DSCHUNGELFIEBER UND WÜSTENK OLLER
ABENTEUER WEST- UND ZENTRALAFRIKA
Ein Afrika-Buch, das einen tiefen Blick hinter die Kulissen ermöglicht: Nirgends prallt Moderne so erbarmungslos auf ethnische Traditionen wie hier.
Abenteuer Afrika: Wolf-Ulrich Cropp reist in den Dschungel und durch die Wüste, er trifft auf fremde Völker und Kulturen, auf Kindersoldaten und Rebellen. Er erlebt Waldelefanten und Gorillas, unberechenbare Urnatur und brodelnde Metropolen.
Ein spannender Bericht über einen ungewöhnlichen Roadtrip, bei dem sich der Autor mutig in extreme Situationen wagt und faszinierende Einblicke gewinnt!
1. Auflage 2015
© 2015 DuMont Reiseverlag, Ostfildern
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Herburg Weiland, München
Titelfoto: Getty Images, München, Cultura Travel, Philip Lee Harvey
Kartografie: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie
eISBN 978-3-7701-9981-5
www.dumontreise.de
INHALT
Prolog
GABUN
Libreville
Eine Jacke für Jasmin
Befreite Sklaven und eine Hochzeit
Lambaréné
Albert Schweitzer
Die Leprastation
Hospital I
Der Ophtalmologe
Petit Loango
Das Phänomen von Oklo
KAMERUN I
In der Stadt der Verdrossenen: Douala
Buea und die Kolonialgeschichte
Ins Rotlichtviertel geraten
Auf nach Yaoundé
Aufbruch in den wilden Osten
Das Dzanga-Sangha-Projekt
Dem Silberrücken auf der Spur
Paradies und Drama an den Salinen
Wo der weiße Pygmäe wohnt
Eine ungeahnte Wende
Leben wie in der Steinzeit
Der Dschungel: Küche und Apotheke
Das große Jagen
Ein trauriges Ereignis
Ein Angriff
Ein tückischer Honigbaum
Auf dem Fluss Sangha
KONGO-BRAZZ (REPUBLIK KONGO)
Ouesso
Brazzaville
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO
Kinshasa
Machtkämpfe: von Lumumba bis Kabila
Lola Ya Bonobo
Auf dem Kongo
Nkrombe und die Kindersoldaten
Wieder auf dem Fluss
KAMERUN II
Im Grasland
König Abumby II.
Foumban im Rausch
Ein Haus in Afrika
TSCHAD
N’Djamena
Im Land der Tubu
Wo die Sahara am schönsten ist
Eine Entdeckung
Fahrt in die Todeszone
Ein Seemirakel
Dank
Literatur
Über den Autor
Weitere E-Books der Reihe
Prolog
Anlässe gab es genug für eine lange geplante Afrikareise: Endlich einmal die einstige Wirkungsstätte Albert Schweitzers in Lambaréné besuchen. (Als kleiner Junge hatte ich den ›Urwalddoktor‹ im Haus meines Großvaters kennenlernen dürfen.) Mit Naturkundlern und Forschern ergab sich die Möglichkeit, in den Regenwald einzutauchen. Pygmäen, Waldelefanten, Gorillas zu erleben. Eine Einladung nach Foumban stellte das spektakuläre Nguon-Fest in Aussicht. Mit einer Expedition sollte es in die kaum bekannte Sahara des nördlichen Tschad gehen. Verlockungen genug also, um mich im Juni 2013 auf eine Reise durch fünf Länder zu begeben. Länder, die uns immer noch fremd, unheimlich, geheimnisvoll erscheinen. Es war eine Reise, die Einblicke in Schönheit, in erhabene, aber auch geschundene Natur bot, mich liebenswerte, hilfsbereite Menschen, jedoch mitunter auch Chaos und Brutalität kennenlernen ließ. Bisweilen beschlich mich das Gefühl, in Afrika ginge die Zeit rückwärts. Aber nein, sie geht nicht rückwärts, sie geht anders! Nicht unserer Vorstellung entsprechend. Die relativ jungen Staaten durchleben einen Findungsprozess, der nicht nach unseren Wünschen verläuft. Und das irritiert, weil wir vergessen haben, wie lange es gedauert, wie viel Leid und Schmerzen es gekostet hat, bis Europa einst zu sich gefunden hatte.
