Hans Heiss / Rudolf Holzer
Sepp Innerkofler
Hans Heiss / Rudolf Holzer
Sepp Innerkofler
Bergsteiger,
Tourismuspionier, Held
Hrsg. gem. mit Hotel Dolomitenhof,
Sexten/Fischleintal
Folio Verlag
Wien · Bozen
Das Zitat auf der Umschlagrückseite ist entnommen dem Band „Rund um Südtirol“, Lana (BZ) 2002, von Reinhold Messner.
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
© Folio Verlag Wien • Bozen 2015
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
ISBN 978-3-85256-667-2
www.folioverlag.com
E-Book
ISBN 978-3-99037-051-3
Hans Heiss
Sexten liegt im Hochpustertal, im Osten Südtirols, in reizvoller Höhen- und Übergangslage. Es ist eine der schönsten Regionen der Alpen, an der Pforte des Weltnaturerbes Dolomiten, mit der ikonischen Landmarke der Drei Zinnen.
Der Tiroler Schriftsteller Karl Felix Wolff verlieh der Region Hochpustertal um 1900 das schmückende Prädikat eines „Österreichischen Engadin“. Die Verbeugung vor der mächtigen Schweizer Konkurrenz diente zweifellos der Aufwertung und leichteren Vermarktung der Region. Sie war aber auch Teil jener Selbstinszenierung, mit der die Bevölkerung und die Promotoren der Tourismusbrache den Umbruch von Jahrhunderten gemächlicher Entwicklung zum rapiden Wandel im Zeichen von Bahnbau und touristischem Durchbruch zu gestalten suchten.
Das Hochpustertal umfasst – salopp formuliert – das „Zweistromland“ von oberster Drau und oberster Rienz, die in das Mittelmeer und das Schwarze Meer entwässern. Das an der Nahtstelle zwischen Südtirol, Osttirol und dem Veneto gelegene Hochpustertal ist kein rechtlich fixierter Begriff, es bildete nie einen Verwaltungsbezirk – in der Erfahrung der Bewohner und auswärtiger Beobachter präsentierte sich die Übergangszone aber immer schon als unsichtbare Einheit mit bestimmten Koordinaten und Konturen.
Spätestens seit der Antike bildete das Hochpustertal eine Drehscheibe des überregionalen Verkehrs und der Migration, eine Zone ethnischer Kontakte, und galt als erstrangige politische Interessensphäre. Über das Hochpustertal verlief zur Römerzeit die „Via Claudia Augusta Altinate“, die Oberitalien mit den südwestdeutschen Provinzen Germaniens verband, durch seine Talfurche führte andererseits die Straße nach Osten in Richtung Pannonien. Das Hochpustertal war also keine abgeschlossene Gebirgs-region, sondern ein Angelpunkt des zentralalpinen Verkehrs, kein rein ländlicher Siedlungsraum, vielmehr auch eine Zone von Bewegung, Unruhe und Aufbruch.
Dank der günstigen Verkehrslage zwischen wirtschaftlichen Kraftzentren entwickelte sich in den Orten des Hochpustertals früh eine Mentalität der Marktorientierung: Dörfer wie Innichen, Sexten oder Niederdorf waren nicht abgeschiedene Orte bäuerlicher Selbstversorgung, sondern hatten als kleine Zentren der Lederverarbeitung, Hutmacherei und als Warenniederlagen Anteil an der internationalen Konjunktur.
Bereits im 17. und 18. Jahrhundert nistete sich im Hochpustertal der Fremdenverkehr ein. Hierher flüchteten sich während der sommerlichen Hitzeperiode Dutzende wohlhabender Familien aus dem Bozner Raum und bezogen in Welsberg, Niederdorf, Toblach oder Innichen ihre Sommerfrischen. Erheblichen Zulauf verzeichneten auch die Bäder des Hochpustertals; Bad Maistatt, Weitlanbrunn, Salomonsbrunn, Wildbad Innichen, Altprags oder Bad Moos in Sexten sind heute verwehte Namen, noch um 1900 hingegen galten sie über Tirol hinaus als wichtige Destinationen für die Heilung rheumatischer Beschwerden, von Magenleiden, Ischias oder gynäkologischen Störungen. Die Frühe Neuzeit ist daher als Inkubationsphase des Tourismus zu bewerten, als vortouristisches Zeitalter des Hochpustertals, mit den drei Standbeinen Transit, Sommerfrische und Bäderwesen.
