Inhaltsverzeichnis
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Die Autorin
Dank
Heide-Marie Lauterer
Mörderische Liebe
Ein Reiterkrimi
spiritbooks
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2013 spiritbooks, 73230 Kirchheim/Teck
Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de
Autorin: Heide-Marie Lauterer
Herausgeberin: Ulrike Dietmann
Coverfoto: Petra Eckerl - Fotolia.com
Autorenporträt: Gülay Keskin
Grafik: vectors seamartini
Duck und Verlagsdienstleister: tredition
Printed in Germany
eBook-ISBN: 978-3-944587-91-2
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Die Autorin
Heide-Marie Lauterer, langjährige Schriftführerin des Heidelberger Reitvereins und Pferdebesitzerin kennt sich aus in den Höhen und Tiefen des Reiterlebens. Sie schreibt Romane, Reiterkrimis und Kurzgeschichten und ist Mitglied der Autorenvereinigungen "Mörderische Schwestern" und der „Literaturoffensive“ Heidelberg.
Für Hans-Jürgen
„Schau dir den Kleinen da an! Ein richtiger Rabauke!“ Gerson legte die „Süddeutsche“ auf die Parkbank und deutete auf einen Jungen in Daunenanorak und Pudelmütze, der hinter einem Ball hertrippelte und sich im Laufen mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischte. „Ist der nicht knuffig?“
Wir saßen auf unserer Lieblingsbank vor dem Wasserspielplatz und schauten den Kindern zu, die auf den Steinen herumturnten und auf der Neckarwiese Ball spielten. Es war Mitte November und die Sonne schien immer noch so kräftig wie im Spätsommer. Mit einer dicken Jacke und einem Schal konnte man die Mittagspause gut im Freien verbringen.
„Hast du so ausgesehen, als du klein warst?“ In den Jungen hätte ich mich auf der Stelle verlieben können. Jetzt blieb er stehen, riss sich die Mütze vom Kopf, warf sie auf die Erde und fuhr sich mit der Hand durch seine braunen Locken.
„Wenn wir mal ein Kind haben …“, sagte ich und hielt inne. Der Satz war mir einfach so herausgerutscht und jetzt verhaspelte ich mich, weil mir auf einmal die ganze Bedeutung meiner Worte bewusst wurde. Gerson sah mich gespannt an.
„Also, unser Kind müsste so aussehen, wie der kleine Kerl dort!“
Gerson hatte zwei Becher Coffee to go vom Café Steiner mitgebracht. Wenn er gute Laune hatte und ein paar Euro zu viel im Geldbeutel, dann machte er schon mal was locker. Das Café war bekannt für seine selbstgerösteten Bohnen, und die ließ es sich teuer bezahlen. Gerson lächelte; er gab mir meinen Becher. „Fußball? Ich war gut im Ping-Pong – absolute Spitze!“ Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er:
„Unser Kind – und wenn es ein Mädchen wird? Dann hätte sie knallrote Haare, aber sonst sähe sie aus wie du!“
„Wirklich? Meine braunen Kulleraugen und rote Haare?“
„Doch! Und sie hätte deine langen Beine und deine Figur und sie wäre dauernd in Bewegung.“
Ich tastete nach Gersons Hand neben mir, da legte er seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich. Es war das erste Mal, dass wir über ein gemeinsames Kind sprachen, und dieser Gedanke verband uns in neuer Weise.
„Dann käme sie in Reithosen auf die Welt“, sagte ich lachend.
Gerson löste sich sanft aus unserer Umarmung und stand auf, um den Ball, der schon wieder vor seinen Füssen lag, weg zu kicken. Dann sagte er: „Wir lassen uns Zeit, nicht? Aber für jetzt habe ich eine andere Idee: Nine soll ein Fohlen bekommen!“
Ich glaubte mich verhört zu haben und nippte an meinem Kaffeebecher. Dann nahm ich einen kleinen Schluck und dann noch einen. Ob Gerson einen Witz gemacht hatte? „Schmeckt gut, der Kaffee“, sagte ich, nur um etwas zu sagen. Ich wollte mir keine Blöße geben, weil ich wieder einmal seinen abgründigen Humor nicht verstanden hatte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Ich stellte meinen Pappbecher auf die Parkbank, so dass er nicht durch die breiten Ritzen zwischen den Latten fiel und drehte mich zu Gerson hin. Irgendetwas an seinem Ton ließ mich aufhorchen. „Sag`s noch mal!“
Er seufzte geziert. „Siehst du, so geht es mir immer, wenn ich mal von deiner Stute anfange. Du hörst einfach weg. Aber gut! Ich finde, Nine sollte ...“
„Gerson! Du meinst, ich sollte Nine decken lassen? Warum sagst du es nicht gleich?“
Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. In diesem Augenblick fiel der Kaffeebecher um, glücklicherweise konnte ich wenigstens den Deckel auffangen, doch meine neue Jeans war ab sofort nicht mehr bürotauglich. Gerson schob mir ein Papiertaschentuch hin und ich wischte an dem Fleck herum, doch eigentlich war mir der Fleck ziemlich egal. „Ist nichts passiert“, sagte ich schnell und richtete mich auf. „Ganz ehrlich, ich habe schon länger darüber nachgedacht; aber ich war mir nicht sicher, was du dazu sagen würdest, deshalb habe ich meinen Mund gehalten.“
Der kleine Junge kickte schon wieder den Fußball in unsere Richtung,
„Warum redest du eigentlich nie mit mir über Dinge, die dir wichtig sind?“, sagte er und ich spürte, wie er versuchte, einen aufsteigenden Groll im Zaum zu halten.
Was meinte er denn? Er hatte meine Pferdeleidenschaft immer als Virus bezeichnet und mir vorgeworfen, zu viel Zeit im Stall zu verbringen. Aus seiner Sicht hatte er irgendwo recht, das musste ich zugeben, deshalb wollte ich gerade jetzt keine Grundsatzdiskussion über erste und zweite Dinge anfangen. Gerson war immer noch Spitze im Ping-Pong – er hätte meine Argumente einfach umgedreht und sie mir zurückgeschossen.
„Ich habe gestern mit Iris darüber gesprochen, sie ist für ein paar Tage in Heidelberg.“
„Siehst du, genau das meine ich – du redest mit allen möglichen Leuten, nur nicht mit mir!“
„Ach Gerson, du ahnst gar nicht, wie ich mich freue, dass gerade du den Vorschlag mit Fohlen gemacht hast!“
Gerson zerknüllte seinen Kaffeebecher und verfehlte nur knapp den Papierkorb. „Was hat Iris denn gemeint?“, sagte er, und nun klang er merklich entspannter.
