TRUDGE
Schleichender Tod
Wie man die Zombieapokalypse überlebt
Shawn Chesser
Title: TRUDGE © 2011 Shawn Chesser. All rights reserved.
Kapitel 7
Tag 2 - Southeast Portland
Seit dem Ausbruch gab es so gut wie keine Mobilfunkdienste mehr; auch DSL und das Festnetz waren zusammengebrochen. Mit energischem Gesichtsausdruck ergriff Cade sein Telefon und tippte Brooks Handynummer ein. Ein Besetztzeichen summte in seinem Ohr. Als er auf die Anzeige seines Telefons schaute, war er nicht überrascht, weder neue Nachrichten auf der Mailbox noch SMS erhalten zu haben. Spontan versuchte er nochmals, Brook auf ihrem Handy zu erreichen und war erleichtert, letztendlich zumindest auf ihre Mailbox sprechen zu können, auf der er eine kurze unzusammenhängende Mitteilung hinterließ.
»Hier ist Cade. Ich mache mir Sorgen um eure Sicherheit. Wie geht’s deinem Vater? Vielleicht hat er sich angesteckt. Seid vorsichtig. Eine ernst zu nehmende ansteckende Krankheit macht sich breit, die durch Speichel übertragen wird. Offensichtlich fallen die Infizierten ins Koma oder sterben und erwachen mit Gewaltbereitschaft wieder zum Leben. Wenn bei euch irgendetwas passiert, wenn ihr Infizierte seht … fahrt sofort zum Fort Bragg und kontaktiert Mike Desantos. Wenn ihr eine Verbindung bekommt, ruft mich an oder schreibt mir eine SMS. Ich liebe euch beide. Umarme Raven von mir. Papa liebt euch. Tschüss.«
Cade hatte nicht die geringste Ahnung, ob Brook ihre Mailbox abhören konnte oder ob seine Nachricht sie überhaupt erreichen würde. Die Ausbilder am Fort Benning hatten immer von ihren Schülern erwartet, einen Notplan in petto zu haben. Zusätzlich verfasste er auch noch eine ausführliche SMS.
Ich habe nichts von euch gehört und konnte nicht zum Telefon deiner Eltern durchkommen. Nur ein Besetztzeichen? Seid vorsichtig! Hier herrscht zweifelsohne eine Pandemie! Fahrt SOFORT zum Fort Bragg und kontaktiert Captain Mike Desantos 910-555-5555. Er kennt mich schon seit unseren Sandkastentagen. Nenn mich einfach Wyatt. Desantos ist ein guter Kerl. Betont unbedingt, dass ihr ihn sprechen oder ihm eine Nachricht überbringen müsst, sollten sie euch ein persönliches Treffen mit ihm verweigern. Er wird euch eine Leitung besorgen. Ich liebe euch, Cade.
Wyatt war Cades Spitzname in den Teams, der Name stammte von seiner Fertigkeit mit der Pistole. Beim Training hatte er bei vielen Schießübungen hervorragende Punktzahlen erreicht. Auch im Kampf war er seinem Namen mehr als gerecht geworden.
Die Jungs gaben sich alle Spitznamen untereinander. Mikes Name bezog sich auf die lange Zeit, die er im »Indianerland« hinter den feindlichen Linien verbracht hatte. So hatten sie angefangen, ihn »Cowboy« zu rufen.
Mike war Cades Kommandant und Teamführer in der First Special Forces Operational Detachment-Delta, auch mit Delta Force abgekürzt. Während des letzten Einsatzes in Afghanistan hatten sie zusammen viele Gefechte durchgestanden und sich gegenseitig ihre Leben anvertraut. Die beiden hatten sich geschworen, dass – sollte einer von ihnen sterben – sich der Überlebende um die Familie des Gefallenen kümmern würde.
Mike Desantos‘ Telefon sprang nach dem ersten Klingeln auf die Mailbox um. Cade hinterließ eine kurze und prägnante Mitteilung mit Einzelheiten zur Lage seiner Frau und Tochter und bat ihn, nach ihnen Ausschau zu halten.
Kapitel 8
Tag 2 - Myrtle Beach, South Carolina
Harrison und Peggy Mortenson lebten seit 1960 neben Brooks Elternhaus in der Trabantenstadt. Sie – als unersättliche Nachrichtenjunkies – waren fast die ganze Nacht aufgeblieben und hatten die weltweite Ausbreitung der ansteckenden Krankheit miterlebt.
