Heiko Rosner
Zu dumm zum Beten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Psalm: Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind und die Ersten sein, die die Letzten sind.
2. Psalm: Und du hattest viele Jahre mit ihnen, doch sie nahmen’s nichts zu Ohren
3. Psalm: Du sollst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott, für dich bestimmt.
4. Psalm: Hat nun mein Vater auf euch ein schweres Joch gelegt, so will ich euer Joch noch schwerer machen
6. Psalm: Gebet acht, dass ihr nicht in die Irre geführt werdet
7. Psalm: Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?
Impressum neobooks
Zu dumm zum Beten
„Deus infallibilem“
(Werbung einer Religion)
„Dibadibadu“
(Werbung einer Bank)
Als das Tränengas in Schwaden über das Heiligengeistfeld wehte, krallte sich der Papst an Siebzehn fest. Schreie überall, Tumulte, die Massen stoben auseinander. Weiter hinten durchbrachen die Salafisten die Polizeisperren. Wahrscheinlich nicht, um Gratis-Korane zu verteilen. Der Papst in seinen Armen zitterte wie Espenlaub. Blutspritzer tupften sein pferdeähnliches Gesicht. Die Aufregung war sicher zu viel für ihn. Aber das konnte Siebzehn dem alten Mann nicht ersparen. Sollte er sich später bei Heinz Erhardt bedanken. Falls es ein später gab. Mindestens zehn, zwölf Automatic Weapons der Bullen zeigten auf ihn. Auf den gesuchten Mörder und Anführer der Christen des lebenden Wassers. Wenn er es rational betrachtete, kam er aus der Nummer nicht mehr raus. Ob er in den Himmel kommen würde? Die Frage hatte er sich noch nie gestellt. Obwohl er Komfort durchaus schätzte. Aber in dieser einen Sekunde, in der die Welt vor seinen Augen fast stehenblieb, rutschte ihm trotzdem der eine oder andere existentielle, womöglich Käßmann-mäßige Gedanke durch. War ja auch nicht normal, vor einem Riesenpublikum auf der Bühne zu stehen und dem Papst ein Messer an die Gurgel zu halten. Das konnten die Leute leicht falsch verstehen. Dabei wollte Siebzehn im Grunde nur seine Ruhe und Schlaf, sehr viel Schlaf. Genau damit hatte der Schlamassel angefangen. Mit...
...Krach! Was war das denn? Polizeisirenen! Lautsprechergequäke! Gehupe! Alles unter seinem Schlafzimmerfenster. Siebzehn zog verärgert die Decke über den Kopf. Das half nicht viel. Jetzt kamen mit viel Lalülala noch mehr Einsatzfahrzeuge angerauscht, Feuerwehr anscheinend. Hatten die Frühaufsteher wieder Scheiße gebaut. Dabei hatte er mindestens die Hälfte seines Zehnstundenschlafs geschafft. Die letzte Nacht in der Krähe steckte ihm noch in den Knochen, oder genauer die letzte grüne Fee, die so spät nicht mehr nach Hause gehen wollte. Wenigstens war es ihm gelungen, seinen Highscore gegen den Kapitän der Titanic zu verteidigen, obwohl der im letzten Freispiel fast den Jackpot geknackt hätte. Aber eben nur fast. Bester „Mars Attacks“-Ufokiller war immer noch „17“, dann erst kam „Schae“ mit weitem Abstand auf dem zweiten Platz. Ganz hinten „Gess“, der lernte es nie. Ein schönes Geräusch war das, wenn das Eisen auf das Holz klackte, das kannten die digitalen jungen Leute heute gar nicht mehr. Knud stellte dann immer die Absinth-Flasche auf den Tisch, mit den absehbaren Folgen. Wie Siebzehn nach Hause gekommen war, wusste er nicht mehr. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie darüber gestritten hatten, ob man einen Film, der „2001“ heißt, einen Science-Fiction-Film nennen kann oder nicht. Auf so eine blöde Frage konnte nur Gessler kommen. Da war es aber schon fast helldunkel gewesen draußen.
Es klöterte und rumpelte. Unaufhörlich. Siebzehn hätte am liebsten Ruhäää!!! gebrüllt, aber dazu war er viel zu schwach. Ähnlich wie Luistrenker, der neben ihm vorwurfsvoll gähnte und die Nase verzog, als es nach Rauch zu riechen begann. Siebzehn drehte sich um auf die andere Seite. Versuchte wieder einzuschlafen. Schafe zählen oder Wattewolken oder egal was. Aber die Frühaufsteher gaben keine Ruhe. Neu hinzugekommen war ein scheußlich rotierendes Geräusch wie von einer kaputten Waschmaschine. Es kam näher. Wurde röhrender und lauter. Stand wie ein monotoner, kurbelnder Dauerton in der Luft. Ein Hubschrauber. Siebzehn fühlte sich in seiner Wellness massiv eingeschränkt. Die meisten Herzinfarkte ereigneten sich statistisch gesehen vor zwölf Uhr mittags, wenn die Menschen noch nicht ausgeruht waren. Man musste verdammt aufpassen. Um kein gesundheitliches Risiko einzugehen, versuchte er, die Lärmterroristen zu ignorieren. Aber das ging nicht. Sein Bett vibrierte. Luistrenker vibrierte. Alles vibrierte. Die Welt, ein Dröhnen. Ruhäää!!!
Es war noch nicht einmal elf. Eine Zumutung.
Über ihm kreiselten Fliegen in der Luft. Die schoss er normalerweise mit Männerdeodorant ab. Damit rechneten die Mücken nicht und es roch gut in der Wohnung, doppelter Vorteil. Hubschrauber konnte man mit Mückenspray leider nicht abschiessen. Vielleicht sollte er bei Big G eine Panzerfaust bestellen.
Siebzehn warf ächzend die Beine über das Matrazenlager und rieb sich den Schlaf aus den nachttrüben Augen. Was für ein Tag war heute? Montag? Freitag? Musste er wackern? Oder hatte er heute frei? Schwer zu sagen, sein Hirn war noch nicht betriebsbereit. Mit müden Augen durchflog er sein Schlafarbeitswohnzimmer, auf der Suche nach einem Wachmacher. Neben Luistrenkers Napf lag ein Feuerzeug und eine angebrochene Schachtel Zigaretten, das war schon mal ein Anfang. Er fingerte danach und steckte sich eine an. Zog den Rauch tief ein. Guut. Als er anfing Farben zu sehen, grüßte er den nackten Arsch von Nastassia Kinski, der eingerahmt an der Wand hing, ein altes Poster aus der Zeit, als noch Sexfilme gedreht wurden.
Er sortierte sich. Mittwoch. Heute war Mittwoch, jetzt fiel es ihm ein. Sie hatten gestern die Mars-Meisterschaften ausgetragen, das machten sie immer dienstags, folglich musste heute Mittwoch sein. Doch ein Wackertag, Mist.
Siebzehn warf die angerauchte Zigarette in den Napf. Er erhob sich gähnend und tappste schwerfällig ins Badezimmer. Der Mann im Spiegel sah ihn fragend an, als wollte er sagen: Was machst du denn schon hier? Für so dumme Fragen war so früh am Morgen sein Rechtsanwalt zuständig. Siebzehn klatschte sich etwas Wasser ins Gesicht, zupfte seine Rasta-Mähne breit und wankte in die Küche, wo es nicht ganz so laut war (sie ging nach hinten raus). Seinen Frühstückswhiskey fand er neben dem Tellerberg auf der Spüle. Lobenswert, dass in diesem Haushalt alles seine Ordnung hatte.