Meine Freundin Iris, die Pferdezüchterin, verbrachte gerade ein paar Tage in Heidelberg. Einmal im Jahr besuchte sie das Grab ihrer Zwillingsschwester Marga, die vor drei Jahren bei einem tragischen Reitunfall auf dem Leierhof ums Leben gekommen war. Wie immer, wenn Iris in Heidelberg Station machte, übernachtete sie bei Edda, ihrer alten Mentorin in Ziegelhausen. Bei ihr holte sie sich Rat in allen Fragen, die mit Pferdehaltung zu tun hatten. Und seit neuestem auch in Zuchtfragen.
„Iris will Freibergerpferde mit Trakehnern kreuzen und verspricht sich viel von dieser Mischung. Deshalb hat sie mich gefragt, ob ich ihr vielleicht Nine als Zuchtstute ausleihen will.“
Gerson stand auf, um den Ball des Jungen, der schon wieder zu uns heraufgerollt war, zurück zu kicken. Der Kleine wollte Aufmerksamkeit; offensichtlich hatte er sich einen Spielonkel gesucht und ihn auch gefunden.
„Du könntest Nine in ihre Obhut geben?“, fragte Gerson und setzte sich wieder auf die Bank.
„Über Einzelheiten haben wir noch nicht gesprochen. Ich habe mir immer schon ein Fohlen von Nine gewünscht, aber als Zuchtstute will ich sie nicht abgeben. Iris versteht das, sie will Nine trotzdem mit zu sich nach Montmirail nehmen.“
Iris war kurz nach Margas Tod mit ihren Pferden vom jurassischen Teil des Kantons Bern in das kleine Dorf Montmirail im französischsprachigen Kanton Jura gezogen, in die Franches Montagnes, die Freiberge, dem Zuchtgebiet der Freiberger Pferde. Sie sprach fließend Französisch, weil ihre Großeltern aus dem Industriestädtchen Tramelan im Jura stammten. Ihr Großvater hatte dort eine kleine Uhrenfabrik mit 20 Arbeitern besessen, lange bevor die Swatch in China produziert wurde. Heute gab es in Tramelan kaum noch Uhrenfabriken, dafür war die Nachbarstadt Saignelegier wieder zum Zentrum der Freibergerzucht geworden. Die Pferdezucht stellte dort einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor dar.
„Sag mal –Bellelaye, wo liegt das?“ Gerson zog die Zeitung, auf der er die ganze Zeit gesessen hatte, hervor und blätterte darin, offensichtlich hielt er einen Themenwechsel für angebracht.
„Das ist das Nachbardorf von Montmirail, glaube ich, es gibt dort ein altes Kloster.“
„Das jetzt eine Psychiatrische Klinik beherbergt?“
„Kann sein.“
„Hör dir das an: Unter Vermischtes steht: Pferdemörder gefasst. Unzählige junge Stuten mussten ein blutiges Ende finden, bis der Pferdemörder endlich gefasst wurde. Der 30-jährige Wohnsitzlose, der die Tat gestand, war vor einem Jahr aus der Psychiatrischen Klinik Bellelaye als geheilt entlassen worden. Doch schon nach einem halben Jahr hatte ihn seine schwere Schizophrenie wieder im Griff. Er glaubte, von Pferden, insbesondere von Stuten verfolgt zu werden. Allein im Kanton Bern tötete er 20 Tiere auf grausame Weise.“
„Oh, mein Gott! Nur gut, dass Montmirail im Kanton Jura liegt!“, sagte ich.
„Und dass sie ihn gefangen haben! Das ist doch die Hauptsache, oder? Du, mir wird kalt!“ Gerson rieb sich die Ohren. „Es sieht nach Regen aus!“
Ich schaute zum Himmel. Ein frostiger Wind wehte aus dem Neckartal heraus und hinter der Ernst-Walz-Brücke zogen dunkle Wolken auf. „Ich fahre lieber jetzt schon raus zu Nine und hole die Pferde von der Wiese.“
Gerson hauchte mir ein Küsschen auf die Wange, drehte sich um und machte sich an seinem Mountain-Bike zu schaffen, das an der Buchsbaumhecke lehnte. „Bis heute Abend“, rief er mir zu, als er sich in den Sattel schwang. „Wir können ja noch mal darüber reden.“
Der kleine Junge, der seinen Ball schon wieder in unsere Richtung gekickt hatte, stand verloren auf der Neckarwiese, unschlüssig, ob er die Böschung hinaufklettern sollte. „Dein Spielonkel ist weg“, rief ich ihm zu; da nahm ihn seine Mutter an der Hand und zerrte ihn hinter sich her, um den Ball zu holen.
Als ich über die Brücke fuhr, hatte sich der Himmel von Westen her zugezogen. Über dem Schloss glänzte noch der tiefblaue Herbsthimmel, doch mit dieser Pracht würde es bald vorbei sein. Schon als ich meinen Golf auf dem Parkplatz des Leierhofs zwischen zwei Pferdeanhänger abstellte, fielen die ersten dicken Regentropfen und drückten kleine Kreise in die staubige Frontscheibe. Vom Auto aus sah ich Nine, wie sie ihren Hals aufreckte und mit gespitzten Ohren in meine Richtung spähte. Die anderen Pferde auf der Weide grasten ruhig weiter. Ob Nine Automarken erkennen konnte? Ich war noch nicht einmal ausgestiegen!
Schnell ging ich zu ihrer Weide über die Straße. Die Stute lief zum Zaun und brummelte mir zu. Ich öffnete den unteren Teil des Weidezauns und schlüpfte hindurch. Dann klinkte ich den Führstrick in den Ring des Stallhalfters, doch gerade als ich Nine hinausführen wollte, stupste mich etwas Weiches in die Seite. „Oh je! Dich hätte ich fast vergessen!“ Pepino, das dicke, freche Pony mit dem XXL-Selbstbewusstsein, war seit diesem Sommer Nines Koppelpartner. Seit die beiden zusammen auf die Weide gingen, war Nine so ruhig wie ein Lämmchen geworden. Pepino, der früher keinen Schritt zu viel getan hatte, war neuerdings völlig aufgekratzt und spielte sich als Nines Beschützer auf. Nine war seine Stute, und wer es nicht wusste, dem machte er es unmissverständlich klar.
„Du bleibst erst mal hier.“ Doch er wollte mich nicht verstehen und drängelte mit aller Macht an Nines Seite.
„Pepino, es regnet.“ Weiter kam ich mit meinem Argument nicht. Statt mir aus dem Weg zu gehen, baute sich der Dicke vor Nine auf. Entweder wir beide, oder keiner, schien er zu sagen. Er blitzte mich aus seinen mandelförmigen Augen an und ließ das Weiße schimmern. Mist – ich hätte die Koppel mit dem Elektroband abtrennen sollen, bevor ich Nine holte, aber jetzt war es zu spät. Dicke Tropfen prasselten auf die Straße und ich hatte nicht einmal eine Regenjacke an.
