C.H.Beck
Als Folge der Reformation verzahnten sich in Europa neuerlich Religion und Politik besonders intensiv. Die Forschung ist bislang davon ausgegangen, dass dies zu strikten Abgrenzungen der Konfessionen untereinander geführt habe; sichtbar geworden sei dies nicht zuletzt im Streit über das Widerstandsrecht gegen einen tyrannischen Herrscher, das Calvinisten betonten, während Lutheraner es ablehnten. Luise Schorn-Schütte, eine international renommierte Historikerin auf dem Gebiet der Neueren Geschichte, ist nach langjährigen Forschungen zu differenzierteren Erkenntnissen gelangt und entwickelt sie in ihrem ebenso informativen wie spannenden jüngsten Werk. Sie zeigt, dass seit 1529 unter den Protestanten im Alten Reich eine intensive Widerstandsdebatte geführt wurde. Ihre Träger waren Juristen ebenso wie Theologen, Politiker und Politikberater. Sie verwandten ein europaweit bekanntes Vokabular, das sich zu politisch-theologischen Sprachen entwickelte, die in ganz Europa eingesetzt und verstanden wurden, zumal sie an europäische Rechtstraditionen anknüpften. In der Analyse der Diskussionen erweist sich indes die Zuordnung von calvinistisch/widerstandslegitimierend und lutherisch/untertanengehorsam als Konstruktion der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.
Luise Schorn-Schütte ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Frankfurt am Main. Von derselben Autorin sind im Verlag C.H.Beck lieferbar: Die Reformation. Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung (52011); Konfessionskriege und europäische Expansion. Europa 1500–1648 (2010); Karl V. Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit (32006); Historische Politikforschung. Eine Einführung (2006); Königin Luise. Leben und Legende (2003).
Für Hannah und Ami
Vorwort
Einleitung
I. Was ist politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit? Begriffsklärungen, Stand der Forschung, Forschungsfrage
1. Political language, Begriffsgeschichte und Institutionentheorie
2. New History of Ideas – Historische Semantik – «Denkrahmen», «Streitkulturen»
3. Das Politische in der Frühen Neuzeit: Traditionen und Stand der Forschung
II. Ausgangspunkt – Politische Kommunikation im Alten Reich 1530–1650
1. Ungehorsam oder legitime Gegenwehr? Rechtfertigungsdebatten unter den protestierenden Reichsständen 1529–1546
1.1. Protestation und Verteidigungsbündnis
1.2. Juristische und theologische Argumente: Gegenwehr und Notwehr
1.3. Der Charakter der Obrigkeiten im Reich
1.4. Theologisch-juristische Differenzierungen bis 1546
2. Die Argumentationen im Umkreis des Schmalkaldischen Krieges und des Interim 1546/50
2.1. Die Argumentation hochadliger Herrschaftsträger: Legitimation von Gewalt als gerechter Krieg
2.2. Die Wiederherstellung der Ordnung: Notwehr als Naturrecht und die Drei-Stände-Lehre
2.2.1. Die Entwicklung bei den Theologen
2.2.2. Die Entwicklung bei den Juristen
2.2.3. Das Magdeburger Bekenntnis vom April 1550
2.3. Die Argumente der katholischen Seite
3. Konkretionen: politisches Handeln als Abwehr ungerechter Obrigkeit (seit 1550)
3.1. Konsequenzen aus der Ablehnung des Interim: Reichsstädte, Hansestädte
3.2. Wider das Schelten von den Kanzeln: Zensur und Kanzelpolemik
3.3. Predigten im politischen Konflikt
3.4. Zwischenergebnis
3.5. «Eine Politik aus der Bibel». Juristisch-theologische Debatten im frühen 17. Jahrhundert
3.5.1. Gesamtentwürfe
3.5.2. Ein Recht auf Notwehr?
3.5.3. Eine katholische Variante der politica christiana zu Beginn des 17. Jahrhunderts?
4. Ergebnisse: Trägergruppen und politisches Vokabular
4.1. Die Trägergruppen. Soziale Herkunft und Verflechtung
4.2. Grammatik und Vokabeln der politica christiana als politischer Sprache
4.2.1. Traditionen der Reformdebatte
4.2.2. Neue theologische Aspekte
4.2.3. Juristische Kategorien
III. Rezeption und Parallelität der Deutungsmuster. Europäische Fallstudien
1. «Biblizismus» und Verfassungsdebatte im England des 16. und frühen 17. Jahrhunderts
1.1. Die Exiltheologen und die Magdeburger Confessio
1.2. Geistliches Wächteramt und Herrscherkritik
2. Frankreich: Göttliches Recht, Naturrecht, ständische Souveränität und prophetische Politik
2.1. Frühe Kommunikation im Exil bis zum Magdeburger Bekenntnis
2.2. Beza, die Monarchomachen und eine «prophetische Politik» der protestantischen Geistlichkeit
3. Die nördlichen Niederlande: «Rebellion» oder legitime Grenzen des Gehorsams gegenüber weltlicher Obrigkeit
3.1. Konfessionelle Vielfalt in den Niederlanden: Die Kirchen unter dem Kreuz
3.2. «Die Obrigkeit führt das Schwert, um die Frommen zu schützen und die Bösen zu strafen»
4. Das Erzherzogtum Österreich: ständische Tradition und Glaubens- als Gewissensfreiheit
4.1. Verfassung und Recht als Instrumente zur Verteidigung der Glaubensfreiheit
4.2. Die Vokabeln der politisch-theologischen Sprache
5. Polen: ein Sonderfall? Konfessionelle Vielfalt und ständische Teilhabetraditionen
5.1. Von der «pluralistischen Reformation» zu den «dissidentes de religione»
5.2. Reformation und städtische Autonomie im königlichen Preußen
IV. Politisch-theologische Sprachen im 16./17. Jahrhundert: Europa (fast) ohne Sonderwege
Anhang
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungen und Siglen
Bildnachweis
Personenregister
Ortsregister
Sachregister
Dieses Buch hat mich lange begleitet. Seine Hauptthese steht im Gegensatz zu den nationalen Meistererzählungen, wonach die Frühe Neuzeit die «Inkubationszeit» der jeweiligen nationalen Moderne gewesen sei. Die Identifikation politischer Sprachen unter den gelehrten Juristen und Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts war der Beginn einer veränderten Lesart, womit sich neue Aspekte historischer Forschung eröffneten. Denn wenn es ganz offensichtlich eine europaweite Kommunikation unter den juristisch und theologisch gebildeten Teilnehmern politischer Entscheidungen gab, muss diese als Einheit neu gedeutet werden. Dazu gehörten u.a. gemeinsame Normen politischer Entscheidungsfindung, gemeinsame Grundlagen gelehrten Wissens, gemeinsame Rezeptionen und parallel entfaltete Wissensbestände, wie sie sich insbesondere in der europaweit geführten Debatte um die Not- und Gegenwehr bzw. die Tyrannislehre zeigten. Der Weg zur Wiedereröffnung einer Ideengeschichte des Politischen zeichnete sich ab, welche sich nicht auf die Höhenflüge der großen Geister beschränkte, sondern im Gegenteil die Kommunikation vor Ort, die sich in «politischen Sprachen» artikuliert, zu ihrem Anliegen machte; deren Grundlage war eine enge Verzahnung von Religion und Politik. Ein Politikbegriff, der diese Wirklichkeit beschreibt, ist von Entsakralisierung oder gar Dechristianisierung weit entfernt.