Es war jetzt offensichtlich für Brook, warum ihr Vater das entsetzliche Verbrechen an ihrer Mutter begangen hatte. Sie hatte auch Angst um ihren Bruder und die anderen Arbeitskräfte, die noch im Krankenhaus waren.
»Mein Telefon funktioniert nicht richtig und ich habe seit gestern nichts mehr von meinem Mann gehört. Das ist das Erste, was ich von der sich ausbreitenden Krankheit gehört habe«, sagte Brook besorgt zu Peggy.
Harrison unterbrach sie und erzählte, wie es zu der Infektion gekommen war und wozu sie letztendlich geführt hatte. Nachträglich fügte er hinzu: »Der Präsident hat den Kriegszustand verhängt. Wir befinden uns in einer Welt voller Schmerz.«
Ausgestattet mit diesen neuen Informationen, wurde Brook bewusst, dass niemand zu ihr kommen würde, um zu untersuchen, was gerade bei ihren Eltern passiert war. Sie mutmaßte außerdem, dass sich auch kein Leichenbeschauer um die Körper ihrer Eltern kümmern würde.
Sie drehte sich zu Raven um. »Ich muss zurückgehen und mein Telefon holen, damit ich versuchen kann, deinen Vater zu erreichen. Ich möchte, dass du mit mir kommst.«
Raven schüttelte energisch ihren Kopf und sagte: »Auf keinen Fall, Mama.« Sie biss nervös auf ihrer Unterlippe herum. »Tu mir das nicht an, bitte.« Sie würde sich nicht vom Fleck rühren und auf keinen Fall zurück zum Haus ihrer Großmutter gehen.
Angesichts der Gräuel, die sie nur Minuten zuvor erlebt hatten, wollte Brook sie nicht zwingen. Widerwillig ließ sie ihre Tochter beim Ehepaar Mortenson zurück und ging ein letztes Mal zu ihrem Elternhaus.
Die Tür war angelehnt, und im Haus roch es nach Schießpulver und Tod. Als sie langsam in die Küche ging, konnte sie die Füße ihrer Mutter sehen, die in den pinkfarbenen Pantoffeln steckten, die sie ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Brook eine Bewegung. Sie schaute genauer hin: Der Fuß ihrer Mutter zuckte.
Brook kroch um die Kochinsel herum und schnappte sich die Flinte von der Sitzbank in der Essecke. Die Untote spürte ihre Ankunft. Das blutige Überbleibsel, das einst ihre Mutter gewesen war, ließ sich auf den Bauch fallen und begann in ihre Richtung zu kriechen. Dabei hinterließen ihre Körperflüssigkeiten eine glitschige Spur auf dem Boden. Da die untote Mutter ihr ins Wohnzimmer folgte, ließ sie Brook keine Wahl.
Sie erinnerte sich, was Harrison ihr früher gesagt hatte, und zielte direkt auf den Kopf. Brook schloss für einen Augenblick ihre Augen, betete kurz und dachte: Das bist nicht mehr du, Mama. Ich liebe dich, es tut mir leid, was ich jetzt tun muss.
Sie drückte ab. Durch den Schuss brach der Kopf ihrer Mutter auseinander; der Flur wurde mit Hirnsubstanz, Haaren und Knochenteilen übersät. Sie begann zu schluchzen, als ihr klar wurde, dass nun beide Elternteile tot waren. Diese Erkenntnis traf sie wie ein heftiger Schlag. Sie sendete stumme Gebete an ihren Ehemann Cade, den sie so sehr vermisste.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Brook die Treppe hoch und betrat ihr altes Zimmer. Seit ihrem letzten Gespräch mit Cade lag ihr Handy in ihrem Handgepäck. Mit der Tasche in ihrer Hand ging sie wieder hinunter Richtung Tür.
Raven war aus dem Nachbarshaus gerannt, als sie den Schuss gehört hatte, und spähte vorsichtig durch die offene Eingangstür, als Brook die Treppen herunterkam. Als sie ihre Mutter sah, rannte Raven auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Brook setzte sich in die Hollywoodschaukel und tröstete Raven; sie hielt sie im Arm und strich ihr minutenlang über das Haar. Danach schickte sie Raven zurück zu den Mortensons und schaute ihr nach, um sicher zu sein, dass sie dort heil ankam.