Um ersten Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen oder auch nur aus Versehen, knippste er den NDR-Dudelfunk an. Der Whiskey sorgte dafür, dass auch in den entlegensten Regionen seiner Gehirnzellen langsam die Lichter angingen. Siebzehn zog einen alten, verrunkelten Plastikstuhl heran und ließ sich nieder. Bloß keinen Stress (es roch trotzdem verbrannt, sogar hier hinten).
Das Radio erzählte von einem Naziaufmarsch in Dortmund, dem bevorstehenden Papstbesuch in Hamburg, einem abgebrochenen Eisberg in der Antarktis und einem Aufruf der Gewerkschaften für den Erhalt der Achtstundenwoche. Da war Siebzehn schlagartig hellwach.
Acht Stunden! An jedem Tag? Waren die wahnsinnig?
Arbeit.
Mit Arbeit hatte Siebzehn ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Schon als Jugendlicher hätte er lieber ein Praktikum bei der Baader-Meinhof-Gruppe absolviert, als sich von den Bütteln des Arbeitsamts beschwatzen zu lassen. Was wollen sie später denn mal werden? Wo sehen Sie Ihre persönlichen Qualifikationen? Terrorist, hatte er gesagt. Das kam damals nicht so gut an. Es war die Zeit, als sie in Berlin den Bürgermeister in eine Kiste verpackten und in den Apotheken geifernde Rentner unansehliche Schwarzweissfotos durchstrichen. Womit dieser Berufsweg praktisch verbaut war. Abgesehen davon hätte er nicht gewusst, welche Personalstelle der RAF für seine Bewerbung zuständig gewesen wäre. Als nächstes zog er das freie Unternehmertum in Erwägung, aber Bankräuber wurden ihm zu oft erschossen und als Einbrecher war man nie sicher vor schlafenden Omas oder bellenden Pekinesen. Gegen seinen Willen geriet er später trotzdem auf die schiefe Bahn und nahm einen von diesen Scheißjobs an. Ein Elend.
Arbeit war vergeudete Zeit. Niemand brauchte sie, niemand wollte sie. Er selbst war mehrere Jahre in diesem Hamsterrad mitgelaufen und die schweren traumatischen Schäden bezahlte ihm keiner. Schon das frühe Aufstehen machte ihn krank. Dazu diese unsensible Hetze. Aber auf Einzelschicksale oder wissenschaftliche Forschungsergebnisse nahm in diesem Sklaventreiberstaat keiner Rücksicht. Wo doch längst erwiesen war, dass der Fleißige sich nur kopflos in seine Arbeit stürzt und Faulenzer vorher viel länger über ihre Aufgaben nachdenken, was letztlich für viel mehr Wachstum sorgt. „Fortschritt kommt nicht durch Frühaufsteher“, lautete eine Erkenntnis des Schriftstellers und Menschenkenners Robert Heinlein, „Fortschritt entsteht, wenn faule Männer nach einfacheren Wegen suchen, etwas zu tun.“ Diesem Konzept fühlte sich Siebzehn zutiefst verpflichtet, gerade in Zeiten konjunktureller Krisen und struktureller Herausforderungen. Ein Elefant trank auch nicht jeden Tümpel auf einmal leer, der hob sich immer einen Schluck für später auf.
Wenn man diese Elefantenregel auf die Arbeitswelt übertrug, bedeutete das: Zeigen, dass man sich für die Arbeit grundsätzlich interessiert, von ihrer Ausführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber lieber absehen möchte, aus gesundheitlichen Gründen. Siebzehn war pracktisch der Erfinder des Burnout. Obwohl es das Wort damals noch gar nicht gab. Aber die Symptome – Schwindel, Laktoseüberempfindlichkeit, Schlafmangel – kannte er lange bevor ausgelaugte Professorinnen dicke Bücher über ihre Erschöpfung schrieben. Er selbst zog sich in seinen semiaktiven Jahren mehrere Splitterbrüche an der rechten Hand und eine eingedellte Nase zu – weil er morgens in der S-Bahn logischerweise erweise nicht ausgeschlafen war und beim Bremsen auf die Schnauze fiel.
Schädel hatte ihm damals den Mist eingebrockt: einen Job in der Poststelle bei Axel Cäsar. Das reinste Grauen. Schon wenn er morgens diesen Phallus von Verlagshaus sah, kam es ihm hoch. Er laß die Zeitung nicht, aber manchmal war er Ausfahrer, und dann schmiss er die Scheißpacken im Morgengrauen vor Teufelsbrück in die Elbe. Ersäuft Springer! Das fand er ein viel besseres Motto, als das von diesen alten Gammelstudenten.
Trotzdem hatte Hubsi Marcuse schon recht: Wer arbeitete, war ein Mitläufer des kapitalistischen Systems und verdiente kein Mitleid. Oder war das nicht von Marcuse? Egal, irgendwer hatte das jedenfalls gesagt, und in Frankreich packten gekündigte Schwermetaller Bomben aufs Fabrikdach gegen ihre Erschöpfungsdepressionen und den Arbeitsterror der Manager. Die Frogs waren in der Beziehung schon immer weiter gewesen als die Deutschen.
Wer arbeitet, stirbt früher: Diese Warnung müsste groß und deutlich, schwarz eingerahmt, vor allen Firmentoren stehen. Damit die jungen Leute erst gar nicht auf dumme Gedanken kamen. Schon die hellenische Gesellschaft hat körperliche Arbeit verachtet. Und die waren schließlich die Erfinder der Demokratie. Im Japanischen gibt es sogar ein Wort für den Tod durch Arbeit: Karoshi. Das wusste Siebzehn von einem Stammkunden aus Fukushimahausen, der mittlerweile an einem Schlaganfall verschieden war. Als ob sich dafür der ganze Sushi lohnte.
Wie stand schon im Bauernkalender geschrieben: Kühe machen viel Mühe.
Doch natürlich half es nichts, dem Wahn des Arbeitsterrors offen den Kampf anzusagen. Man musste taktisch vorgehen, der Rationalität der Bürozeiten das Primat der Trägheit entgegensetzen, den Feind mit unerwarteten Reaktionen irritieren und Verwirrung stiften. Als gelehriger Schüler von Hubsi Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft und Jack Rosevelts Kampf gegen den digitalen Terror hatte er es in diesem Guerillakampf zu einiger Profession gebracht. Er kannte beispielsweise einige Knöpfe, die sich gar nicht gut mit der Funktionsweise der elektronischen Datenverarbeitung vertrugen, und wenn er Wochenenddienst hatte, pflanzte er Trojaner, die montags zur Mittagskonferenz unentkoppelbar auf einen thailändischen Porno-Tourismus-Service umschaltete.
Dennoch: Es blieb ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Alles nur für einen Gehaltsstreifen mit Steuerabzug und einen Aldi-Schokaladennikolaus am 6. Dezember. Der Tag fing erst richtig an, wenn es auf fünf ging und die sinnlosen acht Stunden vorbei waren. Warum steckte man Leute, die nichts verbrochen hatten, fünf Mal die Woche in ein Gefängnis? Wer war so krank, Arbeit als ein Privileg und nicht als sittliche Belästigung zu empfinden? Was war so toll daran, an jedem verdammten Murmeltiertag um fünf oder um sechs Uhr aufzustehen? Und woher zum Teufel kamen die Unmengen von Kakerlaken, die durch die Heizungsschlitze in der Chefetage krabbelten und dort für beträchtliches Aufsehnen sorgten, wie dem anschwellenden Sekretärinnengekreische aus den oberen Stockwerken zu entnehmen war?