„Er benimmt sich wie ein Hengst.“
„Iris! Du kommst genau richtig!“ Ich übergab ihr Nines Führstrick und bückte mich, um Pepinos Halfter aufzuheben. Doch gerade als ich den Panikhaken in den Ring einhaken wollte, machte das Pony einen Satz und galoppierte mit fliegender Mähne am Koppelzaun entlang. „Der kommt schon wieder“, sagte Iris. „Bring Nine in den Stall, ich warte hier auf unseren Heißsporn!“
Mir lief das Wasser in den Hemdkragen und es war ungemütlich kalt. „Okay! Danke! Bis gleich im Stall.“
Nine spitzte die Ohren und schlug einen Schritt an, der so raumgreifend war, dass ich neben ihr in Trab fallen musste. Schadet nichts, dachte ich, da wird mir wenigstens warm. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen, Seitenstechen musste nicht sein. Im Vorbeigehen bemerkte ich auf dem Parkplatz einen großen weißen BMW. Er fiel mir sofort auf, weil sein Lack trotz des Regens makellos blitzte. Die meisten Einsteller auf dem Leierhof fuhren ältere Modelle, denen man ihre Jahre als Zugmaschinen von Pferdeanhängern ansah, doch dieser Wagen war bestimmt keine drei Wochen alt. Ich nahm mir vor, Tom nach dem Besitzer zu fragen. Vielleicht war es ein neuer Einsteller und weil wir schon lange keine Neuen auf dem Hof mehr gesehen hatten, machte mich diese Aussicht neugierig.
„Ho, ho, ho!“ Der stets hilfsbereite Tom hatte meine bedrängte Lage bemerkt. Er war noch keine vier Wochen auf dem Hof und Nine gehorchte ihm aufs Wort. Es brauchte nur eine tiefe Männerstimme und Nine stand wie ein Standbild im strömenden Regen!
Tom hatte den Hof von den schmallippigen Peynibels übernommen. Gerade noch rechtzeitig, denn hätten Mutter und Tochter noch länger das Regiment geführt, wäre auch den nachsichtigsten Pferdebesitzerinnen der Geduldsfaden gerissen. Als erstes hatte Tom das „y“ aus dem Namen entfernt und es durch ein „i“ ersetzt. „Leierhof, das gefällt mir besser!“ Mit dem kleinen „i“ kehrte die gute Stimmung auf den Leierhof zurück. Als nächstes verschwanden die gelben Klebezettel mit den Befehlen „Bitte Türe zu und Licht aus!“ Statt neue Stallordnungen zu verfassen und sie im Reiterstübchen auszulegen, verpackte er seine Vorschriften, mit denen er äußerst sparsam umging, in lustige Geschichten, die jedem unmittelbar einleuchteten. Tom konnte zwei Hafersäcke unter einem Arm tragen, ständig war er mit Nägeln, Hammer und Säge unterwegs und reparierte im Handumdrehen alles, was nicht mehr niet-und nagelfest war. Mit seinem schwarzen Vollbart, seinem dicken Bauch und seiner Schildkappe kam er mir vor wie eine jüngere Ausgabe von Bud Spencer und er freute sich diebisch, wenn ich ihn auf die Ähnlichkeit mit dem Westernhelden ansprach.
„Tom, sag ihr, dass sie weiterlaufen soll“, schnaufte ich. Die Regentropfen rannen mir den Nacken hinunter und ich fühlte, wie mir die Kälte unter mein dünnes Fleece auf die Haut kroch. Tom griff grinsend in seine Jackentasche und zog eine Möhre hervor. Sofort kam Bewegung in die Statue. Nine machte ihren Hals lang und einen Schritt auf die Möhre zu. „Jetzt aber schnell, hinter uns höre ich schon Hufgetrappel, da kommt dein Beschützer.“
Als ich Nine mit einem Strohwisch trocken gerubbelt hatte, kam Tom mit dem Futterwagen in den Stall. „Eine Schippe Hafer und eine Pellets?“, fragte er. Er suchte einen Vorwand, um mit mir ins Gespräch zu kommen, er wollte irgendetwas loswerden. Noch bevor ich antworten konnte, hatte er das Kraftfutter schon durch die Gitteröffnung geschüttet.
„Hast du den dicken weißen BMW gesehen?“ Der Wagen schien ihn zu beeindrucken, warum wusste ich nicht.
„Ja, hab ich – wem gehört er denn?“, sagte ich vorsichtig, denn ich ahnte, dass es sich bei dem Besitzer um irgendeine Berühmtheit aus der Pferdeszene handelte, von der Tom meinte, dass ich sie kennen müsse.
Er ließ die Schöpfkelle in die Haferkiste fallen und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. „Ob du es glaubst oder nicht, es ist Luis Maertens!“
„Ach so?“ Da hatte ich die Bescherung. Jetzt wusste ich den Namen, aber ich konnte nichts mit ihm anfangen.
„Er will zu uns zum Training kommen, anscheinend hat er bei sich auf dem Hof nicht genug Ruhe, um mit seinem Pferd zu arbeiten. Keine Ahnung.“
„Luis Maertens, sagst du?“ Allmählich dämmerte mir etwas. „Ist das nicht der Besitzer des Sonnenhofs? Diesem schicken neuen Verkaufsstall, wo du ein Pferd ab 50 000 Euro kaufen kannst – vollkommen roh, versteht sich?“
„Ja, genau, der ist es! Du wirst ihn bestimmt noch kennen lernen, Vera. Er hat Kohle wie Heu. War wohl mal als Immobilienmakler tätig – oder Banker? Man munkelt, dass er gerade eine wichtige Funktion im Zuchtverband übernommen hat – ein hohes Tier, sozusagen, ich glaube, er mischt noch in einer anderen Liga mit, aber was er da macht, darfst du mich nicht fragen.“
„Ja, genau – ich habe einen Artikel über ihn im Reiterjournal gelesen. Muss ein toller, einflussreicher Typ sein.“ Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Das mit dem Reiterjournal war glatt gelogen, aber ich wollte mich nicht als Ignorantin outen. Ich stellte mir einen älteren Herrn mit Bauchansatz vor, so um die 60, der vorgab, sein Pferd zu trainieren, wenn er es ein paar Runden im Schritt durch die Halle ritt und ihm den Hals krumm zog. Einer, der viel Geld angehäuft hatte mit Immobilien und Finanzgeschäften und sich auf seine alten Tage seinem Hobby widmete und nebenbei mit Pferden handelte. Und damit natürlich auch wieder viel Geld verdiente. Solche Leute gab es in anderen Reitställen eine Menge, auf dem Leierhof war mir zum Glück noch keiner begegnet.
