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Zuerst weiß er nicht, wie er darauf reagieren soll. Ist das so ein russischer Scherz? Falls ja, haben die Slawen einen sehr eigenwilligen Humor. Aber soll er lachen? Nein, sie scheint es völlig ernst zu meinen. Sie will, dass er sie tötet. Sie würde es selbst tun, sagt sie, aber sie hat nicht den Mut dazu. Außerdem ... wie kann man Selbstmord begehen, wenn man nicht mal eine Pistole hat? Soll sie vom Dach springen? Oder den Kopf in den Gasherd stecken? Oder sich die Schlagadern mit einer Rasierklinge oder einem Messer aufschneiden? Oder sich an der Schrankstange aufhängen? Nein, all diese Möglichkeiten kommen ihr zu schrecklich vor, als dass sie sie auch nur in Betracht ziehen möchte. Eine Pistole oder ein Revolver wären schnell und sicher, aber wo soll sie eine Waffe herkriegen? Weiß Lorenzo, wo man eine Waffe herkriegt? Und falls er sich eine beschaffen kann – würde er ihr dann den Gefallen tun, sie zu erschießen?
Sie lächelt nicht.
Das ist kein Scherz.
Er hört, wie die Katze in der Küche den Fisch verschlingt, den Lorenzo in ihre Schüssel gelegt hat. Die Geräusche kommen ihm irgendwie obszön vor. Katzen ähneln viel zu sehr wilden Tieren. Ein Schritt zurück und sie sind wieder im Dschungel und jagen.
Svetlana erklärt ihm, dass sie bei einem Neurologen war, der einen gutartigen Tumor am Nerv ihres linken Gehörnervs entdeckt hat. Wenn er nicht chirurgisch entfernt wird, wird sie auf diesem Ohr bald völlig taub sein. Aber die Chancen, dass ...
»Na, dann müssen Sie natürlich ...«
»Nein«, sagt sie. »Sie verstehen nicht. Selbst wenn ich eine Operation wähle ... so drücken sie es aus, Lorenzo, als würde ich einen Präsidenten wählen, eine Operation wählen, können Sie sich das vorstellen? Selbst wenn ich mich für eine Operation entscheide, mich mit einer Operation einverstanden erkläre, selbst dann ...«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich habe zu lange gewartet, Lorenzo. Der Tumor ist sehr groß, sie können mein Gehör wahrscheinlich nicht retten. Je größer der Tumor, desto kleiner die Chance, das hat er mir gesagt. Der Arzt. Und bei ... bei allem, was über drei Zentimeter Durchmesser hat ... bei einem Tumor, der größer als drei Zentimeter ist ...«
Und hier fängt sie an zu weinen.
»Sie können wahrscheinlich ... nicht mal ... meine Gesichtsnerven retten. Das hat er mir gesagt. Der Arzt.«
Lorenzo steht hilflos neben dem Bett.
»Was für einen Sinn hat es also? Meine Hände sind schon tot, ich kann nicht mehr spielen. Soll ich weiterleben, ohne hören zu können? Ohne dass mein Gesicht Gefühle ausdrücken kann? Wann immer ich gespielt habe, haben meine Hände und mein Gesicht alles gesagt, was es zu sagen gab. Wissen Sie, wie man mich genannt hat? Einen Tornado. Einen Tornado aus der Steppe. Einen wilden Tornado. Mein Gesicht und meine Hände. Ein Tornado.«
Sie schluchzt bitterlich, die Worte kommen nur gebrochen über ihre Lippen ...
»Was bleibt mir noch, Lorenzo? Was? Warum sollte ich weiterleben? Bitte helfen Sie mir.«
Sie schlägt die Hände vors Gesicht und weint hinein.
»Bitte«, sagt sie. »Töten Sie mich. Bitte.«
Er erwidert, das sei absurd.
Er erwidert, sie müsse sich auf jeden Fall operieren lassen, wie gering die Chancen auch sein mögen, natürlich müsse sie sich operieren lassen. Außerdem soll man keine Entscheidungen treffen, wenn man sich nicht gut fühlt und sie ist jetzt einfach nur krank ...
»Sehen Sie doch selbst, wie bleich Sie sind!«
... und wird ganz anders darüber denken, wenn ihre Erkältung abgeklungen ist. Aber sie schüttelt immer wieder den Kopf, während er spricht, nein, nein, nein, sie beharrt darauf, sie habe wirklich lange darüber nachgedacht und er würde ihr wirklich einen großen Dienst erweisen, wenn er sich nur eine Waffe besorgte und sie tötete.
»Sie meinen es ernst«, sagt er.
»Ich meine es ernst.«
»Svetlana«, sagt er, »nein.«
»Warum nicht?«
»Weil wir Freunde sind. Sie sind meine Freundin, Svetlana.«
»Dann töten Sie mich«, sagt sie.
»Nein.«
»Bitte, Lorenzo. Töten Sie mich. Erlösen Sie mich von meinem Elend. Helfen Sie mir. Bitte!«
»Nein.«
»Bitte.«
»Nein.«
»Ich bezahle Sie.«
»Nein.«
»Ich zahle Ihnen zehntausend Dollar.«
»Nein.«
»Zwanzigtausend.«
»Nein.«
»Lorenzo, bitte. Bitte.«
»Nein, Svetlana. Es tut mir leid, nein.«
»Fünfundzwanzigtausend. Dafür, dass Sie mich töten und sich danach um Irina kümmern. Nehmen Sie sie mit nach Hause, füttern Sie sie, kümmern Sie sich um sie.«
»Ich kann es nicht. Auf keinen Fall.«
»Ich würde Ihnen ja mehr bezahlen, aber ...«
»Nein, Svetlana. Bitte. Niemals. Nicht für eine Million. Niemals. Bitte.«
Aber das ist, bevor er das Geld verliert, das er bei Bernie dem Bankier gesetzt hat.
