Gerhard Ebert

Hoffentlich musst du nicht in den Krieg

Erzählung

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Mutters Sorge

2.Erhebung im Abteil

3.Tante nackt

4.Wie ein Prinz

5.Noch zu grün hinter den Ohren

6.Sich treu sein

7.Hübsches Fräulein vor Helgoland

8.Ein Affe stiftelt

9.Domm, domm, domm, dommm

10.Mann im Hause

11.Fliegeralarm

12.Gier nach Lust

13.Der Klapperstorch

14.Mächtiges Vaterland

15.Heldentod

16.Das Eigentliche

17.Pforte zur Lust

18.Den Vater melden

19.Toms Angst

20.Puppen und Pimpfe

21.Invasion

22.Verliebt

23.Flakhelfer

24.Verborgen

25.Weiße Fahnen

Impressum neobooks

1.Mutters Sorge





































Kaum hatten Tom und Kurt Platz genommen und zu frühstücken begonnen, verließ Mutter die Wohnküche. Tom hörte, wie sie die Bodentreppe hinaufstieg. Es knarrte beunruhigend. Ihm wurde heiß und kalt. Er gab sich Kunsthonig aufs Brötchen, ohne rechten Sinn dafür zu haben. Dann endlich, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, kam Mutter wieder herunter. Sie hatte seinen Schlafanzug in der Hand und packte ihn, ohne ein Wort zu verlieren, in den Korb unterm Waschtisch, in dem sie schmutzige Wäsche aufzubewahren pflegte. Tom duckte sich. Was sollte er antworten, wenn sie irgendetwas fragen würde? Aber Mutter schwieg, und er nahm sich noch ein Brötchen.

"Du musst auch Wurst essen", sagte sie plötzlich und schob ihm den Teller mit der Wurst zu. Tom wagte nicht, zu ihr aufzusehen. Aber dieser Hinweis auf Fleisch schien ihm nicht zufällig.

"Honig schmeckt mir ganz gut!" hörte er sich sagen.

Kurt grinste. Der Bruder wusste, dass Tom Honig eigentlich nicht so gern mochte.

Mutter aber sagte: "Du wächst, Junge, du brauchst Kraft."

"Hm", brummte Tom und griff nach einer Scheibe Blutwurst. Vielleicht war dies das beste Mittel, möglichen Fragen aus dem Wege zu gehen. In der Tat. Als Mutter sah, dass Tom ihrem Rat folgte, schien sie zufrieden. Das Problem, so schien ihm, war erst einmal vom Tisch.

"Die Reise wird anstrengend!" fügte Mutter jetzt noch hinzu.

Aha! Die Reise! Das war ihre Sorge.

Tom hatte - welch Glück - zwei Großväter! Da war Opa Reinhard, Mutters Vater, und da war Opa Arno, Papas Vater. Dieser zweite Opa, der Witwer war, eröffnete eines Tages Toms Eltern, er werde im September zu seiner Tochter Erna nach Bremen reisen und sei bereit, Tom mitzunehmen. Welch erfreuliche Überraschung! Mit Opa Arno war Tom bisher immer recht gut ausgekommen. Der war ein rüstiger Rentner und wanderte für sein Leben gern. Kaum eine Woche verging, in der er nicht in die nahe oder weitere Umgebung seiner Heimatstadt losspazierte. Oft durfte Tom mitkommen.

Besonderen Spaß machte es, wenn Opa zum Bahnhof ging. Dort setzte er sich meist auf eine Bank im gut gepflegten Park, fütterte die Vögel oder schwätzte mit diesem oder jenem Banknachbarn. Tom indessen kletterte auf den Zaun, um die vorüberfahrenden Eisenbahn-Züge zu bewundern.

Dieser Zaun schien geradezu gebaut für Buben wie ihn. Er war nämlich etwa einen halben Meter hoch aus Stein aufgesetzt, und darauf war ein Eisengitter montiert. Tom konnte bequem auf die Mauer hochsteigen, sich am Metall festhalten und stundenlang schauen. Die D-Züge fuhren schnell, weil sie eilig und ohne Halt durch den Bahnhof hindurch rasten, die Bummelzüge zuckelten langsam, weil sie am Bahnsteig hielten, damit Leute ein- und aussteigen konnten. Natürlich fuhren auch Güterzüge, meist lang und schier endlos, aber immer höchst interessant, weil mit allerlei Gütern beladen. Man musste sehr aufmerksam gucken; denn sie donnerten – zwar etwas langsamer - wie die D-Züge einfach an einem vorüber.

