42500_Johnson.jpg

»Mir bedeuten Dinge immer erst dann etwas, wenn sie nicht mehr da sind.«

Nach dem Hurrikan Katrina zieht ein Mann mit seinem Sohn durch das verwüstete Louisiana, um dessen Mutter zu finden. Jahre nach dem Fall der Mauer muss ein ehemaliger Aufseher sich im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen seiner Vergangenheit stellen. In Palo Alto findet eine schwerkranke Frau Trost im Gespräch mit einem Hologramm ihres verstorbenen Idols Kurt Cobain. So unterschiedlich die Geschichten dieser Menschen auch sein mögen, steht doch über allen die Frage nach Erlösung – vom Chaos der Gegenwart, vom Schmerz, von den Geistern der Vergangenheit.

Nach seinem Roman Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, für den Adam Johnson mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, begeistert er nun mit sechs kraftvollen Geschichten, die um Liebe und Verlust kreisen, um Naturkatastrophen, den Einfluss neuer Technologien und die Frage, wie politische Realität den Einzelnen formt. Johnsons Geschichten sind ebenso kühn wie bewegend und eröffnen mit ungewöhnlichen Perspektiven einen neuen Blick auf die Welt.

Adam Johnson, geboren 1967 in South Dakota, lehrt in Stanford. Auf Deutsch erschienen 2010 seine Short Stories Emporium, zuletzt 2013 sein zweiter Roman, Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, der in Nordkorea spielt und für den er im selben Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

Anke Caroline Burger übersetzt aus dem Englischen, u. a. Jon McGregor, Emily Perkins, Michelle de Kretser und Mark Haddon. Sie lebt in Berlin und in Montreal, Kanada.

ADAM

JOHNSON

NIRVANA

STORIES

Aus dem amerikanischen Englisch
von Anke Caroline Burger

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Fortune Smiles bei Random House, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Adam Johnson 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Anzinger I Wüschner I Rasp, Miriam Bloching, München

Umschlagfoto: Yevgen Timashov / plainpicture / beyond

eISBN 978-3-518-74245-7

www.suhrkamp.de

NIRVANA

Im Gedenken an

Thomas Mannarino (1964-2007)

und Eric Rogers (1970-2012)

NIRVANA

ES IST SPÄT, und ich kann nicht schlafen. Ich schiebe ein Fenster hoch, um frische Luft hereinzulassen, Frühling in Palo Alto, aber es hilft nicht. Ich liege mit offenen Augen im Bett und höre ein Wispern. Ich muss an den Präsidenten denken, weil wir oft im Flüsterton miteinander sprechen. Ich weiß, dass das Wispern nur von meiner Frau kommt, Charlotte, die die ganze Nacht lang Nirvana über Kopfhörer hört und die Texte im Schlaf mitmurmelt. Charlotte hat ihr eigenes Bett, ein elektrisch verstellbares Klinikbett.

Ich kann nicht schlafen, denn wenn ich die Augen schließe, sehe ich meine Frau vor mir, wie sie Selbstmord begeht. Beziehungsweise es versucht, schließlich ist sie von den Schultern abwärts gelähmt. Die Lähmung ist vorübergehend, aber überzeugen Sie mal Charlotte davon! Sie hat heute auf der Seite geschlafen, damit die wundgelegenen Stellen nicht schlimmer werden, und das Gitter neben der Matratze auf so eine Art angestarrt. Das Bett steuert sie mit der Stimme – wenn sie es also schaffen würde, ihren Kopf irgendwie zwischen die Stäbe zu manövrieren, bräuchte sie nur noch »hoch« zu sagen. Hätte sich das Kopfteil erst einmal in Bewegung gesetzt, wäre sie in Sekundenschnelle erstickt. Auch die Schlaufe im Kabel des Hoyer-Lifters, mit dem sie aus dem Bett hinaus- und wieder ins Bett hineingehoben wird, sieht sie mit einem ähnlichen Blick an. Doch im Grunde braucht sie gar keine extravagante Exit-Strategie – schließlich hat sie mir das Versprechen abgerungen, dass ich ihr helfen werde, wenn es so weit ist.

Ich stehe auf und trete an ihr Bett, aber sie hört noch gar nicht Nirvana – das hebt sie sich meist für die Zeit auf, in der sie es am dringendsten braucht, nach Mitternacht, wenn ihre Nerven richtig anfangen zu knistern.

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sage ich zu ihr. »Eine Art Flüstern.«

Kurz geschnittene Haare umrahmen ihr abgehärmtes Gesicht, ihre Haut ist fahl wie Kühlschranklicht.

»Ich hab es auch gehört«, sagt sie.

Neben ihrer sprachgesteuerten Fernbedienung liegt ein halb gerauchter Joint in der Metallschale. Ich zünde ihn an und halte ihr das Ding an die Lippen.

»Und, wie ist das Wetter da drin?«, frage ich.

»Windig«, sagt sie, als sie den Rauch ausatmet.

Windig ist besser als Hagel oder Blitz, oder, Gott bewahre, Hochwasser, das Gefühl, das sie hatte, als ihre Lungenfunktion wieder einsetzte. Aber Wind ist nicht gleich Wind.

Ich frage : »Windig wie das Wispern im Fliegengitter oder windig wie das Rütteln der Fensterläden?«

»Eine starke Bö, die pfeift und zischt wie ein Mikrofon im Wind.«

Sie raucht. Charlotte ist nicht gern bekifft, aber es beruhigt ihr Inneres, sagt sie. Sie leidet am Guillain-Barré-Syndrom, an einer Krankheit, bei der das Immunsystem die Leitbahnen der eigenen Nerven angreift, und wenn das Gehirn Signale an den Körper schickt, dann verenden die elektrischen Impulse, bevor sie bei den Muskeln ankommen. Eine Milliarde Nerven in ihr senden Impulse aus, die überall und nirgendwo verpuffen. Seit neun Monaten hat sie jetzt diese Krankheit, und das ist länger als alles, was die medizinische Fachliteratur bislang kennt. Die Ärzte können uns nicht mehr sagen, ob Charlottes Nerven irgendwann wieder funktionieren werden oder ob sie für immer gelähmt sein wird.

Hustend atmet sie aus. Ihr rechter Arm zuckt, was heißt, dass ihr Gehirn versucht hat, ihrem Arm mitzuteilen, dass er die Hand heben und den Mund zuhalten soll.