Bernie sagt ihm, falls er sein rasantes Englisch richtig versteht, dass er Lorenzo umbringen wird, wenn der nicht bis Sonntagmorgen mit dem Geld rüberkommt, das er ihm schuldet. Bernie ist Jude, vermutet er, aber was er sagt, klingt sehr italienisch. Er würde sonst bei seinen kleinen Fischen schwimmen, wirklich sehr italienisch. Lorenzo hat mit genug Buchmachern zu tun gehabt, sowohl italienischen als auch amerikanischen, um zu wissen, dass sie einen nicht unbedingt töten, weil sie das Geld, das man ihnen schuldet, dann nie kriegen werden. Andererseits ist es auch keine erfreuliche Aussicht, dass sie einem die Beine brechen oder ein Auge ausstechen. Er hört sich an, was der kleine Buchmacher ihm sagt und bezweifelt keinen Augenblick lang, dass Bernie persönlich oder jemand, den Bernie anheuert, ihm so etwas antun wird, wenn er nicht mit den zwanzigtausend Dollar rüberkommt, die er auf diese verdammten Steeler gesetzt hat, was sind Steeler überhaupt, Leute, die stehlen? Die englische Sprache ist für ihn manchmal das reinste Geheimnis, doch er versteht verdammt genau, was Bernie ihm jetzt sagt. Bernie sagt:
»Bezahl mich bis Sonntagmorgen, mein Freund oder es wird dir vielleicht sehr leidtun.«
Das sagt Bernie.
Dann ruft er Svetlana an und fragt sie, ob er noch immer tun soll, was sie ihm neulich vorgeschlagen hat ...
»Ja«, sagt sie sofort.
»Dann bin ich bereit dazu«, flüstert er ins Telefon.
»Wann?«, flüstert sie.
Beide flüstern auf Italienisch wie die Verschwörer, die sie ja auch sind.
»Jetzt«, sagt er. »Heute Abend.«
»Nein. Ich muss zuerst noch einiges erledigen.«
»Wann denn?«
»Morgen Abend?«
»Ja, in Ordnung«, sagt er. »Morgen Abend.«
Das alles auf Italienisch.
Domani sera?
Si, va bene. Domani sera.
»Ich rufe Sie morgen an«, sagt er.
»Gut. Rufen Sie mich an. Aber nicht morgen früh. Da bin ich nicht da. Ich muss mich noch um einiges kümmern.«
»Wann also?«
»Am frühen Nachmittag.«
»Ich rufe Sie an.«
«Ciao«, sagt sie.
«Ciao.«
Zwei alte Freunde, die sich verabschieden. Es ist kurz vor elf, als er an diesem Abend in ihrem Apartment eintrifft. Sie trägt ein geblümtes Hauskleid aus Baumwolle und Pantoffel mit hohen Absätzen. Sie erzählt ihm, dass sie am Morgen bei der Bank war, um das Geld abzuheben, das sie ihm versprochen hat ...
»Ich nehme nicht gern Geld dafür«, sagt er.
»Ich erwarte nicht ...«
»Ich habe hohe Schulden«, sagt er. »Sonst würde ich mich gar nicht darauf einlassen.«
»Nehmen Sie es«, sagt sie und gibt ihm einen Umschlag. »Zählen Sie es.«
»Ich muss es nicht zählen.«
»Zählen Sie es. Es sind fünfundzwanzigtausend Dollar.«
Er schüttelt den Kopf und steckt den Umschlag in eine Jackentasche. Es ist jetzt Punkt dreiundzwanzig Uhr.
»Ich war heute Morgen beim Friseur«, sagt sie.
»Es ist sehr schön«, sagt er und bewundert den wellenförmigen Schnitt. »Sie sehen wunderschön aus.«
»Ich hätte ein langes schwarzes Abendkleid angezogen«, sagt sie, »aber es soll aussehen, als hätte ein Eindringling mich überrascht. Damit kein Verdacht auf Sie fällt. Wir machen das Fenster auf. Dann glauben sie, dass jemand eingestiegen ist.«
»Ja«, sagt er.
Er fragt sich, was für ein Mensch er ist, so etwas einer armen, alten, tauben Frau anzutun. Was für ein Mensch? Aber Bernies Drohung geht ihm nicht aus dem Kopf. Und er überlegt, was er tun wird, er sagt sich, dass er mit den fünfundzwanzig Riesen die zwanzig bezahlen kann, die er Bernie schuldet und mit den restlichen fünf erwischt er bei den Rennen der nächsten Woche vielleicht ein oder zwei gute Pferde, er kann Gott weiß wie viel Geld daraus machen, vielleicht sogar ein kleines Vermögen. Außerdem, sagt er sich, nimmt er in Wirklichkeit ja gar kein Leben. Er tut nur, worum Svetlana ihn bittet. Er hilft ihr nur dabei, mit Würde und Ehre zu sterben. Er hilft ihr, diese Welt mit intakten Erinnerungen zu verlassen. Dafür wird Gott ihm vergeben. Das redet er sich ein.
Sie öffnen das Schlafzimmerfenster.
Kalte Luft strömt in die kleine Wohnung.
Sie geht zum Schlafzimmerschrank und holt einen alten Nerzmantel heraus.
»Es soll so aussehen, als wäre ich gerade von dem Laden zurückgekommen«, sagt sie. »Damit niemand Sie verdächtigt.«
Seine Hand beginnt auf dem Knauf des Revolvers in seiner Manteltasche zu zittern. Jetzt, wo es fast soweit ist, weiß er plötzlich nicht mehr, ob er überhaupt dazu im Stande ist. Er ist sich ganz und gar nicht mehr sicher.
»Würden Sie mir bitte helfen?«, fragt sie.
Er hält den Mantel und sie schlüpft hinein. Er riecht den Fisch an seinen Händen. An seinen Händen haftet immer der Gestank von Fisch.
Jetzt zittert er am ganzen Körper.
Sie nimmt ihre Handtasche vom Tisch neben der Wohnungstür, stöbert darin herum und findet schließlich, was sie sucht, einen weißen Umschlag, auf den sie einen Namen geschrieben hat.
»Bringen Sie den zur Rezeption des Hotels Powell«, sagt sie. »Der Name meiner Enkelin steht darauf. Bitten Sie den Portier, ihn zu ihrer Suite zu schicken. Achten Sie darauf, Suite zu sagen. Sie hat nämlich eine Suite dort.«
Er nickt, nimmt den Umschlag entgegen.
»Versprechen Sie es mir«, sagt sie.
»Ich verspreche es«, sagt er.