In diesem Augenblick kam Iris zu uns. „Was ist los mit dir? Ich dachte, wir wollten einen Kaffee trinken! Ich warte und warte und du stehst hier und hältst einen Schwatz mit Tom.“
Die Schiebetür zur Reithalle stand offen. Der Typ auf dem Schwarzbraunen erinnerte mich an unseren ehemaligen Reitlehrer Roberto. Doch dieser Mann sah noch viel besser aus. Groß und schlank, lange Beine, sportlich, so um die 40 vielleicht, auf keinen Fall älter. Er strahlte eine umwerfende Souveränität aus, die mich faszinierte.
„Kennst du ihn?“, fragte Iris.
„Das ist Fango!“ Den Wallach hatte ich schon ein paar Mal bei uns in der Halle gesehen. Da hatte ihn Mascha geritten. Der Reiter sah dem Springreiter Rodrigo Pessoa ähnlich, dachte ich und spürte eine leichte Gänsehaut auf meinen Armen; wenn dieser Pessoa einen Tick älter wäre, würde er so aussehen wie er, verbesserte ich mich. Gerade da hatte er einen fliegenden Galoppwechsel vom Feinsten hingelegt. Was für ein Glück Mascha mit ihren Pflegepferden hatte, der Wallach ging mindestens M-Dressur, so wie er jetzt durch die ganze Bahn traversierte.
Und sein Besitzer? Mascha hatte schon oft von ihm geschwärmt, kein Wunder, bei dieser Ähnlichkeit mit einem Reiterstar, dessen Konterfei in allen Reitjournalen abgebildet war! Sie war bestimmt in ihn verknallt.
„Nicht dein Typ, oder?“ Iris riss mich aus meinen Gedanken.
„Fango? Ich finde ihn umwerfend!“
Iris lachte. „Ich habe den Reiter gemeint.“
Ich schwieg verlegen. Nicht mein Typ? Wie kam sie darauf? Weil er das genaue Gegenteil von Gerson war? Warum fragte mich Iris so penetrant nach meiner Meinung zu diesem Kavalier aus? Kavalier? – Ein Blick überzeugte mich, dass ich recht hatte. Ja, auf dem Pferd saß ein Kavalier! Ob sich Iris vielleicht insgeheim für mich einen Reiter als Partner wünschte? Warum? Reiten war schließlich nicht alles im Leben und Gerson und ich hatten vieles gemeinsam. Es stimmte, Gerson war ein bisschen schräg mit seiner Vorliebe für Jazz aus dem vorigen Jahrhundert, Bachs Cellosuiten, für den Oldie-Sender im Bermudafunk und für ultramoderne Literatur, die niemand außer ihm richtig verstand, mit seinem Frotzeln und seiner Freude, mich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber in den meisten Fällen hatte er mit seinen Sticheleien irgendwie recht und tief in seinem Innern stand er fest auf meiner Seite. Wir waren schon drei Jahre zusammen und mir war es keine Minute langweilig mit ihm gewesen. Zwischen Gerson und dem Unbekannten lagen Welten; schon allein die Körpergröße – da gab es eine Differenz von mindestens 20 cm.
Der Typ konnte reiten, meine Güte! Die Parade zum Halten aus dem Galopp hatte er vollkommen aus dem Sitz geritten, er hatte eine weiche Hand und eine vorbildliche Haltung, er schien eins mit seinem Pferd zu sein, war ganz bei ihm, vollkommen konzentriert. Jetzt hatte er uns bemerkt; er schaute zu uns herüber und nickte. Hatte Iris nicht gerade etwas zu mir gesagt?
„Der Besitzer von Fango?“, sagte ich stockend. „Oder so“, fügte ich hinzu, einfach nur, um etwas zu sagen, ich war mir bewusst, wie dumm ich auf Iris wirken musste.
„Mir ist kalt“, sagte sie. „Lass uns endlich unseren Kaffee trinken gehen.“
Im Reiterstübchen bullerte der eiserne Holzofen, die Flammen züngelten rot hinter der Glastür und verbreiteten eine wohltuende Wärme. Zu seinem Einstand hatte Tom einen Kaffeeautomaten mitgebracht, der keine Wünsche offen ließ. Mit den Espressobohnen aus Steiners Kaffeerösterei stand unser Reiterstübchen dem kleinen Café in Neuenheim in nichts nach. Iris füllte zischend-heiße Milch in ein Latte Macciato-Glas, ich nahm einen doppelten Espresso mit zwei Stückchen Zucker. Wir setzten uns an den Ofen, versonnen rührte ich in meinem großen Schwarzen herum, als die Tür aufging. Ein kalter Luftzug drang herein, ich schluckte – da stand er! Mindestens ein Meter 90 groß, genau wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Jetzt erschien er mir doch ein bisschen älter, ich schätzte ihn auf Ende vierzig, vielleicht Anfang 50, doch er sah drahtig und durchtrainiert aus. Im Erraten des Lebensalters meiner Bekannten war ich noch nie gut gewesen.
„Hallo“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Da sitzt ja mein Publikum! Darf ich Sie zu einem Gläschen Prosecco einladen?“ Die Frage war an Iris gerichtet, doch ich antwortete schnell, bevor Iris den Mund aufmachen konnte. „Gerne, ein Gläschen Prosecco wäre jetzt genau das richtige.“ Keine Ahnung, was in mich gefahren war, ich trank um diese Tageszeit nie Alkohol und außerdem hatte ich meinen doppelten Schwarzen noch nicht einmal zu Hälfte ausgetrunken. Ich sah Iris an, die Mühe hatte, ihr Grinsen zu verbergen. Er ging zur Bar, öffnete den Kühlschrank und kam mit drei Gläsern und einer Flasche Sekt zurück.
„Ich bin Luis Maertens“, sagte er, als er die Gläser füllte. Wir prosteten uns zu.
„Der Leierhof gefällt mir; ich suche ein ruhiges Plätzchen, um zu trainieren. Auf meinem Hof geht es zu wie in einem Bienenhaus. Das ist gut fürs Geschäft, sehr gut sogar“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu, „doch meinem Fango bekommt es gar nicht. Ich gäbe viel darum, wenn ich Fango hier unterstellen könnte.“
„Ihren Fango? Und ich dachte, Sie wären unser neuer Stallnachbar?“ Meine Enttäuschung musste mir an der Nasenspitze abzulesen sein. Es war mir peinlich und ich wartete nur auf eine Gelegenheit, diesen Eindruck zu verwischen.
