www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-7015-0582-1
Copyright © 2015 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Einband- und typografische Gestaltung: Andreas Ortag
Illustrationen: Walpurga Ortag-Glanzer
Lektorat: Paul Maercker
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Danke
Irgendwann kommt nie – Wir zwei Brüder und die »9R«
Die »9R« – am Weg nach Assisi
Ressourcen
Did you get it?
Ich hab’ mich heute entschieden
Mein Swimmingpool
Zeitlos
Herzbotschaft
Kümmern und lieben
Anam Cara – dein Seelenfreund
Mein Freund Alex
Bruder – Freund
Die (verpasste) Ernte
Das Wertvollste
Risiko
Ich hab’ dich immer geliebt!
Vertrauen
Vertrau mir, dann geht’s wieder!
Das Unentschiedene
… und wir haben nur gearbeitet
Vom Kaputtkümmern und Gesundlieben
Wir funktionieren, aber beziehungslos
Leise
Danke für die Störung
Regeneration
Mein Rücken
Ich bin im Leo
Langsam
»Mir ist alles zu viel!«
Ein Augenblick nur
Reflexion
Immer im Leo ist auch fad!
Augenblick
Im Streit verirrt
Immer wieder
Blutdruckkrise?
Traurigkeit
Ich fühle mich so energielos
Geliebt
Sucht und Suchen
Hartnäckig
Wut und Traurigkeit
Die drei Laden
Rhythmus
Ein gefährlicher Grat am Montblanc
Offizielles Statement
Lebensgeschenk
Raum
Räume
Der Weg des Künstlers
Das Feine
Beziehungsräume
Vater, Mutter, Kind
Raum geben
Abgrenzung?
Vertraute Plätze
Reduktion
Reduzieren
I take the silence
Fixe Bilder
Ein unverhofftes Geschenk
Gier und Bescheidenheit
Rituale
Das Commitment
Vorsicht
Menschen, die spielen, leben länger
Zuhören
Die Managerpause
Rausch
Ein Rausch mit Georgia
Überfülle
Mit Blumenstrauß und Weinflasche
Die Leberkässemmel
Warum kann ich mein Publikum nicht begeistern?
Abschied von der Maßlosigkeit
Gesundsein ist mehr als der ideale Body-Mass-Index
Ich träume
Mut zur Lebendigkeit
Die Autoren
◆ im Besonderen an alle unsere PatientInnen und WegbegleiterInnen, denen wir begegnen und mit denen wir lernen dürfen, täglich aufs Neue gefordert, uns gemeinsam zu entwickeln von alten Überlebensmustern hin zur Lebendigkeit.
◆ an unsere kritischen Lektorinnen, insbesondere Frau Dr. Silvia Bengesser, Frau Mag. Alex Benn-Ibler, Frau Dr. Elisabeth Wiesner-Landerl und Sigrid Wögerbauer.
◆ an Andreas Ortag und Walpurga Ortag-Glanzer für die gelungene und einfühlsame künstlerische und grafische Gestaltung dieses Buches.
◆ dem Orac-Verlag und allen MitarbeiterInnen, insbesondere Frau Barbara Köszegi, für die wie immer feine und kreative Zusammenarbeit.
◆ Bernadette Theisl und Beatrix Krapfenbauer für Feedback und Sekretariat und deren Geduld!
◆ unseren Frauen Sigrid und Leni für das Mitentwickeln und Mittragen dieses Buchprojektes. Sie erleichtern und ermöglichen uns seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue die Entscheidung zur Lebendigkeit.
Irgendwann sollten wir uns doch wieder treffen.
Irgendwann machen wir aber diese Radtour!
Irgendwann, das spüre ich, steige ich aus diesem Beruf aus.
Geht es doch im Leben immer wieder um Entscheidungen.
Ein Vater schenkt seinem Sohn ein Fahrrad.
Er überreicht es zum Geburtstag.
»Und irgendwann machen wir zwei eine super Radtour«, verspricht der Vater.
Der Sohn freut sich.
Er fährt anfangs viel im Hof, in der Gasse, später in die Schule und träumt von der Radtour mit dem Vater.
Irgendwann verliert er die Freude am Radfahren und das Rad lehnt bald bei den anderen Geschenken, wie Eislaufschuhen und Fußball.
Der Traum verblasst.
Irgendwann kommt nie!