Diese Forschungen haben also nur im weitesten Sinne mit dem zu tun, was als Ideengeschichte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert betrieben wurde. Aber es bleibt eine Tradition, an die angeknüpft werden konnte. Die hier nun vorgelegten Ergebnisse finden ein hoffentlich kritisches Publikum, das den Spaß an der Formulierung von Interpretationen nicht verloren hat, die gegen den Strich laufen.
Dass diese Arbeiten abgeschlossen werden konnten, ist zunächst der Alfried Krupp-Stiftung zu verdanken, die mich 2008/9 als Senior Fellow in ihr einfach beeindruckendes Wissenschaftskolleg einlud; ein entsprechender Dank gilt dem Humanwissenschaftlichen Kolleg der Goethe-Universität Frankfurt/M. und der wunderbaren Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel, die mich seit rund 35 Jahren immer wieder beherbergt. Nicht zuletzt ist das Buch deshalb zustande gekommen, weil ich im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs «Politische Kommunikation» und des Exzellenzclusters «Die Herausbildung normativer Ordnungen» an der Goethe-Universität im Austausch mit einigen höchst kritisch-anregenden Kollegen und Nachwuchswissenschaftlern habe arbeiten können. Dies sind Privilegien, die der deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Forschung trotz finanzieller Turbulenzen offenstehen und die gerade im internationalen Vergleich nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Dafür, dass ich sie nutzen durfte, bin ich dankbar. Als solchen Nachwuchswissenschaftlern möchte ich namentlich meinen ehemaligen Doktoranden Dr. Roxane Berwinkel (geb. Wartenberg), Dr. Anja Kürbis (geb. Moritz), Dr. Lothar Berndorff, Dr. Patrizio Foresta, Dr. Philip Hahn und Dr. André Junghänel danken, die grundlegende Arbeiten in unserem gemeinsamen Projekt geschrieben haben.
Schließlich gilt mein Dank der Universität Padua in Gestalt von Merio Scattola, die mich zu einer Gastprofessur einlud. Etliche philosophiehistorische Anregungen entstammen dem milden italienischen Herbst des Jahres 2011. Die abschließende Konzentration ermöglichte das Forschungsfreijahr 2013/14, das mir die VW-Stiftung im Rahmen ihrer Förderlinie OPUS MAGNUM zuerkannte; der Dank an die Stiftung ist mir ein ganz besonderes Anliegen.
Gewidmet ist auch dieses Buch meinen Töchtern Hannah und Anne-Marie, sie wissen warum.
Friedrichsdorf/Ts. am Neujahrstag 2015
1. Das Denken über Politik hat auf alle Historiker stets eine besondere Faszination ausgeübt. Wie selbstverständlich wurden Kontinuitäten angenommen und die Texte der europäischen Theoretiker des Politischen als Geschichte einer steten Weiterentwicklung charakterisiert. Diese Sichtweise hat ihre Wirkung nicht verfehlt, sie ist aber ein Konstrukt. Denn jeder Entwurf zur Deutung politischer Ordnungszusammenhänge, zur Legitimation von Herrschaft, zum Recht auf Widerstand, Gegen- oder Notwehr wie es für die Frühe Neuzeit korrekter heißt, zur Verteilung von Macht, zum Recht der Teilhabe u.a.m. hat einen zeitgebundenen Hintergrund, ist Antwort auf eine spezifische Problemlage, auf die keineswegs nur die großen Denker, sondern ebenso sehr, vielleicht sogar noch präziser die beteiligten Amtsträger und politischen Berater geantwortet haben. Dabei war das Anknüpfen an Legitimationstraditionen selbstverständlich, sogar Voraussetzung der Akzeptanz. Deren Weitergabe aber wurde von den Zeitgenossen keineswegs als lineare Weiterentwicklung verstanden. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein dominierten vielmehr Vorstellungen von einer göttlichen Schöpfungsordnung, vom politischen Körper als Schöpfungseinheit oder vom Kreislauf menschlicher als herrschaftlicher Ordnungen; eine «Höherentwicklung» wurde nicht thematisiert.
In der europäischen Forschung der letzten Jahrzehnte hat diese Beobachtung zu dem Ergebnis geführt, dass das politische Denken und Handeln der Vergangenheit nicht als Reduktion auf die sogenannte Höhenkammliteratur, also das Denken einiger weniger, von den Historikern im Nachhinein als «groß» bezeichneter, politischer Theoretiker, fassbar ist.[1] Stattdessen erweist es sich als sinnvoll, den Austausch der Zeitgenossen über ihre politische Ordnung, das Sprechen, Schreiben, Darstellen, kurz: ihre Kommunikation über das Politische zu rekonstruieren. Die damit behauptete Existenz einer «politischen Sprache» der Zeitgenossen erschließt sich dem Historiker in der Untersuchung des Wandels von Begriffen, der in den Konflikten vor Ort ebenso gut greifbar ist wie in den theoretischen Abhandlungen oder auch in Texten, die Rechtsnormen setzten.[2]
Der damit aufscheinende methodisch-theoretische Gegensatz zwischen der deutschen Begriffsgeschichtsschreibung und der angelsächsischen New History of Ideas soll hier lediglich benannt werden, eine Auflösung im Sinne einer Verbindung beider Ansätze ist derzeit nicht zu erkennen. Die in der Forschung dicht geführten Debatten haben gezeigt, dass es Unterschiede in der Bestimmung des Verhältnisses von historischer Realität zur Sprache gibt. Hinzu kommt das Problem der Kriterien für die Auswahl von sogenannten Schlüsselbegriffen: Die Kritiker betonen zu Recht, dass mit deren Festlegung bestimmte Teile vergangener Wirklichkeiten ausgegrenzt werden.[3] Für die konkrete Forschung ist deshalb eine abwägende Orientierung im Rahmen der methodisch-theoretischen Debatte notwendig, nicht aber eine abschließende Klärung.[4]
2. Für die Frühe Neuzeit führt die angedeutete Veränderung der Blickrichtung zu neuen Perspektiven. Ihnen widmet sich dieses Buch.
