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Zitat

Hätten Sie den Mut, jenen wiederzusehen,

der selbst so gern noch gelebt hätte –

und Sie hätten ihm nichts zu erzählen?

Peter Bichsel

VIII

„Sind die Moste schon offen?“, fragt Großvater.

„Offen und gekühlt“, antwortet der Spanier. „Wir haben einen Schweizer, einen Österreicher und einen Franzosen.“

„Aus dem Rhonegraben hoffentlich“, wirft Thomas ein, „damit wir wenigstens einen guten Wein dabei haben.“

„Ja, einer ist ein Condrieu.“

„Und was sonst noch, wirklich einen Österreicher?“, fragt Thomas und verzieht das Gesicht. „Genügt es nicht, dass die Grüne Veltliner vinifizieren? Müssen die jetzt auch noch Viogniers anpflanzen?“

Großvater stellt die Bettlehne senkrecht. Die anderen setzen sich an den Tisch. Jeder hat drei Gläser vor sich, deren Inhalt sich farblich kaum unterscheidet. Es duftet nach Aprikosen und Pfirsichen.

„Und: was ist was?“, fordert Thomas die Runde heraus. Kein Zweifel, er ist nur wegen der Flaschen ins Spital gekommen.

Am Tisch und im Bett wird geschlürft und gespuckt. Genuss heißt die Devise, Vision, Erleuchtung. Das geht nicht ohne Quervergleiche, Talent und Erfahrung.

Nach einer konzentrierten Schweigeminute meldet sich der Spanier: „Also wenn ihr mich fragt, der Fall ist klar. Nummer drei ist der Franzose, zwei der Schweizer und eins der Österreicher.“ Er nimmt noch einen Schluck vom dritten Wein. „Ganz groß“, schwärmt er. „Condrieu ist einfach ein Klassiker. Da können die Schweizer und die Österreicher einpacken. Da ist schlicht mehr Fleisch am Knochen, mehr Komplexität und Ausdruck. Das kitzelt den Gaumen wach und zwar für den Rest des Abends.“

Der Spanier ist Chef de Service im Hirschen und spricht fast akzentfrei Deutsch. Vor zwei Wochen hat man ihm ein Stück Darm entfernt.

„Mein Lieber, was du hier so frivol beschreibst, ist nicht der Franzose, sondern der Österreicher“, sagt Thomas. „So viel Säure in einem Condrieu gibts gar nicht.“

„Thomas hat Recht“, sagt Jana, die Schiedsrichterin spielt.

„Ich würde ihn aber nicht kaufen“, brummt Großvater, der sich bislang zurückgehalten hat. „Da merkt man den Alkohol zu sehr. Er ist auch viel zu klassisch. Da wollte einer die Franzosen kopieren. Ist doch immer dasselbe. All das eitle Zeugs können sie meinetwegen im eigenen Land trinken. Ich mag einfach Menschen lieber, die aus dem Fenster schauen statt in den Spiegel.“

„Jetzt beruhig dich mal“, tadelt ihn Jana. „Du argumentierst ja wie ein alter Mann. Freut euch über Differenzen, statt euch zu streiten.“

Sie bewegen sich an der Grenze von Wahrnehmung und Ahnung und wirken nicht unglücklich dabei.

„Mir hat die Nummer eins sehr gut gefallen“, sagt der Spanier. „Im Vergleich zu Nummer drei ist der ein Leichtgewicht, aber ein graziles, das eine beneidenswerte Souplesse vorlebt.“

Jana lüftete das Geheimnis, nicht ohne vorher einen Blick auf mich zu werfen. Bei der einen Spalt weit offenen Tür versehe ich den Securitasdienst. Großvater strahlt wie ein Maikäfer. Die eins ist sein erster Weißwein, der zweite Jahrgang, den er bei Ambros abfüllen ließ.

„In meinem kleinen Teich bin ich doch ein ziemlich großer Frosch und ganz zufrieden“, sagt er. „In einem großen Teich bin ich ein kleiner Frosch, der die großen Frösche übersehen muss. Aber das schaffen höchstens Einsiedler oder Heilige oder Verrückte. – Ich frage mich immer, was ist bei uns möglich, was kann man bei uns herausholen, ohne die Landschaft auszupumpen. In ei­nem Jahr steht er noch schöner da, ich schwörs. Aber das bleibt eine Exklusivität in kleinen Dosen. Wir leben vom gleichen Boden wie die Trauben.“

Die Tür des Nebenzimmers öffnet sich. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ein Patient im Rollstuhl, ein offensichtlich vergnügter kleiner Mann, rollt direkt auf mich zu.

„Man hört drüben alles“, sagt er, „darf ich auch?“

Großvater streckt ihm die Hand entgegen: „Ich heiße Schneck. Schneck ist besser als mein Taufname Peter.“ Schamlos fährt er mit den Augen über den Besucher vom Nebenzimmer und zieht mit raschem Unterarmgriff eine weitere Flasche aus dem Nachttisch, biegt den Kopf nach hinten, umschließt den ersten Schluck mit Augen, Nase, Mund, befördert ihn mit einem zustimmenden Atemstoß durch den Hals, schweigt vielsagend, schenkt ein und bekommt von Neuem zu hören, was er hören will. „Nie sagt einer, mein Wein sei dürftig oder nichtssagend. Das schlimmste Beiwort, das ich je zu ertragen hatte, war interessante Brombeernote. Ich habe den Käufer grußlos mit einem Karton Paradieswein dorfwärts ziehen lassen. So einen sollte man barfuß den Gotthard hinaufjagen“, brummt Großvater Schneck und nickt in den Zimmerhimmel, als ob er Zustimmung von oben erwarte. „Sollen diese überkandidelten Snobs gleich Brombeeren essen oder Leder oder in einen nassen Hund beißen.“ In seinem weißen Nachthemd sieht er ein bisschen aus wie der liebe Gott.