Sie zieht noch mal. Durch den Rauch sagt sie : »Ich mache mir Sorgen.«

»Worüber?«

»Dich.«

»Du machst dir Sorgen um mich?«

»Du musst aufhören, mit dem Präsidenten zu reden. Du musst dich der Realität stellen.«

Ich versuche es mit Humor. »Aber er redet mit mir, nicht ich mit ihm.«

»Dann hör nicht mehr hin, okay? Er ist nicht mehr da. Wenn man tot ist, dann hat man still zu sein.«

Ich nicke, widerwillig. Seit sie ans Bett gefesselt ist, hat sie dem Fernsehen abgeschworen und ist insofern wahrscheinlich der einzige Mensch in den USA, der die Ermordung nicht gesehen hat. Hätte sie den Ausdruck in den Augen des Präsidenten gesehen, als ihm das Leben genommen wurde, würde sie verstehen, warum ich spätnachts mit ihm spreche. Könnte sie das Zimmer verlassen und miterleben, wie eine ganze Nation trauert, wüsste sie, warum ich unseren obersten Befehlshaber reanimiert und wieder zurück ins Leben geholt habe.

»Und von wegen ich und der Präsident«, sage ich. »Da könnte ich dich auch dran erinnern, dass du ein Drittel deines Lebens mit Nirvana verbringst. Die Songs stammen alle von einem Typen, der sich das Hirn weggeblasen hat.«

Charlotte legt den Kopf schräg und sieht mich an, als sei ich ein Fremder. »Kurt Cobain hat den Schmerz seines Lebens in etwas verwandelt, das zu anderen Menschen spricht. Das sie wirklich bewegt. Und was hat der Präsident hinterlassen? Ungewissheit, Leere, zig Fehlschläge.«

Wenn sie bekifft ist, redet sie so. Ich sage nichts. Ich drücke den Joint aus und halte ihre Kopfhörer hoch. »Willst du jetzt dein Nirvana?«, frage ich.

Sie blickt zum Fenster. »Dieses Geräusch. Da ist es wieder«, sagt sie.

Ich strecke den Kopf aus dem Fenster und blicke hinaus in die Dunkelheit. Es ist eine ganz normale Nacht in Palo Alto – das Zischen von Rasensprengern, blaue Recyclingtonnen, ein Waschbär, der im Garten gräbt. Dann bemerke ich sie, direkt vor meinen Augen : eine kleine schwarze Drohne, die am Fenster in der Luft steht. Die winzigen Servomotoren surren, als sie mich ins Visier nimmt. Blitzschnell klaube ich die Drohne aus der Luft und hole sie ins Zimmer. Ich schließe Fenster und Vorhang und untersuche das Ding : Der Korpus besteht aus schwarzer Folie, die über luftige Streben gestreckt ist, filigran wie die Knochen in einem Fledermausflügel. Hinter Rotoren aus durchsichtigem Zellophan verbreitet ein winziger Infrarotmotor pulsierende Wärme.

»Und, glaubst du mir jetzt?«, fragt sie. »Hörst du jetzt mit diesem Präsidentenquatsch auf?«

»Dafür ist es zu spät«, antworte ich und lasse die Drohne frei. Wir sehen ihr beide zu, wie sie desorientiert durchs Zimmer brummt. Ist sie autonom? Wird sie von jemandem gesteuert, jemandem, der unser Haus beobachtet? Ich pflücke sie aus der Luft und schalte sie aus.

Charlotte dreht den Kopf zu ihrer Sprachsteuerung. »Musik an«, befiehlt sie.

Mit geschlossenen Augen wartet sie darauf, dass ich ihr die Kopfhörer aufsetze und sie darauf lauschen kann, wie Kurt Cobain wieder zum Leben erwacht.

Später in der Nacht wache ich auf. Die Drohne hat sich irgendwie von selbst eingeschaltet, schwebt über mir und sondiert mich mit einem schwachen roten Lichtstrahl. Ich werfe einen Pullover über das Ding, und es fällt zu Boden. Ich vergewissere mich, dass Charlotte schläft, und hole meinen iProjector heraus. Ich schalte ihn ein, und der Präsident erscheint, dreidimensional und in Lebensgröße, seine Gestalt ist umgeben von einem gelblichen Schein.

Er begrüßt mich lächelnd. »Es freut mich, wieder zurück in Palo Alto zu sein«, sagt er.

Mein Algorithmus hat auf den GPS-Chip im iProjector zugegriffen und die Datenbank des Präsidenten nach Ortsbezügen durchsucht. Dieser Satz stammt aus einer Rede, die er vor Stanfordabsolventen gehalten hat, damals, als er noch Senator war.

»Mister President«, sage ich. »Es tut mir leid, dass ich Sie wieder stören muss, aber ich habe immer noch so viele Fragen.«

Er blickt nachdenklich in die Ferne. »Nur zu«, sagt er.

Ich bewege mich in seine Blickachse, kann ihn aber nicht dazu bringen, mir in die Augen zu sehen. Eine der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Programmierung.

»Habe ich einen Fehler begangen, als ich Sie geschaffen und in die Welt entlassen habe?«, will ich wissen. »Meine Frau behauptet, dass Sie der Bevölkerung das Trauern unmöglich machen. Dass wir wegen diesem Sie nicht akzeptieren können, dass es Ihr echtes Sie nicht mehr gibt.«

Der Präsident reibt sich die Stoppeln an seinem Kinn. Er blickt zu Boden, dann weg.

»Die Geister, die man einmal gerufen hat, wird man nicht wieder los«, sagt er.

Was unheimlich ist, da er diesen Satz in der Sendung 60 Minutes geäußert hat – als er sagte, wie leid es ihm täte, dass er den zivilen Einsatz von Drohnen legalisiert hat.

»Wissen Sie denn, dass ich derjenige bin, der Sie geschaffen hat?«

»Jeder Mensch wird frei geboren«, sagt er. »Und niemand hat das Recht, mit anderen zu handeln.«

»Aber Sie sind ja nicht geboren worden«, kläre ich ihn auf. »Ich habe einen Algorithmus nach dem Muster des Linux-Kernels geschrieben. Sie sind eine Open-Source-Suchmaschine, die ich mit einem Dialogbot und einem Video-Compiler gekoppelt habe. Das Programm ist ein Webcrawler, der Bilder, Videos und Daten zu einer bestimmten Person findet und archiviert – alles, was Sie sagen, haben Sie früher bereits gesagt.«

Zum ersten Mal schweigt der Präsident.