Sie musste erst etwas in ihrer Tasche herumsuchen, bis sie schließlich ihr Telefon fand. Nachdem sie es eingeschaltet hatte, wurde sie von mehreren Summtönen informiert, dass sie Anrufe nicht angenommen und auch einige SMS noch nicht gelesen hatte. Noch immer in der Hollywoodschaukel sitzend, las sie Cades Textmitteilung. Bei dem Gedanken, was überall in der Welt passierte, wurde ihr ganz schummrig. Cades Nachricht auf ihrer Mailbox verdeutlichte ihr die Ernsthaftigkeit ihrer Lage; sein Tonfall sagte alles. Sie würde auf jeden Fall seinen Rat beherzigen, denn wenn es um die Sicherheit ihrer Familie ging, stellte sie seine Klugheit nie infrage. Brook dachte: Sobald wir den Cadillac beladen haben, sollten wir uns auf den Weg zum Fort Bragg machen.
Sie stand auf und ging zurück ins Haus. Als sie in der Küche stand, starrte Brook auf den leblosen Körper ihres Vaters. Sie hatte noch seine Stimme im Ohr. »Brooklyn, komm in die Gänge, schnapp dir Raven und bringt euch in Sicherheit.« Obwohl sie natürlich seine Stimme nur im Unterbewusstsein hörte, nahm sie es sich zu Herzen.
Brook rief ihren Bruder Carl an. Obwohl sie sowohl sein Handy als auch den Festnetzanschluss des Krankenhauses probierte, konnte sie ihn leider nicht erreichen. Als Nächstes wählte sie Cades Handynummer und lauschte dem Klingeln. Nach dem dritten Klingeln ging Cade ans Telefon.
Kapitel 9
Tag 2 - Southeast Portland
Während die Kinder aßen, schloss Cade alle Jalousien und prüfte die Fenster und Türen erneut, um sicher zu sein, dass sie verschlossen waren. Die Untoten wussten nicht, dass sie im Haus waren, und daran wollte Cade auch nichts ändern.
Er richtete erneut seine Aufmerksamkeit auf die Lokalnachrichten. Zwei Reporter beklagten das Ableben ihrer Kollegin, das am Vortag live im Fernsehen übertragen worden war. Glücklicherweise verzichteten sie darauf, das blutige Spektakel nochmals zu zeigen.
Präsident Odero ging komplett in die Offensive und verhängte den Kriegszustand über die gesamte Nation. Die FEMA gab Empfehlungen. Sie drängten die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, zu Hause zu bleiben und sich um ihre Kranken und Verwundeten zu kümmern. Die beunruhigendste Information, die Cade verarbeiten musste, war eine Grafik, die die landesweite Ausbreitung der Infektion verdeutlichte. Sie zeigte eine sich noch immer ausdehnende Zone – in Rot dargestellt –, die sich von der Ostküste landeinwärts und von Mexiko in Richtung Norden ausbreitete. Trotz des harten Vorgehens an der Grenze wurde ganz Kalifornien in Rot gekennzeichnet. Der Süden und der Südwesten schienen weniger beeinträchtigt zu sein; der Nordwesten und die zentralen Rocky Mountains waren nicht betroffen … noch nicht. Die nächste Grafik war unfassbar. Die weltweiten Auswirkungen der sich schnell ausbreitenden Krankheit wurden im Zeitraffer bildschirmfüllend dargestellt. Es gab nur sehr wenige Orte auf der ganzen Welt, die während der ersten beiden Tage des globalen Ausbruchs nicht verwüstet worden waren. Während er die Nachrichten sah, hatte er nicht die geringste Ahnung, dass seine Schwiegereltern Tausende Meilen entfernt starben.
Cade hatte keine engen Familienangehörigen in Portland; seine beiden Eltern waren schon vor Jahren gestorben. Chuck und Madeline standen sich sehr nahe und waren 55 Jahre verheiratet, als sie beide plötzlich innerhalb von ungefähr einem Monat eines natürlichen Todes starben. Chuck verstarb zuerst, ganz friedlich im Schlaf. Madeline war am Boden zerstört und starb – wahrscheinlich an gebrochenem Herzen – 28 Tage nach ihm. Cade erbte das Haus, in dem er aufgewachsen war.