Er schiebt den Umschlag in die linke Manteltasche, in der auch der mit dem Geld steckt. Dem Blutgeld. Seine rechte Hand steckt in der Tasche, in der er den Revolver hat. Er schwitzt. Seine Hand auf dem Griff der Waffe ist ganz feucht.
Jetzt ist es 23.10 Uhr.
Die Katze ist zu ihnen auf den Flur gekommen. Sie sieht zu ihnen hoch. Zuerst zu Svetlana, dann zu ihm. Als erwartete sie, gefüttert zu werden.
»Ihr Tragekorb steht in der Küche«, sagt Svetlana. »Auf dem Tisch. Sie ist daran gewöhnt, sie wird glauben, Sie bringen Sie zum Tierarzt.«
Er sieht sie an, nickt. Schaut zu der Katze hinab. Die Katze reibt sich an seinem Bein. Er bekommt davon eine Gänsehaut. Er schwitzt und fröstelt gleichzeitig.
»Schwören Sie mir, dass Sie sich gut um sie kümmern.«
Er schweigt einen Augenblick lang.
»Schwören Sie«, sagt sie.
»Ich schwöre.«
»Schwören Sie mir, dass Sie sie jeden Tag mit frischem Fisch füttern.«
»Ich verspreche es Ihnen.«
»Schwören Sie.«
»Ich schwöre.«
»Beim Augenlicht Ihrer Mutter.«
»Ich schwöre es beim Augenlicht meiner Mutter.«
Es wird sehr still in der kleinen Wohnung.
Er hört, dass in der Küche eine Uhr tickt.
Er sieht auf seine eigene Uhr.
Es ist fast zwanzig Minuten nach elf.
Vom Küchentisch nimmt Svetlana eine braune Papiertüte mit einer Flasche Whisky darin.
»Ich trinke«, sagt sie als Erklärung.
»Son’ un’ umbriaga«, sagt sie.
Ich bin eine Trinkerin.
»Alle wissen es.«
Um die Wahrheit zu sagen, er weiß es nicht.
Um die Wahrheit zu sagen, er kennt diese Frau überhaupt nicht.
Aber er wird sie gleich töten.
»Sind Sie bereit?«, fragt sie.
»Ja«, sagt er.
Sie steht genau in der Türöffnung. Die Tüte mit der Whiskyflasche liegt in ihrer rechten Armbeuge. Er nimmt den Revolver aus der Manteltasche. Die Katze reibt sich noch immer an seinem Bein, schnurrt. Schweiß perlt auf seinem Gesicht, Schweiß rinnt unter seinen Hemdkragen, Schweiß befeuchtet seine Achselhöhlen und das üppige blonde Haar auf seiner Brust. Seine Hand zittert jetzt heftig. »Ich danke Ihnen, dass Sie das für mich tun«, sagt sie. Er muss den Revolver mit beiden Händen halten. »Kümmern Sie sich gut um Irina«, sagt sie und schließt die Augen.
Im Verhörraum wurde es still.
»Dann haben Sie sie erschossen?«
»Ja.«
»Wie oft haben Sie geschossen?«
»Zweimal.«
»Haben die Schüsse sie getötet?«
»Ja.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Dann habe ich die Katze erschossen.«
Nellie sah ihn an.
»Warum haben Sie das getan?«, fragte sie.
»Ich wollte mich nicht um sie kümmern müssen. Ich weiß, ich habe es Svetlana versprochen. Aber man kann Katzen nicht trauen.«
Männern auch nicht, dachte Nellie.
»Also haben Sie ihr Geld genommen ...«
»Ja, aber nur, weil ich befürchtet habe, Bernie würde mir etwas antun.«
»Haben Sie ihm die zwanzigtausend Dollar gegeben, die Sie ihm schuldeten? Oder haben Sie ihn auch beschissen?«
»Ich weiß nicht, was ›beschissen‹ bedeutet.«
»Erklären Sie ihm, was es bedeutet, jemanden zu bescheißen«, sagte Nellie zu dem Übersetzer.
»Haben Sie je ein Restaurant verlassen, ohne dem Kellner ein Trinkgeld zu geben?«, fragte McNalley.
»Ich gebe Kellnern immer ein Trinkgeld«, sagte Lorenzo. »Was hat das mit Bernie zu tun?«
»Sie fragt, ob Sie ihm gegenüber auch wortbrüchig geworden sind«, sagte Moscowitz. »Das meinen Sie doch, Frau Kollegin, oder?«
»Es kommt dem jedenfalls sehr nah«, sagte Nellie.
»Fragen Sie ihn«, sagte sie zu McNalley, der die Frage sofort übersetzte.
»Ich habe weder ihm noch sonst jemandem gegenüber mein Wort gebrochen«, erwiderte Lorenzo. »Ich habe niemanden beschissen, wie auch immer Sie es ausdrücken. Ich habe Bernie sein Geld gegeben und ich habe alles getan, wofür Svetlana mich bezahlt hat. Bis auf die Katze.«
»Genau, bis auf die Katze«, sagte Nellie. »Der Katze haben Sie in den Kopf geschossen.«
»Nun ja.«
»Oder etwa nicht?«
»Ja. Ich kann Katzen nicht ausstehen.«
»Na so was«, sagte Nellie. »Ich mag Katzen sehr.«
Und ich bin die Staatsanwältin, dachte sie.
»Was haben Sie mit den restlichen fünftausend Dollar getan?«
»Auf Pferde gesetzt.«
»Haben Sie gewonnen?«
»Verloren.«
»In jeder Hinsicht«, sagte Nellie.
Während des ganzen Mittagessens schimpfte Priscilla darüber, dass ihre schäbige Großmutter ihr nur fünftausend Mäuse hinterlassen hatte. Georgie musste immer wieder an die fünfundneunzig Riesen denken, die er in einem schwarzen Lederslipper in einem Schuhkarton in seinem Schrank versteckt hatte.