Eine wichtige Einsicht ist zum Ersten die Existenz einer europaweiten Debatte über die Formen politischer Herrschaft im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Sonderwege existierten offenbar kaum.[5] Zum anderen wird deutlich, dass für diese Debatten die Berufung auf traditionale Teilhaberechte eine entscheidende Rolle spielte. Damit erweist sich der in den vergangenen Jahrzehnten sehr dominante modernisierungstheoretische Blick der Historiker als ergänzungsbedürftig.[6] Wandel in der Frühen Neuzeit stellt sich, so ist die These, nicht mehr ausschließlich als immer raschere Konzentration von Herrschaft dar, die als Vorstufe des modernen Staates zu beschreiben ist.[7] Die Richtung, die im Blick auf die Erforschung der frühneuzeitlichen Stadt formuliert wurde, kann für das ganze hier betrachtete Jahrhundert gelten: «… dass es notwendig und zwischenzeitlich auch möglich ist, einen Begriff von der Politik […] zu entfalten, der nicht in erster Linie die traditionsstiftenden Kontinuitäten [als Vorgeschichte des modernen Staats, d. Verf.in], sondern die historischen Differenzen betont.»[8]
Um diese Aussage zu erhärten, erweist es sich als notwendig zu klären, wie das Verhältnis von Tradition und Wandel durch die Zeitgenossen selbst verstanden wurde. Das ist zwar keine völlig neue Frage, aber sie unterscheidet sich sichtbar von der modernisierungstheoretischen Meistererzählung, die für die vergangenen rund vierzig Jahre dominierend war. Gefragt wird nach den Normen und Werten, mit deren Hilfe sich im frühneuzeitlichen Europa a) Herrschaft begründete, b) Herrschaft kontrolliert wurde, c) sich neuerlich stabilisierte und d) durch Integration von Korrektur und Traditionserneuerung veränderte. Derartige Prozesse der Neu- oder Umordnung von Überlieferungen scheinen der Motor historischen Wandels in der Frühen Neuzeit gewesen zu sein, wie dies u.a. Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichtsschreibung in den letzten Jahren herausgearbeitet haben.[9] An diese Forschungsansätze kann für den Bereich der politischen Herrschaft angeknüpft werden; dafür spricht, dass der Blick auf die politische Kommunikation, auf den Wandel der Begriffe im Sinne des Wandels im alltäglichen Gebrauch der politischen Sprache[10] die epochenspezifische Relevanz von Traditionen und ihrer Wirkkraft für Neuorientierungen sichtbar werden lässt. Zugleich wird auch deutlich, dass diese Debatten über Herrschaft im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts nicht in unterschiedlicher Geschwindigkeit geführt wurden, sondern sich als parallele und miteinander verzahnte Kommunikationen beschreiben lassen. Für dieses Phänomen bietet sich der Begriff der «Streitkultur» an, der durch die Kirchenhistorikerin Irene Dingel zunächst für die theologischen Debatten im Alten Reich des 16. Jahrhunderts verwendet wurde;[11] er lässt sich aber sehr gut auch für darüber hinausgehende Regionen, Themen und Konfessionen einsetzen.
Dass dafür in den folgenden Ausführungen weitgehend auf sprachliche Überlieferung zurückgegriffen wird, beruht einerseits auf der Überlieferungslage, andererseits auf der Einsicht, dass nichtsprachliche, gegenwärtig auch als «symbolisch» bezeichnete Kommunikation selten eindeutig ist; stets müssen sprachliche Formen in ihrer Funktion als Kontext der Kommunikation mit herangezogen werden.[12]
Als «Faszination des Staats» bezeichnete 2004 M. Meumann die seit dem 19. Jahrhundert andauernde Beschäftigung mit dem sogenannten Werden der Staatsgewalt.[13] Trotz aller Differenzierungen dominiert bis heute die Annahme eines gradlinig verlaufenden Prozesses der stetigen «Verstaatung» aller Bereiche politisch-sozialer Ordnung.[14] Die Kritik an der Staatskonzentration des 19. Jahrhunderts, die in der alten Bundesrepublik seit den beginnenden siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Begründung für die Intensivierung der Sozialgeschichtsschreibung wurde, hat keineswegs zur Überwindung jener Fixierung beigetragen, im Gegenteil. Für die Erforschung der Geschichte der Frühen Neuzeit wurde das Konzept der sozialen Disziplinierung mit dem Konzept der Konfessionalisierung verbunden, die konfessionelle Differenzierung als Beitrag zur staatlichen Zentrierung charakterisiert.[15] Damit wurden Aspekte der zeitgenössischen Debatte in die historischen Fragestellungen integriert, wie ein Blick auf die Diskussionen um den Sozialstaat der 1970er Jahre mühelos zeigt.[16] Dass damit erhebliche neue Forschungsdimensionen eröffnet wurden, ist unbestritten, die Blickrichtung allerdings blieb auf das Werden des Staates gerichtet.
Um dieser Begrenzung durch Eröffnung anderer (d.h. nicht besserer!) Perspektiven zu begegnen, wird der Blick auf die Kommunikation der Zeitgenossen vor Ort gerichtet, die eine praxisbezogene politische Sprache mit einem für die Zeitgenossen verständlichen Vokabular des Politischen entwickelten.