Auf der Reise auf ›heißen Pfaden‹ und über viele Tausend Kilometer durch Afrika waren die Zufallsbekanntschaften das besonders Erfreuliche. Sie machten nachdenklich, bereicherten, trugen zum Verstehen bei. Ohne sie hätte ich nie Pygmäen, BaAka, in ihrem Jagdlager erleben können. Eine Flussfahrt auf dem Kongo wäre nicht möglich gewesen. Wahrscheinlich wüsste ich bis heute nicht, dass Bonobos unsere nächsten Verwandten sind. Dem Problem ›Kindersoldaten‹ wäre ich nicht nähergekommen. Vieles mehr hätte ich nicht erfahren: Menschen, die selbst in Metropolen von einer Geister- und Dämonenwelt beeinflusst werden und sich von Wunderheilern kurieren lassen. Nie wäre mir die Bedeutung mittelalterlich geführter Königreiche klar geworden … Und dann die faszinierende Wüste, die Geheimnisse birgt und doch so viel offenbart: den Beginn der Kultur, die Wanderung der frühen Menschheit hinaus in andere Kontinente. Nicht zu vergessen, wie die Wüste auf das Individuum wirkt. Eine Nacht allein, im Sand, vom Lager abgeschnitten, erfüllte mich mit tiefer Demut.
Ja, ich möchte mich wieder aufmachen – in ferne Länder!
Hamburg, im kalten, nebligen Januar, der dazu anregt, die großartige Zeit in Afrika wachzurufen.
Wolf-Ulrich Cropp
GABUN
Libreville
EINE JACKE FÜR JASMIN
Nachmittag. Das Rauschen brechender Wellen treibt mich aus dem Verschlag, der sich Hotelzimmer nennt. Kahl wie eine Einzelzelle ist das Loch. Eine Neonröhre flackert in den letzten Zügen. Ein winziges Fenster, mehr eine Schießscharte, vergittert und verriegelt, soll wohl vor Ein- und Ausbrechern schützen. An der Decke ein Ventilator, der sich längst totgedreht hat. Und eine Menge Krabbeltiere, die beim Eintreten in Ritzen huschen. Aber der Name der Herberge gefällt mir sehr: Tropicana. Und die Lage ist fantastisch: kaum einen Kilometer nordwestlich vom Flughafen, direkt an Strand und Atlantik gelegen, von Kokospalmen umrahmt.
Am liebsten reise ich ›low budget‹, halte es wie Gandhi, der gefragt wurde: »Warum fahren Sie stets dritter Klasse?« – »Weil es keine vierte gibt!« Es ist schon so, der Alte wusste, wo die besten Storys schlummern.
Ich habe mein Paradies gefunden. Ein Pelikan schwebt über die See, wie eine große weiße Feder, ohne Flügelschlag. Es ist Juni. Der Äquator verläuft fünfzig Kilometer südlich. Mich wundert die Kühle, die Stärke der Brise. Ich steige über Baumstämme, die das Meer hierhergetrieben hat. Wate durch weichen, weißen Sand. Überall Treibgut. Ein Containerschiff stampft gen Norden. Die geschwungene Küstenlinie verliert sich im Dunst. Links Häuser hinter hohen Mauern, mit Glasscherben gespickt; rechts Gestühl im Sand. Afrikaner palavern beim Bier. Frauen wiegen Hüften zu Klängen aus Gettoblastern. Alles abwerfen, sich in die Brandung stürzen, von Wogen tragen lassen – ist eins. Herrlich und erfrischend ist das Meer am Cap Santa Clara.
Ja, ich bin angekommen – in Afrika! Es ist kaum eine Stunde her. Eine lange Reise durch den Schwarzen Erdteil liegt vor mir, und ich will das Tropicana genießen, möchte die Erinnerung an das ›Paradies‹ mitnehmen. Als Wegzehrung für Ungemach oder weniger heitere Stunden. Schaumgekrönte Wellen brechen in dumpfem Donner. Um unversehrt durch die Brandung zu schwimmen, muss man die hohen Brecher durchtauchen. Jenseits ist es ruhig, schön, man fühlt sich frei, wie die drei Möwen, die sich gerade schreiend gegen eine Bö werfen. Fern am Ufer rollen die Wellen mit einem letzten zischenden Kuss auf dem Sand aus. Hier draußen bin ich allein. Die wenigen badenden Afrikaner planschen in Ufernähe. Hat das etwas zu bedeuten? Grundseen sind tückisch, bisweilen unheimlich stark. Ein Tor, der glaubt, Freiheit berge keine Gefahr!