Ich frage : »Wissen Sie denn … dass Sie von uns gegangen sind?«

Der Präsident zögert nicht.

»Das Ende des Lebens eröffnet uns eine neue Art der Freiheit«, sagt er.

Vor meinem inneren Auge läuft wieder der Anschlag ab. Ich habe das Video zig Mal gesehen – der Autokorso bewegt sich im Schritttempo voran, während der Präsident zu Fuß an der Menschenmenge hinter den Absperrungen vorbeigeht. Eine Person in der Menge fällt dem Präsidenten auf. Er wendet sich demjenigen zu, hebt grüßend die Hand. Da trifft ihn das Geschoss in den Bauch. Unter der Wucht des Einschlags krümmt er sich zusammen, und er blickt hoch, um den Schützen anzusehen, der jedoch nie von der Kamera erfasst wird. Ein Begreifen breitet sich in den Augen des Präsidenten aus – erkennt er eine bestimmte Person, wird ihm etwas klar, hat er es womöglich vorhergesehen? Der zweite Schuss trifft ihn ins Gesicht. Man sieht, wie das Licht in ihm erlischt – seine Beine geben nach, er liegt am Boden. Ein paar Tage wird der Präsident noch an eine Maschine angeschlossen, doch sein Leben ist bereits beendet.

Ich werfe einen Blick hinüber zur schlafenden Charlotte. Ich flüstere : »Mister President, haben Sie mit der First Lady je über solche Eventualitäten gesprochen? Über die Zukunft?«

Ich frage mich, ob die First Lady die Maschine abgeschaltet hat.

Der Präsident lächelt. »Die First Lady und ich haben ein ausgezeichnetes Verhältnis. Wir sprechen über alles miteinander.«

»Aber haben Sie ihr genaue Anweisungen hinterlassen? Hatten Sie beide eine Abmachung?«

Seine Stimme wird leiser, klangvoller. »Fragen Sie nach dem Bund der Ehe?«

Ich zögere. »Ich denke schon.«

»Wir haben nur eine Pflicht«, sagt er, »nämlich unserem Ehepartner in jeder Hinsicht zur Seite zu stehen.«

Die Vorstellung, wie ich Charlotte womöglich noch zur Seite werde stehen müssen, lässt mich nicht los.

Der Präsident blickt ins Weite, als flattere dort eine Fahne im Wind.

»In meiner Funktion als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika«, sagt er, »verbürge ich mich für das, was Sie gerade gehört haben.«

An diesem Punkt weiß ich, dass unser Gespräch vorbei ist. Als ich die Hand ausstrecke, um den iProjector auszustellen, blickt mir der Präsident geradewegs in die Augen, allein der Perspektive geschuldet, vermute ich. Wir betrachten einander, er mich mit tiefsinnigem, melancholischem Blick, und mein Finger mag den Schalter nicht betätigen.

»Stärken Sie Ihre innere Entschlossenheit«, fordert er mich auf.

Kann man eine Geschichte erzählen, die nicht mit etwas beginnt, sondern die einfach plötzlich geschieht? Die Frau, die du liebst, hat die Grippe. Ihre Finger sind taub, ihre Beine fühlen sich an wie Gummi. Schon kann sie die Kaffeetasse nicht mehr halten. Ins Krankenhaus lässt sie sich schließlich nur bringen, weil sie pinkeln muss. Und zwar dringend, der Drang macht sie wahnsinnig, aber die Lähmung hat eingesetzt : Die Blase kann das Gehirn nicht mehr hören. Nachdem der Notarzt ihr einen Foley-Katheter gesetzt hat, lernst du eine Menge neuer Worte : Axon, Areflexie, akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie.

Charlotte sagt, sie sei »voller Lärm«. In ihr wüte »ein Sturm«.

Der Arzt hat eine große Spritze. Er fordert Charlotte auf, sich auf die Tragbahre zu legen. Charlotte hat Angst, sich auf die Tragbahre zu legen. Sie hat Angst, dass sie nie wieder aufstehen wird. »Bitte, Schatz«, sagst du. »Leg dich auf die Trage.« Kurz darauf musst du dir den Glyzerinschimmer einer frischgezapften Phiole Rückenmarksflüssigkeit ansehen. Und sie hatte recht. Sie steht nicht wieder auf.

Als Nächstes ist die Plasmapherese dran, dann die Therapie mit Immunglobulin in hohen Dosen.

Die Ärzte lassen beiläufig das Wort Beatmungsgerät fallen.

Charlottes Mutter kommt. Sie bringt ihr Cello mit. Sie weiß alles über die Leningrader Blockade. Darüber hat sie ein Buch geschrieben. Als Charlotte in das künstliche Koma versetzt wird, füllt sie die Neurologie mit den traurigsten Klängen der Welt. Sieben Tage lang ist nichts als das Zischen der Luftklappen, das Trillern des Vitaldatenmonitors zu hören, und Schostakowitsch, Schostakowitsch, Schostakowitsch.

Zwei Monate Physiotherapie in Santa Clara. Dort gibt es Tauchbecken, Sonarstimulatoren, Exoskelett-Trainingsgeräte. Charlotte wird die Person im Raum, bei deren Anblick sich die mit anderen Krankheiten Geschlagenen auf einmal glücklich schätzen. Sie macht keine Fortschritte, sie »kämpft« nicht »tapfer« und »schlägt« sich auch nicht »wacker«.

Charlotte redet sich ein, dass ich sie für eine der Schwestern auf der Station verlassen werde. In der Reha schreit sie mich an, ich soll mich sterilisieren lassen, damit diese andere Frau und ich mit Kinderlosigkeit geschlagen sein werden. Zur Beruhigung lese ich ihr Joseph Hellers Memoiren vor, der ebenfalls am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt war. Das Buch sollte uns eigentlich aufheitern. Stattdessen berichtet es ausführlich, wie wunderbar Hellers Freunde sind, wie optimistisch er in die Zukunft blickt und wie glücklich Heller ist, als er seine Frau verlässt und die schöne Krankenschwester heiratet, die für ihn sorgt. Besonders das Ende verdirbt Charlotte die Laune : Joseph Heller wird wieder gesund.