Bald nach 1800 lebte der Verkehr auf – durch die Errichtung der „Strada d’Alemagna“, der Ampezzaner Straße, die ab 1823 als verbesserte Verbindung Toblach–Cortina das Höhlensteintal neu erschloss, worauf der Bauer Georg Ploner 1836 in Schluderbach ein bescheidenes Einkehrwirtshaus eröffnete. Wenige Jahre später heiratete in den „Schwarzadler“ in Niederdorf eine junge Frau ein – Emma Hausbacher, die sich nach dem frühen Tod ihres Mannes Josef Hellenstainer im Jahre 1858 als Wirtin großen Formats bewährte und sich alsbald als Pionierin des Tourismus im Hochpustertal erwies.
Zeitgenössisches Plakat der Südbahngesellschaft
Ein Jahrzehnt später konnte die erstaunte Bevölkerung des Hochpustertals frühe Alpinisten beobachten, die die herausragenden Gipfel der Ampezzaner Dolomiten angingen. Bereits in den Jahren 1862 bis 1864 bestieg der Wiener Paul Grohmann mithilfe der Ampezzaner Führer Angelo Dimai, Francesco Lacedelli und Santo Siorpaes die Tofana und bezwang dann mit Franz Innerkofler 1869 die Große Zinne. Damit schrieb sich erstmalig ein Sextner Führer in die Geschichte des Alpinismus ein. Franz Innerkofler, 1834 am Mitterhößlerhof in Sexten als Sohn eines kinderreichen Bergbauern geboren, hatte bereits in den 1850er-Jahren den „Alten Steinmetzen“ Josef Innerkofler auf Jagdpartien begleitet und so sein Talent als Bergsteiger entfaltet. Als Grohmann 1868 mit dem Steinmetzen die Dreischusterspitze ersteigen wollte, scheiterte das Vorhaben, während sein zweiter Anlauf im Folgejahr mit dem jungen Innerkofler und Peter Salcher von Erfolg gekrönt war: In nur einem Monat bestieg das Trio Grohmann-Salcher-Innerkofler im Juli und August die Dreischusterspitze und den Langkofel, um dann Ende August 1869 die Große Zinne zu bezwingen.
Wildbad Innichen
In der „Zeitschrift des Deutschen Alpenvereins“ rühmte Grohmann seine Weggefährten in den höchsten Tönen: „Als Führer sollte der mir auch bereits bekannte Franz Innerkofler, auch der Gilde der Steinmetzen angehörig, dienen, der bei den Recognoscirungen mitgewirkt hatte, ein trefflicher, durchaus empfehlenswerther Bergsteiger. Ist er auch nicht so hurtig wie Peter, so besitzer dagegen eine wahre Bärenkraft, ein eben so treues Herz wie Peter, und dieselbe Geschicklichkeit, dieselbe Kaltblütigkeit an schlechten Stellen. Peter spricht viel, Franz wenig. Diese Männer ergänzen sich gegenseitig, und mit ihnen magst Du ruhig jede Felskletterei angehen, jeden Kopf, und sei er noch so schlecht, wirst Du nehmen, wenn Du ihnen nachsteigst. Prächtige Gesellen, und ich bedauere nur, dass sie auf Gletschern keine Erfahrung haben. […] keiner von ihnen geht des Geldgewinns wegen, sie gehen aus Ehrgeiz!“
Postkarte Hotel Pragser Wildsee, 1907
Bis zu seinem Tod im Jahre 1898 galt Franz Innerkofler, aufgrund seiner Körperstärke auch der „Schlosser Starke“ genannt, als Bergführer ersten Ranges und Vorbild für Generationen von jungen Bergsteigern. Es war maßgeblich sein Verdienst, dass Sexten als Ausgangspunkt für Bergtouren bleibenden Ruf gewann. Seine zunächst mäßigen Führertaxen besserte er alsbald so auf, dass er einen stattlichen Gasthof errichten konnte.