Abgekämpft und erschöpft wie selten, lasse ich mich im Vorgarten des Tropicana nieder. Der Atlantik rauscht wie eh und je. Wellen rollen heran, mit gleichförmigem Getöse, unschuldig, hinterhältig. Nein, mahnend, man muss nur hinhören. Als der Kellner erscheint, bestelle ich ein Régab, eine Flasche lokales Bier. Ein feister, bleicher Weißer schleppt sich heran. Bleibt schnaufend stehen. Seine Augen suchen einen geeigneten Platz. Trotz der Kühle stehen Schweißperlen auf seiner Stirn, die er mit einem handtuchgroßen Lappen abwischt. Nun steuert er auf meinen Tisch zu. Der ist blau, rund und groß. Ausgelegt für eine afrikanische Familie mit vierzehn Personen und stabil, in Beton gegossen.
Ohne zu fragen lässt sich der Fettsack neben mir fallen. Wieder wischt er Schweiß. Wir beobachten uns aus den Augenwinkeln.
»Ces noires, die haben nur Musik im Kopf!«, stößt er vorwurfsvoll aus. Jetzt erst nehme ich die Raver am Strand, mit den Füßen im Wasser, wahr. Sie dröhnen sich mit einem Technosound zu, der es in sich hat. Aus der Buschkneipe tänzeln Frauen und Mädchen heraus. Brüste und Hüften zucken, als erhielten sie fortwährend Stromstöße.
»Pardon, Jacques Boulet, aus Lyon«, stellt sich der Wanst vor. Wir blinzeln in die untergehende Sonne und schweigen. Bis der Franzose meint: »A la bonheur!« Ich kapiere und grinse verlegen. »Nicht alle kommen zurück, die hinter die Brandung schwimmen. Ich habe Sie beobachtet.«
»Sie sind lustig, hätten mich einfach absaufen lassen?«
»Wir sollten uns nicht so wichtig nehmen. Im Golf von Guinea sind Tausende abgesoffen.« Einigermaßen pikiert trinke ich mein Bier. Jacques Boulet merkt, dass mir seine burschikose Art nicht gerade gefällt.
»Excusez-moi! Ich kann nicht schwimmen, aber Barmann Lumban hatte Sie im Auge. Gewiss hätte er was unternommen.«
Ich drehe mich um und winke dem Schwarzen zu.
»Was um Gottes willen machen Sie in Gabun?«, fragt Monsieur Boulet. »Der Tourismus steckt doch in den Kinderschuhen!«
»Sagen Sie das nicht, die Nationalparks Loango, Moukalaba, Wonga Wongué werden gern besucht.«
»Keine Ahnung. Ich kenne nur die Hotels und den Wald um Kango – bin Holzhändler.«
»Sie lassen den Urwald roden. Tausend Jahre alte Baumriesen für Klopapier fällen?«
Um ihn nicht gleich zu verärgern, lächle ich dabei versöhnlich.
»Nun mal langsam. Ich verkaufe ’n paar ausgesuchte Stämme an Furnierholzfabriken, unsere Kahlschläge sind minimal und werden aufgeforstet. Und eins will ich Ihnen sagen: Den Raubbau treiben die Chinesen – mit Tropenholz, Erdöl, Mangan, Eisenerz, Uran, Gold …«
Der Franzose hat recht, zurzeit geht das Gros von Gabuns Edelholzexport zwar noch nach Europa, doch die Chinesen rollen die Rohstoffressourcen auf, und das mit beängstigender Radikalität. Ich will nicht alles auf die Chinesen schieben, schließlich verschlingt der australische Holzkonzern Gunn Limited für eine einzige Papierfabrik um die vier Millionen Tonnen Holz pro Jahr. Wenn daraus Bücher entstehen, muss man den E-Book-Markt favorisieren.