Seine Eltern waren 27 Jahre glücklich verheiratet, bevor sich Cade anmeldete. Er war nicht geplant gewesen, aber dennoch das Beste, das ihnen je passiert war. Ihr stolzester Augenblick war Cades Eintritt in die Armee im Alter von 20 Jahren gewesen: Eleven Bravo. Während der Grundausbildung tat er sich hervor und mochte den Militärdienst so sehr, dass er die Rangerschool durchlief, im 75. Ranger Regiment diente und später die Ausbildung zur Sondereinsatzkraft im Fort Benning, Georgia machte.
Mike Desantos warb Cade als Rekrut bei der Delta-Force-Spezialeinheit an. Während der nächsten Jahre nahm er an einigen Geheimmissionen teil, wo er im ›Downrange‹ – wie die Soldaten sich ausdrücken – also im Visier feindlichen Beschusses stand. Aber Cade teilte mehr aus, als er selber einsteckte.
Als er Brook traf, war es Liebe auf den ersten Blick. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Nähe von Fort Lewis, wo er im Jahr 1999 mit der ersten Sondereinsatztruppe stationiert war. Schon bald heirateten sie und Raven wurde kurz danach geboren.
Als Operator zu arbeiten – das war Cades Leben! Als diese Scheißkerle die Twin Towers in die Luft jagten, wurde es für ihn zu einem Kreuzzug. Er glaubte so rückhaltlos an den Krieg gegen den Terror, dass er sich »UNGLÄUBIGER« in altenglischen Schriftzügen quer über seinen Rücken tätowieren ließ.
Cade tat alles, was die Vorgesetzten von ihm verlangten, opferte Jahrestage und Geburtstage. Er verpasste sogar Ravens erste Worte und Schritte, während er Terroristen jagte.
Kurz, nachdem der neue Präsident sein Amt angetreten und der Kreuzzug seinen Reiz für die Amerikaner verloren hatte, entschied sich Cade, seine Dienstmarke zurückzugeben. Als der Präsident und seine neue Regierung bestimmten, dass Terroranschläge als »von Menschen verursachte Katastrophen« zu bezeichnen waren, war dies ein Schlag ins Gesicht für alle Personen in Uniform, die für ihr Land kämpften. Als die Mitarbeiter des Weißen Hauses begannen, das Wort »Terrorist« in amtlichen Mitteilungen wegzulassen, war dies der Tropfen, der bei Cade das Fass zum Überlaufen brachte.
Die Entscheidung, seine Einheit zu verlassen und seinen Vertrag nicht zu verlängern, war die schwerste, die Cade je getroffen hatte. Viele andere wählten den gleichen Weg und arbeiteten danach für Blackwater oder Triple Canopy, die für private Sicherheit in der Sandkiste namens Irak sorgten.
Cade jedoch entschied, sich ins Familienleben zu stürzen.
Kapitel 10
Tag 2 - Southeast Portland
Cades Telefon vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog es heraus, und als er Brooks Namen und Nummer auf dem Display sah, ging er auch sofort an sein Handy. Das Schluchzen am anderen Ende der Leitung stammte tatsächlich von seiner Frau Brook. Sie begann alles zu erzählen, was ihr in den letzten zwanzig Minuten widerfahren war. Zum Ende ihrer Geschichte unterbrach Cade sie mit der Frage: »Wenn ich mich recht erinnere, wohnen deine Eltern in einer Sackgasse, stimmt’s?«
»Ja«, antwortete sie. »Also, was ist?«
Da er nicht wusste, wie lange die Verbindung halten würde, bat er Brook, ihm nur zuzuhören. »Was da passiert, ist wirklich eine ganz schlimme Sache. Wenn es in Myrtle Beach so ähnlich zugeht wie in Portland, sind die Infizierten auf allen Landstraßen unterwegs. Nimm möglichst viel Munition für die Flinte mit. Besorge dir Lebensmittel und Wasser aus dem Haus, pack den Escalade und fahr mit Raven zum Fort Bragg. Halte dich von großen öffentlichen Plätzen, besonders von Krankenhäusern und Triage-Zentren fern. Die Nationalgarde und die FEMA werden versuchen, eure Reise zu verhindern. Sollten sie euch Probleme bereiten, sage ihnen, wohin ihr fahrt und wen ihr sucht. Als letzten Ausweg erkläre ihnen eure Verbindung zu mir. Denk daran, viel befahrene und beliebte Hauptstraßen zu meiden. Nehmt niemanden mit und umarme Raven für mich. Wir treffen uns in Fort Bragg. Bis dann, ich liebe euch.«
»Bist du jetzt etwa fertig?«, fragte Brook.