Entfaltet wurde dieses Konzept in der englischsprachigen Debatte über den Charakter einer kontextbezogenen Ideengeschichtsschreibung (History of Ideas), die mit den Namen Q. Skinner und J. Pocock verbunden ist.[17] Gegen die Interpretation politischer Ideen als allein auf die Erforschung des Denkens der «großen Geister» gerichtet, betonten beide die Notwendigkeit, die Sprache all der zahlreichen Zeitgenossen in den Blick zu nehmen, die an den aktuellen Debatten um die politische Ordnung teilhatten. Das konnten Denker «dritten und vierten Grades» sein ebenso wie Zeitgenossen, die an konkreten Konflikten beteiligt waren. Neben dieser Kontextbezogenheit, die in der deutschen Debatte übrigens stets sehr präsent war, geht es der Cambridge School darum, den Wandel der in einzelnen, durchaus alltäglichen politischen Debatten prägenden, umstrittenen oder Konsens stiftenden Begriffe (concepts) zu beschreiben. Der Historiker T. Ball fasste die Aufgabe 1998 knapp zusammen: «One of the tasks of the conceptual historian is to address this sense of strangeness, of difference, not to make it less strange or different, but to make it more comprehensible, to shed light on past practices and beliefs, and in so doing to stretch the linguistic limits of present-day political discourse.»[18]
Dieses Plädoyer für die Einsicht in die relative Verständnislosigkeit der eigenen zeitgebundenen Begriffe des Historikers setzt klare Zäsuren gegenüber der deutschen Begriffsgeschichtsschreibung. Nicht ein Kanon von Begriffen, der von den Historikern als bedeutsam festgelegt wird, ist maßgeblich,[19] sondern der Wandel der Begrifflichkeit in den einzelnen zeitgenössischen Konflikten, die um den Charakter und die Verteilung von Herrschaft geführt wurden. Hier setzt das Konzept der political language an.
Alltägliche Konflikte lassen sich in institutionalisierten Prozessen des Austausches identifizieren, politische Kommunikation und ihre Institutionalisierung sind also auf das engste miteinander verbunden. Als Ergebnis einer engen Forschungskooperation von Historikern und historisch arbeitenden Politologen hat in den letzten Jahren eine differenzierte institutionentheoretische Forschung diese Wege vorgezeichnet. Im Unterschied zur ontologisierenden Sichtweise des vergangenen Jahrhunderts wandte sich die internationale Forschung dem prozesshaften Charakter sozialer Institutionen zu.[20] Infolgedessen bietet die historisch arbeitende Politikwissenschaft eine Definition an, wonach Institutionen als «… relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion» gelten sollen. Sofern innerhalb dieses Rahmens von «politischen Institutionen» gesprochen wird, werden sie verstanden als «[…] Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen und Instanzen […] von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft.»[21] Das Sprechen, der Austausch über diese Orientierungsleistungen ist politische Kommunikation, sie ist greifbar in politischen Sprachen. Dass sich damit der Politikbegriff gewandelt hat, wurde bereits in der Forschung zur Geschichte der frühneuzeitlichen Stadt konstatiert: Der «Politikbegriff [hat sich] verflüssigt und damit der Historisierung [ge]öffnet». Politische Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit ist ein stets neu zu organisierender Prozess der Festlegung von konkreten Verfahrensweisen zur Konfliktlösung, der keineswegs immer auf allseits akzeptierte und festgelegte Abläufe für die Entscheidung zwischen Alternativen zurückgreifen konnte.[22] In diesem Sinne argumentierte zuletzt auch F. de Vivo, der in seiner Untersuchung zum Verhältnis zwischen Politik und Kommunikation im Venedig des 17. Jahrhunderts betonte, «that communication was politics […] in the very real sense that political communication was itself the terrain of both conflict and compromise, possibilities and difficulties.»[23]
Sowohl für die Begriffsgeschichtsschreibung als auch für die Neue Ideengeschichtsschreibung (New History of Ideas) ist der Begriff der (sprachlichen) Kommunikation zentral, geht es doch beiden Ansätzen[24] um das Verhältnis von Sprache und vergangener Wirklichkeit, um die Beziehung zwischen Nomen und Phänomen. Während aber die begriffsgeschichtliche Forschung von einer Dichotomie zwischen der materiellen Welt und dem Begriff bzw. der Sprache von ihr ausgeht, betrachten die mit dem Instrumentarium der historischen Semantik arbeitenden Vertreter der New History of Ideas die Vergangenheit als Einheit in der Kommunikation. Für den Historiker wird historische Realität durch Sprache konstituiert, sie ist nie lediglich Reflex der Wirklichkeit;[25] vielmehr ist Sprache zugleich Handeln: «words are deeds».
Obgleich beide Ansätze Geschichte als Bedeutungsgeschichte von Schlüsselwörtern zu schreiben beabsichtigen, haben die Unterschiede bei der Charakterisierung des Verhältnisses von Sprache und Realität bemerkenswerte Konsequenzen. Da die Begriffsgeschichtsschreibung davon ausgeht, dass sich der Wandel sozialer Wirklichkeiten im Wandel des Sprechens über diese abbildet, konzentriert sie sich auf solche Leitbegriffe, in denen sich aus der Perspektive der schreibenden Historiker jener Umbruch am sinnfälligsten wiederfindet. Die Traditionen aber, in denen bestimmte Sprachmuster stehen, sowie die zeitgenössische Begriffsentstehungsgeschichte und solche Leitbegriffe, die das beharrende Moment sozialen und politischen Wandels bezeichnen, werden nicht ausreichend berücksichtigt; entsprechendes gilt für die «nicht intendierten» Folgen der Kommunikation.[26]
Die New History of Ideas versucht, solche Verengungen auszugleichen, was dadurch möglich erscheint, dass der Begriff der Kommunikation sprachphilosophischen Theorien entlehnt ist, mit deren Hilfe Sprachintentionen ebenso strikt berücksichtigt werden wie die Tatsache, dass Begriffe in Traditionen stehen, die ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben. Dazu ist der Begriff der «kommunikativen Absicht» hilfreich, der deutlich machen kann, dass jeder noch so innovative Sprechakt nur vor dem Hintergrund konventioneller, in Traditionen eingebundener Kommunikationsformen identifiziert werden kann.[27] Für diesen Forschungsansatz ist «Kommunikation» die Verwendung eines «Muster[s] stabiler Deutungen und Assoziationen als Scharnier zum Transfer hin zu einem ganz anderen Muster mit einer anderen Bedeutung.»[28]
Selbstverständlich gibt es neben diesen Vorzügen auch ernst zu nehmende Kritik an der Arbeitsweise der New History of Ideas.[29] Das gilt für das Verfahren, die Intentionen eines Autors allzu strikt im Umfeld eines einzelnen Sprechaktes zu verankern; das gilt ebenso sehr für die Neigung, den untersuchten «political languages», also den Kommunikationsmustern und -traditionen, eine allzu große Kohärenz zuzusprechen. Dieser Vorwurf wird sehr konkret gegenüber jenem «Metatext»[30] erhoben, den Pocock als «Sprache des Republikanismus» behauptet hat.[31] Die Gefahr der erneuten zu starken Zeitbindungen der Analysekriterien taucht auf diesem Umweg wieder auf.