Was, wenn Großvater einfach auf Zeit spielt und hier nur das tote Männchen mimt? Einem kranken Mann nimmt man keinen Rebberg weg. Den Wein versteckt er im Nachttisch und abends singt er mit dem Spanier. Lustig ist das Zigeunerleben, faria-faria-ho, brauchet dem Kaiser kein Geld zu geben, faria-faria-ho. Um Mitternacht üben sie unter Mithilfe des Radios die Landeshymne. Groß­vater liegt im Spital, hoch über der verrückten Welt, streicht mit den Händen das Kissen glatt und schaut Champions League mit dem Spanier. Ist es so? Dazwischen studiert er den Zonenplan. Und eine seiner Frauen beliefert ihn mit Wein, hält immer seltener den Atem an und nimmt die leeren Flaschen heim. Er teilt alles redlich. Wenn er sich umbringen will, hat der Chefarzt zu Mutter gesagt, soll er es tun. Er ist ein erwachsener Mann. Ist Großvater Schneck durchschaut? Ich gäbe viel darum, jetzt mit ihm allein zu sein. Die Umklammerung, die ich gespürt habe, ist in diesem Augenblick ganz weg.

Großvater schildert dem Neuen das Elend dieses Jahres.

Ein allgemeines Palaver setzt ein, begleitet von munterem Gläserklirren. Der Mann im Rollstuhl outet sich als Versicherungsagent und gibt Anekdoten mit Mottenkugelbeigeschmack zum Besten. Thomas und der Spanier gehen auf den Dachstuhl, um eine zu rauchen.

„Auf die Reben“, sagt der Rollstuhlfahrer und stößt ein weiteres Mal mit Großvater an.

„Auf die Reben – und auf die Liebe“, sagt Großvater mit einem Blick auf Jana und mich.

„Erzähl mir einen Tag aus deinem Leben“, sagt der andere, der immer tiefer in seinem Rollstuhl versinkt, während die Arme den Rädern entlang rudern.

„Ich bin aber kein Dichter.“

„Fang einfach an.“

„Oh Gott, ich habe ein außergewöhnlich gewöhnliches Leben, nichts Aufregendes. Ich bin von morgens früh bis abends spät in den Reben. Was gibt es denn da zu erzählen? Ich stehe auf und gehe zu Bett, dann stehe ich wieder auf. Statt zu duschen steige ich in meinen kalten Bottich, statt Gymnastikübungen auf dem Hometrainer zu machen und Gewichte zu heben, hacke und karste ich. Kein Orangensaft und keine Cornflakes zum Frühstück, einfach ein Stück Brot mit Arschpflaumenkonfitüre. Ich führe ein so durchschnittliches Leben, da gibt es eigentlich nur Wiederholungen – meint man. Ich habe ja gar nie das Gefühl, dass ich wirklich arbeite, ich bin einfach dort auf der Suche, wo ich auf Antworten hoffen kann. Mein Vermächtnis umfasst fünfzig Jahrgänge.“

Jana wäscht die Gläser. Ich stehe weiterhin an der Türe. Schon bin ich wieder unsicher. Großvater zieht keine Krankheitsshow ab, denke ich, er findet es einfacher, die Wahrheit zu sagen. Lügen kann er nicht, höchstens mit einem Augenzwinkern übertreiben.

Die Flaschen sind leer getrunken, die Gläser gewaschen. Jana verstaut alles in ihrer Tasche und lüftet das Zimmer tüchtig. Nachdem sich der Nachbar im Rollstuhl unzählige Male verbeugt hat, lässt er sich von Thomas mit erhobenen Händen im Triumphzug in sein Zimmer zurückschieben.

Großvater ist in Höchstform. „Im Mittelalter“, sagt er zu Jana gewandt, „hielten die Mönche ihre Fleischeslust mit Hilfe des Mönchspfeffers im Zaum. Agnus Castus heißt der Pilz vornehm auf Latein. Ich brauche kein Agnus und keinen Castus mehr. Meine Stiefmutter sagte mir als Kind, ich solle immer die Hände über der Decke haben, nie darunter. Und manchmal, wenn ich doch so schlief, durchfuhr es mich: Jetzt habe ich schon wieder gesündigt. So war das damals.“

Thomas geht mit dem Spanier für eine weitere Zigarette nach draußen. Jana nutzt die Gelegenheit, um Großvater die unbezahlten Rechnungen unter die Augen zu reiben.