Zeitgenössisches Plakat der Südbahngesellschaft
Um 1900 war das Hochpustertal neben Meran, dem Bozner Raum und Gossensass eine bekannte Adresse für den prosperierenden Fremdenverkehr. Das Angebot war breit gefächert: Sextens klingender Name als Bergsteigerdorf und Sommerfrische rangierte im Hochpustertal neben dem dank Emma Hellenstainer in ganz Österreich berühmten Niederdorf. Der reizvoll gelegene Ort in der Talfurche stand aber bereits ein wenig im Schatten von Toblach, das um 1890 einen beeindruckenden Aufstieg als Hoteldorf erlebte. Hier wirkte die Eröffnung des Südbahnhotels, des ersten Grandhotels in den österreichischen Alpen, als Auftakt einer viel bewunderten Entwicklung. Elise Überbacher-Minatti, seit der Eröffnung 1878 Chefin des Südbahnhotels, entfaltete eine glanzvolle Gastlichkeit, die den Hochadel sowie eine Klientel von Reichen und Künstlern Jahr um Jahr aufs Neue anzog. Abgerundet wurde das touristische Netzwerk des Hochpustertals vom Marktort Innichen mit behäbigen Gasthöfen und dem bekannten Wildbad. Als höher gelegene Dependance von Niederdorf stieg das Pragser Tal auf, das mit dem Wildbad Altprags schon seit Langem klassische Sommerfrische bot. Zudem war der am Talschluss gelegene Pragser Wildsee ein Juwel, das der Sohn von Emma Hellenstainer mit dem Bau eines stattlichen Hotels ab 1899 ins Spiel brachte.
Speisekarte des Grandhotel Toblach
Der Kranz von Tourismusgemeinden des Hochpustertals profitierte von der 1871 eröffneten Pustertaler Bahn, die seit diesem Zeitpunkt für die Verbindung mit der Reichshauptstadt Wien und über die Brennerbahn mit dem süddeutschen Raum sorgte. Die Bahn diente aber nicht nur als Fernverbindung, sondern zugleich als mobiles Aussichtspanorama ersten Ranges. Wo gab es in Tirol eine Bahnlinie, die in ähnlicher Weise an die Naturschönheiten und Berggipfel auf Sichtweite heranführte? Nur die Brennerbahn bei Gossensass rückte vergleichbar nahe an den Tribulaun und die Gipfel des Pflerschtals heran, während die Südbahn auf ihrer Fahrt durch die Hochebene des Hochpustertals neben dem atemberaubenden Panorama des Höhlensteintals weitere reizvolle Ausblicke im Dutzend gewährte.
Gegen die frühe Bahnerschließung des Pustertals war das Burggrafenamt mit der 1881 eröffneten Linie Bozen–Meran ein Nachzügler, während die Vinschgerbahn Meran–Mals gar erst im fernen Jahr 1906 realisiert wurde.
Die Erschließung durch die Bahn und der dank ihrer Vermittlung aufblühende Tourismus waren umso willkommener, als dem Land Tirol um 1880 drohende Verarmung, ja schiere Not hart zusetzten. In kürzestem Abstand hintereinander, 1882, 1885 und 1889, hinterließen Überschwemmungen in Tirol Verwüstungen gigantischen Ausmaßes, die nur mit staatlicher Hilfe beseitigt werden konnten. Das Hochwasser wurde begleitet von einer Serie anhaltender Missernten und zu allem Überfluss geriet die Landwirtschaft immer mehr unter den Druck der preisgünstigen Vieh- und Getreideimporte aus Ungarn.
Die Preise für Vieh und landwirtschaftliche Erzeugnisse fielen, der Absatz stockte und die Ernteeinbrüche drückten auf Menge und Qualität der Produktion. Die Überschuldung des bäuerlichen Besitzes erreichte besorgniserregende Ausmaße, die hypothekarische Belastung in Tirol steuerte einem Negativrekord vor allen anderen Kronländern entgegen, mit dramatischen Folgen: Zwischen 1868 und 1892 wurden im Land 28.000 Bauerngüter versteigert – um 1890 war jeder dritte Besitzwechsel ein Exekutionsfall.