Ein hier weiterführendes Konzept kommt aus der italienischen Forschung zur historischen Semantik, die sich auf die zeitgenössischen Wissensmuster konzentriert.[32] M. Scattola hat es als allgemeine Theorie der Kommunikation knapp skizziert; seine Ausgangsfrage war: Was sind die Bedingungen, die im 16./17. Jahrhundert gelehrte Kommunikation erleichtern, ihre Verdichtung zu gelehrten Schulen (z.B. Schule von Salamanca) begünstigen? Welche spezifischen Merkmale kennzeichnen deren Mitglieder, welche gemeinsamen Normen akzeptieren sie, welche gelehrten Mittel standen ihnen zur Verfügung, wie wurde juristisches und theologisches, auch praktisch bezogenes Wissen gespeichert, sodass theologisch-politische Kommunikation erfolgreich stattfinden konnte? Offensichtlich gab es im europäischen juristischen, politischen und theologischen Denken des 16. Jahrhunderts eine gemeinsame Struktur der Argumentation, die als Idee der Topik beschrieben werden kann; das Wissen wurde in dialektischer Form, im offenen Streitgespräch genutzt. Scattola bezeichnet diese Wissensstruktur europäischer Gelehrsamkeit als «Tradition». Ein Vergleich mit den Wissensmustern im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts zeigt einen bemerkenswerten Wandel; daraus leitet Scattola seine Forschungsthese ab: «Eine wissenschaftliche, auf Begriffen basierende Erkenntnis, die den Konflikt vermeidet […], ersetzte ein dialektisches, auf Gemeinplätzen beruhendes Wissen, das den Konflikt anerkannt und in sich aufgenommen hat.»[33] Festzuhalten ist: Beide Ordnungen der Argumentation sind die überall in Europa gültigen Formen der gelehrten Kultur des Wissens. Erkennbar sind Ähnlichkeiten in der Grammatik, der äußeren Form, dem Stil und in den Gegenständen der gelehrten Sprachen, mit deren Hilfe kommuniziert wurde. Voraussetzung gelehrter Kommunikation war also keineswegs die wechselseitige direkte Rezeption, obwohl auch sie existierte. Gewichtiger war die Existenz paralleler europäischer Traditionen, deren Wirkungen jenseits konfessioneller, fachspezifischer und regionaler Kulturen zu beobachten ist. Man kann «auch eine polygenetische Erklärung gelten lassen und annehmen, dass dieselben oder sehr ähnliche Lehren im 16. Jahrhundert gleichzeitig und unabhängig voneinander formuliert wurden, und dass unterschiedliche und weit voneinander entfernte Traditionen zu analogen Ergebnissen kamen, obwohl sie von unterschiedlichen Ausgangspunkten anfingen und zum Teil auch entgegengesetzte Absichten verfolgten.»[34] Als Beleg verweist Scattola auf die parallelen Debatten um die Tyrannislehre im Europa des 16. Jahrhunderts, die in Spanien ebenso formuliert wurden wie in den Niederlanden und im Protestantismus des Alten Reichs.[35]
Während Scattola Wandlungsprozesse der politischen Kommunikation als Wandel paralleler Wissensbestände charakterisiert, fügt der Historiker C. Zwierlein ein ergänzendes Erklärungsmuster hinzu. Danach sind semantische Umwertungen der Begriffe weder Rezeptionen noch parallele Deutungsmuster allein, sondern «Folge und Symptom eines Wahrnehmungswandels […], der selbst wiederum erklärungsbedürftig ist.»[36] Der Wahrnehmungswandel ist Folge des, wie Zwierlein formuliert, Wandels des «Denkrahmens». Darunter werden Diskurse, politische Sprachen und Ideen in der Absicht zusammengebunden, die Perspektive der Akteure besser zu verstehen. Diskurse, Semantiken und Ideen sind, so das Argument, ohne Zweifel sehr stark entpersonalisiert; deshalb ist die Berücksichtigung der handelnden Personen hilfreich, um die Wirkung der Wahrnehmung semantischer Veränderungen besser zu verstehen. Die «Rückkehr der Akteurskategorie» erleichtert die Untersuchung des Wandels politischer Sprache in konkreten Konflikten, weil damit der «Gegenwartshorizont» aller Beteiligten integriert werden kann.[37]
Dass diese Kommunikation auch mit intensiven Kontroversen verbunden war, betont die Forschung zur «Streitkultur» der Frühen Neuzeit[38] und ergänzt den Ansatz von Scattola aus theologiehistorischer Perspektive. Wichtig ist deren Feststellung, dass sich Streit auch als hilfreiches Element für Abgrenzungen und zur Begriffsschärfung charakterisieren lässt. Die dabei zu beobachtenden Formen des theologischen Streitens waren auch für andere Sprachfelder von Bedeutung: Rede und Gegenrede sind überall in Europa auftauchende Formen der Kommunikation, die eine ins Mittelalter zurückreichende Tradition aufweisen. In der Frühen Neuzeit lassen sich nunmehr auch spezifische Formen der Öffentlichkeit identifizieren, innerhalb derer theologiepolitische Debatten geführt werden, die eine größere als die theologiespezifische Öffentlichkeit erreichten.[39] Hier rückte die Autorität eines in den historischen Kontext eingebunden Textes, der Bibel nämlich, in den Mittelpunkt, wobei verschiedene literarische Genera (Predigten, Lieder, Satiren) zum Einsatz kamen und sich schließlich bestimmte Streitkreise und Streitserien ausbilden konnten.[40] Als Motoren dieser Streitkulturen lassen sich u.a. nennen: Generationenkonflikte, eine endzeitliche Überhöhung der als krisenhaft erlebten eigenen Gegenwart des ausgehenden 16. Jahrhunderts sowie einander ausschließende Wahrheitsansprüche theologisch-politischer Richtungen.[41]
Die Verbindung der skizzierten Verfahren führt zur handhabbaren Konkretisierung des Konzepts der politischen Sprache; in diesem Sinne wird es im Folgenden Verwendung finden. Damit wird der methodische Ansatz der Cambridge School erweitert, ohne ihn in seiner grundlegenden Bedeutung in Frage zu stellen. Was aber ist das Charakteristikum des Politischen in der frühneuzeitlichen Kommunikation, was macht die Sprache des 16./17. Jahrhunderts zu politischer Sprache?