Hat der Vater doch so viel zu tun mit Beruf, Hausbau und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Immer ist etwas zu tun!
Das Rad bekommt doch seinen Wert erst mit den gemeinsamen Abenteuern, mit Erlebnissen und mit Beziehung.
Irgendwann machen wir die Radtour!
Es bedarf ganz bestimmter Voraussetzungen, damit Vater und Sohn die Radtour nicht nur machen, sondern auch in einen echten Flow, ein rauschvolles Erlebnis miteinander kommen.
Entscheidung zur Lebendigkeit!
Immer wieder!
»Es ist egal, wann du den Fisch fängst, er ist immer frisch«, heißt ein persisches Sprichwort.
Viele Wochen haben wir schon in Griechenland schreibend verbracht, und wir wissen, dass wir nur über Erlebnisse und Begegnungen schreiben können, die uns berühren, die in uns Resonanz auslösen. Beide arbeiten wir seit über 30 Jahren als Ärzte und Therapeuten und – da sind wir sicher – Heilung gelingt dort, wo Beziehung gelebt wird! Das ist wohl auch der Grund, warum wir uns immer wieder auf unsere Beziehung einlassen und auch riskieren, Geschichten zu schreiben, Bilder zu zeichnen, Erlebtes, Erfahrenes, vielleicht auch Begriffenes zu teilen. So stellen wir uns ein Stück auch selbst als Lernende und immer wieder Suchende in diesem Buch zur Verfügung. Wir erleben es für uns selbst als heilsam, in unserer Bruderbeziehung immer wieder ins Risiko zu gehen, um uns auf unsere eigenen Überlebensmuster anzusprechen und auch damit zu konfrontieren. So, wie wir unsere Patienten immer wieder dazu ermutigen, einerseits für ihr »Leo« zu sorgen, andererseits wieder aus diesem Leo herauszugehen und auch das Risiko einzugehen, etwas zu verändern, abzuschließen und einen Neuanfang zu gestalten, so sind wir täglich auch selbst gefordert.
Um Herausforderungen des Lebens zu meistern, Sehnsüchte und Träume zu leben, um Gemeinsames zu entdecken, können die von uns beschriebenen »9R« gute Impulse sein.
Der Rhythmus, jedes Jahr für eine Woche unsere Praxen zu schließen und sonst alle drei Wochen einen Tag zu teilen, tut uns gut, ermöglicht Kontinuität und lässt hin und wieder in unseren Texten eine gemeinsame Melodie erkennen.
Beide wissen wir um die Notwendigkeit und die wohltuende Auswirkung echter Regenerationszeiten. Dennoch tun wir uns damit gar nicht so leicht, weshalb wir vermutlich auch so viel darüber schreiben.
Unsere Bruderfreundschaft ist für uns beide eine wertvolle Ressource! In Phasen der Traurigkeit, der Erschöpfung, des Krankseins, als Regulativ für unsere beiden Familien, wenn einer von uns in seinem Lebensmodell zu erstarren droht, können wir uns als echte Freunde ordentlich auf die Nerven gehen beziehungsweise stützen, wissend, dass unsere gemeinsame Ressource auch der Pflege bedarf.
Im Schaffen und Genießen von Räumen für unsere Begegnungen sind wir Spezialisten und können sie auch wirklich genießen. Das Wesentliche dieser Räume – schön sind sie allemal – ist der Schutz, den wir uns darin geben, Schutz, um ungestört Beziehungen zu leben und auf diese Weise gemeinsam lernen und wachsen zu können.
Reduktion stellt sich mit unseren acht Jahren Altersabstand immer wieder unterschiedlich dar. Worüber wir uns einig sind, ist das Fokussieren, dort hinzuschauen und dranzubleiben, wo wir die sein können, die wir auch wirklich sind, mit unseren Stärken und Schwächen. Wir wollen beide reduzieren, um das Wesentliche sehen zu können.
Miteinander zu reflektieren – zurückschauen, um wieder ein Stück vorwärts zu leben, infrage stellen, über einiges lachen können, im Zuhören und Hinspüren voneinander lernen –, das ermöglichen wir einander in unseren Begegnungen.