Das alles waren Fragen, die ihn beschäftigten, als er seine Kündigung unterschrieb. Mit einer einzigen Handbewegung räumte er seinen Schreibtisch auf. Durch den neunten Stock, in dem die Ölköpfe saßen, zogen Schwaden von Senfgas. Das machte die Kakerlaken noch mehr verrückt. Die Server des Verlags waren deutschlandweit blockiert, bis auf das Live-Geficke aus Thailand. Als Siebzehn ging, stöhnte es aus allen Stockwerken. Was für ein widerwärtiger Sauladen.
Das alles war drei Jahre her. Seitdem hatte er ein günstigeres Einkommen gefunden, mit mehr Freizeit und einem viel besseren Lohn-Leistungs-Verhältnis. Offiziell war er natürlich arbeitslos. Das brachte ein paar Kröten mehr ein. Obwohl er auf die längst nicht mehr angewiesen war. Aber als Befürworter des Sozialstaats hielt er sich eisern an die Regeln und sicherte damit den Erhalt wichiger Jobs im Arbeitsamt. Tief in seinem Herzen war er ein guter Mensch. Wenn man ihn nur ausschlafen ließ.
Was an diesem Morgen dank der Einmischung der Frühaufsteher so ganz und gar nicht funktioniert hatte. Aber der Frühstücks-Whiskey stimmte ihn versöhnlich und so glitt er langsam und am Ende beschwerdenfrei in einen neuen Tag, der ihn mit zwitscherten Vögeln, einem strahlend blauen Himmel, einem röhrenden Helikopter und einem stechenden Brandgeruch empfing. Der ihn langsam etwas irritierte. Er schnupperte. Das roch eindeutig nicht nach Hafengeburtstag oder den Müllbeuteln aus der Eulen-Klause nebenan. Anscheinend brannte es wirklich. Der Gedanke kam in seinem Kopf an wie ein Zug mit sechsstündiger Verspätung. Feuer? Wo?
Siebzehn erhob sich und schlappte durch den Flur, ohne über die Staubflusen auf dem abgewetzten Teppichboden zu stolpern, dessen beiger Grundton mit den dunklen Brandlöchern vergangener Wacker-Verköstigungen harmonierte. Bei Gelegenheit sollte er vielleicht einmal klar Schiff machen. Vorausgesetzt, er fand die Zeit dazu. Seit er nicht mehr arbeitete, war er ein vielbeschäftigter Mann. Aufräumen konnte er höchstens am Wochenende, aber da musste er sich ausruhen, denn als Alleinunternehmer schenkte ihm keiner was. Und Frauen, die sich über Krümel oder alte Socken im Bett aufregten, flogen bei ihm sowieso raus. So what?
Er stieß die Tür zum Wohnschlafzimmer auf, so heftig, dass der neurotische Luistrenker in seinen Laken aufschreckte und wütend fauchte. Luistrenker war ihm vor einem Jahr zugelaufen oder besser zugeflogen. Er saß damals auf einer Parkbank am Balkon von Altona und wartete auf einen Kunden, der sich verspätete. Plötzlich ratschte es über ihm in den Ästen und ein haariges, dunkles Etwas fiel ihm vor die Füße. Erst dachte Siebzehn, ein dicker Vogel wäre abgestürzt, aber dann sah er, dass es eine dicke Katze war. Das Tier hatte sich bei dem Sturz verletzt und zog die rechte Vorderpfote nach. Jeder freilaufende Mistköter, und davon gab es im Jenischpark jede Menge, hätte das bemitleidenswerte Geschöpf mit einem Haps erledigt. Das konnte Siebzehn nicht zulassen. Er nahm den Dicken mit nach Hause und pflegte ihn gesund. Dabei stellte sich heraus, dass die Katze gar keine Katze war, sondern ein kastrierter Kater. Wahrscheinlich konnte deswegen nicht mehr richtig klettern. Siebzehn taufte das Opfer brutaler Emanzengewalt auf den Namen Luistrenker und gewährte ihm eine Bleibe. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, das war es bis heute nicht. Aber wenigstens regte sich Luistrenker nicht über stinkende Socken und Zigarettenkippen im Katzenklo auf.
Himmelarsch, da brannte es wirklich, aber wie! Siebzehn stürzte ans Fenster und kam sich vor wie im Kino. Aus dem Dachstuhl gegenüber schlugen meterhohe Flammen in die Luft. Funkenregen sprühten und drohten, auf die Nachbargebäude überzugreifen. Eine Brandschatzung sondersgleichen. Warum hatten sie ihn nicht viel früher geweckt?
Das dreistöckige Mietshaus stand seit dem letzten Winter leer und war im Frühjahr gedämmt und neu angemalt worden. Dann tat sich lange Zeit gar nichts. Sogar das Gerüst von Gerüstbau Hinrichs war monatelang stehen geblieben, wahrscheinlich machte sich das besser, wenn man überteuerte Eigentumswohungen auf den Markt schob. Trotzdem war keiner eingezogen. Gut möglich, dass der Besitzer daraus die Konsequenzen gezogen hatte. Eigenbedarf mal anders.
Die Feuerwehr spritzte aus allen Rohren, Polizisten sicherten die enge Eulenstraße in beide Richtungen ab und drängelten die Schaulustigen zurück. Unverständlich, diese Gaffermeute. Wie konnte man sich nur so schamlos am Elend wildfremder Menschen delektieren? Siebzehn steckte sich eine Zigarette an. Sehr zum Missfallen von Luistrenker, der verärgert fauchte und sich in die Küche trollte. Die typischen Machtspiele von Katzen. Sollte man einfach ignorieren, sonst wurden die Biester eigensinnig und im Alter bösartig. Aus erzieherischen Gründen trat er den Fressnapf weg, der noch halb mit Kitekatstampf gefüllt war, das kotbraun den Teppichrestboden sprenkelte.
Laut krachend stürzte der Dachfirst ein, schwarze Rauchschwaden stiegen auf. Uiuiui, wenn das mal gut ging. Siebzehn zog den Chefsessel zu sicher herüber und postierte ihn vor dem Fenster. So saß er bequem und konnte die Arme auf das Fensterbrett legen. Fast wie ein alter Mann, dachte er in einem Sekundenbruchteil kritischer Selbstreflektion, aber er war ja auch schon 49 XXL und außerdem reflektierte er nicht so gern.
„Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen...“, eierte die Stimme von Hans-Dietrich Genscher ins Prager Gekreische. Scheiße, sein Handy. Wo lag das Ding bloß? „...dass Sie heute nicht ausreissen können. War alles nur ein Scherz von Helmut und mir. Hohohohoho!“
Er brauchte dringend einen neuen Klingelton. Alles zu seiner Zeit. Er sprang auf. Erst mal musste er das Handy überhaupt finden.
„Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen...“
Vielleicht unter dem Klamottenhaufen neben den CD-Regalen? Irgendwie genscherte es auch der Richtung. Hemden und Hosen flogen in alle Richtungen, aber kein Handy in Sicht. Wieso waren diese Sprechschachteln auch so klein?