Weiter drüben auf dem Bahngelände, so sechs, acht Gleise entfernt etwa, wurde gelegentlich rangiert. Aufregend, wenn Wagen einzeln oder in Gruppen vom Rangierberg herunterkamen und auf den Bremsklotz aufliefen, den ein Eisenbahner hingelegt hatte. Das rumste und quietschte gewaltig. Leider tat ihm nicht ein einziges Mal ein Wagen den Gefallen und ratterte über den Bremsklotz hinweg. Dabei wäre das sehr aufregend gewesen! Wenn zum Beispiel der Wagen umgefallen wäre! Hätte die Feuerwehr eingreifen müssen?

Manchmal malte sich Tom solch unerwartetes Ereignis aus; denn zuweilen geschah rein gar nichts auf den Geleisen, nicht ein einziger Zug fuhr vorbei, nicht eine einzige Lok stand irgendwo einsam herum und dampfte vor sich hin. Dann belebte Tom den Bahnhof mit seiner Phantasie. Das machte er so intensiv, dass er, wenn plötzlich doch ein Zug kam, dessen Heranbrausen schon mal verträumte. Da konnte ihm der Schreck gehörig in die Glieder fahren. Denn solch eine schnaufende Dampflok in voller Fahrt war doch ein ziemliches Ungetüm. Wenn es in zwei Meter Entfernung vorbei donnerte, musste man sich ganz schön am Zaun festhalten.

Nun also eine Reise mit der Eisenbahn! Nicht etwa nur drei, vier Stationen im vertrauten Muldental entlang, etwa nach Waldenburg oder Rochlitz, sondern weit ins Fremde, über Leipzig hinaus bis nach Bremen in die Nähe der Nordsee. Tom barst geradezu vor Erwartung. Aber zu Hause hielt er sich zurück. Besonders gegenüber dem Bruder. Klar, der war noch zu klein, den konnte Opa nicht mitnehmen. Aber letztlich war es eine Bevorzugung, und das war ihm peinlich. Außerdem hatte sich Tom angewöhnt, erst an das echt zu glauben, was wirklich geschah. Denn nichts war so blöd wie eine Erwartung, die sich nicht erfüllte. Das hatte er schon mitbekommen vom Leben.













2.Erhebung im Abteil



Der Tag kam. Die Reise begann. Opa Arno hatte offenbar auf Ersparnisse zurückgegriffen. Am Morgen fuhr er vornehm mit einem Taxi vor. Mutter und Tom stiegen ein, nachdem der Fahrer das Gepäck verstaut hatte. Im Nu waren sie am Bahnhof, hatten dann auf dem Bahnsteig noch Zeit. Das passte Tom ganz und gar nicht, denn Mutter störte ihn jetzt mit ihren nicht enden wollenden, ach so lieb gemeinten Ratschlägen. Tante Erna keinen Ärger machen! Brav zu Opa sein! Sich immer die Hände waschen, wenn es zu Tische ging! Meine Güte! Er würde ja nicht im Sandkasten spielen. Aus dem Alter war er nun wirklich heraus.

Endlich schnaufte der Zug heran. Küsschen von Mutti, rasch hinein und ans Fenster. Schon Ärger! Opa hatte erwartet, dass Tom ein bisschen mit zufasst beim Gepäck. Na, das wird sich machen lassen. Signal auf grün, erhobene Kelle des Stationsvorstehers, der Zug rollt an. Mutti bleibt zurück, winkt mit einem Taschentuch. Sie hatte Tränen in den Augen. Tom erkannte das gerade noch. Abschied. Er begriff das nicht so richtig. Auch bewegten ihn im Moment ganz andere Dinge.

Bummelzug! Ach, du glaubst es nicht! Halt selbst an kleinster Station. Schönbörnchen zum Beispiel. Meerane hat da vergleichsweise schon einen großen Bahnhof. Und alsbald umsteigen! Gößnitz! Elend langer Bahnsteig. Koffer schleppen. Zwei kleine für ihn. Aber schwer genug! Wieder Bummelzug. Viele Leute unterwegs. Komisch! Überall Leute. Mit Koffern, mit Kindern, große, kleine. Aber so weit wie er, Tom, schienen sie alle nicht zu fahren. Das war eigentlich ein gutes Gefühl.