Ein wunderbares Ritual, wenn wir auf Kreta landen, ist für uns beide der erste Rausch. Nicht, dass wir beide dabei betrunken sind, aber die griechische Küche, das Meer, der Zauber des eroberten Schutzraumes und sicher auch der süffige Wein, der uns allerdings nur auf der Insel so gut schmeckt – all das trägt zu so manchem Rausch bei, den wir auch »Begeisterung-Im-Miteinander-Sein« nennen wollen.
Geschichten, wie wir sie hier niederschreiben, haben wir erlebt und einander erzählt, in guten Schutzräumen, und wenn sie uns berührt haben, dann konnten wir sie niederschreiben, uns manchmal auch von der Seele schreiben. Es sind Geschichten von Begegnungen – Selbstbegegnungen, Begegnungen in unserem privaten und beruflichen Lebensraum.
Im Sinne der Verschwiegenheit und zum Schutz der involvierten Personen sind die Texte anonymisiert. Wir wollen aber dennoch Bilder und Berührtheiten weitergeben, weil wir wissen, dass Menschen über Bilder und Geschichten, die auch Raum für Identifikation geben, leichter lernen können.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen, dass Sie beim Lesen auf Ihr Herzklopfen hören und hinspüren, denn unser Körper, wenn wir mit ihm verbunden sind, führt uns immer ein Stück weiter in der Kunst zu leben.
Georg und Hans Wögerbauer
Anidri (Südkreta), im September 2014
… sind ein Wortspiel. Neun Begriffe, die mit R beginnen. Entstanden sind sie, entdeckt haben meine Frau und ich sie in unserem Auszeitjahr im Rahmen einer Fußwanderung vom Waldviertel nach Assisi. Für uns war dieses Jahr ein Übergangsjahr. Unser jüngster Sohn hatte maturiert, startete seinen Zivildienst, und die beiden großen »Kinder« waren schon längst auf ihren eigenen Beinen. Der richtige Zeitpunkt für uns, um nach dreißig Arbeitsjahren ein klares Stopp, eine Unterbrechung für ein Jahr zu setzen, auch, um zu einer neuen Standortbestimmung zu gelangen, sodass wir auch die Zeit nach unserem 50. Geburtstag bewusst gestalten können.
»Aus-Zeit – bevor die Zeit aus ist«, war so ein Gedanke von mir, und eine der prägendsten Erfahrungen dieses Jahres war besagte Wanderung nach Assisi. Das Ziel war klar definiert. Meiner Frau und mir war wichtig, gemeinsam zu Fuß unterwegs zu sein, und für mich war Assisi ein würdiges Ziel, weil mich dieser »kleine verrückte Poverello« Franziskus schon immer fasziniert hat.
»Wir gehen miteinander« war unser Motto – und das erst recht nach dreißig Ehejahren. Mit der Klarheit, dass wir gemeinsam ein Ziel erreichen wollen, sind wir aufgebrochen. Ich erinnere mich an das Schließen der Hoftür und das Verlassen unseres Dorfes, meine Frau mit einem zwölf Kilogramm schweren Rucksack und ich mit 18 Kilogramm am Rücken. Wir konnten selbst nicht glauben, worauf wir uns da eingelassen hatten. So haben wir auf der Dorfstraße das Ortsschild hinter uns gelassen, um durch den Hornerwald in Richtung Kamptal aufzubrechen.
Schon bald machten wir die Erfahrung, wie wichtig der Rhythmus für unseren Weg war. Wir lernten die Notwendigkeit kennen, uns im Rhythmus fein aufeinander einzustellen, um unser Tagesziel zu erreichen. Es war zuerst der Rhythmus des Gehens: »Ich gehe mit dir« heißt auch: »Wir sind in Beziehung miteinander.« Um gemeinsam zu gehen, braucht es diese Abgestimmtheit aufeinander.
Ein weiterer Rhythmus, den wir entdeckten, wurde uns vom Körper gemeldet. Beide waren wir nicht gewohnt und auch nicht besonders gut darauf vorbereitet, täglich 20 bis 30 Kilometer im Hochsommer mit Rucksack unterwegs zu sein. Wir haben gelernt, ausgiebiger als sonst zu frühstücken, und bald hat sich zum Gehrhythmus auch ein Pausenrhythmus dazugesellt. Wir wurden auch achtsam mit der Proviantvorbereitung für jeden Wandertag. Wir haben gelernt, uns auf unserer Wanderung dem Rhythmus des Tages und der Sonne anzupassen und brauchten dafür keine Uhr, sondern wache Sinne.