„...dass Sie heute nicht ausreisen können...“
Stopp, da sah er es. Es war eigentlich da, wo es immer lag. Auf dem Nachttischschuhkasten neben dem Aschenbecher (mit der Aufschrift: „Rauchen tötet Vegetarier“). Siebzehn schnappte sich den Hörknochen und bezog wieder seinen Beobachtungsposten auf dem Chefsessel.
„...war alles nur ein Witz. Von Helmut und...“
„Los! Sag was!“ Diese Art der Anrede hatte er von den Spaniern, da hieß es übersetzt „Digame?!“ und hielt die Erinnerung an die Inquisition wach.
„Gessler hier“, erklang am anderen Ende die alarmistische Stimme des einzigen Hamburger Frührentners mit vier verschiedenen Jobs. „Hömma, gut dass du da bist. Ich bin im Krankenhaus...“
Siebzehn wischte sich die Dreadlocks von den Augen, um besser hören zu können. Er hatte gerade verstanden, Gessler würde aus dem Krankenhaus anrufen. Voll Karoshi. „Oh“, sagte er. Es war ein „Oh“, das überrascht klingen sollte, aber nur der Überbrückung diente, bis das Fräulein vom Amt in seinem Kopf den richtigen Stecker gefunden hatte. Was noch eine Weile dauernd konnte oder zwei.
Gessler war dafür geradezu unerträglich wach: „Du musst herkommen, Menschenkind!“, schrie er. „Pastor ist im Vollsuff in ein Auto gelaufen. Ausgerechnet an seinem Geburtstag! Er nullt doch heute. Mannomann! Aber jetzt braucht er Mehl! Sonst gibt es eine Katastrophe!“
„Mehl?“, fragte Siebzehn begriffstutzig. „Was denn für Mehl?“ Seine Empfangsanlage war noch nicht in Betrieb, es dauerte eine Weile, bis der Server hochgefahren war.
„Hömma, du weißt schon. Das was er braucht, wenn er WACH wird. Im Moment operieren sie noch an ihm rum, aber wenn er zu sich kommt, ist er seit Stunden offline. Dann dreht er vollkommen durch.“
Siebzehn kapierte langsam, was Gessler mit Mehl meinte. Eine etwas unglückliche, wenn nicht dümmliche Paraphrasierung für Markenprodukte aus deutschem Anbau. Aber wie sollte man auch Phantasie von einem Nichtraucher erwarten?
„Es gibt kein Mehl. Der Bäcker hat zu“, distanzierte sich Siebzehn in aller Deutlichkeit. Man wusste ja nie, wer mithörte. „Sag Pastor, er soll es so lang mit Smarties versuchen.“
„Bist du verrückt geworden?“ Gessler tickte völlig aus. „Kapier doch endlich! Du musst sofort hierherkommen. Der ist imstande und haut den ganzen Laden zu Klump.“
Daran zweifelte Siebzehn keine Sekunde. Wenn Pastor offline war, hielten ihn keine sieben Pferde auf. Trotzdem fühlte er sich außerstande für jede Form von Frühsport oder Morgengymnastik. „Tut mir leid, ich kann nicht kommen. Bei mir brennts“, sagte er wahrheitsgemäß. „Lichterloh.“ Draußen zog weißer Rauch auf. Wohl ein schlechtes Zeichen.
Das Gebrülle aus dem Hörer wurde so laut, dass Siebzehn das Handy in seine Unterhose steckte. Er gähnte und beobachtete aus verklebten Augen, wie gegenüber alle Fenster des dritten Stocks zerbarsten. Super-Spezialeffekte. Gessler plärrte unentwegt weiter. Kratzte etwas an den Eiern, war aber kein unangenehmes Gefühl. Siebzehn steckte sich eine Zigarette an. Als er sie halb aufgeraucht hatte, fühlte er nach, ob Gessler immer noch da war. Er verstand nur die letzten Worte: „..garantiere für nichts. Das ist ein Notruf, du Blödmann! Hörst du mir überhaupt zu?!“
„Jaja.“ Siebzehns vernebeltes Hirn wünschte sich zurück auf die Matraze, vergraben unter allen Daunendecken der Welt, zumindest bis zwölf Uhr mittags. Aber diese Drangsalierer in der Außenwelt kannten einfach keine Ladenschlusszeiten. „Wo bist du nochmal?“, fragte er, nur um einigermaßen auf Funk zu bleiben.
„Im Kran-ken-haus!“ Gesslers Stimme schnappte schier über. „Hier liegen lauter Halbtote rum! Und Omas mit Schläuchen untendran!“
„Nicht schön. Trink da nicht draus.“ Das sollte ein Scherz sein, aber er zündete nicht.
„Kann ich mir gerade noch verkneifen“, bellte es barsch zurück. „Ich steh nicht auf Omapisse. Also, was ist? Kommst du?“
„Na klar“, murmelte Siebzehn, während er in der Fernsehzeitung blätterte, die der Student im Erdgeschoss abonniert hatte. Am Sonntag gab es „Marvel‘s The Avengers“ auf RTL II. „Mach dir keine Sorgen. Wird alles easy. Bis gleich.“ Mit Thor, Captain America und Iron Man. „Ein Superhelden-Dampfhammer der Extraklasse“, schrieb TV-Spielfilm.
„Halt!“ kreischte Gessler. „Du hast gar nicht gefragt, was für ein Krankenhaus!“
„Hab ich nicht?“
„Nein.“
„In Altona?“
„Eben nicht. Eppendorf. Sie haben uns nach Eppendorf gepackt.“
Eppendorf. Das war die Gegend tief im Westen von Hamburg, ein Durchgangslager zum Ohlsdorfer Friedhof. Im Volksmund Depression-City genannt. Man musste den Buchstaben „D“ gar nicht vor den Ortsnamen setzen, um nur ansatzweise zu erahnen, wie grausam ein Leben in Isolationsfolter und ewiger Verdunklung sein muss (Wenn Sie je mit dem 20er oder 25er am Eppendorfer Marktplatz halten, steigen Sie bloß nicht aus). So gesehen ging Eppendorf gar nicht. Außerdem hatte er – wenn er sich recht erinnerte – einen Termin bei den Pferdekutschern in Hamburg-Horn.
Siebzehn blätterte zurück. Wann fing noch mal die Übertragung der Apothekerrundfahrt auf Sport-Quark an?
„Hallo?“, quakte Gessler am anderen Ende. „Hömma, bist du noch da?“
Siebzehn stöhnte. Was für eine Nervensäge. „Jaja“, sagte er, während er mit verkniffenen Augen versuchte, das Kleingedruckte auf der Spalte des Sportkanals zu entziffern. „Eppendorf, verstehe“, murmelte er. „Wie geht’s ihm denn?“
„Wem?“
„Na, Pastor.“
„Die Beine sind grün und blau. Was weiß ich? Mir sagt ja keiner was.“
„Aber ist alles noch dran?“
„Ich glaube, das würde den Ärzten schlecht bekommen, wenn sie ihm irgendwas absägen.“ Gessler wurde ungeduldig. „Kommst du jetzt oder nicht?“
Da. Zehn Uhr. Beginn der siebten Etappe. Das hieß, sie fuhren schon. Siebzehn fummelte nach der Fernbedienung. „Das ist mir alles zu transparent, ich überleg mir das“, sagte er kurz angebunden. „Richte Pastor schöne Grüße aus und halte die Stellung. Alles andere besprechen wir in der Krähe.“
Er hörte Gessler noch zeteren, drückte ihn aber weg und warf das Handy auf die Frühstücksschuhschachtel, wo es hingehörte. Der Bildschirm flammte auf und zeigte Drogisten im strömenden Regen, die sich eine steile Bergpassage hochquälten. Wunderbar. Er lehnte sich bequem im Chefsessel zurück. Siebzehn liebte Sport (obwohl man ihm das nicht ansah).