Wir stürzen in einen Abgrund der Verzweiflung, schmal und tief. Alles treibt dort im Wasser am Grund mit uns – Beruf, Ziele, Wünsche, Reisen, Kinderpläne –, alles müssen wir ersäufen, um uns selbst zu retten.

Endlich wird Charlotte entlassen. Doch zu Hause ist alles unerwartet surreal. Die vertraute Umgebung macht uns endgültig klar, wie unmöglich ein normales Leben ist. Aber die Katze freut sich, Charlotte wieder zu Hause zu haben, freut sich derart, dass sie eine ganze Nacht auf dem Luftröhrenschnitt in Charlottes Hals liegt. Das war’s dann wohl, Katze! Während ich in der Garage bin, beobachtet Charlotte eine Spinne, die sich an einem Faden von der Decke herunterlässt. Charlotte versucht, sie wegzublasen. Sie pustet und pustet, aber die Spinne verschwindet trotzdem in ihren Haaren.

Zu erwähnen außerdem Tests, Tobsuchts- und Trotzanfälle. Die Entdeckung von Kurt Cobain, Marihuana und immer kürzeren Haarschnitten steht uns noch bevor. Aus der Zeit gibt es nur eine Episode, von der ich berichten muss. Es war eine normale Nacht. Ich lag neben Charlotte in dem Klinikbett, hielt ihr eine Zeitschrift vor die Augen und blätterte um, ich sah ihr Gesicht also nicht.

Sie sagte : »Du weißt nicht, wie ich mich danach sehne, aus diesem Bett rauszukommen.«

Ihre Stimme klang ausdruckslos. Etwas in der Art hatte sie schon tausend Mal gesagt.

»Ich würde alles tun, um hier rauszukommen«, sagte sie.

Ich blätterte um und lachte über ein Foto mit der Schlagzeile : »Stars sind auch nur Menschen wie wir!«

»Aber ich könnte dir das niemals antun«, sagte sie.

»Was antun?«, fragte ich.

»Nichts.«

»Wovon redest du, was meinst du damit?«

Ich drehte ihr das Gesicht zu. Es war nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt.

»Wenn ich dir damit nicht so weh tun würde«, sagte sie, »würde ich einfach verschwinden.«

»Wohin verschwinden?«

»Weg, weg von hier.«

Seit der Nacht, in der mir das Versprechen abgerungen wurde, hatten wir es beide nicht mehr erwähnt. Ich versuchte, so zu tun, als stünde es nicht im Raum – vergeblich.

»Ob du’s willst oder nicht, mich wirst du nicht los.« Ich zwang mich zu lächeln. »Man nennt das Schicksal. Wir gehören eben zusammen. Und bald wirst du wieder gesund und alles ist wie früher.«

»Mein Leben besteht aus diesem Kopfkissen.«

»Das stimmt überhaupt nicht. Du hast deine Freunde, deine Familie. Und die Technik. Die ganze Welt ist zum Greifen nah.«

Mit Freunden meinte ich ihre Pflegerinnen und Physiotherapeuten. Mit Familie meinte ich ihre distanzierte, grüblerisch veranlagte Mutter. Aber es machte nichts : Charlotte war zu weit weg, um mich auf ihre gelähmten Hände und deren Unfähigkeit, nach irgendetwas zu greifen, hinzuweisen.

Sie drehte den Kopf zur Seite und starrte das Gitter an.

»Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich würde dir so was nie antun.«

Am Morgen, bevor die Pflegekräfte eintreffen, ziehe ich die Vorhänge zurück und betrachte die Drohne im frühen Morgenlicht. Antrieb und Tarnkappe sind größtenteils Standardbauteile, aber die halb unter einem Kevlarschutz verborgenen Prozessoren kenne ich noch nicht. Um die Drohne zum Sprechen zu bringen und herauszufinden, wer das Ding auf mich losgelassen hat, muss ich mir den Hash Reader aus der Firma besorgen.

Als Charlotte aufwacht, stecke ich ihr ein Kissen unter den Kopf und massiere ihre Beine. Das ist unsere Morgenroutine.

»Lass uns ein paar Schwann-Zellen erzeugen«, sage ich zu ihren Zehen. »Es wird Zeit, dass Charlotte ein paar Myelinscheiden produziert.«

»Da hat aber jemand gute Laune«, sagt sie. »Wenn du so gut drauf bist, hast du bestimmt mit dem Präsidenten geplaudert. Deswegen redest du doch mit ihm, oder? Zur Ermutigung? Von wegen Licht am Ende des Tunnels und so.«

Ich hebe ihren rechten Fuß hoch und massiere die Achillessehne. Letzte Woche hat Charlotte einen wichtigen Test nicht bestanden, den DTRE, bei dem die Responsivität des kollagenen Bindegewebes überprüft wird, auf Anzeichen für eine beginnende Heilung. »Machen Sie sich keine Sorgen«, hat der Arzt zu uns gesagt. »Ich kenne einen anderen Fall, wo es ebenfalls neun Monate gedauert hat, bis die erste Reaktion kam, und der Patient wurde vollständig geheilt.« Ich fragte, ob wir vielleicht mit diesem Patienten sprechen könnten, um zu erfahren, was er durchgemacht hat – um ein Gefühl dafür zu bekommen, was uns bevorsteht. Der Arzt teilte uns mit, dass der Fall aus Frankreich stamme, aus dem Jahr 1918.

Als der Arzt weg war, ging ich in die Garage und fing an, am Präsidenten zu arbeiten. Ein Psychologe würde wahrscheinlich sagen, dass das Projekt etwas mit dem Versprechen zu tun hat, das ich Charlotte gegeben habe – damit, dass der Präsident ebenfalls einen Bezug zu der Person hatte, die ihm das Leben nahm. Aber es ist noch simpler : Ich musste einfach jemanden retten, und beim Präsidenten spielt es keine Rolle, dass ich zu spät komme.

Ich klopfe auf Charlottes Kniescheibe. Kein Reflex. »Tut irgendwas weh?«

»Und was hat der Präsident nun gesagt?«

»Welcher Präsident?«

»Der tote«, gibt sie zurück.