Wir hatten keine fixen Pläne, Wanderzeiten oder tägliche Kilometervorgaben, sondern wir haben täglich neu entschieden, wie weit, wie schnell, mit welchen Pausen und bis wohin wir gehen wollen. Es waren Kontakt und Verbindung, die uns ermöglicht haben, unseren Rhythmus zu finden, auf unsere Atmung, auf unsere Sinne zu achten, und in dieser Achtsamkeit füreinander kam zum Rhythmus noch die Melodie, feine Töne und Zwischentöne, sodass uns dieser gemeinsame Rhythmus über tausend Kilometer weit getragen hat.
Rituale brauchen Zeit, Vorbereitung und Nachbereitung, so auch auf einer langen Fußwanderung. Das Pausenritual hat schon damit begonnen, dass wir uns mit ausreichend Proviant versorgt haben. Wir haben uns Zeit gelassen beim Gehen, jenen Platz für die Pause zu wählen, der uns beide angesprochen hat. Es war gut, öfters die Schuhe auszuziehen, in der Wiese oder auf einer Bank zu liegen, die Füße über dem Rucksack ruhend oder in einem Bach zu baden. Für dieses Pausenritual mussten wir nicht auf die Uhr schauen, wir konnten beide spüren, wann der richtige Moment war, wieder aufzubrechen. Und heute, mich an die Wanderung erinnernd, fallen mir so viele Ritualplätze ein: beim Kebabstand in Aflenz nach einem Tag der Verirrung, eine Einsiedelei in der Emilia Romagna, bei einer wunderbaren, alten Frau im Friaul, auf den Steinmauern vor dem Kloster von San Damiano oder eine alte Bahntrasse im Tagliamento-Tal.
Ein weiteres Ritual auf unserer Wanderung entwickelte sich um ein Backgammonspiel, das wir an den verrücktesten Orten und in den lustigsten Situationen immer wieder ausgepackt haben. Das Spiel hat uns oft aus einer Zentriertheit und Fixiertheit herausgehoben, sodass wir auch spielerisch weitergehen konnten. Spielen war dann der Rahmen, die Leichtigkeit, der Lohn, das Miteinander-Lachen war das Geschenk dieses Rituals. Heute noch habe ich unsere Wanderkarten, auf denen wir jeden Abend – ein weiteres Ritual – mit rotem Filzstift die gegangenen Wege nachgezeichnet haben, um dann zufrieden den Tag sein zu lassen mit allem Erlebten.
Reduktion ist meine Stärke nicht! Mein Rucksack hatte beim Weggehen im Waldviertel 18 Kilogramm, bei der Ankunft in Assisi ganze zehn Kilogramm. Ich habe so viel »in Reserve« mitgenommen, so viele Sicherheiten eingepackt, vom Nähzeug über Medikamente und Fußbalsam, GPS und schlaue Bücher, und wir haben gelernt, dass wir pro Tag immer nur eine Hose und ein Leiberl tragen können, und wenn du 1400 Kilometer gehst, dann trägst du bald nichts Unnötiges mehr mit. Je sicherer beim Gehen und sicherer zu zweit und mit unseren Beinen wir wurden, umso weniger haben wir benötigt.
Drei Mal haben wir ein Paket geschnürt und nach Hause geschickt. Ich wollte nicht mehr am Weg nach Assisi ein Ladegerät für den Fotoapparat, eines fürs Handy, ein drittes vom GPS-Gerät und ein viertes von der Stirnlampe tragen. Ich musste verzichten, reduzieren, um genau jene Leichtigkeit zu erfahren, die ein wesentlicher Beweggrund für die Wanderung nach Assisi war.
Und letztlich rührt ja auch daher diese Faszination für Franziskus – den reichen Kaufmannssohn –, der in seiner radikalen Reduktion ein Paradigma in diese Welt brachte, das auch heute noch viele Menschen inspiriert. Ich habe bemerkt, dass mit der Intensität an Verbindung, die uns im Unterwegs-Sein miteinander gelungen ist, auch meine Bedürfnisse nach Konsum immer weniger wurden. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich Venedig ganz anders als sonst erlebte, als wir mit unseren Rucksäcken den Lido entlang wanderten.
Die Reduktion hat uns weniger verführbar gemacht. Wir waren fokussiert auf den Weg, und das ist hilfreich, um ein Ziel zu erreichen.
Am siebten Tag unserer Wanderung ging es über den Ötscher, als wir am Abend bemerkten, dass Stiegensteigen nicht mehr wirklich möglich war, unsere Beine waren übermüdet und übersäuert, und alles tat uns weh. »Der Körper lügt nicht«, pflege ich immer wieder den PatientInnen zu sagen, und so ging es auch uns. Den achten Tag verbrachten wir im Kurhotel in Gösing, die Beine meist hochgelagert, diesen Rhythmus sollten wir bis Assisi beibehalten. Alle acht Tage gab es Regenerationszeit an schönen Plätzen, und ich gebe zu, dass vor allem meine Frau diese Regeneration eingefordert hat, nicht weil sie schwächer war beim Gehen, im Gegenteil, sondern weil ich mich in meiner Zielorientiertheit immer noch zu wenig gespürt habe und mir die notwendige Regenerationszeit nicht zugestehen wollte.
Wir haben auf dieser Wanderung gelernt, die Betten, in die wir uns legten, zu inspizieren, denn wir wollten uns gut ausruhen, wir haben darauf geachtet, gut zu schlafen, und wir haben uns gute Häuser zur Regeneration ausgesucht und gute Küchen und herzliche Atmosphären, weil es für unser gemeinsames Ziel auch wichtig war, in der Kraft zu bleiben.
Oft ist es unser Körper, der uns zur Regeneration hinführt, weil wir selbst Müdigkeit und Erschöpfung nicht spüren können. Manchmal ist es Krankheit, manchmal ist es die Reaktion der Menschen, die uns in unserer Erschöpfung Tag für Tag erleben und oft – viel zu lange – aushalten. Tatsächlich sind wir gebaut, nicht nur an Grenzen, sondern auch über Grenzen zu gehen, und so haben auch wir Tage mit vielen Kilometern und Höhenmetern geschafft, was wir uns nie zu schaffen erträumten – aber am siebten Tage sollst du ruhen, ist schon eine alte Weisheit.
Auf unserem Weg vom Waldviertel nach Assisi gab es viele Momente der Reflexion, der Stille. Im Miteinander-Gehen konnten wir gut zur Ruhe kommen. Zuerst waren das scheinbar ganz banale, dennoch wichtige Dinge: Kann ich noch gehen? Wie geht’s dir? Wie geht’s mir? Geht’s noch? Wie weit gehen wir heute noch? Wie geht es deinem Knie? Nehmen wir die Stecken beim Bergab-Gehen? Hast du genug zum Trinken vorbereitet? Gehen wir den schönen, aber längeren Weg oder nehmen wir die Abkürzung über die Straße? Beim Zu-Fuß-am-Weg-Sein ist Reflexion ein ständiger Begleiter, ein anderes Maß an Reflexion ist möglich und auch erforderlich als bei 130 km/h auf der Autobahn. Genau genommen ist die so oft gestellte Frage »Wie geht’s dir?« immer eine ganz zentrale Frage und Einladung zur Reflexion: Wie geht es dir? Wie geht es dir mit dem Gehen?
Immer wieder entdeckten wir während unserer Wanderung Plätze für Reflexion und Stille: Im Freien, im Unterwegs-Sein, in unserer Begegnung, im Zwischenraum unserer Verbundenheit. Wir haben auch Stunden des Schweigens im rhythmischen Gehen verbracht und waren oft erstaunt über die Gleichzeitigkeit unserer Gedanken nach langer Zeit der Stille.
Im Friaul sind wir einer alten Bäuerin begegnet, die uns mit »Mandi, Mandi« gesegnet hat, einem friaulischen Gruß, der so viel heißt wie »Begib dich in die Hand Gottes«. Wir haben im Friaul die Menschen mit diesem Gruß begrüßt und sie haben uns eingeladen. Wir haben Bilder aufgesogen von Menschen und sie mit uns getragen. Das alles war möglich in einem Rahmen geschenkter Zeit und Bewegtheit zu zweit. Wir haben gelernt, dass das Tempo unserer Fortbewegung einen Einfluss hat auf die Weise unseres Reflektierens, alleine und zu zweit, in tiefen und guten Gesprächen. Wir haben es genossen, am südsteirischen Höhenweg zurückzuschauen und die Höhenzüge zu sehen, über die wir im Laufe eines Tages gewandert sind, und wir haben uns vorgenommen, diese Reflexion in unsere Lebensgestaltung zu integrieren und uns Zeiten der Stille und des Stillstandes zu ermöglichen.
Es war ein Risiko, unseren gemeinsamen Ordinationsbetrieb für ein Jahr zu schließen, das Zuhause unseren Kindern zu überlassen, und es war auch ein Risiko, in mäßig gutem Trainingszustand loszumarschieren, um aus alten, gewohnten Bahnen auszubrechen. Um alte Überlebensmodelle und Muster zu verlassen ist es notwendig, ins Risiko zu gehen, erst dann tun sich neue Räume, Freiräume und damit auch Perspektiven auf für neue Schritte und Entwicklungen. Beim Wandern waren wir öfters in Risikosituationen, welcher Weg einzuschlagen sei, manchmal war es der richtige, manchmal war es der falsche Weg, manchmal war es auch ein Umweg und manchmal haben uns Umwege zu besonderen Plätzen geführt. »Wer nicht manchmal vom Weg abkommt, läuft Gefahr, auf der Strecke zu bleiben«, und so ging es auch uns. Oft haben wir im Abkommen vom Weg die schönsten Dinge erlebt. Es war schön, dass ich das Risiko mit meiner Frau teilen konnte, zu zweit war es für uns einfacher, und wir konnten uns gegenseitig über manche Hürde helfen. Nachdem wir den Weg das erste Mal gegangen sind, haben wir an keinem Morgen gewusst, was uns den Tag über erwartet. Das heißt, jedes Losgehen war ein Risiko, so auch wie jede Begegnung am Abend. Durch unser Unterwegs-Sein haben wir täglich riskiert, Menschen zu begegnen und wurden mit vielen schönen Begegnungen beschenkt.
Für dieses Auszeitjahr haben wir uns Zeit genommen und Raum füreinander geschaffen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Räume notwendig sind für Begegnung und für Austausch, dass es Schutzräume braucht für Wachstum und für das Miteinander-Lernen. Im Gehen waren wir zu zweit in einem Raum, den wir uns ermöglicht haben, und haben gestaunt, was an Begegnungen und Erfahrungen möglich wird, wenn wir auf diesen Raum achten und ihn pflegen. Für Räume braucht es primär nicht das Haus oder das schützende Dach, sondern es ist zuerst einmal der Raum, den ich mir selbst in meinem Sein und in meinem Unterwegs-Sein gebe und nehme, und der mich achtsam mit mir und der Natur sein lässt, die mir wiederum Raum gibt. Wir haben schöne Natur durchwandert und wurden bescheiden im Erkennen, mit wie vielen Lebewesen wir diesen Raum teilen. Je länger wir in diesem Naturraum bewusst am Weg waren, umso bescheidener wurden wir, sodass wir zwischen Chiusi della Verna und Assisi zumindest manche Teile aus Franziskus’ »Sonnengesang« verstehen, erfahren und begreifen konnten. Um im Naturraum zu sein, benötigt es das Ganz-da-Sein voller Wachsamkeit und Achtsamkeit. Dieser Naturraum hat uns eine Fülle von Lernfeldern und Möglichkeiten geboten und geschenkt.
Das zweite Raumgeschenk auf unserer Reise nach Assisi war der Zwischenraum in unserem Miteinander-Gehen. Es wurde uns immer bewusster: Wenn wir gemeinsam ein Ziel erreichen wollen, dann ist es auch notwendig, dass wir den Zwischenraum gut pflegen, ihn freihalten und auch, dass es uns immer wieder gelingt, Brücken zueinander zu bauen, Brücken, die uns verbinden. Wir haben gelernt, den Zwischenraum, den wir schaffen, zu sehen und aus diesem Raum auch Kraft zu schöpfen.
Wir haben viel Vorbereitungsarbeit vor unserer Wanderung getan, die richtigen Schuhe, die richtigen Rucksäcke ausgewählt, wir haben unsere Ausrüstung gut überlegt. Das heißt, wir haben zu Beginn unserer Weitwanderung viel Aufmerksamkeit auf die materiellen Ressourcen gelegt und die Erfahrung gemacht, dass mit jedem Kilometer, den wir am Weg waren, noch eine andere Form von Ressource wesentlich bedeutsamer für uns wurde. Besonders die Ressourcen unserer gemeinsamen Erfahrungen, die Ressourcen, die wir nähren konnten über viele Begegnungen. Wir haben unsere Ressourcen aufgefüllt durch liebevoll zubereitete und hochwertige Nahrung. Eine wesentliche Ressource für unseren Weg haben wir dadurch erfahren, dass wir uns nicht für alles verantwortlich, sondern auch getragen fühlen dürfen in einem spirituellen Netz, das uns Halt und Kraft und auch Sicherheit in Situationen von Schwäche und Unsicherheit gibt.
In jedem Menschen steckt die Sehnsucht nach Rausch und Berauschtheit, nach Erlebnissen, die uns aus dem Alltag herausheben. Bei unserer gemeinsamen Wanderung war es oft nach Stunden des gemeinsamen Gehens ein besonderer Rausch, an einem guten Platz anzukommen, von gastfreundlichen Menschen verwöhnt zu werden, der Rausch, ein Ziel zu erreichen, die Begeisterung, am Weg frische Heidelbeeren zu essen, im Friaul guten Rotwein zu genießen oder letztlich auch der Rauschzustand, eines Morgens in der Ferne im Nebel die Umrisse von Assisi zu entdecken, um dann die letzten 20 Kilometer »wie im Flug« zu nehmen.
Ich denke auch an einen besonders langen und schönen Wandertag in der Emilia Romagna, wo wir über Wiesen mit wilden Orchideen gegangen sind, um dann am Abend in einem liebevoll restaurierten Steinhaus zu landen und von einer herzlichen Frau bekocht zu werden in der feinen Kultur der italienischen Küche. Diese vielen Räusche, diese vielen Momente der Begeisterung und des Beschenktwerdens haben uns über 1400 Kilometer getragen und haben uns ans Ziel gebracht. Und auch heute noch, vier Jahre nach dieser gemeinsamen Erfahrung, können wir diese Räusche abrufen, mitteilen und auch andere damit beschenken.
Wie gut erinnere ich mich, dass wir dann nach zwei Monaten überrascht waren, tatsächlich am Fuß des Hügels von Assisi zu stehen, und wie wir dann unsere Ankunft an diesem besonderen Ort verzögert haben, wie wir noch an der Ponte di Santa Croce Rast gemacht haben und dann ganz bewusst, aufgeregt und langsam den Hügel zum oberen Stadttor hinaufgestiegen sind. Und wir erinnern uns an die Begeisterung beim Betreten des Stadttores und beim Anblick der wunderbaren Basilika mit den zwei großen Toren. Neben der Freude anzukommen, das Ziel zu erreichen, hat sich auch – und das konnten wir beide gut spüren – ein Stück Traurigkeit darüber eingestellt, dass mit der Ankunft auch unser gemeinsamer Weg nach Assisi zu Ende ging. Wir haben erfahren, dass für uns der Weg schon das Ziel war und dass wir in zahlreichen Begegnungen und wahren Räuschen am Weg nach Assisi die Gedanken des Franziskus stückweise verstanden und begriffen haben oder uns schon am Weg einverleiben durften. So war es dann für uns beide gar nicht leicht, in dieser mittlerweile so touristischen Stadt das zu erleben oder dem zu begegnen, was am Weg oft so deutlich spürbar war.
In der Stille der Mittagsruhe auf einer Steinmauer vor dem Kloster San Damiano sind wir dann zu zweit gesessen, ähnlich berauscht und dankbar, wie wir zwei Monate davor unser kleines Dorf im Waldviertel verlassen haben.
Mein Bruder Hans und ich haben diese »9 R« aufgegriffen und laden Sie ein, mit uns gemeinsam vom Risiko bis hin zum Rausch zu gehen, und hoffen, damit den einen oder anderen Impuls zu geben.
G.W.
Ich wurde eingeladen, für die österreichische Imago-Gesellschaft einen Vortrag über Beziehung und Heilung zu halten. Diese Zuhörergruppe war für mich insofern eine ganz spezielle, als mir viele psychotherapeutische KollegInnen und auch mir wichtige Lehrtherapeuten zuhörten, was mich doch angespannter als sonst sein ließ.
Während des Vortrags – ich war gut in Verbindung mit den ZuhörerInnen –, beim Näherbringen einer mich bewegenden Geschichte, entstanden ein »Flow« und eine Beziehungsdichte, in der ich eine mir wichtige Botschaft hautnah vermitteln konnte.