Weil das Feuer gegenüber aufgrund des beherzten Eingreifens der freiwilligen Pyromanen in den letzten Zuckungen lag und wohl kaum noch auf benachbarte Grundstücke überzugreifen vermochte, richtete Siebzehn seine Aufmerksamkeit auf den Zwanzig-Zoll-HDXL-Schlankfernseher, den er bei einem Gegengeschäft mit Big G abgefischt hatte. Eigentlich war die Glotze viel zu groß für den den knapp zwanzig Quadratmeter großen Raum, den er gleichzeitig als Schlafzimmer, Büro und Meditationszentrum benutzte. Obwohl er nie im klassischen Sinn meditierte. Sitzen und Sinnen, dann womöglich Schauen und Schaffen, das waren so seine Übungen. Also nichts was den Kreislauf zu sehr beanspruchte. In seinem Alter sollte man lieber die eine oder andere Zigarette mehr rauchen, als sich unnötig zu überanstrengen. Das meinte auch Doc Carstensen, der Arbeitnehmerarzt im Viertel, ein entschiedener Verfechter des Passivarbeitens und der Sportverweigerung. Der Doc war es auch gewesen, der Siebzehn den Tipp gegeben hatte, sich im Fernsehen zur Entspannung Golfturniere, Skischanzenspringereien, Marathonwettläufe oder andere komplett sinnlose Sportarten anzusehen. Das entschlackte und sorgte für eine geregelte Blutzirkulation. Und nichts war Siebzehn wichtiger als eine ordentliche Passivgesundheit.
Seither war er ein Fan der Tour de Trance, eines sportlichen Unfugs, der zwar gähnend langweilig war, aber aufgrund ihrer Nähe zur Dogenkriminalität über einen kollegialen Reiz verfügte. Mittlerweile hielt er die Übertragungen der Frankreich-Rundfahrt gar für eine der besten Kultursendungen des deutschen Fernsehens. Wo sonst erfuhr man, dass in der Bretagne die Fischwirtschaft dahinsiecht, dass das größte manuell betriebene Glockenspiel in der Provence steht oder in den südfranzösischen Wäldern wieder freilebende Bären ihr Unwesen treiben. Auch die Fachbegriffe der Radlersprache wie Windkanten, Kreuzgängeln, Schiebeschub oder Kernmuffenoptimierung übten eine kuriose Faszination auf ihn aus. Am schönsten war es aber natürlich, wenn einer mit dem Rad nicht die Kurve kriegte und ungebremst in die Botanik kachelte. Noch besser waren Massenkollisionen im Zielsprint.
Dabei war Siebzehn im Grunde seines Herzens Fußballfan. St. Pauli-Dauerkartenbesitzer seit der Besetzung der Hafenstraße, Weltpokalsiegerbesieger, Tabellenführer der ersten Bundesliga am 12. August 1995 und Erster der Herzen in Hamburg hinter der Mannschaft mit dem Stadion neben der Müllverbrennungsanlage. Dazwischen gab es einige wenige Niederlagen. Geschenkt. Deutscher Meister konnte nur der FC St. Pauli werden. Das sahen die Marcel Reifs dieser Welt nur noch nicht voraus. Aber jetzt war Sommerpause, und im Fernsehen liefen nur Testspiele oder Freundschaftsbegegnungen zwischen Hertha BSC und Dunlop Olpe, ganz zu schweigen von der Simulations-WM der Frauen (nie war Zeitlupe überflüssiger). Es war noch lange hin bis zum Bundesligastart. Irgendwie musste man die Zeit überbrücken und da war die Frog-Tour mit ihren schicken AKW-Bildern und hohen Bergen gar kein schlechtes Methadon.
Spannend fand er vor allem die Zuschauerfragen. Warum bei der Tour so wenig Schwarze mitfahren. Wie die Sattelstützen berechnet werden. Ob Pinkelpausen mitgezählt werden. Er rief manchmal selbst im Studio an, und fragte, ob bei Schussfahrten ins Tal die Gangschaltung ausgestellt werden muss, was die französische Polizei macht, wenn bei Ortsdurchfahrten die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschritten wird oder seit wann Jan Ullrich nicht mehr mitfährt? Diese Form des interaktiven Fernsehens nannte er Gonzo-Lotto und er betrieb es mit wachsender Begeisterung. Erst vor kurzem hatte er in der Phoenix-Nachgefragt-Runde des ARD-Presseclubs angerufen, und den Alleswisser-Zerberus der Trockenhauben-Illustrierten Stern live zum Thema Casino-Kapitalismus gefragt, wieso er so ein Geheimnis darum machte, dass er auf der Payroll des Industriedachverbands der deutschen Dax-Unternehmen stand. Das gab ein Gebrülle, sagenhaft! Obwohl alles frei erfunden war. Oder gut geraten. Jedenfalls bekam der Stern-Heini einen Riesenärger und Siebzehn rief noch am selben Nachmittag in der „Gegengerade“-Talkshow von Sport 1 an, wo er verriet, dass Bastian Schweinsteiger ein gemeinsames Schwarzgeldkonto mit Joachim Löw hatte.
Werbepause. Er zappte weg und landete in einer Phoenix-Diskussionsrunde mit dem Thema „Starke Frau sucht schwachen Mann – Der Wandel des Beuteschemas?“ Eine Frau mit sehr langem Hals sagte, die Lebensläufe zwischen Erwerbsarbeit und Kinderkriegen müßten dringend entzerrt werden. Seine anderen Lieblingssendungen waren „Exaktes Hellsehen mit Hilli“ auf Astro-TV („Ich kann sehen bei dir berufliche Veränderungen Ende Oktober.“) und die Ratgeber-Show „Domian“ nachts um eins auf WDR 3. Da hockte mitten in der Nacht live ein schnurrender Schmuseonkel und tröste schniefende Teenager, die seit fünf Tagen Single waren oder an anderen psychischen Erkrankungen litten. Siebzehn hatte auch einmal angerufen, und sich als homosexueller Bundesligaspieler mit Erektionsproblemen ausgegeben. Im Verlauf des Gesprächs mit Domian gab er zu, dass er sich heimlich ritzte und gern kleine Jungs in Bayern-München-Trikots strangulierte. Daraufhin flog er kommentarlos aus der Leitung. Die hatten auch gar keinen Humor, nachts im Fernsehen. Da rief er lieber weiter bei Sportsendungen an, die erklärten ihm wenigstens, warum es so wenig Schwarze mit Gangschaltung gab.
Siebzehn schaltete um God-TV, ein Sender, den er wegen seines elaborierten Bildungsauftrags schätzte. Eine Art Fischer-Chor sang vor majestätischer Bergkulisse das Lied vom letzten Sähmann: „Sähmann, sähe, ich sehe dich, wir sind dein Korn, wir sind dein Kind, Sähmann, oh Sähmann, sähe nur geschwind.“
Das gefiel Siebzehn. Diese Christen hatten von allen TV-Entertainern die abgefahrensten Show-Ideen. Ein Seemann im Gebirge, war das nicht ein geradezu Sloterdeijksches Volumengleichnis über den Menschen, der in dieser Welt geworfen nach seinem Hafen sucht, aber ihn auf der Zugspitze und dem Großen Brocken nirgends finden kann? Was für ein Schicksalsdrama. Siebzehn konnte sich in den Seemann gut hineinfühlen, denn ähnlich war es ihm bei Springer ergangen.