„Im Augenblick ist keine Box frei, hat Tom gesagt“, sagte Luis. „Ich habe mich auf die Warteliste setzen lassen.“
„Die Situation kann sich schnell ändern, stimmt`s, Vera?“
Iris hatte recht. Ich musste daran denken, wie ich vor drei Jahren verzweifelt nach einer Box für Nine gesucht hatte. Auf dem Leierhof hatten sie uns auf die Warteliste gesetzt. Und schon am nächsten Tag hatte ich ein Angebot bekommen. Und dann hatte die ganze Geschichte ihren Anfang genommen, das Gute und das Unheimliche, die ganze Reihe der Ereignisse, die bis zu Margas Tod geführt hatte.
„Ach Vera, häng nicht so an den alten Sachen“, sagte Iris. „Es muss doch nicht gleich wieder ein Pferd an einer Kolik eingehen!“
„Iris, bitte!“ Kolik war für mich ein Reizthema und Nines einziger Schwachpunkt. Bei diesem Wort reagierte ich allergisch. Doch Iris plapperte sorglos weiter. „Es gibt viele Möglichkeiten, warum eine Box plötzlich frei werden kann.“ Worauf wollte sie hinaus? Auf einen Reitunfall, der die Besitzerin zur Aufgabe des Reitsportes zwingt? Oder auf einen schweren Sehnenschaden oder einen Beinbruch, Verletzungen, bei denen nur noch der Gnadenschuss in Frage käme? Vielleicht hatte sie auch die plötzliche Verarmung einer Pferdebesitzerin im Sinn, Arbeitslosigkeit oder Insolvenz, auch das war auf dem Leierhof schon vorgekommen.
„Eine Stute könnte gedeckt werden und für ein paar Monate in einen Zuchtstall wechseln“, sagte Iris. Luis, der unsere Unterhaltung amüsiert mitverfolgt hatte, wurde auf einmal ernst: „Ach wirklich? So eine Möglichkeit besteht? Davon hat mir dieser Bud Spencer gar nichts verraten.“
Luis hatte Toms Ähnlichkeit mit dem Sheriff also auch wahrgenommen!
„Tom weiß von nichts“, sagte ich. Iris schaute mich verdutzt an.
„Ich habe ihm noch nichts gesagt. Aber es stimmt! Gerson und ich haben beschlossen, dass Nine ein Fohlen bekommen soll.“
Ich hatte ein bisschen übertrieben, von einem Beschluss konnte keine Rede sein, doch ganz falsch war meine Bemerkung auch wieder nicht.
„Vera, ist das wahr? Dann lass uns alles zu dritt besprechen; heute Abend, wenn es euch passt? Ich habe einen neuen Anhänger gekauft, morgen hole ich ihn ab und in drei Tagen fahre ich wieder zurück nach Montmirail, da könnte ich Nine gleich mitnehmen.“
„Wohin? Nach Montmirail?“ sagte Luis betont beiläufig.
„Ein kleines Dorf im Schweizer Kanton Jura“, sagte Iris. „Ich wohne noch nicht lange dort, doch so viel weiß ich: Montmirail ist ein zauberhaftes Dorf mit ausgesprochen liebenswürdigen und freundlichen Bewohnern.“ Ganz entgegen ihrer nüchternen und sachlichen Art kam Iris richtig ins Schwärmen. „Ich habe in kurzer Zeit viele gute Freunde und hilfsbereite Nachbarn gefunden, und es gibt dort eine Menge Pferdefreunde.“
„Ach wirklich?“, sagte Luis ein bisschen gelangweilt. „Montmirail, sagten Sie?“
„Würde mich sehr wundern, wenn Sie es kennen würden.“
„So? Ja, es klingt wie nach einem Kaff am Ende der Welt!“
„Genau“, sagte Iris, „und das gefällt mir so gut. In dieser abgelegenen Gegend haben sich früher die wilden Gesellen gesammelt – Anarchisten, Schmuggler und Wiedertäufer.“ Iris war dabei, sich festzuquatschen. Luis warf mir einen Blick aus seinen schwarzbraunen Augen zu, bei dem mein Herz wie wild zu klopfen anfing.
„Iris, ich glaube, wir müssen los.“ Ich stand auf und stellte mein Glas und meine Kaffeetasse in den Spülstein. Mein Herz hatte sich beruhigt und ich wollte lieber kein Risiko eingehen. „Es ist schon spät, zehn nach sechs.“ In einer Stunde würde Gerson nach Hause kommen.
Iris nickte. „Ja, wir haben noch etwas vor.“ Sie gab Luis die Hand. „Ich wünsche Ihnen viel Glück, ich hoffe, Vera kann mir bald berichten, dass Sie mit Ihrem Pferd auf dem Leierhof eingezogen sind.“
„Ich komme ab sofort zwei-oder dreimal pro Woche mit Fango zum Reiten“, sagte er zu mir. Es klang, als ob er mir etwas anvertrauen wollte, das nur uns beide anginge und zwischen uns bleiben sollte. Dann gab er mir die Hand und suchte meinen Blick. „Bis bald also.“
Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Schweigend ging ich mit Iris zum Parkplatz. Eine merkwürdige innere Unruhe hatte mich gepackt; ich hätte gerne mit ihr über Luis Maertens gesprochen, sie nach ihrem Eindruck gefragt, doch ich wusste nicht, wie ich es anfangen sollte. Iris öffnete die Tür ihres Range-Rovers und setzte sich auf den Fahrersitz. „Kannst du um 20 Uhr bei uns sein? Damit wir mit Gerson sprechen“, sagte ich.
Iris nickte und blieb sitzen, ohne den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken.
„Was ist los, warum sagst du nichts?“
„Ich warte, weil – wolltest du mir nicht noch etwas sagen?“
Mit ihrer Feinfühligkeit und ihrem Gespür für Zwischentöne hatte Iris meine Gedanken erraten, und ich bekam einen roten Kopf, das war mir peinlich. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar, es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden.
„Iris“, sagte ich, „kein Wort über Luis zu Gerson, bitte.“
Er kam schon am nächsten Nachmittag. Als ob wir uns verabredet hätten, saß er auf seinem Pferd, als ich mit Nine die Halle betrat. Luis ließ die Zügel lang, wir ritten ein paar Runden Schritt nebeneinander und plauderten. Dann saß er ab und verließ die Halle. Nach dem Absatteln schaute er uns von der Tribüne beim Reiten zu.
„Ihr versteht euch“, sagte Luis anerkennend. Er war ohne Umstände zum „Du“ übergegangen, kam unaufgefordert in die Bahn und sammelte Nines Pferdeäpfel mit dem Appel-Boy auf. Diese praktischen Geräte hatten uns die Peynibels hinterlassen. Seit ihrem Weggang standen sie auf allen unseren Reitplätzen herum und mit der Zeit hatten wir uns an ihren Gebrauch gewöhnt. Luis blieb noch eine Weile in der Mitte stehen und betrachtete Nine. „Nine Days Wonder, was für origineller Name für eine prachtvolle Stute!“ Nine hörte, dass er von ihr sprach, sie spitzte die Ohren und zeigte ihren schönsten Trab.