Als er in seine Wohnung zurückkehrte, sah er zuerst nach dem beiseite geschafften Geld. Da war es, in einem funkelnagelneuen Umschlag mit einem Gummiband darum, genauso schön wie in dem Augenblick, in dem er ihn gestern, vollgestopft mit Scheinen, dort versteckt hatte. Er zählte das Geld. Er wollte es in die Luft werfen und auf seinen Kopf hinabregnen lassen. Statt dessen steckte er es in den Umschlag zurück, zog das Gummiband wieder darum, schob den Umschlag in einen der Schuhe, setzte dann den Deckel auf den Karton und stellte den Karton auf das oberste Regalbrett zurück. Er schloss die Schranktür, Das Telefon an der Küchenwand klingelte. Er ging hinüber.
Es war Tony.
»Wann teilen wir das Geld auf?«, wollte er wissen.
»Ich schau bei dir vorbei, bevor wir heute Abend in den Club gehen«, sagte Georgie.
»Was ist die Hälfte von fünfundneunzig?«, wollte Tony Wissen.
»Siebenundvierzig und etwas Kleingeld.«
»Wie viel Kleingeld?«
»Fünf Scheine.«
»Bring auch das Kleingeld mit«, sagte Tony und legte auf.
»Wir haben hier einen Fall aktiver Sterbehilfe«, sagte Moscowitz, »so einfach ist das.«
»Wir haben hier einen Totschlag«, sagte Nellie. »So einfach ist das. Vielleicht haben wir hier sogar einen gedungenen Mord, Alan, bei dem ich die Todesstrafe beantragen kann.«
»Also wirklich, Nellie, jetzt hören Sie aber auf.«
»Der Mann hat Geld genommen, um jemanden zu töten. Das hört sich für mich nach einem Auftragsmord an.«
»Eine Frau gibt einem Mann Geld, damit er ihr hilft, Selbstmord zu begehen, das hört sich für mich nach einer Mizwa an.«
»Was ist eine Mizwa?«
»Sie wissen nicht, was eine Mizwa ist?«
»Nein, was ist eine Mizwa?«
»Seit wann sind Sie in dieser Stadt als Anwältin tätig?«
»Wollen Sie mir nun sagen, was eine Mizwa ist, oder nicht?«
»Eine Mizwa ist eine gute Tat.«
»Der Mann erschießt eine Frau ...«
»Sie hat ihn gebeten, sie zu erschießen.«
»Und das ist für Sie eine gute Tat?«
»Das ist eine Mizwa. Nellie, dieser Mann ist kein Krimineller, er ist ...«
»Was denn? Ein Engel? Er hat kaltblütig eine Frau ermordet. Ihr zweimal in die Brust geschossen ...«
»Sie wollte sterben!«
»Was ist mit der Katze? Wollte die auch sterben?«
»Na schön, die Katze gestehe ich Ihnen zu.«
»Sie werden mir noch viel mehr als die gottverdammte Katze zugestehen, Alan.«
»Worauf sind Sie aus?«
»Ist die Akustik hier so schlecht? Ich habe es Ihnen doch gesagt. Totschlag. Bezahlter Auftragsmord. Die Todesspritze. Darauf bin ich aus.«
»Das war kein Auftragsmord und Sie wissen das ganz genau!«
»Er hat fünfundzwanzig Riesen bekommen, um sie zu töten!«
»Aber sie selbst hat ihm das Geld gegeben. Es ist doch nicht so, dass eine dritte Partei ihn beauftragt hat, sie zu töten. Das Opfer wollte ...«
»Opfer, das haben Sie völlig richtig ausgedrückt, Alan.«
»... wollte sterben, hatte aber nicht den Mut, Selbstmord zu begehen. Sie hatte Arthritis, sie hatte einen Gehirntumor, sie drohte stocktaub zu werden, sie war kurz davor, die Kontrolle über ihre Gesichtsnerven zu verlieren, Sie wollte nur Schluss machen. Mein Klient half ihr dabei.«
»Genau, er ist ein guter Samariter.«
»Nein, er ist ein mitfühlender Mensch, der ...«
»... der sie für fünfundzwanzig Riesen ermordet hat, damit er seinen Buchmacher auszahlen kann!«
»Sie haben hier bestenfalls eine Beihilfe! Aber dieser Fall wird den Geschworenen nur die Tränen in die Augen treiben. Klagen Sie ihn wegen Beihilfe an und wir haben ...«
»Beihilfe!« Sie wäre fast an dem Wort erstickt. »Das ist ein Kapitalverbrechen!«
»Na schön, dann vergessen Sie es. Sehen Sie sich stattdessen mal Paragraph 120 Absatz 30 an. Begünstigung eines versuchten Selbstmordes. Jemand ist schuldig der Begünstigung eines Selbstmordversuchs, wenn er absichtlich eine andere Person ...«
»... dazu verleitet oder begünstigt, Selbstmord zu begehen«, beendete Nellie den Satz für ihn. »Das war kein Versuch, Alan! Das war überaus erfolgreich. Die Frau ist tot. Und ihre Katze ebenfalls.«
»Hören Sie doch mal mit der gottverdammten Katze auf, ja? Wir sprechen hier von einer Frau, die unter Qualen und Schmerzen lebte und von einem mitfühlenden Mann, der ...«
»Sie sprechen hier von einer lausigen Beihilfe und Begünstigung, davon sprechen Sie! Wir verschwenden nur unsere Zeit, Alan. Lassen wir es doch darauf ankommen.«
»Na schön, ich gestehe Ihnen ein, der Selbstmordversuch war erfolgreich ...«
»Welcher Selbstmord? Er hat sie ermordet!«
»Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, dass der Versuch erfolgreich war? Überaus erfolgreich, waren das nicht Ihre Worte? Was soll es also sein, Nellie? Ist der Typ da eingebrochen und hat sie kaltblütig erschossen oder hat er ihr lediglich geholfen, Selbstmord zu begehen? Wenn Sie auf Totschlag plädieren, werden die Geschworenen das entscheiden müssen.«
»Na schön, dann sollen sie es doch entscheiden.«
»Sehen Sie sich mal Michigan an.«
»Jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit Kevorkian.«
»Die Anklagen werden jedes Mal abgewiesen.«
»Das hier ist nicht Michigan. Und Kevorkian hat niemanden erschossen.«
»Die Geschworenen sehen es vielleicht anders, Nell.«
»Nennen Sie mich nicht Nell. Ich bin nicht in der Wildnis aufgewachsen.«
»Ich sage Ihnen was ...«
»Nur zu, sagen Sie mir was.«