Ich drücke die Daumen in die Aponeurosis plantaris. »Und, wie sieht’s hier aus?«

»Kühl wie Diamantengeschmeide«, antwortet sie. »Na komm, ich weiß, dass du mit ihm geredet hast.«

Heute wird ein schlechter Tag, das merke ich jetzt schon.

»Lass mich raten«, insistiert Charlotte. »Der Präsident hat dir nahegelegt, in die Südsee zu ziehen und Maler zu werden. Das ist doch inspirierend.«

Ich sage nichts.

»Aber du würdest mich ja mitnehmen, oder? Ich kann deine Assistentin werden. Ich kann dir die Palette mit den Zähnen halten. Und wenn du ein Modell brauchst – liegender Akt ist meine Spezialität.«

»Wenn du’s unbedingt wissen willst : Der Präsident hat zu mir gesagt, ich soll meine innere Entschlossenheit stärken.«

»Innere Entschlossenheit«, erwidert sie. »Davon könnte ich auch gut was gebrauchen.«

»Niemand hat mehr innere Entschlossenheit als du.«

»Was für ein Gesülze. Siehst du nicht, was hier los ist? Dir ist schon klar, dass ich den Rest meines Lebens so verbringen werde, oder?«

»Nichts überstürzen, meine Hübsche. Der Tag ist erst ein paar Minuten alt.«

»Ich weiß«, sagt sie. »Und ich sollte mittlerweile wahrscheinlich einen Zustand erleuchteter Hinnahme erreicht haben. Glaubst du etwa, mir macht das Spaß, dass ich niemand anderen habe, den ich anmeckern kann? Ich weiß, dass es idiotisch ist – du bist der Einzige auf der Welt, den ich liebe.«

»Du liebst Kurt Cobain.«

»Der ist tot.«

Draußen fährt gerade Hector vor, der Morgenpfleger – seine alte Karre hat noch einen Verbrennungsmotor und ist nicht zu überhören.

»Ich muss was aus dem Büro holen«, sage ich. »Aber dann komme ich gleich wieder.«

»Versprich mir was«, sagt sie.

»Nein.«

»Komm schon. Dann brauchst du auch das andere Versprechen nicht einzuhalten.«

Ich schüttele den Kopf. Ich weiß genau, dass sie es nicht ernst meint – sie wird mich nie davon erlösen.

Sie fährt trotzdem fort : »Würdest du bitte aufrichtig zu mir sein? Du musst mich nicht aufheitern. Du brauchst hier nicht ständig Optimismus zu versprühen. Das bringt doch nichts.«

»Aber ich bin optimistisch.«

»Dafür gibt es keinen Anlass«, entgegnet sie. »Diese ganze Falschheit. Das hat Kurt Cobain umgebracht.«

Ich glaube eher, dass es die Schrotflinte war, die er sich an den Kopf gehalten hat, sage aber nichts.

Ich kenne nur eine einzige Liedzeile von Nirvana. Ich singe sie Charlotte vor, ein imaginäres Mikro in der Hand :

»With the lights on«, singe ich, »she’s less dangerous.«

Sie verdreht die Augen. »Falsch, total falsch«, sagt sie. Aber sie lächelt.

Ich will mehr davon. »Was, für den Versuch gibt’s keine Punkte?«

»Hörst du das nicht?«, fragt Charlotte.

»Was?«

»Das bin ich. Ich klatsche.«

»Ich gebe auf«, sage ich und gehe zur Tür.

»Bett, kippen«, sagt Charlotte zur Fernbedienung. Ihr Oberkörper hebt sich langsam. Der Tag kann beginnen.

Ich fahre auf dem Freeway 101 Richtung Mountain View nach Süden. Da arbeite ich, als Programmierer bei der Firma Reputation Curator. Das Unternehmen nötigt Yelp- und Facebookuser dazu, negative Bewertungen windiger Anwälte und miserabler Zahnärzte zurückzuziehen. Das ist ziemlich arbeitsintensiv, deswegen wurde ich angeheuert, um einen Webcrawler zu schreiben, mit dem das Internet durchsucht wird, und aus den gewonnenen Daten erstellen wir dann Userprofile. Die Erschaffung des Präsidenten war nur der nächste Schritt.

Im Auto auf der Nebenspur fährt eine Frau, auf dem Beifahrersitz neben ihr steht der iProjector, und sie führt beim Fahren eine lebhafte Unterhaltung mit dem Präsidenten. Auf der nächsten Autobahnbrücke sehe ich einen älteren Mann in einer beigen Windjacke stehen, der auf den Verkehr hinunterblickt. Neben ihm steht der Präsident. Die beiden unterhalten sich nicht, sondern stehen nur nebeneinander und sehen schweigend den vorbeifahrenden Autos hinterher.

Ein fahrerloses schwarzes Auto holt auf der Nachbarspur zu mir auf. Wenn ich schneller fahre, fährt es auch schneller. Trotz getönter Scheiben ist ersichtlich, dass nichts darin transportiert wird – es ist leer, abgesehen von dem Batteriepark, der dafür sorgt, dass es von niemandem abgehängt werden kann. Ich fahre zwar gern Auto und finde es entspannend, schalte jetzt aber trotzdem auf Automatik um und hüpfe rüber in die Google-Spur, in der ich das Lenkrad loslassen und mich ins Internet einloggen kann. Zum ersten Mal, seit ich den Präsidenten vor einer Woche gelauncht habe. Ich gehe zu meiner Site und stelle fest, dass vierzehn Millionen Menschen den Präsidenten heruntergeladen haben. Ich habe außerdem siebenhundert neue E-Mails. Die erste ist von dem Typen, der Facebook gegründet hat, und es ist kein Spam – er will mir einen Burrito ausgeben und über die Zukunft reden. Ich springe direkt zur letzten Nachricht, von Charlotte : »Ich will nicht fies zu dir sein. Aber ich habe jedes Gefühl verloren, falls du dich erinnerst. Ich kriege es zurück. Ich gebe mir Mühe, wirklich.«

Ich sehe den Präsidenten schon wieder, diesmal auf der Rasenfläche vor einer koreanischen Kirche. Der Pfarrer hat den iProjector auf einen Stuhl gestellt, und es sieht so aus, als würde der Präsident in einer Bibel blättern, die vor ihm auf einem Pult liegt. Er ist ein Gespenst, das herumspuken wird, bis unsere Nation Frieden mit den Ereignissen geschlossen hat : Dass er nicht mehr da ist, dass er uns genommen wurde und dass das nie rückgängig gemacht werden kann. Und ich bin nicht blöd. Ich weiß, was mir langsam und unwiederbringlich unter meinen Augen abhandenkommt. Ich weiß, dass ich mitten in der Nacht nicht beim Präsidenten Zuflucht suchen sollte, sondern bei Charlotte.