„Die meisten Männer wollen Geld sparen“, sagt er, „ich will es ausgeben. Nein, ausgeben ist das falsche Wort: zurückgeben. Mit siebzehn ging ich nach Paris. Dort machte ich meine Laborantenlehre. Mit zwanzig kehrte ich nach Hause zurück und kaufte das Paradies für ein Trinkgeld. Ich wurde Korporal in der Armee, ein elementarer Fehler. In der Uniform sieht ja jeder Mann aus wie der letzte Mensch. Hier, in diesem Spital diente ich mich hoch bis zum Cheflaboranten. Dann kam das Hotel, eine Episode. Den größten Teil meines Lebens habe ich in den Reben verbracht. Dazwischen ist dein Vater entstanden, Flo. Dazwischen kam der Traktor, kamen die Kreisel-, Scheiben- und Fadenmäher, verdichtete sich der Porenraum im Oberboden, gingen die Zwischenräume verloren, alles verknetet, verdichtet, kamen Klärschlamm und Schwermetalle. Verrückt, was sich im Laufe eines Lebens zusammenläppert, auch wenn man meint, es bestehe nur aus Wiederholungen. Verrückt, was dir alles durch den Kopf geht, wenn du den lieben langen Tag liegst. Das Kupfersulfat nahm den Regenwürmern den Schnauf, später die Pestizide. Die Schnecken reicherten Kadmium an. Der Boden ist nicht einfach Dreck, in dem ein paar Regen­würmer umherkriechen, da gibt es Wühler und Durchlüfter, Allrounder und Spezialisten.“

„Und jetzt bist du bankrott“, unterbricht ihn Jana sanft.

„Nicht bankrott“, unmarmt er sie, „nur traurig.“

„Bankrott und ein bisschen betrunken“, insistiert sie, „und ich bin ein bisschen böse.“

Er widerspricht nicht mehr. Eine Woche ist er nun schon da. Lange Weile ist ein unermesslich weiter Raum, stelle ich mir vor. Er liegt mittendrin – und noch ist alles möglich. Was taten wir früher den lieben langen Tag? Dabei waren wir und schauten zu – dem Staub, der in der Hütte tanzte, dem Gras, das wir zwischen den Rebstöcken wachsen hörten, den letzten Zügen der im Keller wirbelnden Waschmaschine, die sich laut Großvater erst öffnen ließ, wenn man ein Stück Marzipan gegessen hatte. Wir hatten eine Geheimsprache, die aus dreizehn Wörtern und drei Grimassen bestand. Heute weht ihn eine andere Langeweile an. Ob sie gestaltet und erfüllt oder ertragen, schlicht getragen sein will, scheint ihm nicht ganz klar.

„Der Alpsommer neigt sich dem Ende zu. Ich komme mir vor wie eine Flechte“, sagt er merklich ruhiger. „Ich zähle zum armseligsten Bauernvolk der Vegetation, das auf nacktem Gestein, auf Beton, Zäunen, Grabsteinen und Eternitdächern lebt, krustflächig, bartartig, manchmal ein bisschen gallertig. Flechten findest du dort, wo andere an ihre Grenzen kommen, in den unwirtlichsten Gegenden. Wenn es an Wasser oder Luftfeuchtigkeit fehlt, wechseln sie in eine leblose Trockenstarre. So liege ich jetzt da, klingeldürr, und warte auf meine Wiederbefeuchtung. Wer eine Woche lang keinen Wein trinkt, keine Schokolade isst und nur vernünftig lebt, verliert genau sieben Tage. Ich sehne mich nach einem Kartoffelstock mit Seelein.“

„Aber heute wurdest du tüchtig wiederbefeuchtet“, sage ich.

„Ja, Flo, danke für die Wache.“

Ein Assistenzarzt tritt ohne anzuklopfen ein und legt ihm eine Hand auf die Stirn, „ich will nicht stören, Sie werden ja noch ein paar Tage bleiben …“

„… Ich bin doch …“

„… Sie können sich im Zimmer bewegen, wir sehen uns morgen“, nickt er ihm zu und geht, bevor er richtig gekommen ist.

„In fremden Zimmern legt man sich immer zuerst aufs Bett und starrt an die Decke“, sagt Großvater. „Im Spital dauert dieser Zustand an. Irgendwann beginnt sich die Decke zu drehen und plötzlich tauchen ferne Tapeten auf. Darin schimmern die alten Geheimnisse, liegen die Gerüche von Liebe und Verlorenheit. Bin ich gestolpert? Auf den Kopf gefallen? Ich erinnere mich nicht. Wer hat die Feuerwehr alarmiert? Sie war sofort da, sagt man. Auf der Drehleiter kam ich langsam wieder zu mir. Als ich die Augen aufschlug, lag ich schon auf der Bahre. Es brauchte nur etwas frische Luft. Das bedeutet, dass ich noch etwas mehr frische Luft brauche, um mich an alles zu erinnern. Ab und zu habe ich scheußlich Kopfweh hier, wie noch nie in meinem Leben, und gestern war der rechte Arm völlig gefühllos. Ich konnte das Messer nicht mehr halten. Nach ein paar Minuten war der Spuk zum Glück vorbei.“

Eine dunkelhäutige Hilfsschwester stellt das Esstablett auf den Beistelltisch. „Haben wir Hunger?“, fragt sie strahlend. Jana legt Großvater den Zeigefinger auf den Mund, damit er sich ja nicht verrät.

„Was war wirklich los?“, fragt er, als die Schwester ge­gangen ist. „Niemand will mir das sagen. Schneider war zweimal da. Er redet ständig von dieser Kaffeemaschine. Das ist doch Mumpitz.“

Janas Gesichtsausdruck bleibt unverändert. „Du musst essen“, sagt sie, „damit du etwas wirst.“

Es ist der Moment, zu gehen. Großvater schaut mich lange an und drückt mir kräftig die Hand. „Wenn einer in bestimmten Situationen ach herrjemine zu seufzen beginnt, fängt er an zu altern, zumindest im Kopf“, sagt er. „Entschuldigung, ihr Lieben, lebt wohl.“ Ich habe knapp zwei Sätze mit ihm gewechselt.

Ein gelb gefleckter schwarzer Feuersalamander windet sich über den Parkplatz. Kaum zu glauben, dass ein derart urtümliches, unbeholfenes Viech sich in die Gegenwart hat retten können.