Einen wesensmäßig gleichbleibenden Begriff des Politischen kennen Historiker nicht; der prozesshafte Charakter der «Institutionen», innerhalb derer die Kommunikation über Politik stattfindet, muss ebenso betont werden wie die Verflüssigung des Politischen: Politische Normen sind historischem Wandel unterworfen. Heißt das nun aber auch, dass es dauerhaft identifizierbare politische Grundnormen in der Frühen Neuzeit nicht gegeben hat? Die Forschungslandschaft ist überschaubar, sehr zutreffend schreibt der Historiker Volker Seresse, dass «Studien zur Argumentationsgeschichte politischer Normen und Begriffe der […] frühen Neuzeit […] rar»[42] sind. Entsprechendes gilt für Untersuchungen zur theoretischen Grundlegung solcher Analysen.
Die klassische Darstellung zur Geschichte des politischen Denkens, in der jene Normen und Werte der europäischen Frühen Neuzeit zur Debatte standen, ist die Arbeit des Berliner Historikers F. Meinecke «Die Idee der Staatsräson», die 1924 erstmals erschien.[43] Dieses Werk hat die deutsche Debatte um den Zusammenhang von Politik und Macht, den Meinecke mit dem Begriff der «Staatsräson» umschrieb, lange Zeit nachhaltig geprägt. Zudem hat seine Ablehnung einer «westeuropäischen Theorie des Politischen», die Meinecke im Positivismus und Kollektivismus verankert sah, eine Zusammenführung der verschiedenen Ansätze zur Erforschung der Geschichte der politischen Ideen in Europa lange Zeit verzögert.[44] Dennoch kann an diese Überlegungen angeknüpft werden, hat Meinecke doch mit seiner Untersuchung eine historisch argumentierende «Theorie der Politik» zu formulieren versucht.[45]
Spätestens seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde sowohl die Annahme einer wesenhaften Vernunft des Staates in Frage gestellt als auch die Reduktion der Untersuchung auf einige wenige große Geister aufgegeben. Stattdessen konzentrierten sich Teile der Forschung auch auf die alternativen Antworten, «die von den politischen Theoretikern auf diese Fragen gegeben wurden. Nicht in der Präsentation von Antworten, sondern im Zusammenspiel von Fragen, Antworten und Dissens dieser Antworten, also im politischen Diskurs, liegen Reiz und Bedeutung der Ideengeschichte.»[46]
Damit wurden weitere Normen und Werte in die Debatten der Neuzeit einbezogen, vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik geriet zum Zentrum der Erörterungen. Der Politologe H. Münkler hat deren Verzahnung als «andauernden Unruheherd der politischen Ideengeschichte» charakterisiert, «dem die Staatsraisontheorien Ausdruck verliehen: der wechselvollen und heiklen Beziehung zwischen Macht, Recht und Ethik.»[47] Den Beginn dieser neuzeitlichen Debatte, die mittelalterliche Deutungen hinter sich ließ, identifizierte der Politologe mit dem Werk des Machiavelli. Darin folgte er Meinecke und darin ist sich die Forschung bislang auch einig geblieben. Die Konzeption der Staatsräson gilt weithin als «Antwort auf den Zerfall der alten Ordnung, die Entsakralisierung der Politik und die Rationalisierung der Beziehungen zwischen den Menschen.»[48]
Diese Antwort war aber ganz offensichtlich nicht die einzige, die die Zeitgenossen formulierten; vielmehr wurde das Verhältnis zwischen Religion und Politik vielstimmig beschrieben, der Wandel, der das 16. Jahrhundert zweifellos charakterisierte, wurde nicht von allen Zeitgenossen als «Zerfall» verstanden. Selbstverständlich gab es diejenigen, die, um mit Münkler zu argumentieren, einem «entsakralisierten» Geschichtsbild folgten und deshalb das Staatsräsonkonzept des Machiavelli als logische Antwort auf den Epochenwandel im beginnenden 16. Jahrhundert anerkannten, selbst wenn Machiavelli als Autor verfemt war. Es gab aber ebenso zahlreiche Zeitgenossen, die in einer engeren Verzahnung beider Bereiche die Lösung des Macht- und Ethikproblems ihrer Zeit sahen. Deren Rechtfertigung gab es in allen Regionen Europas, die Zeitgenossen bezeichneten dieses Politikverständnis als politica christiana, als christliche Herrschaftslehre, als Politik aus der Bibel.
An dieser Stelle wird die folgende Untersuchung ansetzen. Münkler differenzierend ist festzuhalten: Entsakralisierung ist nicht gleichzusetzen mit der Ablehnung religiöser Normen zur Bestimmung legitimer Herrschaft; für die politica christiana galt vielmehr, dass jene sich an den Normen der Bibel auszurichten habe. Diese zeitgenössische Richtung des Politikdenkens ist in den letzten Jahrzehnten häufig als «rückwärtsgewandter» Nebenstrom der politischen Theoriedebatten bezeichnet und deshalb wenig beachtet worden.[49] Die Ausblendung eines Teils der politischen Wirklichkeit ebenso wie deren Reflexion in der politischen Theorie kann aber nicht im Interesse der Forschung liegen; es gilt vielmehr, die Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Diskussionen zu kennen, um die Wechselseitigkeit der Prägungen zu verstehen.[50]
Einen wesentlichen Anteil an dieser Forschung hat der Bielefelder Historiker Horst Dreitzel, der zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine grundlegende Untersuchung zum Herrschaftsverständnis im Deutschland des 16. bis 19. Jahrhunderts vorlegte; dort skizzierte er, welch eigenständigen Ort und charakteristischen Stellenwert die politica christiana gerade im deutschsprachigen Raum eingenommen hat.[51] Für das 16./17. Jahrhundert unterscheidet Dreitzel vier Konzeptionen politischer Herrschaft, die in der Charakterisierung von Herrschaft und sozialer Ordnung verschiedene Wege gehen: den politischen Aristotelismus, die Lehre der Monarchomachen, die politica christiana und den Tacitismus. Dreitzel betont, dass diese Lehren sich «de republica in genere» auseinandersetzten, also über die Herrschaftsordnung im Allgemeinen, nicht allein über Teilaspekte.[52]