Aber wenn ich mit Charlotte zusammen bin, dann ist es, als wäre da eine Membran zwischen ihr und mir, eine Schicht, die mein Hirn zwischen uns aufbaut, die mich vor ihrer zittrigen Stimme schützen soll, vor dem sichtbaren Pulsieren unter der ausgetrockneten Haut ihres Handgelenks. Erst, wenn ich von ihr weg bin, überwältigt es mich – wie unglaublich verängstigt sie sein muss ; im Laden, wenn ich aus alter Gewohnheit versehentlich zum Tamponregal gehe, denke ich darüber nach, wie grausam ihr das Leben erscheinen muss. Beim Fahren denke ich darüber nach, dass sie seit Kurzem den Kopf schon zur Wand dreht, bevor das letzte Stück des Nirvana-Albums verklungen ist, dass bald sogar Marihuana und Kopfhörer nicht mehr helfen werden. Die Abfahrt vor mir ist verschwommen, und ich spüre, dass ich Tränen in den Augen habe. Ich fahre einfach an meiner Ausfahrt vorbei und lasse mich von der Google-Spur davontragen.

Als ich zurück nach Hause komme, wartet dort mein Chef auf mich, Sanjay. Ich hatte ihm gemailt, ein Praktikant solle mir den Hash Reader vorbeibringen, aber da steht The Man höchstpersönlich vor mir, um mir das Teil zu überreichen. Theoretisch kann es einen Hash Reader gar nicht geben. Theoretisch ist es unmöglich, eine Hash-Verschlüsselung mit hundert Schlüsseln zu knacken. Aber ein Typ in Indien hat es geschafft, ein Typ, den Sanjay kennt. Sanjay wird nicht gern auf seine indische Herkunft angesprochen und findet es ein zu krasses Klischee, dass jemand mit seinem Namen Besitzer eines Start-ups in Palo Alto ist. Deswegen nennt er sich »SJ« und trägt coole Klamotten. Er hat an der Stanford Graduate School of Business studiert, aber im Grunde beruht Reputation Defender auf der Geschäftsidee einer anderen Firma, und Sanjay hat sie einfach geklaut. Irgendwie kann man es ihm nicht übelnehmen – die Hoffnungen und Träume eines ganzen indischen Dorfs lasten auf ihm.

SJ folgt mir in die Garage, wo ich die Drohne andocke und ihre Festplatte mit Slave Code parse. Er reicht mir den in Bangalore aus einem alten Motherboard handgelöteten Hash Reader. Andächtig betrachten wir das raffinierteste Stück Entschlüsselungstechnik der Welt, das wir in unseren unwürdigen Händen halten. Aber wenn man in Silicon Valley den guten Ruf seiner Kunden »kurieren« will, muss man schon ein paar Codes knacken können.

Er sagt nichts, während ich die Drohne hochfahre und eine Diagnose laufen lasse.

»Schön, dass man sich mal wieder sieht«, sagt er schließlich.

»Ich musste mal raus«, antworte ich.

»Schon klar«, sagt SJ. »Ich sag ja nur. Du hast uns gefehlt. Du holst den Präsidenten zurück, bringst fünfzehn Millionen Besucher auf unsere Site, und dann lässt du dich eine Woche lang nicht blicken.«

Die Drohne weiß, dass irgendwas nicht ganz sauber ist – sie schaltet sich einfach ab. Ich reboote.

»Wo hast du denn das Teil abgegriffen?«, fragt SJ.

»Ich adoptiere sie«, sage ich. »Gebe ihr ein neues Zuhause.«

SJ nickt. »Der Geheimdienst war übrigens da.«

»Um mich zu suchen?«, frage ich. »Klingt nicht besonders geheim.«

»Der Präsident hat sie garantiert beeindruckt. Mich auf jeden Fall.«

SJ hat lange Wimpern und große braune Manga-Augen, aus denen er mich jetzt direkt ansieht.

»Ganz ehrlich, Alter«, sagt er. »Der Präsident, das ist hohe Kunst, das ist ein echter Game Changer. Irre beeindruckend. Weißt du, was ich mir vorstelle?«

Seine schicke neue Brille fällt mir auf. »Ist die Android?«, frage ich.

»Ja.«

»Darf ich mal?«

Er reicht sie mir rüber und ich suche nach ihrer IP-Adresse.

SJ macht ausladende Gesten. »Ich habe da diese Vision – wie wäre es, wenn dein Algorithmus auf Reputation Curator laufen würde? Hinz und Kunz könnten ihr Profil animieren, die Leute direkt ansprechen. Ihren Internetauftritt wirklich personalisieren und selbst bestimmen, wie sie vom Rest der Welt wahrgenommen werden. Dein Programm ist Google, Wikipedia und Facebook in einem. Jedermann, der einen Ruf zu verlieren hat, würde dich dafür bezahlen, dass du ihn animierst, ihn zum Sprechen bringst … und unsterblich machst.«

»Kannst ihn haben«, sage ich zu SJ. »Der Kernel des Algorithmus ist Open Source – ich habe ein Freeware-Protokoll benutzt.«

SJ sieht mich mit einem schiefen Grinsen an. »Haben wir uns schon angeguckt«, sagt er. »Sieht so aus, als hättest du das Ganze in siebenfacher Verschlüsselung verpackt.«

»Ja, das habe ich wohl, was? Aber du hast ja den Hash Reader. Knack sie einfach.«

»Das will ich aber nicht«, wendet SJ ein. »Lass uns Partner werden. Deine Idee ist spitze – ein Algorithmus, der das Web durchsucht und die gefundenen Daten zu einem Hologramm zusammenbaut. Der Präsident ist der Machbarkeitsbeweis, verrät aber natürlich zugleich das Konzept. Wenn wir jetzt in die Startlöcher gehen, gehört die Idee uns und wir können sie noch schützen lassen. In ein paar Wochen hat jeder so was.«

Ich weise SJ nicht auf die Ironie hin, die darin liegt, dass ausgerechnet er ein Geschäftsmodell schützen lassen will.