Jana fährt Thomas und mich ins Hotel zurück. Die beiden unterhalten sich vorne über ihre Musikidole. Mir fällt ein, dass ich als Kind das Rauschen und Zischen von Großvaters Plattenspieler, das Schlingern der Schallplatten immer mit dem Wetter verband, als ob Wind und Fluss mitgesungen hätten. Jana schwärmt von Jimmi Hendrix und Buzz Aldrin. Liebt sie Großvater heute weniger als damals im Badehaus? Um nicht halbherzig stecken zu bleiben, haben sie sich getrennt, auch wenn ein Sohn zwischen ihnen stand. Jana holte alle ihre Sachen und kehrte nur noch selten zurück. Sie setzte Großvater nicht unter Druck. Keiner musste sich vor dem andern klein machen. Das Leben blieb intakt. Und der Bub, Vater, hatte sein Zimmer im Badehaus, wenn er kam, ja, eine ganze Etage. Um ihn glaubte Großvater sich keine Sorgen machen zu müssen. Man kann nicht einfach das Herz seinem Sohn schenken, wenn man es einmal jemand anders geschenkt hatte, dachte er vielleicht. Erst mich ließ er zu sich kommen. Großvater war dankbar für die Gnade dieser zweiten Chance. So war es doch?

Ben zeichnet im Gehege mit wasserfestem Filzstift die Nummern auf den Häuschen der Schnecken nach. Seine Haare sind schwarzverweht mit ersten weißen Einsprengseln. Ein ewiger Student. Ein Muttersöhnchen. Ich bin froh, dass wir ihn nicht ins Spital mitgenommen haben.

Keine Traubenlese an diesem späten Donnerstag. Ich schäme mich für mein Stummsein. Im Stillen habe ich gehofft, Großvater würde sich mir zuwenden. Oder fühle ich mich einfach übersehen, weil ich an diesem Degustationsritual teilnahm, ohne dazuzugehören?

Mit Ben im Schlepptau inspiziere ich den Kühlschrank im Badehaus. Die Resten vom Fest sind weg. Jana hat gründlich geputzt. Bei den verbliebenen noch brauchbaren Esswaren außer dem Gemüse ist das Verfalldatum bald erreicht.

„Kannst du kochen?“, frage ich.

„Ich dachte, du müsstest daheim in der Stube essen?“

„Hier war früher auch daheim.“

Ben greift zum Rüstmesser, hackt die Zwiebeln, die ich bereit lege, und schneidet den Lauch, während er ununterbrochen plappert. Ich möchte mein Herz ausschütten und werde die Vorstellung eines Spüleimers, der sich über den Boden ergießt, nicht los.

„Wir müssen uns von der diktierten in unsere eigene Zeit bewegen“, sagt er, füllt eine Kaffeetasse zu zwei Dritteln mit Senf, den Rest mit Arschpflaumenkonfitüre, Erdnussbutter, Essig und rührt alles zur Salatsauce. Ich werfe einen Beutel Studentenfutter in den Salat. Er stopft den von Stephan spendierten Dorsch mit Greyerzerkäse und Oliven. Ich garniere mit Arschpflaumen. „Ohne dich könnte ich das nicht“, staunt er, „du bist so anregend. Wie gehts deinem Großvater?“

„Er ist ganz fröhlich. Aber er gibt zu tun.“

„Auch dir?“

„Mehr als mir lieb ist.“

Ben begeistert sich für alles, für die Trauben, die Schnecken, die Gläser, von denen Renée ihm vorgeschwärmt hat. „Eine solche Erfindung ist Gold wert“, sagt er mit einem verständnissinnigen Lächeln, „darauf hat die Fachwelt lange gewartet.“

Ich decke den Küchentisch. Drüben im Hotel wird die Miss Wellness gekürt, der Mister Fitness. Bestimmt sind der Riese und die Qualle in der engsten Wahl. Bestimmt lässt sich Thomas volllaufen.

Während des Essens doziert Ben über das Kunststück Ehe. „Manchmal fällt einem beim besten Willen kein einziges Paar ein, das miteinander glücklich wirkt. Auf der ganzen Welt ist es das Gleiche. Der Kampf hört nie auf. Hast du Eier rein getan, fragt sie, nein, sagt er, schon falsch, hast du kein Fleisch, nein, aha … Alle sagen doch, man müsse aus der eigenen Geschichte lernen. Aber dann, wenn es passiert …“

Ich habe Lust, die Augen zu schließen, den Rücken an eine warme Mauer zu lehnen, Laub auf meinen Körper zu legen, zu spielen, wir wären Indianer, bevor die Europäer kamen.

„Führ mich durchs Haus“, sagt er, „alte Häuser faszinieren mich.“

Ich gehe mit ihm durch alle Räume, bis auf den Keller. Er will ihn unbedingt sehen.