Siebzehn hieß eigentlich Karl-Heinz Bredstedt, stammte aus Bad Segeberg und wollte seit seiner ersten Rory-Gallagher-Platte Rockstar werden. Das klappte nicht (aus den verschiedensten Gründen, einer davon war, dass er auf der Gitarre über das erste Riff von Black Sabbaths „Iron Man“ nie hinauskam). Die Liebe verschlug ihn nach der Reichswehr Hamburg, wo er den Kapitän der Titanic kennenlernte. Schädel arbeitete in der Poststelle des Springer-Konzerns, und nachdem einer seiner Kuriere sich totgesoffen hatte, verschaffte er seinem Kumpel aus Bad Segeberg den Job. Seitdem hieß Karl-Heinz Bredstedt Siebzehn, denn Siebzehn war die Nummer, unter der er fuhr. Die Liebe zerschlug sich, der Job auch. Rory Gallagher hatte keine Lust mehr, jeden Tag bis in die Puppen von der Kaiser-Wilhelm-Straße in die Druckerei nach Ahrensburg zu kurven. Er schmiss hin. Nur der Name Siebzehn, der blieb an ihm kleben.
Schädel kündigte wenig später ebenfalls. Kurz darauf brannte vor den Gourmettempeln in der Friedensalle der erste Jeep Cherokee. Zufällig gehörte er dem Chefredakteur der Bild-Zeitung. Nach den Anti-G-8-Ausschreitungen testeten sie auch andere Wagentypen, ohne je ernsthafte Aktivistenkarrieren anzustreben. Obwohl sie hin und wieder Scheiben einwarfen, aber nur die von Ketten. Sie nannten das energetische Ertüchtigung. Ein klares Ziel verfolgten sie mit ihren Aktionen nicht. Sie wollten nur, dass es für die anderen langsam ungemütlich wird. Und weil immer mehr Anwälte, Manager und Makler in Ottensen wohnten, ging ihnen die freie Wahl der Luxusschlitten nie aus. Sie wollten schließlich nicht die ganze Zeit auf der faulen Haut liegen.
Siebzehn hatte mittlerweile zur Tour zurückgeschaltet, die Werbung war zu Ende. Oh, das war steil, verdammt steil. Ein Berg der höchsten Kategorie, und dann auch noch bei dem Dreckswetter. Musste irrsinnig anstrengend sein. Siebzehn hatte einmal versucht, mit einem gefundenen Fahrrad den Sühlberg hochzukommen, aber schon nach halber Strecke stieg er mit hängender Zunge vom Sattel. Die Leistungsapotheker im Fernsehen kannten solche Probleme natürlich nicht. Die fuhren mit Eigenbenzin. Kein Mensch schaffte über Stunden solche Berge ohne Verstärker im Saft. Obwohl jetzt trotzdem einige ins Trudeln gerieten. Da, der erste fiel um, der zweite, da, ein dritter gab auf, wegen Erschöpfung. Dummerweise sah man kaum noch etwas. Der Schlussanstieg nach L’Alp d’Huez führte durch eine geschlossene Nebelwand, die das Peleton komplett einhüllte. Zustände wie am Nanga Parbat. Für die Attraktivität des Rennens war das gut. Für seine persönliche Statistik weniger.
Er hatte ausgerechnet, dass er in den letzten Tagen 2348 Kilometer Tour de France gesehen hatte, die Kilometer die er verschlafen hatte mitgerechnet. Eine reife Leistung, wie er fand. Da sollte man eigentlich eine bessere Übertragungsqualität verlangen können. In allen Krimis gab es heute Nachtsichtgeräte, die den Mensch als roten Hitzefleck zeigten. Sogar Bomben und Raketen hatten mittlerweile ihre eigenen Bordkameras, die bei noch so schlechtem Wetter aus subjektiver Anflugperspektive zeigten, wie Al-Kaida-Jugendherbergen oder Giftgasarsenale superscharf in die Luft flogen. Und da sollte es nicht möglich sein, saubere Bilder von der Tour de France zu liefern? Wegen der paar Wolken? Jamais, mon President!
Nein, da steckte etwas ganz anderes dahinter. Siebzehn glaubte nicht an Verschwörungstheorien, aber den Frogs traute er alles zu. Franzosen waren Halsabschneider. Vorhin hatte noch der Neuseeländer geführt, knapp vor den Bauernkreditfahrern. Die Bauernkreditfahrer waren die Frogs, die kannten sich da oben aus. Für die war es ein Leichtes, ortsunkundige Kiwis auf einen Feldweg umzuleiten, der erst 800 Meter tiefer weiter ging. Diesen heimtückischen Froschfressern traute er alles zu.
Der Bildschirm zeigte weiter grau in grau. Die Regie schaltete zur Talstation um, wo blasse Konturen der Zieleinfahrt zu erkennen waren. Siebzehn steckte sich eine Lulle an, zog tief durch und legte etwas Morgengymnastik ein. Linkes Bein hoch, rechtes Bein hoch, dazu den Nacken kreiseln lassen. Bevor es knackte, stellte er die Übung ein.
Dabei beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass er beobachtet wurde. Und tatsächlich, Luistrenker, der psychopathische Miesepeter, hatte sich wieder in den Raum geschlichen, wohl auf der Suche nach seinem Fressnapf, der verunglückt zwischen dem Erich-Honecker-Gedächtnisaltar und den vertrockneten Pizzaschachteln vom letzten Samstag lag. Siebzehn warf einen alten Schlappen, der den Kater um Haaresbreite verfehlte. Das Biest fauchte wütend und vollführte mit gestauchtem Buckel einen Zweimetersatz zur Seite.
„Hau ab, du Scheißvieh“, brüllte Siebzehn, der so früh am Morgen leicht reizbar war und von seinem Asylbewohner Rücksicht erwarten durfte. Sonst setzte es ganz schnell einen Arschtritt.
Leicht verstimmt konzentrierte er sich wieder auf die Radler, die den Kamm überwunden hatten und im rasenden Tempo auf der Rückseite des Berges die Nebelwände durchschnitten. Der Neuseeländer war nirgends mehr zu sehen. Dafür lag plötzlich der hagere Spanier, den sie Speedy Gonzales nannten, in Front. Von zehn Sprintwertungen der vorherigen Etappen hatte er acht gewonnen, was für saubere Assists der medizinischen Abteilung sprach. Einer von den Franzosen klebte an seinem Hinterrad und ließ sich nicht abschütteln. Nur noch zwei Kilometer bis zum Ziel, und es ging die ganze Zeit bergab. Aber in gefährlichen Serpentinen und auf nassem Pflaster. Wie schnell konnte da etwas passieren. Siebzehn verfolgte gebannt den Spurt von Speedy Gonzales, der sich Meter für Meter absetzte und trotz des peitschenden Regens die Kurven in den gefährlichsten Winkeln schnitt. Das Motorrad mit dem Kameramann auf dem Sozius kam kaum noch nach. Was für ein Wahnsinn. Der Kerl war uneinholbar, zwischen dem Spanier und dem verfolgenden Frog klafften mittlerweile mindestens drei Radlängen. Was auch immer Speedy Gonzales im Tank hatte, Dr. Fuentes und seine Pillendreher hatten sich wieder einmal selbst übertroffen.