»Nur sachdienliche Anweisungen, Madam!«, erwiderte er. Fernab aller Fakten und Instruktionen mahnte Cade mit bebender Stimme: »Seid vorsichtig und – ich meine es ernst – ich liebe euch. Bis bald.«
In diesem Augenblick brach die Verbindung ab und wurde durch das Knistern atmosphärischer Störungen ersetzt.
Es war keine Zeit gewesen, noch hatte es einen Grund gegeben, um Brook von Ted und Lisa zu erzählen. Sie hatte schon genug um die Ohren und Cade wollte die ganze Angelegenheit nicht noch verschlimmern.
***
Brook saß auf dem Sofa der Nachbarn und nahm alles in sich auf, als ihr Bruder von draußen hereinkam. Er hatte seinen Wagen laufen lassen und rannte in das Haus seiner Eltern.
Bevor Brook ihn zurückhalten konnte, war Carl schon drinnen gewesen und hatte seine Eltern gesehen; jetzt übergab er sich – auf Händen und Knien gestützt – auf dem Rasen. Als Carl endlich aufhörte und mit zitternder Hand über seinen Mund wischte, trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er sah erschöpft aus. Beim Anblick des Gewehres, das Brook festhielt, sagte er: »Es tut mir leid, dass du es tun musstest, Schwesterherz. Bevor ich Mama und Papa da drinnen sah, habe ich geglaubt, dich nie davon überzeugen zu können, was im Krankenhaus los war. Die reinste Hölle! Die vergangene Nacht werde ich nie vergessen.« Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort. »Heute Morgen habe ich kurz einen klaren Gedanken fassen können und mich daran erinnert, dass Papa gebissen worden war. Ich habe versucht, hier anzurufen, aber nur den Anrufbeantworter erreicht. Kurz danach begannen Menschen in der Notaufnahme zu schreien.« Carl machte eine Pause und wischte mit seinem Hemdsärmel über seine Nase. »Mehr als drei Stunden habe ich mich in einem Schrank versteckt, bis das Geheule aufhörte. Letztendlich entschloss ich mich, abzuhauen. Zu diesem Zeitpunkt war jeder in dem Gebäudeflügel entweder gestorben oder als Untoter unterwegs. Ich fuhr, so schnell ich konnte, hierhin«, japste er mit rot umränderten und feuchten Augen.
Als Raven sich zu ihnen gesellte, umarmte Brook ihr kleines Mädchen und ihren großen Bruder und zog sie eng an sich.
Kapitel 11
Tag 2 - Southeast Portland
Ike und Leo waren noch immer ganz hypnotisiert von den Bildern im Fernsehen und konnten den Apparat nicht ausschalten. Die Bilder hatten die gleiche anziehende Wirkung wie ein verunglücktes Auto und die verräterische gelbe Abdeckplane; fährt man daran vorbei, wird man quasi gezwungen, hinzusehen. Noch einmal wurden die Aufnahmen vom Pioneer Square, vom Angriff auf das Krankenhaus und einem Reporter ausgestrahlt, der von einem Mob Untoter an einem Triage-Zentrum im Freien von hinten überfallen wurde. Es gab nur ganz vereinzelte internationale Aufnahmen. Was sie zeigten, spiegelte das Entsetzen wider, mit dem die Vereinigten Staaten gerade zu kämpfen hatten. Im Laufe der Zeit begannen die Regierungen auf der ganzen Welt wahrheitsgemäß über das Ausmaß des Ausbruchs zu berichten. Selbst die FEMA wiederholte immer wieder eine Videonachricht auf allen Kanälen, in der sie vor der Krankheit warnte und die Bevölkerung aufforderte, nicht aus dem Haus zu gehen.