„Es hat noch kein Licht“, sage ich und unterschlage die Stablampe. „Später einmal, tagsüber.“

Auf dem Kachelofen klappe ich Großvaters Atlas auf. Ben zeigt auf seinen Geburtsort am Rand der Wüste, „ein Ruinenfeld voller Schatten und Eidechsen. „Ich will nicht mehr nach Hause, Flo.“

„Spielen wir etwas?“

„Was?“

„Eile mit Weile, Monopoly, Leiterspiel, irgendwas.“

„Ach, Flo, plag mich nicht mit Würfeln. Das Leben ist schon Spiel genug.“

„Dann schauen wir alte Fotos an.“

Sein Gesichtsausdruck genügt. „In den Erinnerungen ist man immer klüger“, sagt er. „Als ich anfing, mich täglich zu duschen, mir jeden Morgen eine frische Unterhose an­zuziehen, als ich meinen ersten Fotoapparat kaufte, mit dreizehn, von da an hörte ich auf, mein Freund zu sein. Da ging etwas verloren. Ich schaue mir keine alten Fotos mehr an. Sie erinnern an das Vergehen der Zeit. Du findest etwas gut, weißt aber gleichzeitig, dass du es nie mehr so machen kannst, weil du an einem andern Punkt bist. Als ob du in einem Raumschiff sitzt und an einem Planeten vorbeischwebst.“

„Dazu kann man doch stehen. Deswegen ist die Zeit nicht verloren.“

„Meine frühe Jugend war ein einziger Horror, basta.“

Ich kann ihm nicht folgen, fühle mich bloß geschulmeistert. Der Kachelofen knackt. Sitze ich auf einem abgestorbenen Ast?

„Ich bin müde“, sage ich, „möchte schlafen. Danke, Ben, du machst dich fürchterlicher als du bist.“

IX

Schneider hat kurz nach dreizehn Uhr geklingelt, als ich mich gerade umzog. Jetzt sitzen wir seit bald zwei Stunden in der Lobby und füllen ab und zu die Kaffeetassen nach. Immerhin bleibt mir so der freitägliche Triathlon erspart – und Mutters hektisches Getue vor der Vernissage.

Der Brandermittler ist nicht zufrieden mit mir, murrt, dass ich ihn abwimmle, beharrt darauf, dass man immer alle Angaben überprüfen muss. Das Leiernde in seinem Ton treibt mich zur Weißglut. Es scheint ihm Vergnügen zu bereiten, mit seinen Dienstvorschriften vor meinen Augen herumzufuchteln: Ich tue nur meine Pflicht, ich habe die Regeln nicht erfunden. Noch ehe ich eine Frage beantwortet habe, stellt er mir die nächste – wie es um den Heizungskessel stand, um die Tiefkühltruhe, was auf den Kellerregalen noch alles lag, vielleicht auch alte Pneus? Ob ich mir vorstellen kann, dass jemand versucht hat, im Keller Beweise zu vernichten? Dass Großvater es sogar selbst getan hat und sich vielleicht gar umbringen wollte, ein alter, ruinierter Mann?

„Großvater ruiniert?“ Ich lache laut heraus. „Den bringt nichts um, schon gar nicht er sich selbst. Sobald er draußen ist, wird er dem Fall persönlich nachgehen, darauf kannst du Gift nehmen. Also beeil dich. Es gab Verfahrensfehler, hast du selbst zugegeben. Die Spurensuche wurde zu spät aufgenommen.“

Und wie es mit mir ist, bohrt Schneider weiter, ohne auf meine Einwände einzugehen, wann ich schlafe, wenn ich nicht feste, und was ich nachts überhaupt so treibe. Ich betrachte sein Gesicht mit einem Gefühl der Ermattung. Ich lese darin die Vergeblichkeit allen Spürens – und noch etwas anderes, das ihn bis zur Kenntlichkeit entstellt. Bin ich zu weit gegangen, draußen unter dem Mond? Ich bin auf der Hut, Schneider. Bei Tag sieht alles anders aus.

Clara stolziert in neuen, viel zu engen Schuhen durch die Lobby, schwarzen, spitzen Pumps. Ihre Waden wirken verkrampft und die Verkrampftheit macht mich für sie verlegen. Ich achte darauf, dass sich unsere Blicke nicht begegnen. Das dauernde Ausweichen erschöpft mich zusätzlich. Schneider lässt sich nicht einschüchtern. Er ist allen Spuren systematisch nachgegangen, hat die Verkohlungsgrade minutiös ermittelt, Verformungen, Anlauffarben, Abplatzungen, das hat er Großvater persönlich erläutert – die Zehrungen an den Holzrosten, die Narbentiefe in der Ecke beim Bettgestell, die Rauchgasanhaftungen bei den hinteren Kellerfenstern, die verkohlte Kaffeemaschine …

Ein Julio-Iglesias-Typ mit schwarz gefärbtem Haar stürzt durch die Glastür an die Rezeption. Er lächelt auf alle Seiten und lässt die Augen blitzen. Der Nachmittag kommt mir wie eine einzige große Fälschung vor. „Du zählst nur Brandspuren auf, aber wie es zum Brand kam, ist doch die Frage“, sage ich.

Unter dem Bett müsse eine Art Lager gewesen sein, meint er, ein Sammelsurium von Gegenständen, unter anderem eine Pfanne. Die Anlaufspuren wiesen darauf hin, dass dort jemand den Brand gelegt haben könnte. Man leere den Alkohol eines Glases in die Pfanne, gebe einen Lappen drein, ein Zündholz drauf. Die Matratze darüber wäre ein idealer Zunder gewesen. Zwanzig, dreißig Sekunden und alles steht in Flammen. Dann verschwindet man durch den Hinterausgang. Der Fluss schluckt jedes Geräusch. So einfach ist das – und so schwierig für den armen Schneider. In wenigen Augenblicken erfasst das Feuer die Gläser, es knallt und frisst alle Täterspuren auf. Man achte auf die Abplatzungen an der Decke, der Keller sei förmlich explodiert. Das tiefste Niveau des Brandes war beim Liegebett, darauf fokussiert Schneider sich jetzt seit einer Woche. Und Großvater erweist sich als nicht sehr hilfreich, so wenig wie seine Frauen – ich inklusive. Also werten Schneiders Leute Brandschuttproben aus und stellen dem Kantonalen Laboratorium den Schutt in luftdichten Alusäcken zu. Ich kann mich kaum mehr beherrschen. Schneider stiehlt mir einen halben Ferientag. Wir bewegen uns nicht vom Fleck.