»Wir vergessen den Auftragsmord, oder?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das habe ich doch gerade ausgeführt. Und Sie wissen wohl, dass meine Verteidigung bei einem Geständnis ...«
»Beleidigen Sie mich nicht, Alan.«
»... nach Paragraph 125 Absatz 25 darauf hinausläuft, dass der Angeklagte eine andere Person veranlasst oder dabei unterstützt hat, Selbstmord zu begehen.«
»Na schön, wenn er das schon mal gesteht ...«
»Was hier zufällig der Fall ist. Hilfe bei einem Selbstmord.«
»Und?«
»Und Sie haben völlig recht. Wenn Sie auf Totschlag plädieren, lassen wir es darauf ankommen. Und Sie könnten verlieren.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Körperverletzung.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Man macht sich der Körperverletzung schuldig ...«
»Ich kenne den Absatz.«
»... wenn man absichtlich eine andere Person veranlasst oder dabei unterstützt, Selbstmord zu begehen.«
»Körperverletzung mit Todesfolge, mehr kann ich Ihnen nicht bieten, Alan. Vorausgesetzt, wir einigen uns auf die Höchststrafe.«
»Das ist zu viel für eine Mizwa.«
»Eine Mizwa, so eine Scheiße. Körperverletzung mit Todesfolge. Höchststrafe. Acht Jahre und vier Monate bis fünfundzwanzig Jahre. Entweder Sie sind damit einverstanden oder Sie lassen es bleiben.«
»Machen Sie zwei bis sechs Jahre daraus.«
»Nein.«
»Der arme Hund ist Ausländer.«
»Hart für ihn.«
»Er spricht kaum Englisch, er sieht aus wie Robert Redford. Wissen Sie, was man im Gefängnis mit ihm machen wird?«
»Das hätte er sich überlegen sollen, bevor er die alte Frau ermordete.«
»Jetzt hören Sie aber auf, Nellie. Sie wissen, dass er kein Mörder ist. Was sagen Sie dazu? Die Mindeststrafe, zwei bis sechs Jahre, okay?«
»Ich gebe Ihnen glatte fünf bis fünfzehn. Und nach fünf Jahren werden wir der Freilassung auf Bewährung nicht zustimmen.«
»Sie sind eine harte Frau.«
»Und die Katze gebe ich Ihnen gratis dazu. Haben wir eine Abmachung?«
»Eine harte Frau«, sagte Moscowitz und schüttelte den Kopf.
»Ja oder nein?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Gut. Dann können wir ja nach Hause gehen.«
Es war fast halb eins, als Carella und Hawes den Papierkram erledigt hatten. Beide sahen hundemüde aus. »Gehen Sie nach Hause«, sagte Byrnes zu ihnen. »Es war eine lange Nacht.«
»Hm«, machte Carella.
»Schlafen Sie sich aus.«
»Hm«, machte Hawes.
»Sie haben noch immer ’ne tote Nutte am Hals«, erinnerte Byrne sie.
Um in Frage zu kommen, mussten bei einer Schule zwei Dinge zutreffen: Sie musste eine Footballmannschaft haben und Blau und Weiß mussten die Schulfarben sein.
Es spielte keine Rolle, ob er mit der St. Peter’s High oder der John Parker High sprach. Wenn er eine bestätigende Antwort auf beide diesbezüglichen Fragen bekam, sattelte er sein Pferd und ritt hinüber.
Um ein Uhr an diesem Mittag hatte Fat Ollie Weeks persönlich sämtliche P-Schulen im Großraum der Stadt aufgesucht, die in Frage kamen und nichts gelandet, was einem Treffer auch nur nahe kam.
Nur zwölf der blauweißen Schulen hatten Footballteams. Nur acht davon hatten Parkas mit einem großen weißen ›P‹ auf dem Rücken. Von diesen hatten nur zwei ein weißes Football-Logo unter dem Buchstaben ›P‹. Ollie sprach mit etwa sechzig Footballspielern, die sich alle in die Hosen machten, während er herauszufinden versuchte, was jeder einzelne von ihnen am vergangenen Wochenende getan hatte. Während eine weiße Nutte und zwei schwarze Deppen ausgeweidet beziehungsweise ertränkt und erstochen worden waren. Diese Kinder waren an Fernsehgewalt gewöhnt, aber, Mann, das war das richtige Leben!
Wie Ollie es sah, scherte sich sowieso niemand in diesem Land wirklich um Gewalt. Sonst würden sie zuerst mal Football- und Eishockey-Spiele verbieten. In Wirklichkeit störten die Amerikaner sich nur an Sex. Es war schon okay, in all diesen Vor- und Nachmittagssendungen in der Flimmerkiste darüber zu quatschen, aber wenn man zeigte, wie zwei Leute es wirklich taten, Mann, dann war es plötzlich ganz still im Haus und alle rannten sofort los, um die kleinen Kinderchen zu schützen, die im Zimmer nebenan Crack rauchten. Sex war das große amerikanische Problem, ein Vermächtnis der verdammten Puritaner, die von England rübergekommen waren. Da er gerade davon sprach, er hatte seit anderthalb Wochen keinen mehr gehabt – Sex, keinen Puritaner – und schleppte stattdessen seinen Arsch durch das halbe Universum, um drei Footballspieler zu finden, die vielleicht ein bisschen Sex und Gewalt außerhalb des Spielfelds gehabt hatten und deren Haare vielleicht genau zu denen passte, die er bereits hatte.
Um Viertel nach eins war er wieder im Dienstraum. Er nahm sich wieder die Computerliste vor.
Klemmte sich wieder ans Telefon.
Um Viertel nach zwei an diesem Nachmittag fuhr er aus der Stadt zu einer Schule namens Pierce Academy, deren Farben Blau und Weiß waren und deren Footballspieler Parkas mit Kapuzen und einem weißen Buchstaben ›P‹ und einem weißen Football-Logo auf dem Rücken trugen.
Um halb drei an diesem Nachmittag schlug Georgie den Namen Karen Todd im Telefonbuch von Isola nach und fand einen Eintrag unter K. Todd in der 1217 Lincoln Street. Er wählte die Nummer und ihr Anrufbeantworter verriet ihm, dass man sie auf der Arbeit erreichen konnte und nannte ihm die Nummer des St. Mary’s Hospital.