»Wenn Sie kein Tourist sind, was treibt Sie dann in unsere einstige Kolonie?«
Ich schaue mich um. Auf der großen überdachten Terrasse stehen Reihen gedeckter Tische, sauber mit weißen Tischtüchern, Besteck und Gläsern versehen. Die ersten Gäste treffen ein, werden von Kellnern in schwarzen Anzügen an reservierte Plätze begleitet. An der mahagonigetäfelten Seitenwand, gleich neben dem Ali-Ben-Bongo-Ondimba-Konterfei, hängt der Panzer einer Karettschildkröte. Darauf gut erkennbar ist ein markanter Kopf mit Schnauzbartgesicht und wildem Haarschopf auf das Schildpatt geritzt worden. Ich deute in die Richtung. Monsieur Boulet runzelt die Stirn, versteht: Den Präsidenten werde ich sicher nicht gemeint haben.
»So, zum Hospital wollen Sie?«
»Richtig. Wie lange braucht man bis Lambaréné?«
»Die Straße ist schlecht, schätze, mit dem taxibrusse (Buschtaxi) sieben Stunden.«
»Sieben Stunden für dreihundert Kilometer?«
»Wenn Sie ’ne Panne haben oder der Sprit ausgeht: länger.«
Der Franzose steckt sich eine Gauloises zwischen die dicken Lippen – an ihm ist übrigens alles dick. Er schüttet sich das Bier in den Schlund.
»Mein Gott, Afrika, was ist aus dir geworden?«, stöhnt er. »Ich hab schon lange die Schnauze voll von dem Erdteil. Aber … Was woll’n Sie tun, wenn Sie bald dreißig Jahre mit den Schwarzen Geschäfte machen? Erst mit Erdölequipment, dann mit Baumaschinen – ging alles den Bach runter. Der Holzhandel wird auch bald vorbei sein. Was die Chinesen an Regenwald nicht bekommen, kaufen WCS und WWF auf.«
»Der Tourismus soll prosperieren«, gebe ich zu bedenken.
»Soweit kommt’s noch, soll ich mich in einen Land Rover klemmen und Touristen durch die Parks bugsieren?«
Beat und Palaver aus der Buschkneipe werden aggressiver. Dort, wo Himmel und Ozean zusammenstoßen, verfärben sich die Wolken violett und lassen den Sonnenball in die Unterwelt fallen.
»Ich hab Hunger«, sagt der Dicke, »wollen wir uns ins Restaurant begeben?«
»Werde noch etwas am Ufer entlanglaufen. Später vielleicht.«
»Aufgepasst! Da lauern Gangs, die haben sich aufs Ausnehmen von Weißen spezialisiert.«
Barfuß marschiere ich den Strand zwei, drei Kilometer Richtung Nordosten entlang. Bis auf die Schaumköpfe der Brandungswellen, die im Mondlicht chromfarben glitzern, ist es gespenstisch dunkel. Aber ich bin nicht allein. An Palmen gelehnt, tuscheln Liebespaare. An schwach glimmenden Lagerfeuern machen Familien Picknick. Nun folgt ein einsamer Abschnitt. Raschen Schrittes nähern sich drei Schatten. Ich knipse meine Taschenlampe an. Aha, drei Halbstarke, die jetzt auch Licht setzen.
»Bonsoir, Monsieur, comment ça va?«
»Ça va bien!« Wir grinsen uns an, stapfen aneinander vorbei.
Irgendwann lasse ich mir meine Afrikareise durch den Kopf gehen. Diesmal habe ich mir viel vorgenommen: Das Hospital in Lambaréné ist nur die Ouvertüre, die Verwirklichung eines alten Planes, die Wirkungsstätte eines Mannes zu erleben, der mir als Kind Angst und Bewunderung abverlangte. Neben meinem Großvater ist er für meine immerwährende Neugierde und Liebe für Afrika verantwortlich. Weiter nördlich soll es dann nach Douala und rüber in den Wald der Pygmäen, Gorillas und Waldelefanten gehen. Und durch Kameruns Grasland ins Königreich Foumban, schließlich hinauf in den Tschad, mit seinen kaum erforschten Wüsten und deren gefürchteten Tubu-Clans … Auf einmal beschleicht mich, allein am nächtlichen Strand, ich muss es gestehen, so etwas wie Angst vor der eigenen Courage.