Leo und Ike sahen sich eine Stunde lang die Nachrichten an und versuchten, Stück für Stück zusammenzusetzen, was ihren Eltern passiert war.
Ihre Mutter hatte in einem Hochhaus-Bürogebäude in der Stadtmitte als Hausmeisterin in der Spätschicht gearbeitet. Sie musste sich dort bei der Arbeit angesteckt haben und sich, nachdem sie nach Hause gekommen war, in eine Untote verwandelt und ihren Vater angegriffen haben, als dieser – für den Gottesdienstbesuch in Schale geworfen – die Treppe hinuntergekommen war. Leider würden sie niemals erfahren, was wirklich genau geschehen war. Sie hatten nicht nur Glück gehabt, dass Leo sie lebendig aus ihrem Haus herausbekommen hatte, sondern es war auch ein wahrer Segen für sie gewesen, dass Cade dann an ihrem Baumhaus vorbeigekommen war.
Cade hatte den Jungs ihr Vorhaben ausgeredet, nach Hause zu gehen und die Eltern zu begraben. Das wäre sicherlich eine großherzige Geste gewesen, die aber angesichts all der Untoten, die in den Straßen unterwegs waren, zu riskant war.
Leo erzählte Cade, dass die meisten der entfernten Verwandten in Georgia und Louisiana lebten. Cade schlug ihnen vor, dass sie ihn begleiten sollten, um gemeinsam nach ihren Familienmitgliedern zu suchen. Da die Brüder keine weiteren Verwandten in Portland hatten, zögerten sie nicht lange. Leo traf letztendlich die Entscheidung für sich und seinen Bruder. »Wir kommen mit, aber kannst du uns beibringen, mit einem Gewehr zu schießen, sodass wir uns selbst verteidigen können?«
Nachdem er etwas nachgedacht hatte, antwortete Cade: »Erst erkläre ich euch alles zur Sicherheit. Wenn ihr das versteht … zeige ich euch auch, wie man mit dem Gewehr schießt.«
Der silberfarbene Toyota Sequoia sollte ihnen auf ihrer Fahrt quer durchs Land gute Dienste leisten. Mit der heruntergeklappten dritten Sitzreihe bot er viel Platz für die Vorräte, die sie mitnehmen wollten.
Kapitel 12
Tag 2 - Southeast Portland
Rawley hatte schon beinahe einen eigenen Fanklub. Von Ravens Schlafzimmer in der zweiten Etage aus konnte Cade mindestens zwanzig Zombies vor und neben dem Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite erkennen. Eine der verwesenden Kreaturen stand auf der Terrasse und klopfte an die Tür.
Es schien, als hätte Rawley sein großes Panoramafenster abgestützt. Die Füße des Sofas waren durch das Glas zu sehen. Glücklicherweise waren die engen Fenster im Erdgeschoss zu klein, als dass die Zombies durch sie hindurchgepasst hätten. Die Fenster an den Seiten des Hauses lagen ein ganzes Stück über dem Boden.
Cade konnte sich nicht erinnern, wie Rawleys Hinterhof aussah, obwohl er dort an einigen Grillpartys teilgenommen hatte. Rawleys einzigartige geräucherte Rinderhochrippen waren ihm hingegen sehr wohl in Erinnerung geblieben.
Über die Jahre hatte er sich als ein Freund erwiesen. Er spielte Gitarre und hatte dazu das passende Aussehen: Sein langes Haar war schwarz gefärbt und seine beiden Arme waren komplett tätowiert. Gelegentlich ging Rawley mit einer Rockband auf Tournee; sodass viele verschiedene Mädchen in seinem Haus ein- und ausgingen. Cade wusste, dass dies die Vorteile eines solchen Lebensstils waren. Soviel er wusste, lebte Rawley nicht mit einem bestimmten Mädchen zusammen.
Es sah aus, als würde sein Plan, einen Verteidigungsring mit seiner Gitarre und seinen Vorräten aufzubauen, nicht funktionieren. Rawley war ein wenig nachlässig gewesen und hatte die Zombies zuschauen lassen, während er Sachen an der Vordertür hinstellte.