Das Hochpustertal zählte 1882 zu den Gebieten Tirols, die von der Überschwemmung am härtesten betroffen waren. In Welsberg und Niederdorf wurden Dutzende von Häusern durch das Hochwasser davongetragen. Kurzfristig sah es ganz danach aus, als würde der Bezirk in seiner Entwicklung um Jahre zurückgeworfen. Umso erstaunlicher war es dann, dass die Schäden binnen kurzer Zeit beseitigt werden konnten. Mehr noch: Die großen Hilfskampagnen und Benefizaktionen ließen sich zu einer wirkungsvollen Werbeaktion für Tirol ummünzen. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein sammelte große Summen an Unterstützungsgeldern für Tirol und machte erfolgreich Stimmung für das hart geprüfte Land. So war es wohl kein Zufall, dass die Dreizinnenhütte und die Zsigmondyhütte unmittelbar nach den Katastrophenjahren erbaut wurden.
Drei Zinnen mit Hütte, ca. 1900
Eröffnung der von Sepp Innerkofler zum dritten Mal vergrößerten Dreizinnenhütte am 9. September 1908 (40 Betten und 15 Schlafstellen)
Der Bau der Hütten verdankte sich dem Einsatz der 1877 gegründeten Sektion Hochpustertal des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, die die Nachfolge der kurzlebigen Sektion Niederdorf des damaligen Deutschen Alpenvereins (gegründet im Dezember 1869, Auflösung 1874) angetreten hatte. Die 81 Mitglieder (1903) der Sektion entfalteten eine rege Tätigkeit, wobei dem Hüttenbau besondere Bedeutung zukam. Die 1883 eröffnete Dreizinnenhütte auf 2407 Meter Seehöhe am Innichner Riedl gegenüber der Nordwand der Drei Zinnen erwies sich als gut postierte Einkehrstätte, sodass Erweiterungsbauten in rascher Folge nötig wurden. Nach einer ersten Erweiterung 1892 erfolgte eine weitere Vergrößerung bereits unter dem neuen Pächter Sepp Innerkofler, der die feierliche Einweihung am 3. September 1900 vornehmen konnte. Unter seiner Führung stiegen die Besucherzahlen sprunghaft an. Von 300 Besuchern um 1890 wuchs die Zahl bis 1901 auf 1100 an, um sich bis um 1910 auf über 2300 noch einmal mehr als zu verdoppeln. Die starke Frequenz übertraf alle Erwartungen des Pächters, den der alpinistische und geschäftliche Erfolg der Dreizinnenhütte zu weiterer unternehmerischer Tätigkeit anspornte. Lange vor dem Ersten Weltkrieg wurde so die Erfolgsbasis für eine der wichtigsten Hütten des Tiroler Raums geschaffen, unter maßgeblicher Beteiligung von Sepp Innerkofler. Dass die Dreizinnenhütte kurz nach Kriegseintritt Italiens am 25. Mai 1915 in Brand geschossen wurde, war ein symbolträchtiges Fanal des nunmehr entbrannten Gebirgskriegs.
Deutlich bescheidener verlief die Erfolgskurve der Zsigmondyhütte, die der Österreichische Alpenklub 1885 am Fuße des Zwölfers im Bacherntal erbaut hatte, dennoch zeugt auch in ihrem Fall ein 1908 realisierter Zubau von lebhaftem Zuspruch.
Die anhaltenden Heimsuchungen und die um 1870 noch schleichende, ein Jahrzehnt später bereits chronische Krise der Landwirtschaft drückten auf die Einkommenslage und die soziale Situation breiter Bevölkerungsgruppen, sodass eine wachsende Landflucht einsetzte, vor allem im Trentino, aber auch in vielen Gebirgstälern Süd-, Nord- und Osttirols. Bis zur Stabilisierung der Landwirtschaft durch Reformen, verbesserte Hypothekarkredite und den Aufbau eines Genossenschaftswesens verging annähernd ein Vierteljahrhundert, sodass wirtschaftliche Alternativen dringend geboten waren.