Noch fünfzig, vierzig, dreißig Meter. Dann die Zieleinfahrt. Speedy Gonzales war der Sieger der zwölften Etappe der Tour de Trance. Rotgelbe Fahnen wurden geschwenkt, die Tour hatte einen neuen Träger des gelben Trikots und ein Hubschrauber flog den Neuseeländer ins Krankenhaus von Avoriaz. Am nächsten Tag der nächste Berg, mit etwas Glück sollte das Wetter sogar noch schlechter werden. Très Beaujolais.
Siebzehn warf den heißen Stummel der Lulle aus dem Fenster und rüstete sich innerlich für einen neuen Tag. Der ganz schön Scheiße angefangen hatte. Pastor, dieser Trottel. Rannte vor ein Auto. Diesen verrückten Polen konnte man auch keine Sekunde aus den Augen lassen. Die letzten drei Wochen war er trocken gewesen, aber Doc Carstensen meinte, um seine Leberwerte aszudrucken, bräuchte er jedesmal eine neue Papierrolle. Dabei war Pastor nicht mal versichert. Sollte die sich im Krankenhaus damit rumschlagen. Siebzehn fühlte sich außerstande, in seinem geschwächten Zustand eine Weltreise nach Eppendorf anzutreten. Und dann noch in ein Krankenhaus. Dicke Weiber in weißen Kitteln bereiteten ihm Bluthochdruck, der amöbenhafte Geruch in den Gängen war schlecht für seine Haut und man hörte immer von diesen giftigen Ebola-Keimen in der Cafeteria und den Raucherzonen. Er hatte eine andere Idee.
Zehn Minuten später war die Sache geregelt. Dem Taxifahrer sagte er, dass sein Großvater schon leicht dement war, aber für eine Flasche Eierlikör von seinem Enkel bestimmt ein gutes Trinkgeld springen lassen würde. Dann spratzte er Luistrenker eine Thunfischhagebuttenschleim in den ungewaschenen Fressnapf und begab sich auf Patrouille durch das Viertel.
Auf der Straße roch es nach geplatzen Müllbeuteln und frischem Mutterkuchen.
*
Wir lassen uns unser Freiräume nicht klauen. Mehr Geld für offene Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien in Hamburg.“
Das Transparent hing vor der Motte, einem Kulturzentrum in Hamburg-Ottensen, in dem arbeitslose Theatergruppen gastierten und Dritteweltmusiker Rache für die koloniale Knechtung vergangener Jahrhunderte nahmen. Der Rauch war mittlerweile abgezogen, die Feuerwehr rollte ihre Schläuche ein, bei einem der Immobilienhändler an der Alster schrillte jetzt wahrscheinlich das rote Telefon.
Siebzehn trottete über die Eulenstraße, vorbei am „Leaf“ (ein Veganer-Restaurant, vor dem sie letztens einen Kübel Schweineblut ausgekippt hatten) und dem Wucher-Gourmet-Schuppen „Große Brunnenstraße 19“ (ein Lammfilet an Rosmarienkartoffeln und Selleriedipp, 18 Euro 99, fast geschenkt!), in der es früher ganz normale Hamburger Hausmannskost und Labskaus hoch und runter gab. Er überlegte, was die von der Motte wohl unter „offenen Angeboten“ verstanden. Gab es auch geschlossene Angebote? Machte da jemand die Tür auf und zu, oder wie sollte man sich das vorstellen? Wieso schrieben sie nicht gleich „billige Angebote“, das war doch wohl gemeint. Klang wahrscheinlich zu ideologisch. Damit machte man sich in diesem bürgerlichen Wohnviertel verdächtig. Der Aufstand gegen zu hohe Mieten, leerstehenden Wohnraum oder NPD-Demos am Altonaer Blutsonntag sollte selbstverständlich geführt werden, aber bitte innerhalb des Rahmens. Wir sind doch hier nicht bei den Räubern. Nee, aber bei grünen Oberstufenlehrern. Siebzehn kannte das Pack, das im Plenum der Motte hockte. Wegen solchen Lurchen würde es sich ernsthaft lohnen, CDU zu wählen. Nur damit man ihr blödes Geschwätz nicht mehr hören musste.
Vor Teufels Küche kam ihm Fatih entgegen. Mit der Schauspielerin Nina Petri an seiner Seite. Die wohnte auch ums Eck. Siebzehn grüßte kurz. In Ottensen wohnten eine Menge Promis, Hannelore Hoger mit ihrem Bonanza-Rad, Peter Franke, der meistens im Roth Hof hielt, Peter Lohmeyer, den es aber eher selten aus dem „Pudel“ unten an der Elbe spülte, und natürlich die Fatih-Akin-Gang um Moritz, Adam und Chico. Allerdings gehörte es in Ottensen zum guten Ton, um diese Filmpeople kein sonderliches Aufsehen zu machen. Man kannte sich vom sehen, das reichte. Obwohl Siebzehn und Schädel Fatih sogar etwas besser kannten, denn sie hatten in einer Gaststättenszene von „Soul Kitchen“ am Tisch gleich neben der Kamera gesessen. Das verbindet. Fatih winkte erkennend zurück, Siebzehn nickte und schlurfte weiter.
Wahrscheinlich fragte sich Nina Petri, wer dieser gutaussehende Mann war, der mitten im Sommer so eine dicke Lederjacke trug.
Am Spritzenplatz wankte ein Betrunkener aus Möller’s Gaststätte und verkündete lauthals, dass die Erde in exakt drei Stunden untergeht. Seltsam war, dass er weder Hose noch Unterhose trug, dafür ein blütenweißes Hemd und einen karierten Schlips, als hätte er erst gestern wichtige Verhandlungen mit der Deutschen Bank geführt (wenn Cash bezahlt wurde, achte man bei Möller nicht auf Äußerlichkeiten). Eine rothaarige Frau stürzte ihm hinterher, immerhin angekleidet, aber noch betrunkener, und dem Hosenlosen in wenig Zuneigung verbunden. Es entspann sich ein lauter Disput, der sich um ein unbezahltes Kind, Mietschulden und eine Susie drehte, die der Rothaarigen lieber nicht mehr unter die Augen kommen sollte. Einn normaler Ehestreit, nur mit dem Unterschied, dass er in aller Öffentlichkeit auf dem Spritzenplatz ausgetragen wurde und beide zu besoffen waren, um sich verprügeln zu können.
Siebzehn schob an dem krakeelenden Pärchen vorbei und passierte die gesichtslose Zaratomtailorstarbuck-Ödniss der Ottenser Hauptstraße. Die Schreierei hinter ihm ging weiter, vielleicht war Susie dazu gekommen. Manchmal war Siebzehn richtig froh, dass er in den gefährlichen Jahren frauenlos geblieben war. Am Ende hätte er sonst auch so eine unegale Kreischfurie am Hals. Nicht auszudenken. Ihm reichte schon Luistrenker.