»Für dich ist der Präsident nichts als ein Hologramm?«, frage ich. »Hast du mit ihm gesprochen? Hast du dir angehört, was er zu sagen hat?«

»Du kriegst Firmenanteile«, sagt SJ. »Schubkarrenweise Aktien.«

Die Drohne bietet mir ihre Firewall dar wie eine schöne Frau ihre Kehle. Ich setze den Hash Reader auf sie an, sein Prozessor summt und blinkt rot. Wir lehnen uns auf den Klappstühlen zurück und sehen dem Gerät bei der Arbeit zu.

»Ich muss dich mal was fragen«, sage ich.

»Schieß los«, sagt er und zieht ein Beutelchen Gras heraus. Er rollt sich einen Joint und gibt mir den restlichen Beutel. Er versorgt uns schon seit ein paar Monaten, ohne lästige Fragen.

»Wie findest du Kurt Cobain?«, frage ich.

»Kurt Cobain.« Er rollt das Papierchen zwischen den Fingern. »Der Mann war ein Genie«, sagt er und leckt den Rand an. »Zu rein für diese Welt. Kennst du das Patti-Smith-Cover von ›Smells Like Teen Spirit‹? Unübertroffen, Mann.«

Er zündet den Joint an und hält ihn mir hin, aber ich winke ab. Er sitzt da und starrt aus dem offenen Rachen unserer Garage hinaus in die Vororttristesse. Apple, Oracle, PayPal und Hewlett-Packard wurden alle in Garagen im Umkreis einer Meile von hier gegründet. Ungefähr einmal im Monat kriegt SJ Heimweh und kocht Litti Chokha für die ganze Belegschaft. Er lässt Sharda Sinha laufen und hat einen Ausdruck im Gesicht, als ob er wieder zu Hause in Bihar wäre, dem Land des Buddhabaums und der Hinduracke. Jetzt hat er auch wieder diesen Blick drauf. Er sagt : »Stell dir vor, meine Familie hat sich den Präsidenten heruntergeladen. Sie haben keine Ahnung, was ich hier in Amerika mache, ich kann ihnen nicht verklickern, dass ich miesen Sushi-Läden dabei helfe, Twitter-Trolls loszuwerden. Aber der amerikanische Präsident, das verstehen sie.«

Der Bürgermeister joggt barfuß an uns vorbei. Kurz darauf rollt eine fahrende Werbetafel durch die Straße.

»Hey, kannst du den Präsidenten Hindi sprechen lassen?«, fragt SJ. »Wenn du den amerikanischen Präsidenten dazu bringst, ›Verlangen Sie Pepsi‹ auf Hindi zu sagen, mache ich dich zum reichsten Mann der Welt.«

Die LED des Hash Readers schaltet auf grün um. Und damit gehört die Drohne mir. Ich trenne die Kabel und synchronisiere sie mit der Google Glass. Die Drohne nutzt ihren Moment der Freiheit dazu, aufzusteigen und SJ zu betrachten.

SJ mustert die Drohne nicht minder eingehend.

»Was meinst du, wer dir das Ding auf den Hals gehetzt hat?«, fragt er. »Mozilla? Craigslist?«

»Das erfahren wir gleich.«

»Lautlos. Schwarz. Radarabgeschirmt«, sagt SJ. »Ich wette, wir haben es mit schwarzer Magie Marke Microsoft zu tun.«

Das neue Betriebssystem fährt hoch, die Drohne reagiert und ich schicke sie per Netzhautbefehl auf einen Rundflug durch die Garage. »Na, wer hätte das gedacht«, sage ich. »Wie es scheint, spricht unser kleiner Freund Google.«

»Wow«, sagt SJ. »Don’t be evil oder was?«

Als die Drohne von ihrem Rundflug zurückkommt, richtet sie einen grünen Laserstrahl auf SJs Schläfe.

»Hey, was soll der Scheiß?«, meckert SJ.

»Keine Bange«, beruhige ich ihn. »Sie misst nur deinen Puls und deine Temperatur.«

»Wozu?«

»Vielleicht will sie deinen Gefühlszustand ablesen«, antworte ich. »Wahrscheinlich eine noch übriggebliebene Subroutine.«

»Und du bist dir sicher, dass du das Ding unter Kontrolle hast?«

Ich verdrehe die Augen, und die Drohne macht einen Rückwärtssalto.

»Mein Gefühlszustand lässt sich leicht zusammenfassen«, meint SJ. »Ich will, dass du zurück zur Arbeit kommst.«

»Tue ich«, verspreche ich ihm. »Ich muss mich nur noch um ein paar Sachen kümmern.«

SJ sieht mir in die Augen. »Ich verstehe, wenn du nicht über deine Frau reden willst. Aber du brauchst nicht alles mit dir allein auszumachen, Mann. Bei der Arbeit sind wir alle sehr um dich besorgt.«

In der Wohnung hängt Charlotte in einem Tragesitz am Hoyer-Lifter, der ans Fenster geschoben worden ist, damit sie hinausschauen kann. Sie trägt eine alte, vormals hautenge Yogahose, die jetzt schlabberig sitzt, und riecht nach dem Zedernöl, mit dem ihr Masseur sie einreibt. Ich gehe zu ihr und öffne das Fenster.

»Genau daran habe ich auch gerade gedacht«, sagt sie und atmet die frische Luft tief ein.

Ich setze ihr die Google Glass auf, und sie muss erst ein wenig die Augäpfel kreisen lassen, bevor die Drohne schließlich von meiner Hand abhebt. Ein glückliches Lächeln breitet sich auf Charlottes Gesicht aus, als sie die Kunststückchen der Drohne vorführt – in der Luft stehen, rotieren, Kamera schwenken. Und weg ist der kleine Flieger. Ich sehe ihm hinterher, wie er über den Rasen gleitet, einen Bogen um die Komposthaufen schlägt und dann auf den Gemeinschaftsgarten zufliegt. Er lässt sich durch die Reihen treiben, und auch wenn ich nicht denselben Blick habe wie Charlotte mit der Brille, sehe ich, dass die Drohne die Kürbisblüten und die roten Rundungen der Romatomaten inspiziert. Sie fliegt an den Bohnenspalieren empor und folgt den Nabelschnüren der Wassermelonen. Als sie bei unserem Gärtchen ankommt, keucht Charlotte.