Wieder im Tropicana angekommen, stelle ich fest, dass der Dicke nicht mehr da, die Restaurantterrasse aber rappelvoll ist. Eine illustre Truppe hat mehrere Tische zusammenstellen lassen und speist feudal bei mehreren Flaschen Schampus. Mein Blick schweift erfolglos über besetztes Gestühl. Da wird mir zugerufen:
»Holá, Sie mit der geilen Jacke, gesellen Sie sich doch zu uns.« Die Aufforderung kommt von einem Franzosen, aus der Mitte eines Schwarms schwarzer und brauner Mädchen, eines hübscher als das andere, und alle nach dem letzten Chic gekleidet, dezent geschminkt, das Kraushaar modisch geglättet.
Die geballte Attraktivität macht mich fast verlegen. Doch nur fast! Ein Callgirl-Ring auf Betriebsausflug? Neben dem Chef werden Stühle gerückt. Der steht auf, gibt mir die Hand.
»Bonsoir, ich heiße Dominique, nehmen Sie Platz.« In einen derart exklusiven Kreis lässt man sich nicht zweimal bitten. Und so erfahre ich, dass Dominique, der, nebenbei bemerkt, Alain Delon – in seinen besten Tagen – verblüffend ähnlich sieht, so etwas wie ein Karl Lagerfeld ist, also Modeschöpfer, der morgen im Interconti seine Kollektion vorführen wird. Vor dem Auftritt hat er seine Models zusammengetrommelt, um sie in Stimmung zu bringen. Warum der Couturier ausgerechnet mich zu sich bat? Das verdanke ich meiner Büffellederjacke. Ein Blouson mit vier aufgesetzten Taschen, ramponiert, an den Armen durchgewetzt, in der Farbe beiger Tarnanzüge, wie sie das Militär in Afghanistan trägt. Auf Reisen ist er mein steter Begleiter. Zu Hause darf ich mich damit nicht sehen lassen. Meine Frau würde sich für mich schämen. Am Flughafen von Lagos wollte mir eine Stewardess den Blouson für tausend Dollar abkaufen, und in Bamako wäre ich damit ums Haar als Guerillakämpfer verhaftet worden.
»Wo haben Sie die Jacke her?«, fragt der Franzose.
»Hab ich in Hamburg auf dem Trödelmarkt gefunden. Dreißig Jahre her.« Er fingert am Leder herum.
»Ganz starkes Teil! Ein Stück für meine nächste Kollektion: Militärlook.« An der anderen Seite streichelt ein Model meinen belederten Arm. Mit erfahrener Grazie und der instinktiven Sicherheit einer Katze, einer Dschungelkatze, befühlt sie das Büffelleder. Dabei beugt sie sich vor, um das Leder zu riechen. Was sie riecht, ist Männerschweiß unzähliger Saunagänge durch Busch und Wüste, denke ich. Dabei erhasche ich einen vielversprechenden Blick in ihr Modeldekolleté.
»Ich heiße Jasmin«, haucht sie. So duftet sie auch. Sie schenkt mir Champagner ein. Ich bestelle mir einen Hamburger.
Die Mädchen, neun an der Zahl, unterhalten sich auf Französisch, angeregt, lebhaft diskutierend. Dominique ist äußerst charmant, animiert seine Girls bisweilen zu regelrechten Lachsalven. Jasmin hat Auge und Nase für meine Jacke. Irgendwann rückt sie damit heraus.
»Würden Sie sie mir verkaufen? Ich finde sie hinreißend.« Nachhaltig zupft sie am Saum. Damit habe ich nicht gerechnet. Um ihre Bitte zu verdauen, leere ich mein Glas.
