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Kathleen Battke

Trümmerkindheit

Erinnerungsarbeit und biografisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel

Mit einem Vorwort von Bettina Alberti und Beiträgen der Kriegskinder Anita Stork, Hans-Peter Massmann, Eva Matthies, Regine Ullrich, Kriemhild-Anat Duwe, Joachim Bauer, Heike Ludwig, Dietrun Freiesleben und Ulrike Rast

Kösel

Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Monika Neuser

Umschlagmotiv: SZ Photo / United Archives (1946 / Potsdam)

ISBN 978-3-641-11040-6

www.koesel.de

Unsere Ängste sind wie Drachen, die unsere größten Schätze bewachen.

frei nach Rainer Maria Rilke

Für meine Mütter

Hanna Charlotte Christine und Erika

und für alle, die in vergangenen und gegenwärtigen Kriegen ihre Kindheit verloren haben

Inhalt

Vorwort

Eröffnung

Hintergründe

Kriegskinder in Deutschland: Erinnerung als Zeitgeschichte

Biografie- und Erinnerungsarbeit: Die eigene Lebensgeschichte als Kraftquelle entdecken

Biografie, persönlich genommen: Frieden schließen mit sich selbst

Biografie, allgemein-menschlich gesehen: Lebensphasen und ihre Aufgaben

Biografie, sozial betrachtet: Die alternde Gesellschaft und ihre Chancen

Mitmenschliche Seelsorge: Zuhören, Ressourcen mobilisieren, Frieden schaffen

Ermutigung zum Sprechen

Kriegskinder – eine Schicksalsgemeinschaft

Zuhören – Zeugnis ablegen

Begleiten statt Leiten

Die Anfänge

Biografisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel

Vorbereitungen

Warum schreiben?

Warum als Kriegskind bzw. Kriegsenkel schreiben?

Worüber schreiben?

Wann schreiben?

Wo schreiben?

Wie schreiben?

Für wen schreiben?

Kann ich schreiben?

Sicherheit

Ermutigungen von Weggefährten

Wegweiser

Anfangen: Tipps für den Start

Fließen lassen: Tipps für gute Schreibzeiten

Dranbleiben: Tipps für mühselige Schreibzeiten

Zur Reife bringen: Tipps für die Überarbeitung

Aufhören: Tipps für den Abschluss

Loslassen: Tipps für die Zeit »danach«

Verneigung

Erleben, überleben, einfach leben: Kriegskinder bilanzieren

Dr. Anita Stork, Bad Bevensen Nie ist es für die Sehnsucht nach Verwandlung zu spät

Hans-Peter Massmann, Handeloh Meine Spurensuche in Sammelsurien

Eva Matthies, Geesthacht VaterWurzelSpurensuche

Regine Ullrich, Lübeck Heimweh nach Birkenberge

Kriemhild-Anat Duwe, Bad Segeberg Kind, ich bring dich heim

Joachim Bauer von Schildhaue, Hamburg Odyssee – unterwegs bis zum Ende

Heike Ludwig, Hamburg Das Leben aufschließen mit seinen Botschaften!

Dietrun Freiesleben, Lüneburg Erhobenen Hauptes durch Schutt und Asche

Ulrike Rast, Hamburg Vorwärts leben, rückwärts verstehen

Perspektiven

Erinnerungsarbeit ist Zukunftsgestaltung – jetzt, hier und heute

Zum Glück sind wir frei und verantwortlich

Nachklänge

I Vertrauen

II »Grenzwertig großes Herz«: Meine Mutter, das Kriegskind

Danke

Literatur

Vorwort

Die meisten Menschen der zurzeit ältesten Generation unserer Gesellschaft haben den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus als Kinder, als Jugendliche erlebt. Sie mussten Zerstörung, Verlust und Bedrohung, Flucht, Vertreibung und Entwurzelung erleiden, nicht selten Unwillkommensein und Beschämung.

Dann: Aktivierung der Überlebenskräfte, Wiederaufbau und Erneuerung, Frieden und Demokratie. Und jetzt: altern.

Welche Spuren haben Krieg und Nationalsozialismus in den alten Menschen hinterlassen? Welche Spuren finden wir in unserer Gesellschaft?

Seelische Bedürfnisse führten in vielen Kriegskinderbiographien ein Schatten-Dasein, Gefühle konnten nicht gezeigt, seelischer Schmerz nicht geteilt werden. Die Erfahrung von Mitgefühl und Trost war in einem nicht nur in Häusertrümmern, sondern auch in seelischen Trümmern liegenden Land oftmals nur schwer zugänglich.

Mit ihren Schreibwerkstätten hat Kathleen Battke Wege für die TeilnehmerInnen eröffnet, sich den oft ungeborgenen Erinnerungen anzuvertrauen – diesmal im Vertrauen auf behutsame Begleitung. Und in dem Wissen, mit den Erfahrungen aus der Lebensgeschichte auf Menschen zu treffen, die die eigenen Wahrheiten bezeugen können.

Bearing witness, »Zeugnis ablegen« – dieses Prinzip aus der Zen-Philosophie und aus der Psychotherapie, auf das Kathleen Battke und ihre PartnerInnen sich bei ihrem Ansatz zur Erinnerungsarbeit stützen, birgt Kräfte für seelische Heilung in sich. Es kann zur Versöhnung mit der eigenen und mit der kollektiven Geschichte beitragen. In berührender Weise wird auch der Leser dieses Buches Zeuge der vorsichtigen Schritte zur Erinnerung. Er kann Anteil nehmen an den Zweifeln, an der Hoffnung, an der Selbstüberwindung der Schreiber und Schreiberinnen. Er erlebt, wie sie eingeladen und unterstützt werden – ohne Druck, ohne Bewertung, ermutigt, sich selbst in der eigenen Vergangenheit zu begegnen. Und so wird ein Forum geschaffen, in dem Erinnerung geteilt, bewahrt und gewürdigt wird.

