Engländer angeregt, eine spezielle Form der Demokratie einzuführen. Und Montesquieu meinte, zu einer Nation gehöre unabdingbar ein Nationalheld. Einer wie Arminius eben.
Montesquieu begeisterte mit seinem Hauptwerk »Vom Geist der Gesetze« die Zeitgenossen – es sei ein »Meisterstück«, das verdiene, »nicht durchgelesen, sondern durchgedacht zu werden«, bemerkte einer seiner Anhänger. Vielen wurde bewusst, dass es falsch war, sich beständig an anderen Nationen, wie Frankreich beispielsweise, zu orientieren. Also begann eine intensive Auseinandersetzung um Herkunft, Charakter, um Identität, das Stichwort heißt: Nationalgeist-Diskussion. Dem Germanentum wuchs dabei eine ganz besondere Bedeutung zu, »indem es zum identitätsstiftenden Bezugspunkt für das im Entstehen begriffene deutsche Nationalbewusstsein wurde«, schreibt Stefanie Dick.
In seinen »Reden an die deutsche Nation« bejubelte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte die Germanen, weil »wir, die nächsten Erben ihres Bodens, ihrer Sprache und ihrer Gesinnung, ihnen verdanken, dass wir noch Deutsche sind«. Und der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt formulierte: »An der Schlacht im Teutoburger Wald hing das Schicksal der Welt, darum ist Hermann Weltname geworden; er ist … etwas Ewiges und Wirkliches, weil … ohne ihn vielleicht seit sechzehnhunderten Jahren kein Teutsch gesprochen sein würde.« Arndt sagte noch etwas anderes. Ein »edles und vorzügliches Geschlecht« könne nur entstehen durch Paarung des Edlen mit Edlen, Mischlinge seien disharmonisch, unsicher, unsolide, oft nur einseitig begabt. Wenn das Edle mit dem Unedlen vermischt werde, dann setze sich schlussendlich das Unedle durch. Auch Friedrich Ludwig Jahn, der »Turnvater«, sinnierte über die Aufzucht: »Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger.«
Tacitus hatte die Germanen als rein beschrieben. Es entwickelte sich, im überhitzten Nationalismus jener Jahre, ein Denkschema, das der Kulturhistoriker Rainer Kipper trefflich umreißt: die »Biologisierung des Germanenmythos«. Aus den körperlichen Merkmalen der Germanen, immer sich auf den alten Römer Tacitus berufend, leiteten Forscher den Phänotyp des germanisch-nordischen Menschen ab: mit dolichocephalen, also länglichen Schädeln, mit einer hellen Färbung von Haut, Augen und Haaren. Der Brockhaus, das Nachschlagewerk jener Zeit schlechthin und die populärste Informationsquelle, notierte deshalb 1834 als vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnis über die Germanen, sie seien ein Volk gewesen »mit trotzigen blauen Augen, hochgelben Haaren, von starkem Körperbau und riesenhaftem Wuchs«.
Die öffentliche Wahrnehmung wurde vor allem von den Unterhaltungsliteraten befeuert. Der Roman »Die Ahnen« von Gustav Freytag, der fiktive Schicksale einer deutschen Familie von germanischer Zeit an beschreibt, erreichte hohe Auflagen; Felix Dahn, ein gelernter Jurist, veröffentlichte mit fast gleichem Erfolg seinen »Kampf um Rom«. Das Buch, heute immer noch erhältlich, handelt vom Untergang des spätantiken Ostgotenreichs in Italien, transportiert freilich auch sozialdarwinistische Überlegungen. Charles Darwin hatte seine Evolutionstheorien als Naturgeschichte entwickelt, nun wurde sie umgemünzt in Sozialgeschichte. Ein höchst gefährliches Unterfangen.
Die Leserschaft war keinesfalls geschlossen rechts, nach heutiger Betrachtungsweise. Sondern es war eine pluralistische – Konservative hier, Liberale da, Sozialdemokraten oder ultramontane Katholiken. »Der Rekurs auf die Germanenzeit« habe »also zumindest insofern integrativ« gewirkt, schreibt Rainer Kipper bar jeder Ironie, »als sie dasjenige Feld darstellte, auf dem sich die verschiedenen ideologischen Lager begegneten«. Der Staat nahm durchaus teil an diesem Germanen-Hype, vielerorts wurden spezielle Museen gegründet – etwa das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg oder das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz. Nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 stockte Berlin den Etat des editorischen Mammutunternehmens »Monumenta Germaniae Historica« erheblich auf, wobei bemerkenswert ist, dass die Ereignisse des Jahres 9 nach Christi Geburt alsbald im Kaiserreich ihre programmatisch-politische Bedeutung verloren. Vermutlich deshalb, weil eine andere Form der Kriegsführung nicht den Helden brauchte, sondern einen konturlos ins Massenheer integrierten Soldaten. Stattdessen wurden Hermann, die Varusschlacht und die Germanen für andere Zwecke instrumentalisiert: für rassenideologische und volksvergötzende Ideen.