Zehn Minuten später: »Messieurs-dames, au revoir. Vielen Dank für Ihre anregende Gesellschaft.« Dabei nehme ich Kugelschreiber, Notizbuch, Portemonnaie aus meiner Büffellederjacke und hänge sie Jasmin um die Schulter. Unter lautem Geklatsche und Hochrufen verlasse ich die fröhliche Runde. Gehe an der Bar, dann an dem gepflegten, exklusiven Bungalowbereich vorbei in Richtung meines Quartiers. Eins muss man dem gabunischen Hotelier attestieren: einen ausgeprägten Geschäftssinn! Sein Konzept deckt alles ab, verwöhnte Ansprüche zahlungskräftiger Geschäftsleute und die schmalen Börsen der Backpacker.
Mein Verschlag grenzt mit der Rückwand an die Buschkneipe, in der afrikanisches Nachtleben gerade seinem Höhepunkt zustrebt. Ich werfe mich auf die Pritsche und lausche dem Lautsprecher-Beat und dem Tamtam von Livegetrommel. Verdammt, der schlitzohrige Taxifahrer Simon war ein Glücksgriff! Auch wenn ich anfangs ziemlich sauer auf ihn war. Hatte er mir nicht einen amüsanten ersten Tag in Afrika und genau das passende Hotel beschert? Gerade auf dem Flughafen gelandet, war ich in sein Taxi geschlüpft, um mich ins Novotel in der Innenstadt bringen zu lassen. Rund achtzehn Kilometer entfernt. Simon kassierte 12 800 CFA, das sind 20 Dollar, startete. Plötzlich meinte er: »Novotel pas bien, fermé.«
»Fermé? Ich habe dort gebucht!«
»Fermé, monsieur, dommage! Anderes Hotel gut.« Also brachte er mich ins nur einen Kilometer entfernte Tropicana am Atlantik – ohne Rückzahlung natürlich. Er sei ein armer Flüchtling aus dem Kongo, erzählte er. Sein patron ein Ausbeuter, die Kinder hungrig und die Frau unersättlich. Was blieb mir übrig? Ich bestellte ihn am nächsten Vormittag für eine Stadtrundfahrt.
Gerade bin ich eingenickt, da klopft es. Erst zaghaft, dann dreimal lauter …
BEFREITE SKLAVEN UND EINE HOCHZEIT
Halbschlaf. Ich greife nach links. Bin allein. Gestern noch in Hamburg – und heute? Ach ja, Afrika! Ozeanrauschen und Windklagen. Reisen hieß früher: sich auf den Weg machen. Von einem Ort fort, hin zu einem anderen. Heute werden Wege immer rascher zurückgelegt. Merkwürdig, je schneller wir reisen, desto weniger bewegen wir uns. Gestern, als ich aus dem Airbusfenster schaute, hatte ich den Eindruck, rasend stillzustehen. Und so, dem Raum enthoben, zählte nur die Zeit. Reisen heute: Ist das nicht warten auf das Ankommen? Damit ist das Erlebnis des Unterwegsseins auf der Strecke geblieben. »Was mache ich hier?«, fragte sich einst der manisch reisende Bruce Chatwin. Ich habe mich aufgemacht, um in Afrika das ›Dazwischen‹ zu erleben. Als Beobachter, Neugieriger, Nomade …
Ungewöhnlich pünktlich, nur fünfundvierzig Minuten nach unserer Verabredung, erscheint Simon. Gut gelaunt, mit einem breiten Grinsen, strahlenden Augen und tänzelndem Gang. Eine Hand spielt mit den Autoschlüsseln, die andere am Handy. Kein Handy, wie ich es habe. Ein Smartphone der neuesten Generation, wohlgemerkt!