»Meine Rosen«, sagt sie. »Sie sind immer noch da. Jemand kümmert sich um sie.«

»Niemals würde ich deine Rosen eingehen lassen«, erwidere ich. Sie lässt jede Knospe und Blüte von der Drohne untersuchen. Behutsam steuert sie das Fluggerät zwischen den zartroten Blütenblättern hindurch, streift die Staubfäden und dirigiert es dann zurück nach Hause. Plötzlich schwebt die Drohne wieder vor uns. Charlotte streckt die Nase ein wenig vor und riecht daran. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal an meinen Rosen schnuppern kann«, sagt sie mit vor Aufregung geröteten Wangen, und mit einem Mal fließen die Tränen.

Ich nehme ihr die Brille ab und lasse die Drohne in der Luft stehen.

Sie sieht mir in die Augen. »Ich will ein Kind«, sagt sie.

»Ein Kind?«

»Es sind jetzt neun Monate. Wir könnten jetzt schon eins haben. Ich hätte die verdammte Zeit im Bett irgendwie sinnvoll nutzen können.«

»Aber deine Krankheit«, wende ich ein. »Wir wissen nicht, was uns noch bevorsteht.«

Sie schließt die Augen, als würde sie etwas umarmen, als klammere sie sich verzweifelt an etwas Wahrhaftigem fest.

»Mit einem Kind hätte ich hinterher was vorzuweisen. Die ganze Rumliegerei hätte wenigstens einen Sinn. Und im schlimmsten Fall würde ich zumindest etwas hinterlassen.«

»So was darfst du nicht sagen«, erinnere ich sie. »Wir waren uns doch einig, dass du so nicht reden darfst.«

Aber sie will mir nicht zuhören, will die Augen nicht aufmachen.

Sie sagt nur : »Und heute Abend möchte ich damit anfangen.«

Später am Tag bringe ich den iProjector nach hinten in den Gartenschuppen. Im goldenen Nachmittagslicht erwacht der Präsident von den Toten. Er zupft seinen Kragen und seine Manschetten zurecht und fährt mit dem Daumen an seinem schwarzen Revers hinunter, als existiere er nur in dem Augenblick, bevor ihn eine Kamera live in die Welt beamen wird.

»Mister President«, sage ich. »Es tut mir leid, dass ich Sie wieder stören muss.«

»Unfug«, versichert er mir. »Ich stehe dem Volk zur Verfügung.«

»Erinnern Sie sich an mich?«, will ich wissen. »Erinnern Sie sich an die Probleme, von denen ich Ihnen erzählt habe?«

»Alle Menschen werden von Problemen geplagt. Individuell ist nur die Stimme, mit der sie jeden Einzelnen von uns rufen.«

»Mein heutiges Problem ist sehr privater Natur.«

»Dieses Gespräch genießt das Siegel meiner Verschwiegenheit.«

»Ich habe sehr lange nicht mehr mit meiner Frau geschlafen.« Er hält eine Hand hoch, um mich zu unterbrechen, und lächelt auf väterlich-wissende Art.

er

Es wird schon fast hell, als ich zu Charlotte reingehe. Im Zimmer ist es dunkel, nur ihr Umriss ist zu sehen. »Bett, kippen«, sage ich, und sie wird nach oben gefahren. Sie wacht auf und starrt mich an, sagt aber nichts. So leer ist ihr Ausdruck immer, wenn sie nach einem Ansturm der Gefühle völlig erschöpft ist.

Ich stelle ihr den iProjector auf den Schoß. Sie kann das Ding nicht leiden, sagt aber nichts. Sie neigt den Kopf nur ein klein wenig, als würde sie mich bedauern. Dann schalte ich das Gerät an.

Kurt Cobain erscheint, mit einem Bademantel bekleidet, in sanftes, blaues Licht gehüllt.

Charlotte hält die Luft an. »O mein Gott«, murmelt sie.

Sie sieht mich an. »Ist er es?«

Ich nicke.

Sie betrachtet ihn.

»Aber was soll ich denn sagen?«, fragt sie. »Kann er sprechen?«

Ich gebe keine Antwort.

Die Haare hängen Kurt Cobain ins Gesicht. Charlotte versucht, einen Blickwinkel zu finden, mit dem sie ihm in die Augen sehen kann. Während der Präsident es nie recht schafft, einem in die Augen zu sehen, weicht Kurt ihrem Blick absichtlich aus.

»Ich kann nicht glauben, wie jung du bist«, sagt Charlotte zu ihm. »Du bist ja noch ein halbes Kind.«

Kurt murmelt : »Ich bin alt.«

»Bist du wirklich da?«, fragt sie.

»Here we are now«, singt er. »Entertain us.«

Seine Stimme ist rau und klingt, als hätte er ein hartes Leben hinter sich. Für Charlotte ist es eine Art Beweis, dass er wirklich anwesend ist.

Die Augen groß vor Staunen blickt Charlotte mich an. »Ich dachte, er wäre nicht mehr da«, sagt sie. »Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist.«

Kurt zuckt die Achseln. »Mir bedeuten die Dinge immer erst dann etwas, wenn sie nicht mehr da sind«, sagt er.

Charlotte wirkt ergriffen.

»Den Satz kenne ich«, sagt sie zu mir. »Der stammt aus seinem Abschiedsbrief. Wie kann er das wissen? Hat er ihn schon geschrieben, weiß er, was er sich antun wird?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, antworte ich. Dieses Gespräch muss sie selbst führen. Ich gehe langsam zur Tür, und als ich sie hinter mir zuziehe, höre ich, wie sie mit ihm zu sprechen beginnt.

»Bitte tu das nicht, das, woran du gerade denkst«, fleht sie ihn an. »Du weißt ja nicht, wie einzigartig du bist. Du ahnst nicht, wie viel du mir bedeutest. Bitte, bleib bei mir.«

Sie streckt sich Kurt Cobain entgegen, als wollte sie ihn in die Arme schließen und an sich drücken, als hätte sie vergessen, dass sie die Arme nicht bewegen kann und da kein Kurt ist, den sie festhalten kann.