Von einer Entsakralisierung der politiktheoretischen Debatten lässt sich weder am Ende des 16. noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts sprechen. Das bestätigen weitere Arbeiten zum Politikverständnis des 16./17. Jahrhunderts.[53] Trotz differierender Positionen im Einzelnen blieben alle Richtungen in der Feststellung einer engen Verzahnung von Religion und Politik verbunden. Deutliche Unterschiede bestanden allerdings in der Bewertung des wechselseitigen Kräfteverhältnisses; die politica christiana betonte die Gleichrangigkeit von ecclesia und politica am nachdrücklichsten. Aufgrund ihrer Einbindung in die akademische Lehre an den Hochschulen des Alten Reichs wurde sie seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch an die nachwachsende Generation der Juristen und Theologen weitergegeben; sie erwies sich als eine praktisch wirksame Herrschaftslehre. Konfessionsübergreifend wurde politische Herrschaft als Teil der Schöpfungsordnung charakterisiert, als Grundlage theologisch-politischer Erkenntnis galt die Bibel. Das Wort des Theologen Dietrich Reinkingk (1590–1664), er wolle eine «biblische Politik»[54] schreiben, ist eine Kernaussage der politica christiana zum Verhältnis von Religion und Politik. Stets wurde politische Herrschaft in ihrer engen Beziehung zur sozialen Ordnung charakterisiert, die politica christiana war «normative praktische Soziallehre».[55] Die systematische Verankerung theologiepolitischer Aussagen geschah über die Auslegung des vierten Gebots (Verehrung der Eltern)[56] und über die Ekklesiologie (die Lehre von der Kirchengemeinschaft), in der üblicherweise Abschnitte über das weltliche Amt (de magistratu politico) und die Rolle der Kirche (de ecclesia) abgehandelt wurden.[57] Eine Reihe von Textgruppen (u.a. Regimentslehren, Fürstenspiegel, Landtagspredigten, Ratswahlpredigten u.a.m.) bezog sich auf diese Grundlagen; hier wurde das Verhältnis zwischen politischer Herrschaft und kirchlicher Ordnung als Verpflichtung weltlicher Obrigkeit gegenüber der Kirche beschrieben: custos utriusque tabulae.[58]
Abb. 1: Familienkatechese 1595. Holzschnitt, Buchillustration
Dreitzels Differenzierungen sind in der jüngeren Forschung intensiv verarbeitet worden.[59] In der Verzahnung lag ein großes Potential zur Legitimation von Herrschaftsansprüchen ebenso wie zur Legitimation ihrer Begrenzung, theologiepolitische Aussagen rechtfertigten Herrschaftsordnungen und die Teilung von Macht. Aufgrund der konfessionellen Zuspitzungen erfuhr das aus den mittelalterlichen Debatten bekannte Vokabular inhaltliche Veränderungen, semantische Umwertungen oder Differenzierungen, die sich zu einer veränderten Sprache über die Orientierungsleistungen von Institutionen, über den Charakter von Herrschaft, kurz: das Politische verdichteten. In den zahlenmäßig stetig zunehmenden Konflikten im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts wiederholten sich Inhalte und Rechtfertigungsmuster, ebenso lassen sich vergleichbare Trägergruppen identifizieren. Neben der Debatte um das Recht der Herrschaftsbegrenzung ging es um die Legitimität von Gegen- und Notwehr, um den Ursprung und den Charakter von Herrschaft und um das Recht und die Form der Teilhabe ständischer Gruppen.
M. Scattola hat diese Entwicklung als Teil einer «politischen Theologie» bezeichnet; in der Frühen Neuzeit kann sie als «politica christiana» beschrieben werden, die sich konfessionsübergreifend in vier Elementen identifizieren lasse: der Existenz eines christlichen Naturrechts, dem Ursprung der Herrschaft aus dem vierten Gebot, der Geltung der Drei-Stände-Lehre und der Behauptung eines gegenüber einem weltlichen gleichwertigen geistlichen Bereichs.[60] Dieser Charakterisierung folgt auch R. von Friedeburg, der der christlichen Herrschaftslehre für die Wirklichkeit des Alten Reichs im 16. und 17. Jahrhundert einen besonderen Stellenwert einräumt.[61]
Dass es sich bei dem, was hier bislang als frühneuzeitliches Phänomen beschrieben wurde, um Aspekte einer epochenübergreifenden Kommunikationsstruktur handelt, in der antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Kommunikationsmodi zu europäischen politischen Sprachen zusammengefügt wurden, wird von zahlreichen Forschern unter dem Titel «Die Bibel als politisches Argument» beschrieben. In ihrer Einleitung knüpfen die Historiker A. Pečar und K. Trampedach ausdrücklich an das Konzept der Cambridge School an und betonen unter Verweis auf die Beiträge zur europäischen politischen Sprache, dass «im politischen Kommunikationsraum […] meist eine Vielzahl von politischen Sprachen zugleich im Gebrauch [waren], die sich durchaus miteinander vereinbaren lassen.»[62] Im England und Schottland des 16./17. Jahrhunderts kam diese Rolle der Bibel in Gestalt einer politisch-theologischen Sprache in allen Lagern der englischen Politik zum Einsatz; ihr Kern war die Verzahnung von Religion und Politik, Pečar bezeichnet sie als «Biblizismus».[63] Auch für die österreichischen Regionen des 16./17. Jahrhunderts hat der Historiker A. Strohmeyer dieses Phänomen untersucht und eine politische Sprache als «Widerstandssprache» identifiziert, die nicht an bestimmte Konfessionen gebunden war.[64] Damit bezeichnete er die zeitgenössisch-adlige Wahrnehmung der Normen und Ordnungsmuster, auf denen die Legitimität von Herrschaft ruhte: das war biblisches Bundesdenken ebenso wie die Verankerung von Herrschaft im vierten Gebot.[65] In seinem für das reformatorische Politikverständnis grundlegenden Beitrag zur «Politik im Angesicht des Weltendes» hat der Historiker M. Sandl herausgearbeitet, dass sich die Welt in all ihren Facetten für die Zeitgenossen als eine biblisch determinierte darstellte. Damit kann er zeigen, dass die Bibel in der Reformation nicht, wie immer behauptet, auf ihren geistlichen Bereich beschränkt wurde, sondern das Politische zum Gegenstand wurde, «der sich nur im Kontext eines biblischen Redezusammenhanges überhaupt erst sinnvoll bestimmen ließ […]. Das reformatorische Schriftprinzip erschuf das Politische gewissermaßen neu und diese Neuerschaffung hatte einschneidende Folgen für dessen weitere Bestimmung.»[66] Im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert war diese Neuerschaffung Gegenstand der politica christiana. In diesem Sinne hatte gerade sie einen ausgeprägten Praxisbezug; sie war sowohl eine unter verschiedenen Richtungen des zeitgenössischen Politikverständnisses als auch die Bezeichnung für einen umfassenden Raum politischen Handelns aus der Bibel.