An der Beisser-Metzgerei erregte ein Stand seine Aufmerksamkeit. „Wem gehört die Stadt?“, fragte es von einem riesigen roten Transparent. Daneben Plakate mit Inschriften wie „Weg mit Luxusbauten“ und „Wir wollen keine Yuppies in unserem Viertel.“ Dass es so etwas noch gab. Als ob die Yuppies mit ihren Designershops und Kettenboutiquen nicht längst ganz Ottensen in ihren Besitz genommen hätten. Siebzehn trat trotzdem näher, neugierig, auch ein bisschen sentimental berührt. Die jungen Leute am Stand trugen T-Shirts mit „Miethaie raus, Migranten rein“-Aufdruck. Sie hätten Siebzehns Söhne oder Töchter sein können, mit ihren bunten Haaren und Anschraubern auf den Lippen, die furchtbar beim Küssen stören mussten. Ob sie die vorher abnahmen? Nicht, dass ihn diese Frage furchtbar beschäftigte, aber man machte sich halt so seine Gedanken.
Auf dem Tisch lagen die üblichen „Bundeswehr raus aus dem Iran“-Sticker und Anti-Hartz-IV-Flyer. Er griff nach einem der Flugblätter. „Hamburg wird luxussaniert,“ laß er. „In der Bergstraße, die einmal Hamburgs erste Fußgängerzone war, sind die Mieten dank des Ikea-Baus um bis zu 70 Prozent gestiegen. Die kleinen Läden machen dicht, die alten Einwohner werden verdrängt. Wir weigern uns, diese Stadt in Marketing-Kategorien pressen zu lassen. Wir glauben: Eure ,Wachsende Stadt‘ ist in Wahrheit eine segredierende Stadt, wie im 19. Jahrhundert: Die Promenaden den Gutsituierten, dem Pöbel die Mietskasernen außerhalb. Wir fordern: Bezahlbarer Wohnraum für alle! Wir stellen die Frage, die in den Städten heute auch eine Frage von Territorialkämpfen ist. Es geht darum, Orte zu erobern und zu verteidigen, die das Leben in dieser Stadt auch für die lebenswert machen, die nicht zur Zielgruppe der ,Wachsenden Stadt‘ gehören. Denn die ,Wachsende Stadt‘ ist eine untergehende Stadt. Wir wollen leben! In Ottensen, St. Georg, im Gängeviertel und anderswo! Sonst ist bald jeder Tag ein 1. Mai!“
Der subtile Umgang mit der Gewaltfrage gefiel Siebzehn. Das hatten sie früher ungeschickter gehandhabt.
„Der nächste Mietspiegel kommt bestimmt“, laß er weiter. „Aber wir wissen, wo eure Fettautos stehen. Haut lieber ab.“
Eine klare Ansage. Erfrischend, dass es es so etwas heute noch gab. Ein schlankes Mangamädchen mit viel Kajalschwarz um die Augen und einem makellosen Gesicht wie mit Fotoshop gemeiselt trat auf ihn zu. „Hallo“, sagte sie einladend lächelnd. „Wohnst du hier in der Gegend?“
War das eine Anmache? „Wieso, du nicht?“, fragte er zurück. In Gedanken ertappte er sich bei einer Männerphantasie, die er in keinster Weise brüderlte.
„Nee“, sagte Kajalauge. „Bin nur eingeteilt. Aber wenn du im Viertel wohnst, darfst du unterschreiben.“
Sie schob ihm einen Klemmblock zu, auf dem eine schon zu zwei Dritteln ausgefüllten Unterschriftenliste im Wind flatterte. Überschrift: „Miethaie raus aus Ottensen!“ Daneben ein schlecht gemalter Hai, der mehr aussah wie eine Forelle mit Piranhazähnen und mit dem Kopf in einer Guillotine steckte.
Für dadaistische Kunst hatte Siebzehn etwas übrig. „Aber nur zu gern“, sagte Siebzehn und schnappte sich den Block. Er trug fein säuberlich ein „Karl-Heinz Bredstedt, Eulenstraße 55, 22765 Altona“ ein. Nur bei der Sparte „Beruf“ zögerte er kurz. War das datenrechtlich erlaubt? Aber er wollte die Zeile vollkriegen, deswegen schrieb er „Kunstwissenschaftler“ hin. Atomingenieur hätte zu angeberisch geklungen.
Die kleine Manga-Göre ließ ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. „‘Ne coole Jacke hast du da an“, sagte sie, als Siebzehn ihr den Klemmblock zurückreichte. „Dreh dich mal um.“
Den Gefallen tat ihr Siebzehn nur zu gern. Im richtigen Moment zog er den Hintern ein, kaum merklich.
„Cool,“, sagte Kajalauge beim Anblick des Büffel-Totenschädels unter dem Western-Schriftzug DAKOTA. „Wie die Fahne von St. Pauli.“
„Nur mit anderen Knochen.“ Siebzehn drehte sich wieder um und sonnte sich in der ungeteilten Aufmerksamkeit der Manga-Queen. „Ist ein Einzelstück“, sagte er, ohne angeben zu wollen. Was sogar stimmte, denn auf dem Flohmarkt der Altonale hatte es im letzten Jahr nur diese einzige Dakota-Jacke gegeben und er hatte sie für zehn Euro geschossen. „Jeder Knochen ist handgenäht. Gibt auf der ganzen Welt keine zwei Dakota-Jacken, die gleich aussehen.“
Das hatte er zwar gerade erfunden, tat der Bewunderung des Manga-Mädchens aber keinen Abbruch. „Echt cool. So eine hätte ich auch gern. Aber - ist die nicht zu warm für‘n Sommer?“
Siebzehn wiegte bedächtig den Kopf, denn gerade in der heißen Jahreszeit hatte er ganz und gar nichts gegen dünne Blusen. „Die merkst du kaum. Trägt sich wie...“ Er überlegte. „...wie gar nichts.“ Was auch nicht ganz stimmte, denn gerade jetzt war es ihm verteufelt heiß (hatte wohl nicht ganz geklappt mit der Männerphantasie).
Kajalauge merkte davon zum Glück nichts. Zumindest tat sie so. „Super“, sagte sie in Abweichung ihrer sonstigen Terminologie. Sie griff unter den Tisch, zog etwas Weißes, Rundes hervor und ratschte eine Klebefolie weg. „Dann schenke ich dir das. Damit man dich auch von vorne erkennt.“ Mit diesen Worten klatschte sie ihm den Aufkleber auf die Brust. „Miethaue raus aus Ottensen“, stand darauf. Ohne Forellenhai.
Siebzehn war gerade im Begriff, die vermeintliche persönliche Adelung als Ausdruck einer außergewöhnlichen Wertschätzung zu inhalieren, als sich ein zitterrütteliger Renter mit Rollator neben ihn schob. Kajalauge sprang sofort auf ihn zu: „Hallo. Wohnst du hier in der Gegend?“
So astrophysikalisch schnell konnte eine weibliche Aufmerksamkeitsspanne sich auf ein neues Ziel ausrichten. Nicht dass Siebzehn diese Erfahrung zum ersten Mal gemacht hätte. Es wunderte ihn nur immer wieder, dass Frauen offenbar über ein Gen pragmatischer Effizienz verfügten, wo Männer einen blinden Fleck hatten. Für das Manga-Mädchen war er Geschichte und eine Unterschrift auf einem Zettel. Die Männerphantasie ging nach Hause (leicht gekränkt). Den Aufkleber ließ er trotzdem dran, rein aus Trotz. Scheißmangas.
Er trottete weiter und betrat das Mercado, das Ottenser Einkaufszentrum mit schicken Geschäften von Gucci und Flutschi und Elektronikgeräten von der letzten Weltraumaustellung. Als der riesige Geschäftsklotz 1992 eröffnet wurde, regte sich der Protest der GutbüäÜüöä