Endlich Leipzig. Welch unheimlich großer Bahnhof! Überdachte riesige Hallen! Und die Züge fahren nicht hindurch, wie eigentlich richtig und üblich wäre, sondern bis zu einem sogenannten Prellbock. Da steht dann die stolze Lok wie eingeklemmt von den Wagen. Viel zu wenig Zeit, sich das alles genau anzusehen. Opa drängt. Er muss den Bahnsteig finden, von dem aus die Reise fortgesetzt werden soll. Bisher hatten sie ja nur in einem Personenzug gesessen. Nun soll es in einem D-Zug weitergehen. Und sie haben wenig Zeit umzusteigen.

Während Opa einen Fahrplan studiert, schaut sich Tom um. Sieh da! Oben ist immer ein Draht über dem Gleis. Ab Leipzig kann man also mit einem elektrischen Zug fahren. Ob auch nach Bremen? Opa winkt ungeduldig. Sie laufen los. Tom muss wieder seine zwei kleinen Koffer allein tragen, denn Opa hat mit den seinen genug. Umsteigen ist eigentlich blöd, denkt Tom. Der Weg ist lang, die Koffer schwer. Aber er schleppt tapfer. Zum Glück muss Opa verschnaufen. Also kann auch Tom seine Bürde absetzen. Dieses Gewimmel um ihn herum. Ob das jeden Tag hier so ist? Wohin diese vielen Leute verreisen mögen? Elegante Damen und Herren, schlampig gekleidete Leute auch. Opa winkt einen Herrn in bunter Uniform heran. Ein Gepäckträger, stellt sich heraus. Na prima, das hätte er gleich so machen sollen. Jetzt kamen sie flott voran, wenn es auch für Tom eine arge Schlepperei war. Der Mann brachte sie zum Zug, half beim Einsteigen.

Zu dumm, jetzt hatte Tom in aller Aufregung versäumt zu gucken, ob da eine E-Lok vorgespannt war. Moment! Er erinnerte sich. Eben, als sie den Bahnsteig betreten hatten, waren sie an einer E-Lok vorbeigekommen. Klar, das musste eine sein. Sie sah aus wie ein normaler Waggon, hatte aber oben auf dem Dach solch Drahtgestell für den Strom. Doch in diese Richtung würden sie nicht fahren, da war ja der Prellbock. Plötzlich ruckte der Wagen.

"Die Lok wird vorgespannt", meinte Opa.

"Eine E-Lok?"

"Schau nach", antwortete Opa, "wir haben noch Zeit."

"Hinausgehen und gucken?" fragte Tom überrascht.

"Was sonst", brummte der Großvater und schien nicht gewillt, der Sache weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Das war ja ungeheuerlich! Wenn das Mutter wüsste! Er sollte hier in diesem fremden großen Bahnhof ganz allein hinausgehen auf den Bahnsteig und sich umschauen!

"Beeil dich aber", sagte Opa noch.

"Ja, bin gleich zurück", erwiderte Tom und flitzte auch schon durch den Gang zur Waggontür. Zum Glück stand sie offen. Das Hinaussteigen war nicht einfach, weil solch ein Waggon natürlich für Erwachsene konstruiert ist. Aber Tom war nicht aufzuhalten. Schnell lief er den Zug entlang nach vorn zur Lok. Und tatsächlich, er konnte es sehen, da stand solch Wagen mit Drahtgestell auf dem Dach. Nun nicht unnötig Zeit verlieren! Tom machte kehrt. Das Vertrauen, das ihm Opa eben gezeigt hatte, durfte nicht leichtfertig verspielt werden. Denn so ein bisschen besondere Freiheit konnte auf der Reise wichtig werden.

Da war schon der Ärger! Eine lange Sekunde des Schreckens. In welchen Waggon musste er zurücksteigen? Tom wusste es nicht. Er hatte beim Aussteigen nicht achtgegeben. Nun auch noch eine schnarrende Stimme im Lautsprecher! Irgendwer forderte auf zum Einsteigen in den D-Zug nach Bremen. Tom hastete. Verdammt, das durfte nicht schief gehen. Gar nicht auszudenken, wenn Opa jetzt losbrausen und er mutterseelenallein und ohne Geld zurückbleiben würde.

"Zum Zug?" fragte plötzlich eine Stimme neben ihm.

Der Schaffner! Rettung in der Not!

"Ja, zu Großvater", hauchte Tom hastig und mit weichen Knien.

"Dann such drin!" meinte der Mann, hievte Tom hoch in einen Waggon und knallte die Tür hinter ihm zu. Das war also erst einmal geschafft. Wie wunderbar, dass man in solch einem D-Zug von Waggon zu Waggon laufen konnte!

Aber neuer Ärger! Die Tür zum Durchgang ließ sich nur schwer bewegen. Tom schaffte es nicht. Ratlos stand er erst einmal davor. Zum Glück kam eine junge Frau, der er sich anschließen konnte. Und da war auch Großvater! Er stand im Gang, hatte ein Fenster heruntergelassen und schaute hinaus.

"Bin da", sagte Tom.

"Na und?" fragte Großvater. Tom war unsicher. Sollte das eine Vorhaltung sein, ein Vorwurf?

Ja, ich, das...", druckste Tom.

"E-Lok?" fragte Opa.

"Ach so, ja!" antwortete Tom erleichtert.

Draußen ertönte ein Pfiff. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Opa ging ins Abteil, setzte sich und zeigte neben sich zum Fenster:

"Dein Platz!"

Opa schimpfte nicht, das war schön.

"Ich hatte mich mit der Zeit verkalkuliert", sagte er noch, "gut, dass du aufgepasst hast".

"Und ich wusste nicht mehr, wo ich ausgestiegen war."

"Wir sind Waggon fünf."

Inzwischen rüttelte der Zug über viele, viele Weichen. Tom schaute hinaus. Toll, am Fenster zu sitzen. Und auch noch in Fahrtrichtung! Er konnte sehen, wie sich der Zug durch Kurven schlängelte. Irgendwie ein Wunder, wenn er das richtige Gleis nach Bremen fand. Kaum hatten sie die Stadt verlassen und freie Landschaft erreicht, gab es draußen meist nur Wälder, Wiesen, Felder und dazwischen große und kleine Häuser zu besichtigen. Manchmal brauste der Zug durch irgendeine Station. Aber das ging so schnell, dass etwas Rechtes kaum zu erkennen war. Gab es einen Bahnsteig, standen hier und da Leute herum. Bald wurde das Hinausschauen langweilig. Tom rutschte ungeduldig auf seinem Sitz hin und her.

Erst jetzt hatte er ein Auge für eine Frau, die schräg gegenüber in der Ecke an der Abteiltür saß und soeben ihren Mantel ausgezogen hatte. Als sie wieder Platz nahm, dabei Tom durchdringend musterte, was er nicht zu deuten wusste, fiel ihm ihre offene Bluse auf. Jedenfalls war mindestens ein Knopf zu wenig zugeknöpft. Denn was dadurch sichtbar war, hatte Tom bisher in seinem ganzen Leben noch nie zu sehen bekommen: eine gewaltige Fülle rosafrischen Fleisches, aufgeteilt auf zwei Hügel, die sich in dem Rhythmus auf und ab bewegten, in dem die Frau atmete. Tom durchzuckte ein undefinierbares Gefühl. Schnell schaute er weg.

Doch das hielt er nicht lange aus. Langsam wanderte sein Blick wieder zu der Dame. So etwas musste sie sein: eine Dame! Eine normale Frau, wie er sie von zu Hause kannte, würde den Knopf nicht offen lassen. Als er sie verstohlen wieder musterte, sah er, wie sie zu Opa blinzelte. Und der blinzelte zurück. Im gleichen Moment schlug sie ein Bein über das andere, wodurch allerhand Schenkel unter dem Rock sichtbar wurde. Ziemlich dick, dachte Tom. Jedenfalls empfand er das so. Er wusste nicht, warum.

Und überhaupt, diese Dame war, im Vergleich mit Mutter etwa, die sich immer als dick bezeichnete, sogar eigentlich sozusagen unverschämt dick. Wie alt mochte sie sein? Tom überlegte. Er kam zu keinem rechten Ergebnis. Auf alle Fälle jünger als Mutter, vielleicht so dreißig. Er beschloss, sich nicht mehr für sie zu interessieren. Auch Opa schien zu einer ähnlichen Entscheidung gekommen zu sein, denn fast demonstrativ schaute er zum Fenster hinaus, obwohl just nur Wald, Wald und noch einmal Wald vorbeihuschte.

Jetzt gab es Bewegung draußen auf dem Gang. Ein Mann in Uniform schlug einen Gong, öffnete die Abteiltür und fragte, ob man im Speisewagen einen Platz wünsche. Speisewagen! Was ist denn das? Die Dame bekundete sofort ihr Interesse und bekam ein Billet.

"Die Herrschaften auch?" fragte der Herr, offenbar ein Kellner.

Opa schaute einen Moment unschlüssig zu Tom. In dessen Gesicht musste er gelesen haben, wie gern der den Speisewagen kennen lernen würde.

"Ja, zwei Plätze bitte", sagte Opa.

"Schön", sagte Tom.

"Auch Appetit, junger Mann?" mischte sich der Kellner ein. Tom wusste nicht, ob er antworten sollte. Eigentlich, fand er, ging dem Herrn nicht an, ob Tom Hunger hatte oder nicht. Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. Aber so wichtig schien dem Mann Toms Appetit nun auch wieder nicht zu sein, denn schon hatte er das Abteil wieder verlassen.

"Sie können schon Platz nehmen", hatte er noch gesagt.

Die Dame stand prompt auf und musterte Opa, als erwarte sie irgendeine Regung. Aber der schaute auf die Billets, tat so, als merke er ihr Interesse nicht. Tom gewahrte bei der Gelegenheit, dass diese ihm zu dicke Dame auch unverschämt dicke Lippen hatte, die obendrein ausschauten, als seien sie knallrot angemalt. Da Opa sich nicht regte, schob sie die Tür zur Seite und ging hinaus.

Kaum hatte sie das Abteil verlassen, brummte Opa mit blitzenden Augen unwirsch: "Ein leichtes Mädchen!"

Tom muss sehr dumm und ratlos geguckt haben, denn schon winkte Opa ab und sagte: "Vergiss es!"

Was dem Tom nun freilich nicht gelang. Ein leichtes Mädchen? So eine Dicke? Zu gern hätte er zurückgefragt, aber das ging nicht. Wer weiß, was Opa denken würde, wenn er, Tom, sich für ein „leichtes Mädchen“ interessieren würde. Was immer das sein mochte. Er musste unbedingt so tun, als sei ihm völlig gleichgültig, wer da in ihrem Abteil in der Ecke saß. Zum Glück hatte sich Opa inzwischen erhoben, knüpfte seine Weste zu, die er gern der Bequemlichkeit halber öffnete, und wandte sich zur Tür.

"Komm", sagte er, "wir gehen Mittag essen."

Das war nun wirklich eine feine Sache. Man konnte in einem D-Zug wie in einem Restaurant futtern! Aber vorher musste man den Speisewagen finden. Kaum stand Opa draußen auf dem Gang, wollte er von Tom wissen, in welche Richtung sie gehen mussten. Da war Tom überfragt. Opa hielt ihm vor, er hätte doch in Leipzig, als er draußen am Zug entlang gelaufen sei, den roten Mitropa-Wagen sehen müssen. Ein roter Wagen? Da war guter Rat teuer.

Zum Glück kam gerade der Kellner von seiner Tour zurück, und damit war klar, in welche Richtung sie gehen mussten. Aber so einfach war das gar nicht. Der Zug schlingerte elendig. Und diese Übergänge von Waggon zu Waggon! Wahre Höllenschlünde! Unten rasten die Schwellen vorbei. Überall Lücken, durch die Luft pfiff. Tom schienen die Löcher so groß, dass solch schlanker Bursche wie er glatt hätte durchfallen können. Jedenfalls war Tom heilfroh, als sie endlich angelangt waren.

Große Fenster. Bequeme Sitze. Gedeckte Tische. Saubere, freundliche Menschen. Wunderbar! Wie im Märchen! Und das leichte Mädchen an einem anderen Tisch. Eigentlich schade. Tom hätte zu gern gewusst, was solch ein Mädchen isst. Jedenfalls war er ziemlich abgelenkt, so dass ihm eine Gabel vom Tisch fiel, was nun wirklich nicht hätte passieren dürfen.

"Träum nicht!" rügte Opa.

Schon stand ein Kellner an ihrem Tisch und reichte eine neue Gabel, was immerhin auch ganz interessant war. Und zu Opa gewandt sagte er, er solle sich nicht bemühen, die Gabel werde sich schon finden. Tom, der brav aufstehen wollte, um das Ding zu suchen, wurde angehalten, schön sitzen zu bleiben. Gerade jagte der Zug durch irgendeine Kurve, und ein anderer Kellner hatte Mühe, die vollen Gläser auf seinem Tablett heil an Ort und Stelle zu befördern. Tom bekam eine Cola, Opa sein Bier. Wernesgrüner, darauf hatte er bestanden.

Alsbald kamen die Speisen. Opa hatte für sie beide Wiener Schnitzel bestellt. Es schmeckte einfach wundervoll! Tom fühlte sich sehr, sehr wohl. Gern wäre er noch in diesem geräumigen Wagen geblieben, doch Opa drängte zum Aufbruch, nachdem er gegessen und sein Bier ausgetrunken hatte. Er wollte, meinte er, ihre Koffer nicht so lange allein im Zugabteil lassen. Das war zu verstehen. Noch einmal kam der beschwerliche Trab durch die Höllenschlünde zwischen den Waggons.

Nachdem sie wieder in ihrem Abteil angelangt waren, wo sie übrigens alle Gepäckstücke noch vorhanden fanden, schien eigentlich die Zeit gekommen, mit vollem Bauche einfach nur so zu dösen. Doch es geschah etwas Ungeheuerliches. Es kam aus heiterem Himmel und war unfassbar.

Tom hatte ein Weilchen gesessen und schläfrig ein bisschen vor sich hin geduselt. Opa hatte sich an seinen Mantel gelehnt und war eingeschlummert. Die leichte Dame hatte irgendeine Zeitschrift zur Hand genommen und sich darin vertieft. Tom verspürte nicht einmal eine Neigung, sie insgeheim zu beobachten. Er war fertig mit ihr. Ja, sie war dick, nicht fett, aber zu dick, und sonst gab es nichts an ihr zu bewundern. Die beiden Fleischberge machten ihn zwar irgendwie unruhig, aber jetzt waren sie hinter der Zeitung verschwunden.

Tom überkam angenehme Schläfrigkeit. Dieses gleichmäßige Rütteln des Waggons löste und lockerte. Entspannt hockte er auf seinem Sitz. Plötzlich spürte er eine ihm vertraute Regung. Langsam, ganz langsam erhob sich sein Pimmel! Allmählich und unerbittlich geradezu majestätisch. Tom war total ratlos. Was jetzt? Verstohlen verschaffte er seinem Struller erst einmal Platz in der Hose. Was gar nicht so einfach war; denn er konnte sich ja nicht nach Belieben bewegen. Tom schaute. Die beiden schienen seine Not nicht bemerkt zu haben.

Inzwischen hatte er einen prallen Pimmel, dass ihm ganz heiß wurde. Was sollte werden? Er konnte doch jetzt nicht seine Hose beschmutzen. Mit dem steifen Ding aufstehen und sich in den Gang verdrücken oder zur Toilette gehen, war ausgeschlossen. Heimlich, dabei immer Opa und die Dame kontrollierend, legte er seine Hand auf die Stelle, um die Erhebung unter der Hose zu verdecken. Himmel, was tun? Warum eigentlich nicht einfach den Hosenstall aufsperren und den strammen Schwengel in die frische Luft herauslassen? Für einen Moment stellte sich Tom vor, was wohl das leichte Mädchen für Augen machen würde.

Blöd, elend blöd das alles. Weshalb schwoll sein Pimmel an? Hatte das irgendeinen tieferen Sinn? Tom konnte sich's nicht erklären. Plötzlich guckte die Dame zu ihm, ließ den Blick langsam zu seiner Hand wandern. Ihm schoss das Blut in den Kopf. Wahrscheinlich sah er jetzt knallrot aus im Gesicht. Tom wünschte, im Boden zu versinken. Ganz ruhig! sagte er sich. Die Madame konnte nichts bemerkt haben. Dass sie lächelte, musste reiner Zufall sein.

Da! Ein Bahnhof! Das war die Rettung. Der Zug verlangsamte die Fahrt, hielt, Leute stiegen ein und aus. Tom spürte, dass sich die Lage bei ihm da unten entspannte. Meine Güte, was einem alles passieren kann!

Wie die Stadt hieß, in der der Zug gehalten hatte, war Tom entgangen. Opa, der aufgewacht war und es wissen wollte, war verwundert. Aber Tom konnte ihm ja nicht sagen, was ihn eigentlich beschäftig hatte. Opa lehnte sich wieder zurück, die Madame war hinaus auf den Gang getreten, um zu rauchen. Tom fühlte sich unbeobachtet. So sehr er sich nun aus Neugier und Drang mühte, seinen kleinen Kerl sozusagen per Befehl noch einmal auf Trab zu bringen, fruchtete nichts. Es blieb ein Geheimnis, auf wessen Geheiß sich dieser Schlingel so mächtig ins Zeug legen konnte. Tom grübelte und grübelte. So kam Bremen schneller herbei, als vermutet.













3.Tante nackt



Auf dem Bahnsteig warteten Tante Erna und Onkel Jupp, gekleidet wie feine Leute. Der Onkel zog Tom fröhlich an seine Brust, die Tante drückte ihm hurtig ihre Lippen auf den Mund. Das war nun aus heiterem Himmel etwas ganz Neues. Mutter pflegte ihn so nie zu küssen. Wenn sie ihm ein Küsschen gab, dann auf die Wange oder auf die Stirn. Auf den Mund nie. Und jetzt war ihm, als habe ihm Tante Erna irgendetwas Cremiges auf seine Lippen gedrückt. Und das schmeckte zwar nicht gerade eklig, aber undefinierbar fad. Tom wischte sich verstohlen den Mund.

Inzwischen saßen sie im kleinen DKW von Onkel Jupp und kurvten durch belebte Straßen. Das war aufregend. Tom fuhr gern Auto, obwohl er mit dem Benzingeruch manchmal Probleme hatte. Da Autofahren für ihn etwas höchst Seltenes war, konnte er sich auch nicht daran gewöhnen. Das bedeutete, dass es ihm in der Benzinluft schon mal übel werden konnte. Aber jetzt in der fremden Stadt war die Ablenkung so groß, jetzt überstand er die kurze Fahrt ohne Schwierigkeiten.

Alsbald hielten sie vor einem vornehmen Haus. Tom war beeindruckt. Tante Erna bewohnte mit ihrem Mann, einem Kaffeehaus-Musiker, mit dem sie ihren Eltern durchgebrannt war, eine schöne große Wohnung im ersten Stock. Eine separate Treppe führte nach oben zu den Zimmern, in denen ein Kater residierte, der – wie sich herausstellte – nicht bereit war, sich mit Tom anzufreunden. Opa verscherzte es übrigens von Anfang an bei ihm, weil er aus purem Schabernack seinen Schal nach ihm warf, kaum dass sie angekommen waren.

Schon bat Tante zum Abendbrot in die geräumige Wohnküche. Dort waren allerhand feine Sachen aufgetischt. Die seltenen Gäste sollten verwöhnt werden. Leider waren Tante und Onkel sehr neugierig. Opa und Tom sollten von der Reise erzählen. Opa gab sich Mühe, Tom aber war maulfaul. Tante registrierte es ein bisschen pikiert.

Müde“, verteidigte sich Tom, „bin müde.“

Dann ab ins Bett!“ erwiderte Tante gnadenlos und forderte ihn auf mitzukommen. Sie zeigte ihm sein Domizil, ein nettes kleines Zimmer. Tom bewunderte es artig und war prompt allein.

Aber in der ungewohnten, fremden Umgebung schlief er einfach nicht ein. Ihn störten Eisenbahnzüge, die auf einer Brücke in kaum hundert Meter Entfernung in unregelmäßigen Abständen vorüberfuhren. Außerdem zuckte Lichtreklame von der Straße ungewohnt und hell ins Zimmer. So lag er wach und starrte an die Decke. Immer wieder spazierten ihm die Bilder des Tages durch den Kopf, insbesondere dies seltsame Erlebnis mit seinem Schniepel. Er ertappte sich bei der Sorge, ihm könnte nachts bei Tante passieren, was ihm neulich zu Hause widerfahren war. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er in Tantes Bett seinen nächtlichen Erguss hinterlassen würde. Wie war das zu verhindern? Das lag doch völlig außerhalb seiner Macht! Er schlief, und es passierte ihm! Jedenfalls neuerdings.

Tom fand keine Ruhe. Opa, Tante und Onkel waren längst zu Bett gegangen. Er hatte gehört, wie sie sich gute Nacht wünschten. Wo schlief eigentlich der Kater? Etwa im Flur auf dem Weg zur Toilette? Würde er ihm begegnen? Katzen waren nicht sein Fall. So eine Reise war überraschend mit allerhand unerwarteten Unannehmlichkeiten verbunden. Zum Beispiel jetzt. Er musste zur Toilette.