„Wenn ich sie so sehe, dann tut es mir richtig leid, dass Fango ein Wallach ist.“
Solche Bemerkungen überging ich einfach und konzentrierte mich aufs Reiten. Obwohl sich Nine immer noch so lebhaft und eigensinnig benahm wie am Anfang, hatte mir Iris beigebracht, mich nicht mehr durch ihre Eskapaden verwirren zu lassen. Ich hatte durch ihren Unterricht eine große Portion Sicherheit gewonnen und Nine dankte es mir; sie war viel ruhiger und durchlässiger geworden.
Luis beobachtete uns aufmerksam. „Es liegt an deinem Sitz“, sagte er. „Und an deiner ruhigen Hand.“
Hast du das gehört, Nine? Wie lange war es her, dass uns jemand mit so viel positivem Feed-Back beim Reiten zugesehen hatte? Wenn mir Iris Unterricht gab, dann achtete sie penibel auf meine Fehler, die sich immer wieder von neuem einschlichen und sie entdeckte jedes Mal etwas anderes. Iris war unbestechlich in ihren Kommentaren, es würde mich nicht weiterbringen, wenn sie nur meine Stärken lobte, sagte sie. Eine ruhige Hand! Und ein unabhängiger Sitz! Ich musste zugeben, es tat gut, was ich da gerade zu hören bekam. An diesen beiden Klippen hatte ich lange gearbeitet, jetzt schien sich endlich ein Erfolg zu zeigen.
„Vera!“ Ich schreckte auf; ich war in meine Gedanken versunken und hatte nicht bemerkt, dass Luis die Halle verlassen hatte. Ich hob den Kopf und da war er. Auf der Tribüne, nur durch eine Holzbalustrade von mir getrennt. Er hatte seine Reithandschuhe ausgezogen und sein Hände auf das Geländer gelegt. Was für lange, schmale Finger er hatte – Klavierspielerhände – wie viel Gefühl musste in diesen Fingern stecken! Unsere Augen trafen sich, sein Blick durchzuckte mich wie eine jähe Berührung mit einem elektrisch geladenen Weidezaun, den ich bis hinunter in die Zehenspitzen spürte.
„Willst du Fango reiten, ein-bis zweimal die Woche, wenn Nine weg ist?“
Ich musste erst einmal Luft holen, um mich von seinen schwarzbraunen Augen zu lösen, in denen so viel Wärme lag.
„Aber – du hast doch Mascha?“ Ich ließ die Zügel lang und klopfte Nine den Hals, ich brauchte Zeit, um meine Überraschung zu überspielen.
„Mascha? Sie kommt nur aushilfsweise“, sagte er schnell, als wolle er sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. „Ich kann Nines Box übernehmen, wenn sie weg ist.“
„Ach, das weißt du schon?“
„Tom hat es mir gerade gesagt. Du willst doch bestimmt reiten, wenn Nine auf Mutterurlaub geht?“
Natürlich wollte ich das! Nine würde gut ein Jahr oder noch länger wegbleiben, ein Leben ohne Pferd und ohne Reiten, selbst wenn es nur für ein Jahr wäre, konnte ich mir schlecht vorstellen.
„Brauchst du eine Reitbeteiligung?“
„Nicht irgendeine, jemand Zuverlässiges wie dich; jemand mit viel Reiterfahrung und Zeit, keine Schülerin oder Studentin.“
Nine zog mir den Zügel durch die Hand und kratzte sich mit der Nase am Griffelbein, eine Unsitte, die ich ihr schon längst hatte abgewöhnen wollen.
„Meinst du nicht, dass Fango zu stark für mich ist?“
„Ach was, so wie du reitest! Das schaffst du, glaub mir. Ich gebe dir Unterricht, zeige dir seine Stärken und seine schwachen Punkte – du wirst sehen, es dauert nicht lange, bis du raus hast, wie du ihn anschieben musst.“
„Zeit genug hätte ich ...“, sagte ich und fühlte schon wieder mein Herz klopfen. Fango war mein Traumpferd! Warum eigentlich nicht? Ich konnte meine Arbeitszeiten im Reisebüro selbst einteilen und alle meine Schreibarbeiten von zu Hause aus erledigen.
„Das klingt verlockend!“, sagte ich, doch irgendetwas hielt mich davon ab, fest zuzusagen. Nine, die meine Unsicherheit spürte, machte zwei Schritte rückwärts. Ich klopfte mit meinen Absätzen sanft an ihren Bauch. Fango, dachte ich, während ich Nine den Hals tätschelte. Warum nicht? Doch was würde Gerson dazu sagen? In meine Freude über das verlockende Angebot mischte sich ein winziges Fünkchen schlechtes Gewissen. An den Wochenenden würde ich öfter mal zu Nine ins Jura fahren müssen und mindestens zwei Tage unterwegs sein. Aber davon abgesehen – würde die neue Aufgabe mich nicht zu stark beanspruchen? Zu viel Zeit verschlingen, die ich mit Gerson hätte verbringen können?
„Gibst du mir ein bisschen Bedenkzeit? Ich will es mir überlegen, Luis.“
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ Wenn es um Stalldinge ging, war Gerson nicht oft so hilfsbereit.
„Ich muss nur noch das Sattelzeug putzen und die Winterdecken waschen, dann noch neue Transportgamaschen kaufen, und eine Schabracke. Das Lederhalfter, das ihr Liberty zum Einzug geschenkt hat, ist zerrissen, und ...“
„Das Fohlenprojekt scheint in einen gigantischen Konsumausflug zum Reitsportparadies Müller auszuarten“, maulte Gerson.
„Man gönnt sich ja sonst nichts“, sagte ich lachend und schob seine Kritik einfach zur Seite. Schließlich war es mein Geld, das ich zum Fenster hinauswarf.
„In drei, vier Tagen ist es soweit“, unterbrach Iris unsere Wortgeplänkel. „Ich muss meinen neuen Hänger noch zum TÜV bringen, dann kann es losgehen.“
Vier Tage, dachte ich erleichtert. Bis dahin würde ich alles Notwendige zusammengepackt haben. Ich konnte sogar noch meinen Spind saubermachen, damit Luis Platz für sein Sattelzeug hatte.
Die Vorbereitungen für Nines Reise verliefen wie geplant, es ging alles seinen Gang und doch fühlte ich mich wehmütig, wenn ich Nine mittags auf die Koppel führte. Sie schaute mich aus großen, wachen Augen an und lief aufmerksam neben mir her. Wenn ich den Führstrick löste, blieb sie bei mir stehen und legte mir den Kopf auf die Schulter. Erst wenn ich ihr einen Klaps gab und sie aufforderte, zu Pepino zu laufen, drehte sie sich um und galoppierte die Wiese hinunter. Eine Stute trug ungefähr 11 Monate. Ein ganzes Jahr oder noch länger ohne Nine, das würde mir nicht leicht fallen. Ich vermisste sie schon jetzt, bei dem bloßen Gedanken daran.
Nachdenklich stand ich am Koppelzaun. Nine stand Seite an Seite mit Pepino und kraulte ihm das Fell. Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke: Ich hatte sie überhaupt nicht gefragt, ob sie sich von mir trennen wollte! Und noch dazu so lange? Vielleicht wollte sie überhaupt kein Fohlen? Der Leierhof war doch seit drei Jahren ihre Heimat, hier fühlte sie sich wohl, hier hatte sie ihren Pepino und mich natürlich.
Iris konnte sich mit Pferden verständigen, sie wusste genau, was ihre Pferde von ihr wollten. Ich hatte es auch schon versucht, doch ich war mir nie ganz sicher gewesen, ob die Antworten nicht in meinem Kopfkino entstanden wären. Ich schloss für einen Moment die Augen. Geh zu ihr und frag sie. Das war Iris, ich hörte sie deutlich. Gut, dann versuche ich es. Aber was, wenn sie Nein sagt? Feigling, hörte ich Iris wieder. Du bist ein Feigling. Geh hin und frage sie.
Sie hatte es mir erklärt. Alles was ich tun müsse, war ruhig werden, im Innern still, tief atmen und Verbindung zum Erdboden und zum Himmel aufnehmen. Durchatmen und die Energie fließen lassen. Und dann meine Frage, eine Art Bild in meinem Kopf und eine Einladung an Nine, etwas dazu zu sagen. Und die Antwort? Eher ein Gefühl, ein Bild, eine Farbe, oder eine Körperempfindung, warm oder kalt zum Beispiel. Die Empfindung wäre plötzlich da, und ich wüsste sofort, dass sie nicht meinem Hirn entsprungen wäre.
Schritt für Schritt, langsam und bedächtig ging ich zu ihr. Auf halbem Weg kam sie mir entgegen, brummelte fröhlich und stupste mich von der Seite an.
Willst du ein Fohlen, Nine? Der Gedanke war da, bevor ich ihn denken konnte, und leicht und einfach kam die Antwort. Ich spürte Zustimmung und reine Freude. Von Nine ging eine wohlige Wärme aus, die auf mich übersprang und mich fröhlich stimmte. Willst du mit Iris in die Schweiz, fragte ich weiter. Auf einmal verwandelten sich meine Hände in Eisklötze. Ob es an dem kalten Nordwind lag, der gerade da aufkam? Eine Antwort war das jedenfalls nicht! Das Wetter machte mir einen Strich durch die Rechnung, mein Experiment war zu Ende. Aber konnte ich nicht doch zufrieden sein? Ich hatte meine Frage gestellt und eine wunderbare Antwort bekommen! Nine wollte ein Fohlen, und daraus folgte zwangsläufig, dass Iris sie in die Schweiz mitnahm. Vergnügt knöpfte ich meine Jacke zu und hakte den Führstrick ein. „Wir machen uns lieber vom Acker, bevor du noch eine Erkältung bekommst.“ Ich muss ihr noch eine dicke Winterdecke kaufen, dachte ich, Montmirail lag über 1000 m hoch, im Winter würde es bestimmt eisig werden.
„Hast du den Pferdepass mit den Impfungen griffbereit?“
„Was braucht sie denn?“, fragte ich mit einem mulmigen Gefühl. Meine frühere Stallfreundin Liberty hatte mir abgeraten, Nine impfen zu lassen. Und weil ich in den letzten beiden Jahren nicht mehr mit Nine auf Turniere gegangen war, hatte ich die Impfungen einfach vergessen.
„Tetanus und Pferdeinfluenza, wie alle Sportpferde“, sagte Iris.
Ich schluckte und fischte nach meinem Handy. „Könntest du bitte Nines Impfpass heraussuchen und nachschauen, wann sie das letzte Mal gegen Influenza geimpft wurde?“
Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich Gerson zurückmeldete. „In diesem Jahr nicht, wie es aussieht, – soll ich dir den Pass vorbeibringen?“
„Nicht nötig, ich rufe lieber gleich Dr. Abnemer an, drück mir die Daumen, dass er morgen noch vorbeikommt.“
Gerson stellte sich quer. Er benahm sich wie ein bockendes Pferd; träge, zäh und unwillig wie eines, das man in der Mittagshitze von der Weide holte um schwere Dressurlektionen zu üben.
„Du willst an drei Tagen in der Woche und wahrscheinlich auch noch am Wochenende diesen Tango reiten?“
Ich spürte, wie er alle seine Stacheln aufstellte und sie in meine Richtung drehte. „Was soll das heißen?“
„Genau das, was ich gesagt habe. Du hast Abmachungen getroffen, ohne mich zu informieren.“
„Er heißt Fango!“
Gerson musterte mich mit zusammengekniffenen Augen und schwieg.
„Du irrst dich“, sagte ich. „Ich habe ihm keine feste Zusage gegeben.“
Was als Angebot zur Versöhnung gemeint war, verfehlte seinen Zweck völlig.
„Also doch! Du hast mit ihm gesprochen. Ohne mich vorher zu fragen. Vera, das finde ich nicht fair.“
Was hatte Gerson eigentlich? Ich verstand ihn wirklich nicht. Es war seine Idee gewesen, Nine in der Schweiz decken zu lassen. Und jetzt bockte er, nur weil ich zwei oder dreimal in der Woche Fango reiten wollte. Warum spielte er auf einmal die beleidigte Leberwurst?
„Wir könnten zusammen joggen gehen, wenn du Sport machen willst.“
„Gerson! Jetzt hör mir mal zu. Wie oft soll ich es noch sagen: Reiten ist kein Sport!“
„Das ist es ja. Ich sehe voraus, dass es bei zweimal die Woche nicht bleibt. Wenn dieser Lewis, oder wie er heißt, auf Geschäftsreisen geht, oder auf Urlaub, dann bist doch du für das Pferd verantwortlich!“
Es nützte nichts, es abzustreiten. Luis hatte mir sogar Berittgeld angeboten, das würde mich verpflichten, ordentlich mit dem Pferd zu arbeiten.