Er hatte nicht gewusst, dass sie Krankenschwester war, falls sie überhaupt eine war.
Das regte nur seinen Appetit an.
Er wählte die Nummer und wurde mit einer Frau verbunden, die »Registratur!«, sagte, was augenblicklich die Träume eines kleinen Jungen zerstörte.
»Karen Todd, bitte«, sagte er.
Als sie an den Apparat kam, sagte er ihr, wer er war und dass er heute Morgen bei ihr gewesen war, vielleicht erinnerte sie sich ja daran, der große, gutaussehende Bursche, das sagte er tatsächlich, schwarzes Haar und braune Augen ...
»Ich war mit einer blonden Frau und einem anderen Mann bei Ihnen.«
»Oh, ja«, sagte sie, »natürlich. Svetlanas Enkelin, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er.
»Klar erinnere ich mich an Sie«, sagte sie. »Haben Sie den Mann gefunden, der ihr den Fisch gebracht hat?«
»Allerdings«, sagte er. »Die Polizei hat ihn jetzt. Er hat sie wohl umgebracht. Jedenfalls habe ich mir das so zusammengereimt.«
»Ehrlich? Wow.«
»Ja«, sagte er. »Ach, Karen«, sagte er, »hatten Sie vielleicht Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?«
»Klar, warum nicht?«, sagte sie.
Richard der Erste stand in der hinteren Reihe des Chors und konnte über die Köpfe der beiden anderen Richards und aller anderen Sänger hinwegsehen. Wie ein wahrer Monarch, der seine herrschaftlichen Ländereien inspizierte, schaute er den Mittelgang der Kirche entlang und über den Kreuzarm hinaus zu den riesigen Eichentüren des Eingangs. Das Sonnenlicht des Spätnachmittags fiel durch die gefärbten Bleiglasfenster auf beiden Seiten des gewaltigen Gewölbes und erhellte es, als fände gerade ein religiöses Wunder statt. Professor Eaton, der Chorleiter, hatte ihnen gerade nachdrücklich klargemacht, wie dürftig er ihr Loblied beim letzten Mal gefunden hatte. Sie warteten nun auf sein Handzeichen, um mit der dritten Strophe noch einmal von vorn zu beginnen.
Hand und Kopf senkten sich präzise in ein und demselben Augenblick.
»Wohl, wohl dem Mann, der in der Welt dich, Herr, für seine Stärke hält, von Herzen deinen Weg erwählt!«
Die mittlere Eingangstür wurde geöffnet.
Ein sehr dicker Mann trat in den Narthex und sah zum Seitenschiff hinauf.
»Geht hier sein Pfad durchs Tränental,
er findet auch in Not und Qual,
dass Trost und Kraft ihm nimmer ...«
»Professor Eaton?«
Der Dickwanst.
Er rief aus dem hinteren Teil der Kirche.
»Moment mal, Moment mal!«, sagte Eaton und drehte sich mit offensichtlicher Verärgerung zu dem Fettsack hinüber, der nun den Gang entlangkam. Ein leichter Trenchcoat öffnete sich über seinem Bierbauch. Unter dem Mantel sah Richard eine ebenfalls nicht zugeknöpfte Sportjacke mit Schottenmuster und eine sehr grelle Krawatte. Nun griff der Mann in die Gesäßtasche seiner Hosen.
»Was gibt es?«, fragte Eaton.
Der Mann hielt ein kleines Lederetui hoch, eine Uhrtasche oder wie auch immer so ein Ding hieß und klappte es auf, als er zum Altar watschelte. Sonnenlicht fing sich auf funkelndem Gold und emailliertem Blau und schickte Sprenkel aus reflektiertem Licht in die widerhallende Stille der Kirche aus.
»Detective Oliver Weeks«, sagte der Mann. »Ich habe hier ein paar Haare, die ich vergleichen müsste. Befinden sich unter Ihren Sängerknaben vielleicht ein paar Footballspieler?«
Georgie erwartete sie um 18.30 Uhr. Sie hatten verabredet, dass sie zu Hause vorbeifahren würde, um sich umzuziehen und dann auf einen Drink zu ihm kam, bevor sie essen gingen. Deshalb war er noch schnell in den Schnapsladen unten gegangen, um eine Flasche Canadian Club zu kaufen, sie trank gern Canadian Club und Ginger Ale, das hatte sie ihm am Telefon gesagt. Er war gerade mal fünfzehn Minuten weg. Als er in die Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon. Er stellte die braune Tüte mit dem Whisky darin auf die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer, zerrte das Wandtelefon von der Gabel und sagte: »Hallo?«
Es war schon wieder Tony.
»Weißt du schon, wann du kommst?«, fragte er.
»Irgendwann nach dem Abendessen«, sagte Georgie.
»Aber es könnte etwas später werden.«
»Wie spät denn?«
»Vielleicht elf, zwölf Uhr.«
»Warum so spät?«
»Tja.«
»Wer ist es?«
»Tja ...«
»Wer?«
»Ich erzähl’s dir später. Ich muss mich ranhalten, Tony. Sie wird jeden Augenblick hier sein.«
»Bring mir auch von der Kleinen die Hälfte mit«, sagte Tony.
Lächelnd legte Georgie auf und sah auf die Uhr. Zwanzig nach. Zeit genug, sich das Geld noch mal anzusehen.
Es versetzte ihn immer wieder in Begeisterung, sich das viele Geld anzusehen. Noch immer lächelnd ging er ins Schlafzimmer.
Das Fenster stand offen.
Das Lächeln verblich von seinem Gesicht.
Die Schubladen waren aus den Kommoden gezogen worden und seine Hemden und Socken und Pullis und die Unterwäsche waren auf dem ganzen Boden und dem Bett verstreut. Auch die Schranktür stand offen. Jacken und Anzüge waren von den Bügeln gerissen und einfach auf den Boden geworfen worden.
Auf dem Boden lag auch ein offener Schuhkarton.
Neben dem Karton lagen zwei schwarze Lederschuhe auf dem Boden.
Beide Schuhe waren leer.
Und das alles, während ich gerade mal eine viertel Stunde lang weg war, dachte er.
Diese Stadt.