An der Rezeption setzt Clara ihren honigsüßen Blick auf. Sie behandelt den Hotelprospekt wie ein Kunstwerk. Der Julio-Iglesias-Typ nimmt ihn mit offenem Mund entgegen, als wolle er ihn abschlecken.

„Wenn ich Brandermittlerin wäre, würde ich mich nicht so ausschließlich auf den Brandherd konzentrieren, sondern das ganze Haus absuchen, die Umgebung“, sage ich und verfluche mich sogleich, dass ich etwas sage. Es kostet mich bestimmt eine weitere Viertelstunde.

Die Umgebung hat man gemäß Schneider natürlich umgehend durchkämmt, alle Eingänge, alle Ausfallwege, den Garten, den Auenwald, nichts zu machen, keine Werkzeuge, keine Brandlegungsmittel, keine zurückgelassenen Gegenstände. Schuh- und Reifenspuren kann man bei diesem Durcheinander ohnehin vergessen, meint der Brandermittler. Aber man kann immer noch auf Spuren vom Brandort am Täter oder Verursacher hoffen, versengte Haare, angebrannte Kleidung, Brandverletzungen, Tatortmaterialien in und an der Kleidung. Und dabei mustert er mich vom Scheitel bis zur Sohle mit seinem wichtigen Gesicht.

„Auf der Flucht verlorene Gegenstände“, versuche ich seinen Blick von mir zu lösen.

„Ja, die Zeit arbeitet nicht für uns, aber manchmal hilft der Zufall.“

Schneider steht auf. Eigentlich hat er einen geradezu idyllischen Beruf. Kaffee trinken und plaudern, während im Labor Brandschutt analysiert wird. Kein Wunder, ist er der beste Speerwerfer weit und breit. Er kann seine Kräfte auf sein liebstes Hobby konzentrieren. Ich mag dich ja, Schneider, aber bitte übertreibs nicht. Ich bin so dünn und schwach.

Die Falle schnappt zu, kaum ist Schneider draußen. Mutter ist das reinste Nervenbündel. Sie jagt mich von einer Ecke in die andere. Und ich tue alles, um ihr zu genügen, halte die Bilder an die Wand, „ein bisschen tiefer, links, rechts“, beruhige, tröste, umarme sie. Es nützt nichts. Löcher in der Wand, Mörtel am Boden zeugen von den Gravitationskräften in der Halle. Schwere Zeiten – und in vierundzwanzig Stunden ist Vernissage.

„Wie spät ist es, Flo?“

„Bald fünf.“

„Unmöglich.“

„Soll ich dir etwas zu essen holen?“

„Nein, aber … die Rahmen.“

„Was?“

„Sie müssen noch poliert werden.“

„Mach ich, mach ich. Wo ist die Politur?“

„Auf dem Sims? … Die Preisliste, Flo, die roten Punkte. Kannst du morgen in der Papeterie rote Punkte besorgen?“

„Was fehlt sonst noch?“

„Ich habe Schmerzen … da! … und da!“ Sie zeigt auf Kopf und Rücken.

„Geh zu Gaby.“

„Keine Zeit. Halt mal das da! Nein, tiefer. So ist nicht übel, oder, sag doch was.“

So geht es jedes Mal.

„Der Apéro“, sagt Mutter, „ich muss Stephan unbedingt daran erinnern, dass er sich um die Vegetarier kümmert.“

„Ja, Mutter, ja.“

„Und du holst die Punkte?“

„Mach dir keine Sorgen.“

Ich suche krampfhaft nach einer Möglichkeit, mich zu verziehen. Thomas kann ich unmöglich aus seiner Bude holen. Er würde sich krumm lachen oder vor den Bildern einschlafen.

„Ich brauche andere Nägel, verchromte, ich glaube, die hats im Jumbo.“

Mutter zückt ihre Kreditkarte. Ich kneife die Pobacken zusammen. Nur nie malen!

„Sieht toll aus“, sagt Ben. Hat er mich erhört? Mutter errötet. Ich traue meinen Augen nicht.

„Der Schmetterling auf der Sonnenblume ist das Tüpfel­chen auf dem i.“ Er trägt einen hellen Anzug und redet wie der perfekte Schwiegersohn. „Ist das ein Weidenkorb? Wunderbar!“

Mutter ist überwältigt. Ben steht vor einer Meisterin. Er begeistert sich für Farben, Pinsel, Pastelltöne, referiert über Klee, Gauguin, Picasso und fällt über Happenings und Installationen her, die ihn anöden. „Das hier ist authentisch!“

Am besten nimmst du die Leute wie du bist, denke ich. Der Seidenschal an Mutters Hals bauscht sich. Jetzt nur nicht weinen, nicht sentimental werden, sonst zerfließen die Farben.

„Möchten Sie mein Atelier sehen?“

„Oh, ja.“

Pling, plong. Plötzlich hat sie Zeit.