»Das Geheimnis der Versöhnung ist Erinnerung«, so steht es in diesem Buch als Zitat von Theodor Heuss. Als Psychotherapeutin weiß ich um die Kraft der Befreiung biographisch belastender Erinnerungen. Die Befreiung und Transformation traumatischer Kriegserinnerungen hat dabei eine besondere Bedeutung. In meiner psychotherapeutischen Begleitung von Menschen und bei meinem eigenen Schreiben zu dieser Thematik ist mir oft bewusst geworden: Die Erfahrungen der Kriegskindergeneration in Deutschland sind nicht nur individuelle, sondern auch in unsere Gesellschaft hineinwirkende kollektive Erfahrungen, die auf alle Generationen Einfluss nehmen. Es sind Erfahrungen, deren Aussprechen lange Zeit tabuisiert und die dem Schweigen unterworfen waren. Sie sind ein oft gar nicht so bewusstes psychisches Kriegserbe, das wir in uns tragen.

Versöhnung bedeutet für mich – und für die Autorin dieses Buches – in diesem Kontext, sich verschütteten, bislang unausgesprochenen Erinnerungen wertschätzend anzunähern. Versöhnung bedeutet, um sich selbst und um das Schicksal einer ganzen Generation zu wissen und von Herzen kommendes Mitgefühl dafür zu finden und zu erfahren. Versöhnung bedeutet, die Erinnerungsketten für die Folgegenerationen, für die längst erwachsenen Kinder, Enkel- und Urenkelkinder bewahren zu helfen und damit einen Heilungsbeitrag, einen Friedensbeitrag zu leisten.

Kathleen Battke trägt mit ihrem Buch auf ihre Weise dazu bei.

Bettina Alberti, Psychotherapeutin, Lübeck

Eröffnung

Hanna Charlotte Christine Battke ist tot. Sie starb im Juli 2010 mit 76 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Sie war meine Mutter.

Meine Mutter war Kriegskind.

Und sie lehrte mich, wie eine Kriegskindheit das ganze Leben prägen kann:

Wie bestimmte frühe Erfahrungen und der Umgang damit in der Familie spezifische Charaktereigenschaften hervorlocken und verstärken.

Wie ein Trauma den Blick ausrichtet, über Werte und Haltung entscheidet.

Wie der Verlust ihres Vaters in der Fremde (er hatte seine Frau mit den drei Töchtern am 15. Februar 1945 auf die Flucht geschickt, war selbst als Sanitäter im Heimatort zurückgeblieben, um weitere Flüchtlingstrecks nach Süden zu begleiten) und das unfreiwillige Verlassen der Heimat, das ungesicherte Unterwegssein Glaubenssätze in Stein meißelt: Bleibt zusammen, sonst sterbt ihr. Trennung bedeutet Tod. Diese brutalen Lernerfahrungen trugen womöglich dazu bei, dass sie – nach einer ersten, früh gescheiterten Ehe – an einer Partnerschaft festhielt, die sie mehr als einmal an die Grenze ihres Lebensmutes geführt hatte.

Wie die eingefrorene Bedrohung, das verkapselte Ausgerichtetsein auf das Überleben von Extremsituationen sich in der Normalität des Friedens als innere Leere, Sinn- und Richtungslosigkeit spiegelt.

Und wie die Ortlosigkeit des Todes meines Großvaters Paul, die entsprechende Ortlosigkeit der Trauer seiner Tochter darin mündete, dass sie auch ihrer eigenen letzten Ruhestätte wenig Interesse entgegenbrachte: »Friedhöfe sind keine Orte des Gedenkens für mich. Sie bedeuten mir nichts.« In ihrem Testament verfügte sie eine anonyme Urnenbestattung.

Ihre Geschichte – und die der vielen Kriegskinder in Seminaren und Schreibwerkstätten – hat mich zu diesem Buch bewegt.

Ich richte mich mit diesem Buch an Kriegskinder und deren Nachfahren, die mit sich selbst Freundschaft schließen möchten. Die mithilfe des biografischen Schreibens ihrer Lebensgeschichte eine Heimat geben wollen. Das Buch möchte unterstützen in diesem Prozess. Dafür bietet es ganz konkrete Begleitung beim Schreiben und den entsprechenden Fragen (»Kann ich das überhaupt? Wie fange ich an?«). Zugleich bettet es Erinnerungsarbeit ein in einen größeren Kontext, weist hin auf den fruchtbringenden Platz solcher Selbsterkundung sowohl im persönlichen Leben als auch in gesellschaftlicher Perspektive. In Seminaren und Schreibwerkstätten zur Erinnerungsarbeit haben sich seit 2007 Erfahrungen in der Begleitung von Kriegskindern gebildet. Von diesen Erfahrungen berichte ich in diesem Buch.

Ein Anliegen dieser Angebote zur Erinnerungsarbeit war und ist, belasteten Kriegskindern beim »Schuttabtragen« beizustehen. Wir Anbietenden – häufig das Tandem aus Kriegskind Anita Stork und mir, doch auch mit meinem Mann gemeinsam habe ich Seminare durchgeführt – wollten dazu ermutigen, die Trümmer des Krieges ein zweites Mal beiseite zu räumen. Wir waren entschlossen, die »Trümmerfrauen« (und -männer) beim Aufräumen ihres zusammengebrochenen Kinderlebens zu unterstützen.