Carella wachte an diesem Abend um Viertel vor sieben auf. Im Haus war alles still. Er zog Jeans und ein T-Shirt an und machte sich auf Socken auf die Suche nach seiner Familie. Er fand keine Menschenseele.
»Fanny?«, rief er.
Keine Antwort.
»Dad?«
Das war Mark, der aus seinem Zimmer rief. Er saß im Bett und las, als Carella hereinkam.
»Hi, Dad«, sagte er. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja. Wie geht es dir?«
»Viel besser.«
»Lass mal sehen«, sagte Carella, setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf Marks Stirn.
»Wo sind die anderen?«, fragte er.
»Fanny hat April zum Ballettunterricht gefahren und Mom ist shopping.«
»Shopping oder einkaufen?«
»Was ist der Unterschied?«
»Etwa fünfhundert Dollar.«
»Wie kannst du so meine Temperatur messen?«, fragte Mark.
»Deine Stirn fühlt sich zuerst immer heiß an. Wenn sie sich auch nach einer Weile noch heiß anfühlt, hast du Fieber.«
»Das kapier ich nicht.«
»Vertrau mir.«
»Und wie hoch ist meine Temperatur?«
»Siebenunddreißig Grad. Warte«, sagte er und sah seine Handfläche an. »Siebenunddreißig Komma zwei«, berichtigte er sich. »Wie dem auch sei, morgen kannst du wieder in die Schule gehen.«
»Gut, Bist du als Kind auch so gern in die Schule gegangen?«
»Wahnsinnig gern«, sagte Carella.
»Ich auch.«
»Wie ist das Buch?«
»Beschissen.«
»Warum liest du es dann?«
»Es ist das Beste, das Mom im Supermarkt finden konnte.«
»Das spricht ja für unsere Kultur.«
Er zerzauste Marks Haar, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging gerade ins Wohnzimmer, als Fanny durch die Haustür hereinkam.
»Seht mal, wer schon auf ist«, sagte sie. »Putz dir die Füße ab, April.«
April schlurfte mit den Schuhen über die Fußmatte, legte die schwarze Reisetasche mit dem Namen und Logo der Ballettschule darauf und setzte sich auf die Bank neben der Tür, um ihre Stiefel auszuziehen.
»Wie geht es Mark?«, fragte sie.
»Besser.«
»Gut«, sagte sie.
»Ich fange lieber mal mit dem Abendessen an«, sagte Fanny und ging in die Küche.
Carella beobachtete seine Tochter, wie sie mit gesenktem Kopf dasaß und mit dem Reißverschluss des linken Stiefels kämpfte. Von den Zwillingen ähnelte sie Teddy stärker. Dasselbe schwarze Haar und dieselben dunkelbraunen Augen, dasselbe wunderschöne, ausdrucksstarke Gesicht. Mark kommt auf seinen Vater raus, dachte Carella. Armer Junge.
»Wie war das Tanzen?«, fragte er.
»Okay.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wo ist Mom?«
»Shopping.«
»Hast du gut geschlafen?«
»Na ja«, sagte er.
»Wie, na ja?«
»Nicht so gut«, sagte er.
»Das ist aber schade«, sagte sie und schaute plötzlich zu ihm auf. »Dad?«
»Ja?«
»Neulich, als Mark sich so schrecklich fühlte, weißt du noch?«
»Ja?«
»Und ich dachte, er würde vielleicht sterben?«
»Aber davon war doch gar nicht die Rede, Schatz.«
»Ich weiß, aber das habe ich nun mal gedacht.«
»Dann mach dir keine Sorgen mehr, ihm geht es wieder gut.«
»Ja, aber das will ich doch gar nicht sagen, Dad.«
Sie wirkte plötzlich verstört, die Stirn gerunzelt, die Augen voller Sorgen. Er setzte sich neben sie auf die Bank und legte einen Arm um sie. »Was ist denn los, Schatz?«
»Als ich dachte, er würde sterben?«
»Ja.«
»Ich wünschte, ich würde seine Gitarre erben.«
Und plötzlich weinte sie.
»Ich wollte nicht, dass er stirbt«, sagte sie.
»Das weiß ich doch.«
Tränen strömten ihr Gesicht herunter.
»Aber ich wollte seine Gitarre.«
»Das ist schon in Ordnung, Schatz.«
Sie schluchzte bitterlich.
»Bin ich ein schrecklicher Mensch?«
»Nein, Schatz, du bist ein wunderbarer Mensch.«
»Ich liebe ihn doch so, Dad.«
»Das tun wir alle.«
»Er ist mein Lieblingsbruder.«
»Eigentlich ist er dein einziger Bruder«, sagte Carella.
April brach in Lachen aus und erstickte fast an ihren eigenen Tränen. Er drückte sie an sich. »Warum sagst du ihm nicht guten Tag?«, flüsterte er in ihr Haar.
»Mach ich«, sagte sie, »danke, Dad.« Und sie stürmte aus seinen Armen und aus der Diele und rief: »Mark! Wach auf! Ich bin wieder da!«
In dem alten Haus war wieder alles still.
Er ging ins Wohnzimmer, schaltete die unechte Tiffany-Lampe an, setzte sich in den bequemen Sessel darunter, dachte an Marks Gitarre und Svetlanas Katze und die tote Nutte mit dem Plastikbeutel über dem Kopf.
Als Teddy etwa fünf Minuten später nach Hause kam, beobachtete er sie, wie sie die Tür mit der Hüfte zuschob und dann zwei Einkaufstüten voller Lebensmittel auf den Stuhl neben dem Spiegel stellte. Er beobachtete sie schweigend in ihrer stillen Welt, wie sie den Mantel auszog und in den Schrank hängte, und dachte, dass hier in dieser gewalttätigen Stadt, in der er seinem Broterwerb nachging ...
Dass hier in einem Universum, das Tag für Tag immer dunkler zu werden schien, bis es irgendwann zu ewiger Nacht zu werden drohte ...
Dass hier Teddy war und nach Hause kam.
Fast hätte er ihren Namen laut gerufen.
Aber sie hatte ihn noch nicht gesehen und konnte ihn sowieso nicht hören. Er beobachtete sie weiterhin. Sie drehte sich zum Wohnzimmer um, sah ihn endlich und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung und ein Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht.