„Wenn Sie wüssten, wie viele Stunden ich mit diesen Bildern verbracht habe. Ich bin übrigens Vera.“

„Ben. Sehr erfreut.“

Ich zähle im Speisesaal Zahnstocher und Zuckerstreuer und warte auf Irène. Den Gesichtern der Qualle und des Riesen nach, die an einem Fenstertisch hocken, sind die beiden im hintersten Teil der Triathlon-Rangliste zu orten. Ich erspare ihnen schmerzliche Details, erfahre stattdessen zu meiner Verwunderung, dass die Qualle Lehrer ist, der Riese Zahnarzt, erfahre eine Unmenge amüsanter Details, über Intrigen in Zahnarztpraxen, Kleiderordnungen an deutschen Schulen, die Höhe von Zuckerstreuern. Als meine Miene zunehmend frostiger wird, besitzen sie das Taktgefühl, nicht auch noch die Salzstreuer ins Spiel zu bringen. Ich verabschiede mich in aller Form. „Nein, zur Abschiedsparty kann ich nicht kommen. Ich darf an ein Konzert.“

Ja, sollen sie nächsten Herbst ruhig wieder hereinspazieren. Dann bin ich bestimmt nicht mehr da. Welcome, boys, clap your hands.

In einer Saalecke ist eine jüngere Frau dabei, Zuckersachets in ihrer Handtasche zu verstauen. Der kleine, halb legale Akt erregt sie. Irène sollte seit einer Viertelstunde da sein. Ich befeuchte meinen Finger mit Spucke und klaube, angesteckt durch die Frau, die auf dem Tisch herumliegenden Zuckerkörner auf. Dazwischen frage ich mich, ob es in der Liebe so etwas wie Altersanhänglichkeit gibt, von der ich noch nichts verstehen kann, eine Unbeholfenheit, vor der auch gebildete Menschen nicht gefeit sind. Innerlich überschütte ich Großvater und seine Frauen mit Hohn. Als ich mit meinen klebrigen Fingern die Stirn berühre, spüre ich meine Pickel. Ich müsste zum Hausarzt. Er würde mich fragen, ob ich Stress habe. Ja, würde ich sagen, ich bin richtig ermattet. Mein Stress besteht darin, dass ich nicht schlau aus mir werde. Er würde sich nicht auf ein Gespräch einlassen, nur nicken und zu meiner Entlastung noch kurz von neuartigen Umwelteinflüssen reden, bevor er mir eine Salbe verschriebe.

Endlich stürmt Irène in den Saal. „Ich bin bei einer Blockflötengruppe eingesprungen“, entschuldigt sie sich. „Zur Zeit repetieren wir ein Rondo von Telemann und eine Sonate von Alessandro Marcello. Die Leute üben zu wenig. Eine halbe Stunde Blockflöte pro Tag ist das Minimum. Das Atmen, die Intonation, das Gefühl für den Rhythmus. Ich will mit denen nicht irgendwelche Liedlein spielen.“

Irène fährt so Auto, wie sie redet. Vor ihrer Wohnung reiben sich die Pneus am Trottoir. Sie nimmt zwei Treppen­stufen aufs Mal und schubst mich über die Schwelle. Ihre Designerküche stammt von Bulthaupt. Den Namen habe ich noch nie gehört. Aber mir ist klar: So wohnt ein privilegierter Mensch. „Ich habe am 1. August Geburtstag“, sagt sie. „Lange dachte ich, die ganze Stadt feiere mit, wenn das Feuerwerk losging.“ Sie spürt, dass ich meinen Augen nicht traue. Die Unordnung überall passt nicht zum Ambiente. „Meine Eltern haben mir diese Wohnung vermacht“, sagt sie, „samt Alarmanlage. Sie sorgen sich sehr um meine Sicherheit.“ Sie lacht. „Vater würde mir auch einen hochgelagerten Geländewagen kaufen. Er liebt Offroader. Immerhin bin ich noch nicht beim Psychiater gelandet. Weißt du, manchmal fühle ich mich ein bisschen beschissen hier.“ Sie lotst mich auf den Balkon. „Ich bestand die Matur nach zweimaligem Sitzenbleiben und entschied mich für das Einzige, was ich konnte: Musik. Und dort bin ich dann auch sitzen geblieben. Zwei Semester lang war das lustig. Danach jobbte ich in einer Galerie, reiste durch die Welt und arbeitete als Haarmodel. Daneben lebte ich in den Fußstapfen meiner Eltern. Vater unterstützt mich bis zum Nimmerleinstag. Ich hatte Freunde aus meinem Milieu. Wir ergänzten uns bestens und langweilten uns zu Tode.“ Sie bietet mir Sprüngli-Truffes als Appetit­anreger an. „Mein letzter Freund brachte zwei Kinder mit, die gleichen Nervensägen wie ihr ehrgeiziger und erfolgreicher Vater. Dauernd standen die Kerzenleuchter am falschen Ort, war das Lammfilet zu lang im Steamer, gab er mir ohne Worte zu verstehen, dass ich als Gastgeberin versagte. Was ist so schlimm daran, wenn man zwei goldene Kreditkarten und viel freie Zeit besitzt, um sinnlos Geld auszugeben, hat er mich einmal vor versammelter Runde gefragt. Ich bin rot angelaufen und habe mich am nächsten Tag mit dem Kauf eines Chanel-Kleids für dreieinhalbtausend Franken gerächt. Vordergründig heuchelst du Verständnis, hintenherum ergreifst du jede Gelegenheit, um dem andern eins auszuwischen. Du chauffierst die Kinder ins Ballett, in die Geigenstunde, in den Nachhilfeunterricht. Daneben ist es totenstill. Du verdöst den Tag und blätterst Modehefte durch. Und steht einmal ein Kindergeburtstag an, wird er rasch zum Supergau. Am Sonntagmorgen spielst du willige Geliebte. Nachher wechselst du die Bettwäsche. Ich bin noch nicht über den Berg, Flo. Aber seit ich Schneck kenne, genieße ich meine Unordnung wieder. Ich frühstücke ungekämmt und trage gewöhnliche Wanderschuhe. Und ich bin die zweitälteste Studentin an der Musikakademie – und verdiene mein Studium mit Unterricht.“