Allein die Aussicht auf die Erleichterung, die eintreten könnte, wenn sich das unter schweren Brocken Verschüttete endlich wieder frei würde bewegen können, ließ viele Kriegskinder schon zu Anfang der Seminare aufatmen und stärkte ihren Mut, die selbst gesetzte Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Bei diesen Aufräumarbeiten, so unsere große Hoffnung, würde zwar zunächst noch mehr Schmerz, Verdrängtes und Vergrabenes sichtbar werden, schließlich aber auch das Heile zum Vorschein kommen, das Unversehrte. Und wir Begleitende wollten einen Beitrag dazu leisten – wie Archäologen –, das so mutig wie möglich, so vorsichtig wie nötig freizulegen.

Die Mauern, die auf diesen Trümmern um die verletzten Seelen herum hochgezogen worden waren, die nun eher einengten als dass sie schützten, wollten wir Stein für Stein abtragen helfen. Und aus den Steinen dieser Mauern würden wir gemeinsam, nachdem wir sie gründlich abgeklopft und geputzt und geflickt und die unbrauchbaren aussortiert hätten, Wege in eine hellere Zukunft legen.

Dass unser Anstoß zum Sprechen, Sichöffnen, Vertrauen in weiterer Perspektive zur Versöhnung mit dem eigenen Leben führt, war und ist vor allem meine Hoffnung als Kriegsenkelin. Daraus, so meine Vision, entsteht Generativität: dass die Kriegskinder aus dem gehobenen Erfahrungsschatz ihrer Generation noch einmal eine ganz neue Qualität gesellschaftlicher Verantwortung würden aktivieren können.

Kriegskind Anita Stork, mit der ich viele Gesprächskreise begleitete, blieb da bescheidener: Überhaupt erst die eigene Vergangenheit anzunehmen sei schon viel und dabei die verloren gegangene Trauer zurückzugewinnen: »Trauern heißt, mit unserem Schicksal Frieden zu schließen.« Was danach komme, sei nicht abzusehen.

Die Menschen, die zu uns fanden, zeigten tatsächlich eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem Kommenden, das für sie verstellt war von der Größe ihrer Erinnerungsaufgabe. Doch insgesamt überraschten sie uns mit ihrer Zukunftsbereitschaft. Die Teilnehmerin eines Gesprächskreises brachte diese Vorwärtsrichtung, die hinter der Bereitschaft zur schmerzhaften, aber vor allem befreienden Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit liegt, so auf den Punkt: »Wir möchten uns nicht nur selbst von der Lähmung des Nicht-verstanden-Werdens befreien, wir wollen auch ein Beispiel geben, wie man sinnvoll alt werden kann.«

Neben den Kriegskindern und -enkeln kann das hier Zusammengetragene Fachleute in Bildungseinrichtungen und Gemeinden, Behörden und Institutionen unterstützen, die mit Kriegskindern /-enkeln arbeiten oder regelmäßig in Kontakt kommen.

Meine besondere Hoffnung ist, dass das Buch nützlich ist für die Helfenden in Altenheimen, Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste oder in Hospizen, die Kriegskinder betreuen, ohne dass diese ihre Erfahrungen von sich aus thematisieren oder eine Sprache dafür finden. In vielen bleiben die Erinnerungen bis zum Ende verkapselt, und sie können deshalb nicht (gut) sterben. Nicht zuletzt lassen sich die lösenden Effekte des biografischen Schreibens auch für die Traumabewältigungsarbeit mit anderen betroffenen Zielgruppen nutzen.

Praktisch will das Buch auch insofern sein, als es zur Gründung und Begleitung von Kriegskinder- und Kriegsenkel-Gesprächsgruppen und biografischen Schreibwerkstätten ermutigt – in aller Vorsicht, denn es gelten spezielle Bedingungen, die der besonderen Achtsamkeit bedürfen.

Zur Veranschaulichung dessen, was der Geste des Sichöffnens und Sichversöhnens hilfreich ist, dienen die einführenden Kapitel. Auch die im hinteren Teil des Buches enthaltenen biografischen Beiträge von Kriegskindern über ihre frühen Erfahrungen und den Prozess der Auseinandersetzung damit geben Hinweise darauf, was nützt und wie individuell die rettenden Anker sind.

Wenn wir die Bedeutsamkeit der Biografie als Ausdruck ihrer Zeit betonen, können wir sie, so meine Wahrnehmung, nicht mit den traditionellen wissenschaftlichen Methoden erfassen. Das radikal Individuelle von Lebensgeschichten fordert uns Fragende heraus, unser Feld zu erweitern, neue Räume des Verstehens zu betreten – die vielleicht die ganz alten sind und uns an die Ursprünge des Forschens erinnern: Neugierde, Ergründen- und Verstehenwollen, Lernlust für ein gutes Leben und für menschengemäßen Fortschritt.

Mit diesem Buch möchte ich beitragen zur Ernte der Erinnerung einer Generation und damit zur Zukunftsbildung in einer älter werdenden Gesellschaft.

Hintergründe

»Das Geheimnis der Versöhnung ist Erinnerung.«

Theodor Heuss

Kriegskinder in Deutschland: Erinnerung als Zeitgeschichte

Seit 2005 spricht Deutschland über seine Kriegskinder – noch immer zögerlich, zuweilen mit Widerwillen oder Unverständnis.

60 Jahre mussten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergehen; die Medizin musste bei der Diagnose vermehrt auftretender körperlicher Symptome und vegetativer Beschwerden in der Generation der über 60-Jährigen mit einem guten Teil ihres Lateins ans Ende kommen. Der Schuld- und Scham-Diskurs, der das öffentliche Reden über den Krieg in den letzten Jahrzehnten prägte, musste erst seinen historisch angemessenen Platz finden, bevor eine übersehene Generation ins Wahrnehmungsfeld rücken konnte: die deutschen Kriegskinder.

Vorbereitet haben Kulturschaffende diese Wende im Denken und Sprechen: Günter Grass löste 2002 mit seiner Novelle Im Krebsgang die Diskussion über die Flüchtlingsdramatik der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Zunächst verlief das öffentliche Nachdenken darüber noch in traditionell revanchistischen Bahnen, bevor es sich langsam ausdifferenzierte und Zwischentöne hörbar wurden.

Mit der Tagung »Die Generation der Kriegskinder« in Frankfurt griff dann im April 2005 die Wissenschaft das Thema auf. Seitdem wird geforscht, publiziert und therapiert in dem Wissen, dass die Zeit drängt: Auch wenn wir als Gesamtgesellschaft immer älter werden, bleiben höchstens 15 bis 20 Jahre für valide Erkenntnisse, bevor der Großteil der Kinder des Zweiten Weltkriegs gestorben sein wird.

Professor Hartmut Radebold ist es zu verdanken, dass die Menschen dieser Generation überhaupt noch der Unterstützung für wert befunden wurden: Als Gründer des Lehrinstituts für Alternspsychotherapie in Kassel pflügte er das Feld der professionellen Seelenhilfe um, indem er praktisch und erfolgreich gegen die Annahme eintrat, Menschen jenseits der 60 seien nicht mehr »therapierbar« (heute gibt ihm die Hirnforschung recht, die die Neuroplastizität, die Veränderbarkeit unseres Gehirns, bis ins hohe Alter nachweist). Er begründete eine wertschätzende und partnerschaftliche Psychotherapie für das Alter. In seiner Praxis erlebte er das Phänomen der Kriegskinderbelastung zunehmend bei seinen Klienten, bis der 1935 Geborene sich schließlich selbst erforschte. Er gab einem heute lebendigen Forschungszweig entscheidende Starthilfe, und seine Mitmenschlichkeit, die ich in einem unserer Seminare persönlich erleben konnte, hat viele seiner Generationengeschwister zum Sprechen ermutigt.

Und darauf kommt es an. Wichtiger, als dass über Kriegskinder geforscht und gesprochen wird, ist: Sie beginnen endlich selbst, sich zu erforschen und über sich zu sprechen.

Ein Meilenstein war hier Sabine Bodes Buch Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, das 2004 erschien und zahlreiche Geschichten von Betroffenen in aufbereiteten Interviews dokumentiert.

Den gesellschaftlichen Raum, den Literatur, Wissenschaft und Medien geschaffen haben, nutzen die Kriegskinder – noch zaghaft, aber immer artikulierter –, als ihre Chance, Zeitzeugnis abzulegen.

Rückenwind bekommen sie dabei auch von einem vorsichtigen Wandel im kulturellen Erinnern des Zweiten Weltkriegs. Diesen Wandel im öffentlichen Denken und Reden über diesen Krieg und seine Folgen versucht Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, in Worte zu fassen: »70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen ist der Zweite Weltkrieg aus dem kommunikativen Gedächtnis der Zeitgenossen herausgerückt und mehr und mehr in das (…) Vergangenheitsverständnis der Gesellschaft übergegangen, das wir mit Aleida und Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Im Jahr 2009 steht das Gedenken an den weltzerstörenden Kriegsausbruch in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter der Würdigung des 20. Jahrestags von Mauerfall und revolutionärer Wende in der DDR zurück, mit denen 1989 die 40-jährige Nachkriegszeit der territorialen Teilung Deutschlands endete.« (Sabrow, »Den II. Weltkrieg erinnern«, Artikel 2009 zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns).

Es ist zu vermuten, dass diese gesellschaftliche »Eingliederung« eines (grundsätzlich nicht einzuordnenden) katastrophalen Geschehens in die gemeinsame Vergangenheit die Tür mit geöffnet hat zu differenzierterer Erinnerung, und dies wiederum ermöglicht Aufmerksamkeit für die tragische Rolle der Kriegskindergeneration. Sie war ja nicht nur im Krieg selbst übersehen worden, sondern verschwand eben auch danach zwischen Tätern und Opfern, zwischen »Zeitgenossen und Nachwelt« (wie Sabrow feststellt). Kriegskinder fanden keinen Raum in den gesellschaftlichen Erzählungen, die sich um die Pole Niederlage und Befreiung herum bildeten. Dazwischen war lange nichts.

Sabrow legt offen, wie sich die eher »opferzentrierte Ausrichtung der Kriegserinnerung« der ersten Jahrzehnte nach 1945 in den 1970er-Jahren zu wandeln begann. Das öffentliche Gedenken konzentrierte sich spätestens ab Mitte der 1980er-Jahre stärker auf die Befreiung als auf die Niederlage. (Als ein Meilenstein auf dem Weg zu diesem Paradigmenwechsel gilt hier die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes.)

Sabrow nähert sich schließlich der Frage, wie »sich die neuerliche Zuwendung zur Geschichte der Bombenopfer, der Flüchtlinge und Vertriebenen und der Kriegskindergeneration interpretieren« lässt und argumentiert in seiner Antwort gegen die durchaus verbreitete Wahrnehmung, da meldeten sich Schuldentsorger, ewige Opfer oder Revanchisten zu Wort: »Gerade weil die im Wandel begriffene Kriegserinnerung fest in dem seit den 1980er-Jahren erreichten Deutungskonsens über den verbrecherischen Charakter des NS-Systems gegründet ist, vermag sie die ›Traumatisierung von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft‹ in den Blick zu nehmen, ohne ›zu alten Verdrängungsstrategien zurückzukehren‹ oder gar die NS-Verbrechen zu relativieren.«

Das wachsende Vertrauen in die gesellschaftliche Verabredung, den Nationalsozialismus als Verbrechen ohne Wenn und Aber abzulehnen, öffnete den Raum für eine umfassendere und mitfühlendere Sicht auf alle, die auch noch zu Opfern dieses Systems geworden waren. Erst jetzt konnte sich der »Akzent von der lernenden Aufklärung zur heilenden Anerkennung« verschieben.

Wenn wir diesen Wandel als Ergänzung verstehen wollen, als integrierende Bewegung, die eine ausgeblendete Dimension – die »der heilenden Anerkennung« – in das kulturelle Gedächtnis hereinholt, können wir uns vom statischen Entweder-Oder verabschieden: »Heilende Anerkennung« ist dann nicht nur ein individuell-intimer Akt, mit dem sich Einzelne aus ihrer ermüdenden Bindung an Vergangenes lösen. Sondern sie ist zutiefst politisches Handeln. Die »heilende Anerkennung« geht nicht nur, wie Sabrow es herleitet, aus der »lernenden Aufklärung« hervor, sondern ist ihrerseits Voraussetzung für eine stabile Zivilgesellschaft. In ihr leben aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, die aus der kollektiven Geschichte gelernt haben und zugleich ihre persönlichen Erfahrungen »heilsam anerkennen«. Wenn Kopf (»lernende Aufklärung«) und Herz (»heilende Anerkennung«) in dieser Weise zusammenwirken und im Wissen um ihre wechselseitige Abhängigkeit wach und tätig bleiben, kann die selbstverantwortliche Zivilgesellschaft entstehen, die wir als Immunsystem gegen Diktaturen brauchen.

Biografie- und Erinnerungsarbeit: Die eigene Lebensgeschichte als Kraftquelle entdecken

»Wer hervorbringt, was in ihm ist, wird durch das gerettet, was er hervorbringt. Wer nicht hervorbringt, was in ihm ist, wird von dem zerstört, was er nicht hervorbringt.«

Jesus, zit. nach dem Thomas-Evangelium

Warum macht es Sinn, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen? Mit einfachen, eindringlichen Worten sagt – zitiert vom Evangelisten Thomas – der historische Jesus, was geschieht, wenn wir uns unserer Innenwelt stellen. Und was geschieht, wenn wir das nicht tun: Rettung oder Zerstörung lauten hier die radikalen Alternativen.

Abgesehen davon, dass dies extrem klingt, werden Kriegskinder bestätigen können, was diese Weisheit in Bezug auf die eigenen Erinnerungen bedeutet. Wir haben also, so legt uns das Zitat nahe, die freie Wahl – und müssen dann den Konsequenzen ins Auge sehen.

Die Kriegskinder, die unsere Seminare und Schreibwerkstätten besuchen, haben sich für das entschieden, was hier »Rettung« genannt wird. Dafür, hervorzubringen, was in ihnen ist: die Erinnerungen an einen harten Teil ihrer Lebensgeschichte. Kein leichter Entschluss. Aber angesichts der Zerstörungskraft ungewürdigter und quälender Erinnerungen, verschütteter Kindheitsträume und ungefühlter Trauer offenbar doch für viele die heilsamere Wahl. Und eine Wahl von einiger Tragweite, auch über die ganz persönliche Entscheidung hinaus.

»Geschichte ist die geistige Form, in der sich ein Volk über seine Vergangenheit Rechenschaft gibt, um seine Zukunft zu gewinnen«, sagt der britische Historiker Arnold Toynbee. Geschichte versucht, das Gewesene gegenwärtig zu machen. Sie ist dabei nicht etwa ein sanftes Ruhekissen, sondern löst heilsame Unruhe aus.

Wo »Geschichte« das dokumentierte kollektive Gedächtnis von Völkern und Nationen ist, ist »Erinnerung« die geistige Form von uns Einzelnen, uns Rechenschaft über unsere Vergangenheit zu geben. Sinn bleibt auch hier, die Zukunft zu gewinnen – unsere persönliche, die unserer Kinder und Kindeskinder. Die Gegenwärtigkeit des Gewesenen ist dabei manchmal stärker, als wir es ertragen mögen. Und die Unruhe, die das auslöst, können wir nicht immer unmittelbar als heilsam erkennen. Warum biografische Arbeit dennoch Sinn macht, lässt sich anhand von drei Feldern begründen: ein ganz persönliches, individuelles Feld, ein kollektiv-menschliches und ein gesellschaftliches Feld.

Biografie, persönlich genommen: Frieden schließen mit sich selbst

»Leben ist das, was passiert, während du gerade andere Pläne machst« – dieses John Lennon zugeschriebene Zitat macht halb humorvoll, halb resigniert deutlich, wie unsinnig es zu sein scheint, unser Dasein zu planen. Das Leben gibt diese Art von Ordnung, von Planungssicherheit so gut wie nie her: »So sehr wir auch versuchen, es dazu zu zwingen – mittendrin sterben wir, verlieren ein Bein, verlieben uns oder lassen ein Glas Erdbeermarmelade fallen«, stellt Natalie Goldberg, amerikanische Schriftstellerin und Lehrerin für kreatives Schreiben, lakonisch fest.

Biografiearbeit trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie sich aufmerksam den Brüchen und Krisen im Leben des Einzelnen widmet. Sie betrachtet diese Risse im Alltag nicht als Misserfolge, sondern als Anstöße für einen Veränderungsprozess. Der bewusste Umgang mit Krisenpunkten hilft zu erkennen, welche Bedeutung wir Umbrüchen geben und welche neuen Impulse dadurch in unser Leben kommen.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir Biografiearbeit für Menschen mit einer Kriegskindheit als heilsam. Denn an blinden Flecken oder Schattenregionen, die oft Markierungen sind für ins Unsichtbare verschobene Krisenerlebnisse, ist deren Lebensgeschichte oft reich.

In den meisten von uns wohnt die Sehnsucht, ein heiles, schönes, sinnvolles Leben zu führen. Wir wollen verstehen, wo wir herkommen, was der rote Faden in unserer Biografie ist, was unser Wachstum fördert oder hindert.

Oft kommt diese Sehnsucht erst an die Oberfläche, wenn wir gefragt werden: von den Kindern, von den Enkeln. Wir möchten ihnen etwas mit auf den Weg geben. Sie sollen mit Stolz auf unseren Schultern stehen können und so die Kette der Generationen fortsetzen.

Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte bringt mich als gehetzten, nach außen orientierten »Alltagsmenschen« in Kontakt mit meinem »Inneren Menschen«, dem vielleicht unvergänglichen Wesen in mir, meiner Kraftquelle. Der Anschluss an diese Kraftquelle, die meine Wahrheit und den Grund meines Hierseins kennt, hilft mir, mein Leben von innen heraus, aus tieferer Einsicht in Freiheit und Verantwortung zu gestalten.

Und schließlich ein essenzielles Motiv für Biografiearbeit, die befreit – auch wenn es noch immer ein Tabu ist: Wir möchten befreit Abschied nehmen, versöhnt sterben können.

Die besondere Angst vor dem Tod bei Kriegskindern, die Medizin und Therapie bereits hat aufmerken lassen, beunruhigt besonders im Alter, wo das Ende immer unausweichlicher ins Blickfeld rückt.

Wilhelm Schmid, Philosoph der Lebenskunst, nennt als entscheidendes Ziel für das Streben nach einem guten Leben dies: dass wir am Ende unser eigenes Leben bejahen können, dass wir einverstanden sein können damit, wie es gewesen ist. Das erlaubt uns würdevolles Loslassen.

Biografie, allgemein-menschlich gesehen: Lebensphasen und ihre Aufgaben

Die menschliche Entwicklung lässt sich unter verschiedensten Gesichtspunkten betrachten und in Phasen unterteilen. Gerade in Bezug auf Biografiearbeit hat sich in meiner Erfahrung die Betrachtung des Lebensrhythmus in Jahrsiebten als hilfreich erwiesen. Diese Rhythmik der persönlichen Entwicklung korrespondiert mit den Erneuerungszyklen unseres Organismus: Rund alle sieben Jahre sind wir rein rechnerisch gesehen »ein neuer Mensch«, da sich unsere Zellen stetig abbauen und neu bilden.

Im Siebenjahresrhythmus, ohne Dogmatik als hilfreiche Richtschnur angelegt, zeigen sich Aufgaben und Fragen der Lebensstufen deutlich. Er hilft uns, uns selbst zu verstehen und gleichzeitig nicht alles gar zu »persönlich« zu nehmen.

Betrachten wir kurz die Lebensjahrsiebte der Kriegskinderjahrgänge 1930 bis 45: Diese Menschen sind jetzt zwischen Mitte 60 und Anfang 80.

Wir haben es also vor allem mit dem zehnten Jahrsiebt – 63 bis 70 –, dem elften Jahrsiebt – 70 bis 77– und dem zwölften Jahrsiebt – 77 bis 84 – zu tun. Welche Fragen und Aufgaben hält das Leben in dieser Zeit für uns bereit?

»Vom 63. Lebensjahr an wird man freier vom Gewebe des Schicksals. Diesen Zeitpunkt erlebt man häufig wie eine Neugeburt«, sagt zum Beispiel Gudrun Burkhard in ihrem Buch Das Leben in die Hand nehmen: Arbeit an der eigenen Biografie. Es ist – oder war es zumindest bisher – die Zeit des Rückzugs aus dem Berufsleben, des Übergangs ins Private, in die Freisetzung von Pflichten. »Unsere körperlichen Kräfte nehmen weiter ab; Seele und Geist beginnen mehr und mehr, sich vom Körper zu lösen. Wir können uns so mehr den geistigen, auch spirituellen Seiten des Lebens zuwenden.«

Genau hier begegnen Menschen in diesem Alter nun dem, was viele Forscher als Kriegskindertrauma beschreiben: Der zunehmende Raum für die nicht-materielle Seite des Lebens (in nüchterner psychologischer Fachsprache auch »Verlust der Ich-Kontrolle« genannt) spült Gedanken, Gefühle, innere Stimmen hoch, die in den Jahrzehnten – oder Jahrsiebten – des Tätigseins, der Sorge um Familie, Besitz und Beruf keinen Raum hatten. Die Lösung vom Körper fällt schwer – im Gegenteil, er rückt vielleicht sogar noch einmal deutlich in die Aufmerksamkeit, weil sich dort Ängste und Verdrängung manifestiert haben.

Gudrun Burkhard hat erforscht, dass die Jahrsiebte ab 63 etwas gemeinsam haben: »In dieser Lebensphase kann der ältere Mensch erneut Qualitäten erüben, die für die ersten Jahrsiebte« (also die Kinder- und Jugendzeit zwischen dem ersten und 21. Lebensjahr) »grundlegend waren«.

Hier sehe ich die Chance und die Günstigkeit des Zeitpunktes für die Kriegskindergeneration, sich genau jetzt mit der eigenen Kindheit im Krieg auseinanderzusetzen.

Im Jahrsiebt zwischen 63 und 70, sagt Gudrun Burkhard, »lassen wir in uns das Staunen wieder aufkommen: ein neues Staunen vor der Natur, über die Umgebung, die Enkelkinder … Wenn wir in dieser Zeit nochmals auf unsere erste Kindheit schauen, so können wir erneut das Gefühl der Dankbarkeit entwickeln«.

Genau diese Leichtigkeit, dieses dankbare Staunen ist vielen Kriegskindern durch traumatische Erlebnisse zunächst verstellt. Aber sie wollen das nicht mehr hinnehmen: Die Sehnsucht nach dem Wiederfinden des kindlichen Staunens ist – zum Glück! – mächtig.

(Vielleicht liegt hier der Segen des Phänomens, das manche Seminarteilnehmerinnen als die Selbstwahrnehmung beschreiben, »nie richtig erwachsen geworden« zu sein. Da ist etwas erstarrt und nicht mehr weiter mitgewachsen. Auch meine Mutter ist mir – in späteren Jahren, als ich erwachsen hinsehen konnte – wie eine Kind gebliebene Frau erschienen. Das wird zunächst oft als Problem und Mangel angesehen, sowohl von den Betroffenen als auch der nächsten Generation. Doch für den Zugang zum Staunen, zur Freude und zum Nichtwissen kann diese eingefrorene Kindlichkeit durchaus hilfreich sein. Für uns Kinder war meine Mutter jedenfalls immer eine wunderbare Spielkameradin!)

»In uns können wir noch einmal dieses Kind entstehen lassen«, ermutigt Burkhard. »Geduld und Selbsterziehung helfen uns über so manche schwere Hürde hinweg; eine wahrhaftige Güte vermag von uns auszustrahlen.«

Für das Jahrsiebt zwischen 70 und 77 ist nach Burkhard folgendes Bild prägend: »Der ältere Mensch hat jetzt wirklich das Vermögen, Ruhe auszustrahlen, andere zu segnen und ihnen Mitleid entgegenzubringen. Eine Patientin sagte in diesem Alter: ›Ich fliege wie ein Adler über die Landschaft und setze mich dort nieder, wo ich gebraucht werde.‹ Diese Haltung einzunehmen ist fruchtbarer, als sich gekränkt zu fühlen, weil man verlassen ist oder nicht aufmerksam genug behandelt wird.«

Das ist natürlich leicht gesagt. Aber tatsächlich verstehe ich auch die Auseinandersetzung der Kriegskinder mit ihrer Geschichte so, dass ein hoffentlich letztes Mal Trümmer geräumt werden, um dieses erstrebenswerte Altersbild vom nicht mehr anhaftenden, wegen seiner Weisheit und Freundlichkeit gefragten Menschen füllen zu können.

Zugleich geht es in dieser Lebenszeit auch darum, das Alleinsein einzuüben, sich darauf vorzubereiten, vom Trubel der Außenwelt (der für viele zum Beispiel in Form einer munteren Enkelschar daherkommt) langsam Abschied zu nehmen. Gebraucht werden und dienen ist das eine, Hinwendung zum Jenseits das andere, was jetzt ansteht.

Und schließlich heißt es für die sieben Jahre zwischen 77 und 84 bei Burkhard: »Wir bemühen uns um ein neuerliches Streben nach der Wahrheit. (…) Mit Wahrheit und Gerechtigkeit müssen wir uns gegenübertreten, ein klares Bewusstsein haben und uns mit den Menschen versöhnen.« Und gerade dieses Bedürfnis nach Versöhnung ist es, das viele Kriegskinder jetzt zum unbequemen Eintauchen in die eigene Geschichte treibt.

Die Aufgabe der Lebensphase ab Mitte 60 formulieren zahlreiche Biografieforscher so: Es gilt, immer mehr Abstand zu sich selbst zu gewinnen, in eine geistige Dimension einzutreten, sich als Mensch unter Menschen zu begreifen und die Verbundenheit zu allen und allem bewusst wahrzunehmen. Sich selbstlos in den Dienst einer guten Zukunft für die folgenden Generationen zu stellen wäre ein Idealbild.

Die anthropologische Erinnerung daran mag auftauchen, dass es einmal die natürliche Aufgabe der alten Menschen war, Erinnerungen zu bewahren, Erfahrungen zu hüten und Wissen weiterzugeben, um den nächsten Generationen Überlebensstrategien beizubringen. Darauf beruhte auch in früheren Zeiten der Respekt vor den Alten. Ich halte es für angebracht, sich diesen Respekt zurückzuerobern, indem Kriegskinder diese natürliche Aufgabe – Erinnerung bewahren, Erfahrung hüten, Wissen tradieren, Überlebenstechniken weitergeben – erfüllen.

Ein kurzer Blick in die Lebensjahrsiebte der Kriegsenkelgeneration zeigt auch dort die biografische Natürlichkeit der Fragen, die uns jetzt beschäftigen: Um die 40 endet ein für alle Mal die Jugendzeit; wir sind auf uns gestellt und können uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere – zum Beispiel unsere Eltern – die Eisen für uns aus dem Feuer holen. Meist erstmalig wird jetzt die eigene bisherige Lebensgeschichte interessant; im Rahmen der sich sehr individuell zeigenden »Midlife-Crisis« schauen wir um Verstehen ringend darauf, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind. Zwischen 40 und 50 können wir neu entscheiden, ob wir so weiterleben wollen, wie es sich bisher mehr oder weniger ergeben hat, oder ob wir ganz andere Entscheidungen treffen möchten. Für solche fundamentalen Entscheidungen ist der Blick in die eigene Herkunftsgeschichte dienlich.

Die Fragen ihres jeweiligen biografischen Lebensabschnitts stellen sich Kriegskindern und Kriegsenkeln mitunter quälend. Biografiearbeit ist ein Weg, um darauf befriedigende Antworten zu finden.

Biografie, sozial betrachtet: Die alternde Gesellschaft und ihre Chancen

Die demografische Entwicklung in Deutschland wird heiß diskutiert: Die alternde Gesellschaft, die Alterspyramide, das Ende des Generationenvertrages sind Schlagworte im Diskurs.

Erstmalig wird es für meine Generation so sein, wie die Nächstälteren es jetzt in Ansätzen erleben: Wir – die Alten – werden in 20 Jahren die Mehrheit im Land stellen, wir werden vielfach agil und fit sein und in weiten Teilen darüber entscheiden, wie es in unserer Gesellschaft läuft.

Zugleich werden wir als erste Generation ohne Rente auskommen müssen.

Aus meiner Sicht hat diese Debatte viele bittere Facetten und wird an der Oberfläche geführt. Wozu sie aber die Chance gibt, ist dies: Wir können uns fragen, wie wir unser Alter gestalten wollen. Welche neuen Bilder wir dafür finden. Was ein erfülltes Alter ist.

Sabine Bode hat in ihrem zweiten Buch German Angst die Auswirkungen einer nicht aufgearbeiteten Kriegskindheit und der Traumata, die dort entstanden sind, auf Politik und Gesellschaftsgestaltung in Deutschland beschrieben. Sie weist keine Schuld zu, lädt aber dazu ein, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und damit auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

Einen nicht im engen Sinne gesellschaftspolitischen, aber höchst plausiblen Standpunkt nimmt John Kotre ein, ein amerikanischer Lebenslaufforscher (Lebenslauf und Lebenskunst: Über den Umgang mit der eigenen Biografie). Er beobachtete in seinen Studien, dass Menschen über kurz oder lang in Lebenskrisen kommen, wenn bestimmte Fragen keine Antworten finden – und die lauten etwa: Was ist der Sinn meines Lebens? Wozu das Ganze? Was habe ich bewegt? Werde ich etwas von Wert hinterlassen? Was wird von mir bleiben?

Aus diesen Fragen und der Beobachtung dieser grundmenschlichen Sinnkrise baut Kotre eine spezielle Art von Biografiearbeit auf, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft einen starken Impuls geben kann.

Kotre fasst dieses Lebensanliegen und den Schlüssel zur Beantwortung dieser Fragen mit dem Begriff »Generativität« zusammen. Generativität heißt dabei so viel wie Schaffenskraft über die Generationengrenze hinaus oder Fruchtbarkeit, die über das eigene Leben hinausreicht. Kotre übernimmt den Begriff von dem Entwicklungspsychologen Erik Erikson, bei dem er mehrere Facetten hat: dass es einen Unterschied macht, ob ich auf dieser Welt bin / war oder nicht. Dass ich mich um das Wohl der Welt sorge. Dass ich der Gemeinschaft, in der ich lebe, etwas zurückgebe. Dass ich etwas von bleibendem Wert schaffe.

Dabei gibt es mehrere Arten der Generativität, die wir alle kennen: biologische und elterliche Generativität im engeren Sinne (Kinder gebären und großziehen), aber auch technische (Fertigkeiten / Fähigkeiten weitergeben, »Handwerk«) oder kulturelle Generativität (Schreiben, Malen, Kunst schaffen, den Geist eines Gemeinwesens prägen, spirituelle Lehrerschaft oder Mentorenschaft).

Nicht gemeint sind Denkmäler für das Ego, wie sie uns aus Angst vor dem eigenen endgültigen Verschwinden zahlreich zugemutet werden.

Generativität bezeichnet also die Gabe, etwas aus der Vergangenheit entgegenzunehmen, einen einmaligen Beitrag dazu zu leisten und es weiterzureichen in die Zukunft.

Genau dies formuliert Kotre als das Leitbild für Menschen im Alter und, mehr noch, als Fixstern für die Lebensgestaltung auch in jüngeren Jahren auf ein erfülltes Alter hin. Und das ist es, was Kriegskinder versuchen, wenn sie ihre Vergangenheit ergründen, sie heute mit Sinn anreichern und in ihr einzigartiges Leben integrieren, um sie als Geschenk den Kindern, Enkeln und anderen Nachkommen anzubieten.

Wahrer Sinn, ein erfülltes Leben kommt also – wenn wir Kotre (und nicht zuletzt unserer eigenen Erfahrung) folgen wollen – aus der Kraft, über sich selbst hinaus zu denken und wirksam zu werden. Das Loslassen äußerer Sicherheit zum Wohle des Lebens ist einer der Wege zur Heilung der Seele. Mag das Öffnen der Tür des (goldenen) Käfigs von innen auch Angst machen, so ist doch der Zugewinn an Freiheit um vieles größer. Dass gerade dies für Kriegskinder nach dem frühen, erzwungenen Verlust von Sicherheit eine immense Herausforderung darstellt, ist klar. Dennoch: Glückliche Alte sind gebende Alte – gebende Alte sind glückliche Alte.

Auch so ist Biografiearbeit hilfreich und taugt sogar, wenn wir sie als zusammenhängende kulturelle Erzählung begreifen, für ein zukunftsträchtiges, Mut machendes Gesellschaftsbild: Als bewusste Verknüpfung meines Lebensfadens mit dem derer, die vor mir waren, die heute um mich sind und die nach mir kommen.

Biografiearbeit leisten heißt, die eigene Lebensgeschichte als Quelle zu begreifen für Versöhnung und Heilung, für Sinn und Generativität, als stärkende Gegenwärtigkeit des Vergangenen und als Einladung an eine gute Zukunft für uns selbst, unsere Kinder und Enkel (siehe hierzu auch Verena Kast: »Der Reichtum des Lebens. Wie die eigene Biografie zur Kraftquelle werden kann«, erschienen als Titelgeschichte von Psychologie Heute.

Kriegskinder bemühen sich darum, nicht die alten Traumata und entsprechende Verdrängungsstrategien weiterzugeben, sondern aus dem Leiden hilfreiche Haltungen für die Aufgaben der Zukunft herauszufiltern.

Ich lasse das Leiden nicht gehen, bevor es mir nicht sein Geschenk offenbart hat, fasste sinngemäß ein amerikanischer Rabbi jüngst in einem Fernsehinterview den jüdischen Umgang mit Traumata zusammen.

Aus dieser Art Würde entspringt aus meiner Sicht auch die Bereitschaft von Kriegskindern, sich der eigenen Geschichte zu stellen: dem Schmerz ins Gesicht sehen, bis er mir eröffnet, wozu ich ihn erleben musste.