Diesem Raum wendet sich die folgende Untersuchung als einem frühneuzeitspezifischen zu, in dem die Verzahnung von Religion und Politik mit eigener Grammatik und in durchaus streitbarer Kultur kommuniziert wurde, ohne dass es wesensmäßige Verbindungen von bestimmten konfessionellen und politischen Inhalten gegeben hat. Die These ist vielmehr, dass diese Kommunikation im Alten Reich begann und sich zeitversetzt oder parallel dazu in zahlreichen politisch-theologischen Sprachen in Europa entfaltete. Wie diese Wege beschaffen waren, ist bislang offen bzw. strittig; ebenso ist offen, wie der öffentliche Raum aussah, in dem diese Debatten stattfanden; nicht für alle Regionen ist erforscht, wer die Trägergruppen solcher Debatten waren und unter welchen konkreten politisch-theologischen Bedingungen sie ausgetragen wurden.
Die These von der Obrigkeitsgläubigkeit des lutherischen Protestantismus ist festgeschrieben wie kaum ein anderes Interpretationsmuster zur Geschichte des 16./17. Jahrhunderts. Und obgleich jüngere Forschungen diese Interpretation wiederholt korrigiert haben,[67] hält sich diese vereinfachende Darstellung hartnäckig.[68] Umso aufschlussreicher ist der Blick auf die politica christiana, die sich seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum des Alten Reichs zu einer eigenen Wissensordnung entfaltete. Anhand der konkreten politischen Kontroversen lassen sich die Normen und Grundmuster nachvollziehen, die umstritten waren; aus ihnen setzte sich das Vokabular der politischen Sprachen zusammen.
Das europäische 16. Jahrhundert ist durch eine Zuspitzung der Diskussionen über Normen und Werte politischer Ordnungen und deren Geltungsanspruch geprägt; die Konfessionsspaltung schuf gegensätzliche Positionen im Binnenverhältnis von Herrschaftsordnungen. Dadurch, dass nunmehr zwei, seit 1648 drei christliche Konfessionen ihren absoluten Wahrheitsanspruch formulierten, der sich wechselseitig ausschloss, gab es keine Einigkeit mehr darüber, was als gerechte und im zeitgenössischen Verständnis deshalb als christliche Herrschaft zu gelten hatte. Der Anfang dieser Konflikte im Alten Reich lag in den Streitigkeiten zwischen protestantischen Reichsständen einerseits, katholischen Reichsständen und katholischem Kaiser andererseits. Sie entzündeten sich an der Frage, ob es für die protestantischen Reichsfürsten, die sich seit 1530 im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten, legitim sei, sich gegen den altgläubigen Kaiser mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen, falls dieser sie an der Ausübung ihres Glaubens mit Gewalt zu hindern beabsichtigte.[69] In den Auseinandersetzungen um die Einführung des Interim 1548–1550 differenzierten sich diese Debatten in Inhalt und Trägergruppen; sie verebbten aber auch nach dem Augsburger Religionsfrieden keineswegs, sondern verlagerten sich auf die Ebene der Territorien; dort sind sie der Forschung lange Zeit verborgen geblieben. Die Veränderungen in Gegenstand und Zielsetzung lassen sich am Wandel des Vokabulars der politischen Sprachen beschreiben.
In den konfliktgeladenen Jahrzehnten seit 1529/1530 verbanden sich römischrechtliche, lehnsrechtliche und theologische Argumentationen zu einem Geflecht von Rechtfertigungen, dessen sich die konfessionsverschiedenen Reichsfürsten ebenso bedienten wie der Kaiser. Im Laufe der Auseinandersetzungen der dreißiger bis späten fünfziger Jahre und anschließend der drei letzten Jahrzehnte des 16. und der beginnenden Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts differenzierten sich die Argumente; an allen Diskussionen waren adlige und/oder bürgerliche politische Entscheidungsträger, gelehrte Juristen und gelehrte Theologen beteiligt.
Die Verfahren des Reichstages zur Lösung von Konflikten waren für religiöse Auseinandersetzungen nicht vorgesehen: Sie entstammten dem späten Mittelalter, für das die Einheit der Christenheit unbestritten war. Alle grundsätzlich neuen Konflikte, die den Reichstag im Zuge der reformatorischen Bewegung und der damit verbundenen Spaltung der Kurien erreichten, mussten mit den vorhandenen reichsrechtlichen Instrumenten gelöst werden; dies war der frühneuzeitliche Weg, Wandel zu bewältigen. Das Problem stellte sich erstmals im April 1529.[70]
Wenige Tage vor dem Ende des Speyrer Reichstages verständigten sich Kaiser Karl V. und die altgläubigen Reichsfürsten am 19.4.1529 darauf, dass der Reichsabschied in Sachen des Glaubens Gültigkeit erlangen sollte, ohne die Einwände der evangelischen Minderheit unter den Reichsfürsten zu berücksichtigen. Umgehend protestierten etliche dieser Mitglieder gegen den Abschied, der am 22.4.1529 in Kraft getreten war;[71] dies waren Kursachsen, Braunschweig-Lüneburg, Brandenburg-Ansbach, Hessen und Anhalt, zugleich schlossen sich 14 Reichsstädte an, unter ihnen Ulm, Straßburg und Nürnberg.
Eine Mehrheitsentscheidung, so ihr Argument, sei in diesem Fall unwirksam, denn es seien die «Ehre Gottes und das Gewissen» betroffen. Zudem könne ein einstimmig beschlossenes Gesetz, wie es der Wormser Reichsabschied von 1526 gewesen war, nicht mit einer Mehrheitsentscheidung wieder aufgehoben werden.[72] Folgerichtig erkannten die protestierenden Stände den Abschied von 1529 nicht an und hielten weiterhin an der Gültigkeit des Wormser Edikts fest, wonach Veränderungen des Kirchenbrauchs durch die evangelische Seite zulässig waren. Da ein Einigungsversuch scheiterte, tauschten die gegnerischen Gruppen am 24.4.1529 Zusicherungen des Gewaltverzichts in Glaubenssachen bis zur Einberufung eines Konzils aus. Damit war zwar die aktuelle Lage entschärft, der Kernkonflikt aber blieb bestehen.