Ich muss dringend aufs Klo. Das fahle Licht dringt durch die Leinenvorhänge und erhellt Irènes Parfümsammlung. Die Toilettenspülung ist zu laut für diese Wohnung, denke ich. Es bereitet mir Vergnügen, kleine Mängel zu entdecken. Das Waschbecken hat einen Fadenriss. Der Duschvorhang verdeckt die Kalkflecken an der Brause mehr schlecht als recht. Mein Bild von Irène zerfällt in ein helles Oben und ein dunkles Unten. Die vielen Salben sind der Beweis, dass sie Angst hat, nicht mehr begehrenswert zu erscheinen. Darum ist sie manchmal auch so überdreht. Mit einem fast zärtlichen Handgriff ob dieser Erkenntnis bediene ich den Seifenspender. Vor meinen Augen verwandelt sich Irène von einem kleinen Monster in einen Menschen. Das verschafft mir ein kurzes, heftiges Gefühl von Freiheit. Auf dem Boden suche ich nach weiteren Spuren von Unvollkommenheit und fühle mich sofort wieder schwächer. Wie viel Großvaters Frauen voneinander wissen? Gibt es je Auseinandersetzungen? Begegnen sie sich im Badezimmer?

Als ich ins Wohnzimmer trete, ist der Tisch gedeckt. Irène hat einen Risotto mit Meeresfrüchten gekocht. Ich staune über ihre Vorbereitung. Wieder habe ich mich getäuscht. Viel Zeit bleibt uns nicht vor dem Konzert. Wir sind gleich groß und fühlen uns beide mittelmäßig. Ein seltsames Gefühl von Dankbarkeit ergreift mich. Jetzt, da ich weiß, wie es bei ihr aussieht, kommt sie mir trotz ihrer Unordnung viel ordentlicher vor. Sie erreicht nicht viel, aber sie versuchts. Ihr Leben erzeugt Erschöpfung, wie meines auch.

Das Münster ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich verstehe nichts von Bach, aber ich verstehe, dass Großvater und Irène von dieser Musik ergriffen werden. Ich sehe Großvater mit den Augen zwinkern, dann kullern die Tränen ungehemmt. Der Grund liegt in einer glücklichen Verstörung, stelle ich mir vor. Die Musik verstärkt die Liebe und schützt sie zugleich. In Bachs Gefühlsüberschwang können sich die Liebenden ganz natürlich austoben. Ich möchte auch weinen können. Stattdessen bin ich nur verstimmt. Irène hingegen ist nach dem Konzert ganz aufgedreht. Sie sagt, wie gut sie mit Großvater über Musik reden kann (da haben wirs, denke ich), nicht so hochgestochen wie in der Akademie. Sie hakt sich bei mir unter. „Ich würde ihn auf der Stelle heiraten“, sagt sie. „Wir müssten nicht zusammenziehen, ich habe auch keine Torschlusspanik. Er ist der erste Mann, bei dem ich mir so etwas vorstellen kann.“

Ich flüchte mich in den Spott und nenne das Ganze für mich Verblendung und Geschmacklosigkeit. „Du bist so still“, sagt Irène. „Ich bin bei der Musik“, flunkere ich. „Sie hat mich voll aus der Kurve getragen.“ Bin ich an diesem Abend wieder einen Hauch bitterer geworden? Sollte ich nicht besser jeden Ausgang meiden? Oder sollte ich umgekehrt nur noch ausgehen, um mich voll ins Leben zu stoßen? Irène fährt mich nach Hause. Ich ärgere mich, dass ich für sie auf der Heimfahrt so etwas wie Zärtlichkeit empfinde. Sie springt von Bach zu Mozart, von Mozart zu Brahms, Schubert und Schuhmann. Meine Musikverlassenheit wächst. Ab und zu stimme ich ihr lebhaft zu, wie eine kleinere Schwester, die Punkt für Punkt ihr älteres Vorbild nachahmt. „Es war schön mir dir“, sagt Irène vor dem Hotel, „das wiederholen wir möglichst bald, oder?“ „Ja, Bach ist tatsächlich der Hammer“, sage ich und rechne es ihr hoch an, dass sie das Unrecht, das ich Bach mit diesem Satz antue, nicht kommentiert. Sie küsst mich, fährt los und lässt mich winkend zurück. Irène ist für Großvater anders wichtig als Jana oder Renée, denke ich auf dem Weg in meine Mansarde, sie ist das vollkommene Gegenteil von Renée, laut und in ihren Beziehungen gescheitert. Sie lebt in einer anderen Welt. Mit ihr kann er über Bach reden. Vor allem kann er mit ihr Bach hören. Schneider kommt mir in den Sinn. Zusammen Musik hören kann rasch intim werden, unkontrollierbar, wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Ich bin nicht mehr erstaunt, dass ausgerechnet Irène Großvater zu so schönen Erfahrungen verhilft. Sogar den Weltuntergang kann ich mir mit gemeinsam gehörter Lieblingsmusik erträglich vorstellen.

In der Mansarde sinke ich aufs Bett und strecke die Füße Richtung Decke.