Im Toyota versinke ich bis aufs Chassis. Musik kreischt. Ein eisiger Luftstrahl trifft mein Gesicht. Wir brausen auf dem Boulevard Georges Pompidou in Richtung Innenstadt. Rechts eine mit Betonfragmenten verunstaltete Uferbefestigung, dann blassblauer Himmel mit dem Atlantik darunter. Beiden täte ein frischer Anstrich gut. Die Promenade ist nichts für Behinderte, sie verschwänden samt Rollator in einem der vielen, tiefen Löcher. Gegenüber wechseln sich Häuser mit bröckelnden Fassaden mit Gebäuden ab, die uniform in Glas und Beton erstellt wurden: Büro- und Verwaltungskomplexe. Simon fährt wie Schumacher auf dem Nürburgring. Ich brülle gegen das schreiende Radio: »Langsamer – und erklär mir mal was!« Er schlägt den Takt mit seinem ganzen Körper. Wir biegen in den Boulevard Omar Bongo ein. Ab und zu brüllt er mir ein paar Brocken rüber, aus denen ich mir zusammenreime: Bongo war von 1967 bis 2009 Präsident Gabuns, der am längsten herrschende Staatschef Afrikas, und hatte eine Menge Dreck vor der Tür. Seine Einheitspartei herrschte rigide, doch mit Geschick. Viele afrikanische Präsidenten betrachten ihren Staat als Erbhof. So ist es nicht verwunderlich, dass sein Sohn Ali-Ben Bongo sein Nachfolger wurde. Das Land ist relativ stabil und sicher. Das war nicht immer so. Nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 wütete, kaum drei Jahre später, in Libreville heftiger Aufruhr. Präsident Léon M’Ba bat um Entlassung. Den Franzosen war er jedoch genehm, also griffen Fallschirmjäger ein und brachten M’Ba zurück in Amt und Würden. Sein Nachfolger war Omar Bongo, der sich mit Israel überwarf und zum Islam konvertierte. Wahrscheinlich aus Berechnung, um von Gaddafis Libyen zu profitieren. Eine Allianz, die nicht lange hielt. Von Gabuns Bodenschätzen und Rohstoffen angelockt, erschien China auf der Bildfläche. Für den Ausbau der Ölindustrie schenkte China dem Land eine Million Euro und gewährte ein zinsloses Darlehen von knapp fünf Millionen. Längst hat die Volksrepublik auch einen gierigen Blick auf Regenwald-, Eisen-, Uran- und Manganvorkommen geworfen. Und das Verhältnis zum ehemaligen Kolonialherrn?
Ein ewiges Auf und Ab! Wenngleich Libreville den Franzosen seine Gründung verdankt. Es ist noch nicht so lange her, da leitete die Pariser Staatsanwaltschaft eine strafrechtliche Untersuchung gegen Präsident Omar Bongo ein, und zwar wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder. Bongo samt Sippe habe in Paris unrechtmäßigen Immobilienbesitz, habe außerdem namhafte Beträge aus französischer Entwicklungshilfe abgezweigt. Da fragt man sich: Welcher afrikanische Staatsmann ist frei von solchen Delikten? Die Klage hatten Exilkongolesen und Bürgerrechtsorganisationen eingereicht. Bongo war aufgebracht, und die französische Regierung fürchtete von Gabuns Rohstoffen abgekoppelt zu werden. Die Untersuchung gegen Bongo wurde mangels Beweisen eingestellt, der französische Staatssekretär Jean-Marie Bockel, Verfechter einer ›sauberen‹ Afrikapolitik, versetzt. Bongo zeigte sich beruhigt. Und der Boulevard heißt weiterhin Georges Pompidou.
All das Angelesene und die ›Brocken‹, die mir Simon zuwirft, gehen mir im Kopf herum, als das Taxi in Richtung Petit Paris kurvt. Sightseeing auf Afrikanisch gefällt mir nicht.
»Anhalten, Simon!«
»Warum?«
»Weil ich von eurer Hauptstadt was sehen möchte.« Er lamentiert. Ich bezahle, mit Trinkgeld. Mit quietschenden Reifen jagt er davon.
Beim Spaziergang wirkt die Siebenhunderttausend-Seelen-Stadt gänzlich anders. Ruhig, gelassen. Es ist Freitag, Straßen und Gassen sind in helles, warmes Licht getaucht. Vor einer Moschee sitzen Bettler. Passanten werfen Münzen in ihre Blechdosen. Bedürftigen Almosen geben ist Mohammedanern ein Gebot. Ich wende mich Richtung Ozean, wandere auf dem Cours Pasteur am Präsidentenpalast vorbei und stoße auf die Hafenmole. Davor breite Fließbänder aus Asphalt mit einer Blechlawinenkette. An Straßencafés stehen Menschentrauben. Musik rieselt von irgendwo aus Fenstern. Bauchladenverkäufer bieten Lose, Erdnüsse, gerösteten Mais an.
Libreville ist keine Stadt mit besonderen Attraktionen. Aber sie ist auf besondere Weise sympathisch, unverkrampft. