Biografie- und Erinnerungsarbeit: Die eigene Lebensgeschichte als Kraftquelle entdecken
»Wer hervorbringt, was in ihm ist, wird durch das gerettet, was er hervorbringt. Wer nicht hervorbringt, was in ihm ist, wird von dem zerstört, was er nicht hervorbringt.«
Jesus, zit. nach dem Thomas-Evangelium
Warum macht es Sinn, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen? Mit einfachen, eindringlichen Worten sagt – zitiert vom Evangelisten Thomas – der historische Jesus, was geschieht, wenn wir uns unserer Innenwelt stellen. Und was geschieht, wenn wir das nicht tun: Rettung oder Zerstörung lauten hier die radikalen Alternativen.
Abgesehen davon, dass dies extrem klingt, werden Kriegskinder bestätigen können, was diese Weisheit in Bezug auf die eigenen Erinnerungen bedeutet. Wir haben also, so legt uns das Zitat nahe, die freie Wahl – und müssen dann den Konsequenzen ins Auge sehen.
Die Kriegskinder, die unsere Seminare und Schreibwerkstätten besuchen, haben sich für das entschieden, was hier »Rettung« genannt wird. Dafür, hervorzubringen, was in ihnen ist: die Erinnerungen an einen harten Teil ihrer Lebensgeschichte. Kein leichter Entschluss. Aber angesichts der Zerstörungskraft ungewürdigter und quälender Erinnerungen, verschütteter Kindheitsträume und ungefühlter Trauer offenbar doch für viele die heilsamere Wahl. Und eine Wahl von einiger Tragweite, auch über die ganz persönliche Entscheidung hinaus.
»Geschichte ist die geistige Form, in der sich ein Volk über seine Vergangenheit Rechenschaft gibt, um seine Zukunft zu gewinnen«, sagt der britische Historiker Arnold Toynbee. Geschichte versucht, das Gewesene gegenwärtig zu machen. Sie ist dabei nicht etwa ein sanftes Ruhekissen, sondern löst heilsame Unruhe aus.
Wo »Geschichte« das dokumentierte kollektive Gedächtnis von Völkern und Nationen ist, ist »Erinnerung« die geistige Form von uns Einzelnen, uns Rechenschaft über unsere Vergangenheit zu geben. Sinn bleibt auch hier, die Zukunft zu gewinnen – unsere persönliche, die unserer Kinder und Kindeskinder. Die Gegenwärtigkeit des Gewesenen ist dabei manchmal stärker, als wir es ertragen mögen. Und die Unruhe, die das auslöst, können wir nicht immer unmittelbar als heilsam erkennen. Warum biografische Arbeit dennoch Sinn macht, lässt sich anhand von drei Feldern begründen: ein ganz persönliches, individuelles Feld, ein kollektiv-menschliches und ein gesellschaftliches Feld.
Biografie, persönlich genommen: Frieden schließen mit sich selbst
»Leben ist das, was passiert, während du gerade andere Pläne machst« – dieses John Lennon zugeschriebene Zitat macht halb humorvoll, halb resigniert deutlich, wie unsinnig es zu sein scheint, unser Dasein zu planen. Das Leben gibt diese Art von Ordnung, von Planungssicherheit so gut wie nie her: »So sehr wir auch versuchen, es dazu zu zwingen – mittendrin sterben wir, verlieren ein Bein, verlieben uns oder lassen ein Glas Erdbeermarmelade fallen«, stellt Natalie Goldberg, amerikanische Schriftstellerin und Lehrerin für kreatives Schreiben, lakonisch fest.
Biografiearbeit trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie sich aufmerksam den Brüchen und Krisen im Leben des Einzelnen widmet. Sie betrachtet diese Risse im Alltag nicht als Misserfolge, sondern als Anstöße für einen Veränderungsprozess. Der bewusste Umgang mit Krisenpunkten hilft zu erkennen, welche Bedeutung wir Umbrüchen geben und welche neuen Impulse dadurch in unser Leben kommen.
Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir Biografiearbeit für Menschen mit einer Kriegskindheit als heilsam. Denn an blinden Flecken oder Schattenregionen, die oft Markierungen sind für ins Unsichtbare verschobene Krisenerlebnisse, ist deren Lebensgeschichte oft reich.
In den meisten von uns wohnt die Sehnsucht, ein heiles, schönes, sinnvolles Leben zu führen. Wir wollen verstehen, wo wir herkommen, was der rote Faden in unserer Biografie ist, was unser Wachstum fördert oder hindert.
Oft kommt diese Sehnsucht erst an die Oberfläche, wenn wir gefragt werden: von den Kindern, von den Enkeln. Wir möchten ihnen etwas mit auf den Weg geben. Sie sollen mit Stolz auf unseren Schultern stehen können und so die Kette der Generationen fortsetzen.
Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte bringt mich als gehetzten, nach außen orientierten »Alltagsmenschen« in Kontakt mit meinem »Inneren Menschen«, dem vielleicht unvergänglichen Wesen in mir, meiner Kraftquelle. Der Anschluss an diese Kraftquelle, die meine Wahrheit und den Grund meines Hierseins kennt, hilft mir, mein Leben von innen heraus, aus tieferer Einsicht in Freiheit und Verantwortung zu gestalten.
Und schließlich ein essenzielles Motiv für Biografiearbeit, die befreit – auch wenn es noch immer ein Tabu ist: Wir möchten befreit Abschied nehmen, versöhnt sterben können.
Die besondere Angst vor dem Tod bei Kriegskindern, die Medizin und Therapie bereits hat aufmerken lassen, beunruhigt besonders im Alter, wo das Ende immer unausweichlicher ins Blickfeld rückt.
Wilhelm Schmid, Philosoph der Lebenskunst, nennt als entscheidendes Ziel für das Streben nach einem guten Leben dies: dass wir am Ende unser eigenes Leben bejahen können, dass wir einverstanden sein können damit, wie es gewesen ist. Das erlaubt uns würdevolles Loslassen.
Biografie, allgemein-menschlich gesehen: Lebensphasen und ihre Aufgaben
Die menschliche Entwicklung lässt sich unter verschiedensten Gesichtspunkten betrachten und in Phasen unterteilen. Gerade in Bezug auf Biografiearbeit hat sich in meiner Erfahrung die Betrachtung des Lebensrhythmus in Jahrsiebten als hilfreich erwiesen. Diese Rhythmik der persönlichen Entwicklung korrespondiert mit den Erneuerungszyklen unseres Organismus: Rund alle sieben Jahre sind wir rein rechnerisch gesehen »ein neuer Mensch«, da sich unsere Zellen stetig abbauen und neu bilden.
Im Siebenjahresrhythmus, ohne Dogmatik als hilfreiche Richtschnur angelegt, zeigen sich Aufgaben und Fragen der Lebensstufen deutlich. Er hilft uns, uns selbst zu verstehen und gleichzeitig nicht alles gar zu »persönlich« zu nehmen.
Betrachten wir kurz die Lebensjahrsiebte der Kriegskinderjahrgänge 1930 bis 45: Diese Menschen sind jetzt zwischen Mitte 60 und Anfang 80.
Wir haben es also vor allem mit dem zehnten Jahrsiebt – 63 bis 70 –, dem elften Jahrsiebt – 70 bis 77– und dem zwölften Jahrsiebt – 77 bis 84 – zu tun. Welche Fragen und Aufgaben hält das Leben in dieser Zeit für uns bereit?
»Vom 63. Lebensjahr an wird man freier vom Gewebe des Schicksals. Diesen Zeitpunkt erlebt man häufig wie eine Neugeburt«, sagt zum Beispiel Gudrun Burkhard in ihrem Buch Das Leben in die Hand nehmen: Arbeit an der eigenen Biografie. Es ist – oder war es zumindest bisher – die Zeit des Rückzugs aus dem Berufsleben, des Übergangs ins Private, in die Freisetzung von Pflichten. »Unsere körperlichen Kräfte nehmen weiter ab; Seele und Geist beginnen mehr und mehr, sich vom Körper zu lösen. Wir können uns so mehr den geistigen, auch spirituellen Seiten des Lebens zuwenden.«
Genau hier begegnen Menschen in diesem Alter nun dem, was viele Forscher als Kriegskindertrauma beschreiben: Der zunehmende Raum für die nicht-materielle Seite des Lebens (in nüchterner psychologischer Fachsprache auch »Verlust der Ich-Kontrolle« genannt) spült Gedanken, Gefühle, innere Stimmen hoch, die in den Jahrzehnten – oder Jahrsiebten – des Tätigseins, der Sorge um Familie, Besitz und Beruf keinen Raum hatten. Die Lösung vom Körper fällt schwer – im Gegenteil, er rückt vielleicht sogar noch einmal deutlich in die Aufmerksamkeit, weil sich dort Ängste und Verdrängung manifestiert haben.
Gudrun Burkhard hat erforscht, dass die Jahrsiebte ab 63 etwas gemeinsam haben: »In dieser Lebensphase kann der ältere Mensch erneut Qualitäten erüben, die für die ersten Jahrsiebte« (also die Kinder- und Jugendzeit zwischen dem ersten und 21. Lebensjahr) »grundlegend waren«.
Hier sehe ich die Chance und die Günstigkeit des Zeitpunktes für die Kriegskindergeneration, sich genau jetzt mit der eigenen Kindheit im Krieg auseinanderzusetzen.
Im Jahrsiebt zwischen 63 und 70, sagt Gudrun Burkhard, »lassen wir in uns das Staunen wieder aufkommen: ein neues Staunen vor der Natur, über die Umgebung, die Enkelkinder … Wenn wir in dieser Zeit nochmals auf unsere erste Kindheit schauen, so können wir erneut das Gefühl der Dankbarkeit entwickeln«.
Genau diese Leichtigkeit, dieses dankbare Staunen ist vielen Kriegskindern durch traumatische Erlebnisse zunächst verstellt. Aber sie wollen das nicht mehr hinnehmen: Die Sehnsucht nach dem Wiederfinden des kindlichen Staunens ist – zum Glück! – mächtig.
(Vielleicht liegt hier der Segen des Phänomens, das manche Seminarteilnehmerinnen als die Selbstwahrnehmung beschreiben, »nie richtig erwachsen geworden« zu sein. Da ist etwas erstarrt und nicht mehr weiter mitgewachsen. Auch meine Mutter ist mir – in späteren Jahren, als ich erwachsen hinsehen konnte – wie eine Kind gebliebene Frau erschienen. Das wird zunächst oft als Problem und Mangel angesehen, sowohl von den Betroffenen als auch der nächsten Generation. Doch für den Zugang zum Staunen, zur Freude und zum Nichtwissen kann diese eingefrorene Kindlichkeit durchaus hilfreich sein. Für uns Kinder war meine Mutter jedenfalls immer eine wunderbare Spielkameradin!)
»In uns können wir noch einmal dieses Kind entstehen lassen«, ermutigt Burkhard. »Geduld und Selbsterziehung helfen uns über so manche schwere Hürde hinweg; eine wahrhaftige Güte vermag von uns auszustrahlen.«
Für das Jahrsiebt zwischen 70 und 77 ist nach Burkhard folgendes Bild prägend: »Der ältere Mensch hat jetzt wirklich das Vermögen, Ruhe auszustrahlen, andere zu segnen und ihnen Mitleid entgegenzubringen. Eine Patientin sagte in diesem Alter: ›Ich fliege wie ein Adler über die Landschaft und setze mich dort nieder, wo ich gebraucht werde.‹ Diese Haltung einzunehmen ist fruchtbarer, als sich gekränkt zu fühlen, weil man verlassen ist oder nicht aufmerksam genug behandelt wird.«
Das ist natürlich leicht gesagt. Aber tatsächlich verstehe ich auch die Auseinandersetzung der Kriegskinder mit ihrer Geschichte so, dass ein hoffentlich letztes Mal Trümmer geräumt werden, um dieses erstrebenswerte Altersbild vom nicht mehr anhaftenden, wegen seiner Weisheit und Freundlichkeit gefragten Menschen füllen zu können.
Zugleich geht es in dieser Lebenszeit auch darum, das Alleinsein einzuüben, sich darauf vorzubereiten, vom Trubel der Außenwelt (der für viele zum Beispiel in Form einer munteren Enkelschar daherkommt) langsam Abschied zu nehmen. Gebraucht werden und dienen ist das eine, Hinwendung zum Jenseits das andere, was jetzt ansteht.
Und schließlich heißt es für die sieben Jahre zwischen 77 und 84 bei Burkhard: »Wir bemühen uns um ein neuerliches Streben nach der Wahrheit. (…) Mit Wahrheit und Gerechtigkeit müssen wir uns gegenübertreten, ein klares Bewusstsein haben und uns mit den Menschen versöhnen.« Und gerade dieses Bedürfnis nach Versöhnung ist es, das viele Kriegskinder jetzt zum unbequemen Eintauchen in die eigene Geschichte treibt.
Die Aufgabe der Lebensphase ab Mitte 60 formulieren zahlreiche Biografieforscher so: Es gilt, immer mehr Abstand zu sich selbst zu gewinnen, in eine geistige Dimension einzutreten, sich als Mensch unter Menschen zu begreifen und die Verbundenheit zu allen und allem bewusst wahrzunehmen. Sich selbstlos in den Dienst einer guten Zukunft für die folgenden Generationen zu stellen wäre ein Idealbild.
Die anthropologische Erinnerung daran mag auftauchen, dass es einmal die natürliche Aufgabe der alten Menschen war, Erinnerungen zu bewahren, Erfahrungen zu hüten und Wissen weiterzugeben, um den nächsten Generationen Überlebensstrategien beizubringen. Darauf beruhte auch in früheren Zeiten der Respekt vor den Alten. Ich halte es für angebracht, sich diesen Respekt zurückzuerobern, indem Kriegskinder diese natürliche Aufgabe – Erinnerung bewahren, Erfahrung hüten, Wissen tradieren, Überlebenstechniken weitergeben – erfüllen.
Ein kurzer Blick in die Lebensjahrsiebte der Kriegsenkelgeneration zeigt auch dort die biografische Natürlichkeit der Fragen, die uns jetzt beschäftigen: Um die 40 endet ein für alle Mal die Jugendzeit; wir sind auf uns gestellt und können uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere – zum Beispiel unsere Eltern – die Eisen für uns aus dem Feuer holen. Meist erstmalig wird jetzt die eigene bisherige Lebensgeschichte interessant; im Rahmen der sich sehr individuell zeigenden »Midlife-Crisis« schauen wir um Verstehen ringend darauf, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind. Zwischen 40 und 50 können wir neu entscheiden, ob wir so weiterleben wollen, wie es sich bisher mehr oder weniger ergeben hat, oder ob wir ganz andere Entscheidungen treffen möchten. Für solche fundamentalen Entscheidungen ist der Blick in die eigene Herkunftsgeschichte dienlich.
Die Fragen ihres jeweiligen biografischen Lebensabschnitts stellen sich Kriegskindern und Kriegsenkeln mitunter quälend. Biografiearbeit ist ein Weg, um darauf befriedigende Antworten zu finden.
Biografie, sozial betrachtet: Die alternde Gesellschaft und ihre Chancen
Die demografische Entwicklung in Deutschland wird heiß diskutiert: Die alternde Gesellschaft, die Alterspyramide, das Ende des Generationenvertrages sind Schlagworte im Diskurs.
Erstmalig wird es für meine Generation so sein, wie die Nächstälteren es jetzt in Ansätzen erleben: Wir – die Alten – werden in 20 Jahren die Mehrheit im Land stellen, wir werden vielfach agil und fit sein und in weiten Teilen darüber entscheiden, wie es in unserer Gesellschaft läuft.
Zugleich werden wir als erste Generation ohne Rente auskommen müssen.
Aus meiner Sicht hat diese Debatte viele bittere Facetten und wird an der Oberfläche geführt. Wozu sie aber die Chance gibt, ist dies: Wir können uns fragen, wie wir unser Alter gestalten wollen. Welche neuen Bilder wir dafür finden. Was ein erfülltes Alter ist.
Sabine Bode hat in ihrem zweiten Buch German Angst die Auswirkungen einer nicht aufgearbeiteten Kriegskindheit und der Traumata, die dort entstanden sind, auf Politik und Gesellschaftsgestaltung in Deutschland beschrieben. Sie weist keine Schuld zu, lädt aber dazu ein, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und damit auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.
Einen nicht im engen Sinne gesellschaftspolitischen, aber höchst plausiblen Standpunkt nimmt John Kotre ein, ein amerikanischer Lebenslaufforscher (Lebenslauf und Lebenskunst: Über den Umgang mit der eigenen Biografie). Er beobachtete in seinen Studien, dass Menschen über kurz oder lang in Lebenskrisen kommen, wenn bestimmte Fragen keine Antworten finden – und die lauten etwa: Was ist der Sinn meines Lebens? Wozu das Ganze? Was habe ich bewegt? Werde ich etwas von Wert hinterlassen? Was wird von mir bleiben?
Aus diesen Fragen und der Beobachtung dieser grundmenschlichen Sinnkrise baut Kotre eine spezielle Art von Biografiearbeit auf, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft einen starken Impuls geben kann.
Kotre fasst dieses Lebensanliegen und den Schlüssel zur Beantwortung dieser Fragen mit dem Begriff »Generativität« zusammen. Generativität heißt dabei so viel wie Schaffenskraft über die Generationengrenze hinaus oder Fruchtbarkeit, die über das eigene Leben hinausreicht. Kotre übernimmt den Begriff von dem Entwicklungspsychologen Erik Erikson, bei dem er mehrere Facetten hat: dass es einen Unterschied macht, ob ich auf dieser Welt bin / war oder nicht. Dass ich mich um das Wohl der Welt sorge. Dass ich der Gemeinschaft, in der ich lebe, etwas zurückgebe. Dass ich etwas von bleibendem Wert schaffe.
Dabei gibt es mehrere Arten der Generativität, die wir alle kennen: biologische und elterliche Generativität im engeren Sinne (Kinder gebären und großziehen), aber auch technische (Fertigkeiten / Fähigkeiten weitergeben, »Handwerk«) oder kulturelle Generativität (Schreiben, Malen, Kunst schaffen, den Geist eines Gemeinwesens prägen, spirituelle Lehrerschaft oder Mentorenschaft).
Nicht gemeint sind Denkmäler für das Ego, wie sie uns aus Angst vor dem eigenen endgültigen Verschwinden zahlreich zugemutet werden.
Generativität bezeichnet also die Gabe, etwas aus der Vergangenheit entgegenzunehmen, einen einmaligen Beitrag dazu zu leisten und es weiterzureichen in die Zukunft.
Genau dies formuliert Kotre als das Leitbild für Menschen im Alter und, mehr noch, als Fixstern für die Lebensgestaltung auch in jüngeren Jahren auf ein erfülltes Alter hin. Und das ist es, was Kriegskinder versuchen, wenn sie ihre Vergangenheit ergründen, sie heute mit Sinn anreichern und in ihr einzigartiges Leben integrieren, um sie als Geschenk den Kindern, Enkeln und anderen Nachkommen anzubieten.
Wahrer Sinn, ein erfülltes Leben kommt also – wenn wir Kotre (und nicht zuletzt unserer eigenen Erfahrung) folgen wollen – aus der Kraft, über sich selbst hinaus zu denken und wirksam zu werden. Das Loslassen äußerer Sicherheit zum Wohle des Lebens ist einer der Wege zur Heilung der Seele. Mag das Öffnen der Tür des (goldenen) Käfigs von innen auch Angst machen, so ist doch der Zugewinn an Freiheit um vieles größer. Dass gerade dies für Kriegskinder nach dem frühen, erzwungenen Verlust von Sicherheit eine immense Herausforderung darstellt, ist klar. Dennoch: Glückliche Alte sind gebende Alte – gebende Alte sind glückliche Alte.
Auch so ist Biografiearbeit hilfreich und taugt sogar, wenn wir sie als zusammenhängende kulturelle Erzählung begreifen, für ein zukunftsträchtiges, Mut machendes Gesellschaftsbild: Als bewusste Verknüpfung meines Lebensfadens mit dem derer, die vor mir waren, die heute um mich sind und die nach mir kommen.
Biografiearbeit leisten heißt, die eigene Lebensgeschichte als Quelle zu begreifen für Versöhnung und Heilung, für Sinn und Generativität, als stärkende Gegenwärtigkeit des Vergangenen und als Einladung an eine gute Zukunft für uns selbst, unsere Kinder und Enkel (siehe hierzu auch Verena Kast: »Der Reichtum des Lebens. Wie die eigene Biografie zur Kraftquelle werden kann«, erschienen als Titelgeschichte von Psychologie Heute.
Kriegskinder bemühen sich darum, nicht die alten Traumata und entsprechende Verdrängungsstrategien weiterzugeben, sondern aus dem Leiden hilfreiche Haltungen für die Aufgaben der Zukunft herauszufiltern.
Ich lasse das Leiden nicht gehen, bevor es mir nicht sein Geschenk offenbart hat, fasste sinngemäß ein amerikanischer Rabbi jüngst in einem Fernsehinterview den jüdischen Umgang mit Traumata zusammen.
Aus dieser Art Würde entspringt aus meiner Sicht auch die Bereitschaft von Kriegskindern, sich der eigenen Geschichte zu stellen: dem Schmerz ins Gesicht sehen, bis er mir eröffnet, wozu ich ihn erleben musste.