Er stand auf und ging zu ihr.
Die Stadt ist riesig. Eine gigantische Big City, von pulsierendem Leben erfüllt. Ein Hexenkessel. Und mittendrin das 87. Polizeirevier.
Es ist eine lange, dunkle Nacht in der gigantischen Big City für Carella und seine Kollegen vom 87. Polizeirevier: Der rätselhafte Mord an einer scheinbar verarmten, ehemaligen Konzertpianistin und die Gewaltverbrechen an einer Prostituierten und ihrem Zuhälter halten sie auf Trab.
Geschildert wird der Alltag des Reviers und der Alltag der kleinen und großen Ganoven, der Gelegenheitsverbrecher, Dealer, Prostituierten und Mörder, deren Lebenswege sich kreuzen und in kleinen und großen Dramen enden.
»Spannend, figurenreich, kühl-ironisch in der Vivisektion von Rassismus, Geldgier, Heuchelei.« Tobias Gohlis
Ed McBain wurde 1926 als Salvatore Albert Lombino in New York geboren. Um seine ersten Storys besser vermarkten zu können, nahm er 1952 offiziell den Namen Evan Hunter an. Mit seinem Debütroman »Die Saat der Gewalt« und der Verfilmung wurde er international bekannt. Alfred Hitchcock engagierte ihn als Drehbuchautor für »Die Vögel«. Als Ed McBain veröffentlichte er ab 1956 insgesamt 55 Romane mit dem fiktiven 87. Polizeirevier. Viele von ihnen wurden verfilmt, u. a. von Claude Chabrol und Akira Kurosawa. Evan Hunter/Ed McBain starb am 6. Juli 2005. Aus Anlass seines 10. Todestages haben die Autoren Frank Göhre und Alf Mayer den umfangreichen erzählenden Essay »Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier« geschrieben. Bei CulturBooks erscheinen einige seiner Kriminalromane als Neuausgabe.
Ed McBain
Lange, dunkle Nacht
Ein Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier
Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Ed McBain: »Cops leben gefährlich. 1. Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier«
Die Stadt ist riesig. Eine gigantische Big City, von pulsierendem Leben erfüllt. Ein Hexenkessel. Und mittendrin das 87. Polizeirevier. Es ist Ende Juli, Mitte der Fünfziger Jahre. Eine lähmende Hitze lastet auf der Stadt. Kurz vor Mitternacht schlagen zwei Kugeln von hinten in Mike Reardons Schädel ein und zerreißen beim Austritt sein Gesicht. Der Polizist ist bereits tot, als sein Körper auf die Straße stürzt. Ohnmächtige Wut erfasst die Detectives des 87. Polizeireviers. Mike Reardon war einer von Ihnen. Mike Reardon war ein Cop. Und Readorn bleibt nicht der einzige Kollege, um den die Männer vom 87. Revier trauern müssen. Denn irgendwo in der großen heißen Stadt geht ein Mörder um. Seine Opfer sind ausnahmslos Cops.
Polizisten hassen Cop-Killer. Sie wollen sie schnellstmöglich zu fassen kriegen, sie festnageln und ein für alle Mal zur Hölle schicken ...
Der packende Beginn von Ed McBains legendärer Serie rund um das 87. Polizeirevier.
Ed McBain war der wohl bedeutendste Autor eines Genres, das später als Polizeiroman oder »Cop Novel« bekannt wurde. Mehr als ein Zeitdokument: ein immer noch spannender und mitreißender Roman.
Ed McBain: »Die lästige Witwe. Kriminalroman aus dem 87. Polizeirevier«
Eine Geiselnahme als Trauerarbeit: Virginias Mann ist im Gefängnis gestorben. Detective Carella war es, der ihn verhaftet hatte. Jetzt will Virginia sich rächen.
Die Witwe erscheint mit einem Revolver und einer Flasche Nitroglyzerin auf dem 87. Polizeirevier. Doch Carella ist nicht zu sprechen. Die resolute Frau entwaffnet die Cops und wartet. Als Polizist Meyer Meyer einen Zettel aus dem Fenster wirft, um Hilfe zu holen, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Wird es gelingen, die Geiselnehmerin rechtzeitig zu stoppen?
Markante Charaktere, tolle Dialoge und Hochspannung pur. The Boston Globe
Frank Göhre / Alf Mayer: »Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier. Ein Report«
Ed McBain wurde 1926 als Salvatore Albert Lombino in New York geboren, 1952 nahm er offiziell den Namen Evan Hunter an. Mit seinem Debütroman »Die Saat der Gewalt« und der Verfilmung wurde er international bekannt, Alfred Hitchcock engagierte ihn als Drehbuchautor für »Die Vögel«. Als Ed McBain veröffentlichte er ab 1956 fünf Jahrzehnte lang insgesamt 55 Romane über das fiktive 87. US-Polizeirevier.
Ed McBain starb am 6. Juli 2005. Aus Anlass seines 10. Todestages haben die Autoren Frank Göhre und Alf Mayer diesen umfangreichen erzählenden Essay geschrieben.
Es ist eine Reise durch fünf Jahrzehnte auf den Spuren der Detectives vom 87. Revier. Die Ermittler und ihre Fälle werden vorgestellt, die Veränderung einer Stadt und ihrer Kriminalität aufgezeigt. Polizistenmorde, Bandenkriege und Heckenschützen sind Thema, wie auch die klassischen »7 Todsünden«: Eitelkeit, Habgier, Wollust, Rachsucht, Maßlosigkeit, Eifersucht und Ignoranz.
Der ultimative Reader zum 10. Todestag des Autors Ed McBain, dem unumstrittenen Großmeister des Polizeiromans.
Frank Göhre und Alf Mayer lassen Werk und Leben des Ausnahme-Autors Ed McBain lebendig werden, erzählend und dokumentierend, spannend und unterhaltsam. Ein vielschichtiges amerikanisches Sittenbild entsteht.
Digitale Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Deutsche Erstausgabe: 2000, Europa Verlag
Originalausgabe: Nocturne, 1997 © Ed McBain
eBook-Cover: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 10.08.2015
ISBN: 978-3-944818-99-3
Für Rachel und Avrum Ben-Avi