Großen Anteil daran hatten die verqueren Reflexionen eines hochintelligenten Menschen: Houston Stewart Chamberlain, Schwiegersohn Cosima Wagners. Dieser Chamberlain, Pangermane, Antisemit und ein Stichwortgeber Hitlers, definierte Rasse als »lebens-, kultur- und kraftspendendes Prinzip der Welt, Antriebskraft für Geschichte, Kunst und Kultur« – wobei er unterschied zwischen höherwertigeren Rassen und minderwertigeren, eben edlen und unedlen. Rassenmischung führe ins »Völkerchaos«, ein schrecklicher Begriff.
Ein Erretter der Welt musste her – es war der Germane respektive der Deutsche. Weil er eine »besondere wissenschaftliche und künstlerische Begabung« besitze, von »hochgeistigem und sittlichem Entwicklungsstand« sei und von »überragender staatsbildender Kraft«. Wer dies anders sah, dem warf Chamberlain »schändliche Denkfaulheit« oder »schamlose Geschichtslüge« vor. Juden hingegen, fabulierte er im Kapitel »Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte«, hätten – notabene! – bei ihrem »Eintritt in die europäische Geschichte« ein »fremdes Element« bedeutet, »fremd gegen das, was Europa bereits geleistet hatte, fremd gegen das, was es noch zu leisten berufen war«. So wurde ein mörderisch endender Gegensatz konstruiert: Arier, die Herrenmenschen, »diese erlauchte Menschenfamilie, unbestreitbar edelster weißer Abkunft«, wie der Amateuranthropologe Joseph Arthur de Gobineau formulierte. Und Nichtarier, die Untermenschen.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Niederlage, die die allermeisten Deutschen als ganz große Schmach empfanden, konnte deren Seelen und deren arg ramponiertem Selbstbewusstsein nur eines helfen: der Blick zurück. Auf germanische Tugenden, auf germanische Tapferkeit, und dabei war es dienlich, bei Gobineau nachzuschlagen und bei Chamberlain. So manifestierte sich ein durch biologistische und rassistische Elemente angereichertes Germanenbild, das schließlich den NS-Faschismus vorantrieb: arische Rasse, Blut-und Boden-Ideologie, Führerprinzip. Zwar teilte Hitler nicht die Germanenbegeisterung seiner Untertanen – weil ihm, dem Machtmenschen, Freiheitskämpfer wie Arminius suspekt erscheinen mussten; da war ihm Karl der Große lieber. Dennoch, Hitler war natürlich auch überzeugt, dass die germanische Rasse allen anderen Rassen überlegen sei, deshalb auch ließ er 1940 in der Reichskanzlei acht riesige Gobelins aufhängen, die die siegreichen Schlachten deutscher Soldaten dokumentierten. Ganz am Anfang: die Varusschlacht.
Im Hitler-Reich hätten die taciteischen Fiktionen als »Blaupause für nazideutsche Wirklichkeit« gedient, sagt der Altphilologe Christopher B. Krebs. Als Inspiration für Politik und Gesetze – etwa die Nürnberger Rassengesetze von 1935, die eine »Blutvermischung« verhindern sollten. Kein Wunder, dass ein Kommando der SS 1943 in Jesi versuchte, die »Germania« als Beweisstück für eine blendende Vergangenheit in einer Gewaltaktion »heim ins Reich« zu holen, ohne Erfolg. Sie wird bis heute in der römischen Biblioteca Nazionale aufbewahrt. Kein Wunder auch, dass Rechtsextremisten dieser Zeiten abheben auf die alten Zeiten. Über seine Zuhörer sagt ein brauner Liedermacher: »Sie sollen ihre germanischen Wurzeln wiederfinden. Und wer seine Wurzeln und damit sich selbst findet, der muss automatisch ein Feind des aktuellen Systems sein.«
Aber es verwundert, dass ein Mann wie der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll in einem Essay für die »Zeit« jedem Deutschen empfahl, doch einmal in der »Germania« zu blättern. Schließlich gebe sie, schrieb der Kölner, »eine der ältesten, wenn nicht die älteste Auskunft über unsere Vorfahren«. Nichts davon ist wahr. Schriftsteller Tacitus hat die Germanen beschrieben, die er brauchte.