Die Sinne der Untoten waren offensichtlich nicht nachteilig beeinflusst, ihre Bewegungen hingegen waren etwas eingeschränkt. Ihr Tempo hatte sich ungefähr halbiert, aber einige von ihnen waren schneller und andere wiederum langsamer.
Der einzelne Zombie auf der Eingangsterrasse hatte sein Interesse an der Tür verloren und mittlerweile begonnen, an dem großen Fenster zu klopfen. Das Glas zersplitterte mit einem lauten Knall, was die Aufmerksamkeit der anderen Zombies in der Nachbarschaft weckte.
Was als Nächstes passierte, hatte Cade am allerwenigsten erwartet. Die Vordertür öffnete sich und Rawley kam mit einem SKS-Sturmgewehr und einem 50-Schuss-Trommelmagazin heraus. Diese Art Gewehr hatten zwei Bankräuber Anfang der neunziger Jahre in Nord-Hollywood verwendet, um besser bewaffnet zu sein als die Polizei. Rawley tötete den Untoten auf seiner Terrasse mit zwei platzierten Kopfschüssen. Knochen und Gehirnmasse verteilten sich auf seiner Fußmatte. Sorgfältige, präzise Schüsse brachten weitere Untote auf den unteren Stufen, die zu seiner Eingangsterrasse führten, zu Boden.
Cade hatte Rawley noch nie so richtig wütend erlebt – jetzt aber eiferte er Rambo nach.
Cade verließ seinen Aussichtspunkt am Schlafzimmerfenster, ging ins Büro und tippte seine PIN in das Sicherheitstastenfeld des Waffenschranks. Er zog sein M4 heraus und lud es. Es war ein Modell für den persönlichen Gebrauch, das genauso ausgestattet war wie die Waffe, die er im Einsatz benutzt hatte. Onkel Sam hatte das vollautomatische M4 behalten, als Cade die Teams verließ.
Nachdem er in das Zimmer, von dem aus er die Vorderseite des Hauses überblicken konnte, zurückgekehrt war, setzte er ein Magazin ein und zog den Durchladehebel. Das Gewehr an seiner Schulter abstützend, drückte er ständig ab und trug damit zur Zahl der Todesopfer bei.
Zuerst hatte Rawley perplex zu ihm nach oben geschaut, dann aber machte sich Anerkennung auf seinem Gesicht breit und mit weiterer Entschlossenheit setzte er das Feuergefecht fort.
Ike und Leo gesellten sich zu Cade im Schlafzimmer des Obergeschosses und bestaunten die Schießerei. Es war nicht geplant gewesen, aber die Untoten waren in ein vernichtendes Kreuzfeuer von Cade und Rawley geraten.
Über den Lärm hinweg schrie Cade zu den beiden Brüdern: »Ike, geh runter und belade den Truck in der Garage mit allen Konserven und packe auch noch möglichst viel von trockenem Zeug rein.«
Er zeigte in Richtung der offenen Tür im Korridor. »Leo, geh in das Büro, nimm die gesamte Munition und alle Magazine aus dem Safe und wirf sie hierein.« Mit diesen Worten warf er Leo einen großen schwarzen Beutel zu. »Weißt du, wie ein Magazin aussieht?«
»Das ist das quadratische Teil, das in das Gewehr passt, oder?«
»Stimmt. Wenn du alles in den Beutel gepackt hast, soll Ike dir helfen, es in den Sequoia zu bringen«, ordnete Cade an.
Die beiden Jungen flitzten die Treppe hinunter. Ike blieb nahe der Eingangstür stehen, als sich ein Schatten am Wohnzimmerfenster vorbeibewegte. Von Neugier überwältigt, reckte er sich und öffnete vorsichtig die hölzernen Lamellen der Jalousie. Ein ausgemergeltes graues Gesicht mit milchigen Augen glotzte ihn an.
Ike rannte atemlos die Stufen wieder hoch und schrie: »Die Zombies sind jetzt auf der Terrasse. Ich habe aus dem Küchenfenster geguckt. Der Hinterhof scheint aber noch leer zu sein.«
Leo fügte hinzu: »Die Schießerei wird sicherlich noch viele weitere Untote anziehen.«
Nachdem Cade nun dachte, dass das Haus nicht viel länger sicher wäre, forderte er die beiden Jungen auf, nach unten zu gehen, sich in den Truck zu setzen und abfahrbereit zu sein.