Gerson ließ nicht locker. „Ich dachte, dass wir mehr Zeit für uns hätten, wenn Nine weg ist. Wir könnten spontan übers Wochenende weg fahren, oder uns nachmittags irgendwo verabreden, wir könnten endlich mal unsere Freunde besuchen und zusammen ins Kino gehen.“
Darum ging es ihm also! Und ich hatte geglaubt, Gerson hätte an Nine gedacht, als er den Vorschlag mit dem Fohlen gemacht hatte! Weit gefehlt – ich hatte mich getäuscht! Er wollte Nine wegschaffen, er war auf Nine eifersüchtig, er wollte mich für sich alleine haben und mit keinem anderen teilen, schon gar nicht mit einem Pferd.
Ich nahm mir einen Apfel aus der Obstschale und biss krachend hinein.
„Zwei-oder dreimal, Gerson, soviel Zeit habe ich übrig. Ich muss im Training bleiben, schließlich kommt Nine erst nach einem Jahr wieder zurück.“
Gerson schaute mich voller Groll an: „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du das Reiten verlernst?“
Es war zwecklos, gegen seinen Ärger anzureden. Dass sich die Rückenmuskulatur schon nach wenigen Tagen zurückbildete und es lange dauerte, bis man sie wieder auftrainiert hatte, solche unter Reitern allgemein bekannten Tatsachen brauchte ich ihm jetzt nicht vorzuhalten.
Es gelang mir, vollkommen sachlich zu bleiben. „Der Besitzer von Fango übernimmt meine Boxenmiete, ich muss kein Standgeld bezahlen, das kommt meinem Geldbeutel zugute.“
Wenigstens dieses Argument schien Gerson zu besänftigen. Er zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich an den Tisch, nahm sich eine Banane aus dem Obstkorb und begann sie bedächtig zu schälen. „Wer ist eigentlich der Besitzer dieses Wunderpferdes?“, fragte er nach einer Weile.
Darauf hatte ich mich vorbereitet. „Er heißt Luis Maertens; ein Pferdemann durch und durch, nicht mehr ganz jung, mit viel Geld und wenig Zeit, wie das halt so ist. Er hat was mit Immobilien zu tun und einen exklusiven Verkaufsstall.“ Das mit den Immobilien hatte ich erfunden, irgendwie schien es mir zu Luis zu passen und es würde ihn in Gersons Augen garantiert seriöser machen.
„Merde? Heißt er wirklich Merde?“ Sollte das ein Witz sein, oder war es wirklich ein Missverständnis? Vielleicht lag es an meiner weichen süddeutschen Aussprache – keine Ahnung. Merde, sollte er ruhig denken, was er wollte. Ich atmete erleichtert auf, er hatte nichts gemerkt.
In der ersten Woche trafen wir uns drei Mal. Luis gab mir viele gute Ratschläge. „Fango darf keinen Zug bekommen.“ Sein Fell sei dünn. „Dafür schwitzt er kaum bei der Arbeit“, sagte Luis, „Ich brauche ihn nicht zu scheren, wenn es kalt wird.“
Luis war immer schon vor mir da, hatte sein Pferd gesattelt und es warm geritten. Wenn ich in die Halle kam, stieg er ab, hielt mir den Steigbügel, damit ich aufsitzen konnte und gab mir Reitunterricht. Ich musste Fango erst kennenlernen, herausfinden, wie er auf meine Hilfen reagierte und wie er geritten werden wollte. Zwischen Luis und mir gab es keine Missverständnisse, seine Kommandos waren klar, und Fango reagierte weich und durchlässig auf meine Hilfen. Unter Luis' Anleitung fühlte ich mich sicher und frei zugleich.
In der Reithalle blieben wir allein und ungestört, da es nicht viele gab, die bei den milden spätherbstlichen Temperaturen in der Halle ritten.
Luis stand in schwarz-glänzenden Reitstiefeln mitten in der Bahn; seine beigen Breeches, die bei jedem anderen lächerlich altmodisch ausgesehen hätten, gaben ihm etwas extravagant Männliches. Manchmal hielt er inne und schob sich mit einer eleganten Handbewegung die Haare aus der Stirn. Luis' starker Bartwuchs und seine buschigen Augenbrauen ließen seinen Teint noch dunkler erscheinen. Ich musste mich zusammen nehmen, um nicht andauernd zu ihm hinzusehen. Irgendetwas an ihm zog mich unwiderstehlich an. War es seine erotische Stimme? Dieser kehlig-raue Ton, der so sanft bei mir ankam? Der wie Bitterschokolade in mir schmolz, zart, süß, herb und mit winzigen Sporen, die tief in meinem Innern ziemlich viel aufwühlten. Ich konnte nicht genug davon bekommen und wurde mit jedem Wort süchtiger. Ich hatte mich schon einige Male dabei erwischt, wie ich das Handy in der Hand hatte, um Luis anzurufen, einfach nur um seine Stimme zu hören.
Wenn wir fertig waren, gab ich Fango die Zügel hin und ließ den Wallach laufen. Er blieb vor Luis stehen und ließ sich von ihm den Hals klopfen. Luis schaute mich an und der Besitzerstolz stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Fango wird unter dir richtig zum Pferd!“, sagte er.
Luis wusste, wie er mir schmeicheln konnte; er lobte Fango, und ich fühlte mich einzigartig und ganz; es war ein Gefühl, das ich kannte, und schon lange vergessen hatte. Jetzt kam es plötzlich wie eine Welle auf mich zu. Es war wie damals, als ich mich in Gerson verliebt hatte. Luis ließ dieses Glücksgefühl in mir wieder aufleben und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Ich beugte mich über Fangos Hals, da spürte ich Luis' Hand auf meinem Arm. Für einen Außenstehenden musste es so aussehen, als habe er mich unabsichtlich gestreift, doch auf mich wirkte es wie eine liebevolle Berührung. Ich schaute Luis verträumt an, doch gerade da zog er seine Hand wie elektrisiert zurück und trat einen Schritt zur Seite. „Vera, es sucht dich jemand!“
Ich erstarrte. Nicht möglich – wer denn? Und warum gerade jetzt?
Auf der Tribüne stand Gerson. „Jetzt zeig mir mal dein Wunderpferd, reite mir was vor!“, rief er mir zu. Er war bester Laune, doch meine Stimmung sank augenblicklich auf den Nullpunkt.
Auf Kommando vorreiten? Unmöglich! Was dachte sich Gerson eigentlich? Ich warf Luis einen schnellen Blick zu, er schien mich zu verstehen, denn er nickte. Dann saß ich ab und übergab Luis die Zügel. Gemeinsam gingen wir zum Ausgang. „Sie sind ein paar Minuten zu spät gekommen“, sagte Luis.
Gerson zuckte die Schultern und lachte. „Ihnen gehört also das Wunderpferd, von dem Vera so schwärmt? Ich habe Sie mir anders vorgestellt, viel ...“