Rawley hatte die meisten Untoten, die sein Haus belagerten, getötet. Mindestens fünfzehn Leichen waren auf der Veranda verstreut. Ein totes Mädchen in einem blutigen Sommerkleid lag in wenig schmeichelhafter Pose am Boden. Eine Augenhöhle des Flipflop-Jungen war durchschossen worden.
Cade rief so laut, dass Rawley ihn hören konnte: »Wir kommen in drei Minuten raus!« Dann ging er in die Garage, zog sein Gerber-Messer und schnitt zwei 4 Fuß lange Stücke aus dem zusammengerollten Gartenschlauch, der an der Wand hing. »Verdammt!«, murmelte Cade wütend zu sich selbst, als ihm einfiel, dass der Eispickel noch immer an seinem Fahrrad draußen festgebunden war; er würde ihn zurücklassen müssen. Doch er hatte ja noch die beiden Glocks bei sich und das M4, welches er vorn im Wagen verstaute.
Cade packte einen zweiten, langen, schwarzen Kanvasbeutel mit seinem anderen Gewehr und weiterer Ausrüstung nach hinten in seinen Truck. Eine Kiste mit der Aufschrift ›Camping-Ausrüstung‹ enthielt Stirnlampen, ein Paar Walkie-Talkies, ein Bushnell-Fernglas mit gepanzertem Gehäuse und einen Campingkocher. Als Nächstes packten sie das Zelt und drei Schlafsäcke ein, die sie kurzerhand nach hinten in den Truck hineinzogen. Zum Schluss warf Cade noch zwei leere 5-Gallonen-Trinkwasserbehälter oben auf das ganze Zeug und schloss die Tür.
Als er durch die kleinen Glasfenster spähte, die sich oben an der Garagentür aneinanderreihten, sah er, dass sich der größte Teil der verbliebenen Zombies jetzt auf seiner Veranda befand und den Vorgarten zertrampelte. Ein riesengroßer Untoter schleppte sich die Einfahrt hoch. Zwei Zombies lehnten am Vorderfenster und fielen mit einem Schwall zerspringenden Glases ins Wohnzimmer. Der Geruch von Tod durchdrang sein Zuhause.
Cade kletterte in den Truck und drehte den Zündschlüssel um. Der V8 brummte. Er drückte den Fernbedienungsknopf, worauf sich das Garagentor ruckelnd nach oben bewegte. Unglaublich langsam kam die sonnige Außenwelt zum Vorschein; der verwesende Riese stand fünf Fuß vor ihnen und versperrte die Straße. Sein linker Arm fehlte. Bei jedem Schritt zuckte der verbliebene Stumpf wie ein kupierter Hundeschwanz. Abgesehen von dem Arm fehlte auch das meiste Fleisch an einem Bein, sodass der weiße Oberschenkelknochen und die Kniescheibe freigelegt waren.
Sobald er den Truck und dessen Insassen erblickt hatte, begann der einarmige Koloss aufgeregt zu stöhnen, um die anderen Zombies auf seinen Fund aufmerksam zu machen.
Die Untoten drängelten sich durch das zerbrochene Vorderfenster in das Haus, strömten in die Garage und begannen, gegen den Geländewagen zu schlagen.
»Fahr los, schnell, schnell …!«, schrie Ike hysterisch vom Rücksitz des Sequoias und blickte geradewegs in die Augen von Cades totem Nachbarn Dave. Seiner Verfassung nach zu urteilen, war er nicht gekommen, um sich Werkzeug auszuleihen.
In dem Augenblick, in dem sich das Garagentor komplett geöffnet hatte, trieb Cade den Truck voran. Einige Untote standen seitlich an der Einfahrt. Sie betatschten die geschlossenen Seitenfenster, als der drei Tonnen schwere Truck den muskulösen einarmigen Zombie unter seiner Vorderschürze begrub; sein Schädel platzte wie eine überreife Melone auf, als er von einem Hinterrad überrollt wurde.
Cade sah, dass die Garage hinter ihnen nun voller Zombies war, und hielt den Geländewagen kurz an, um die Lage auf der anderen Straßenseite zu prüfen. Von Rawley war nichts zu sehen.
Kapitel 13
Tag 2 - Southeast Portland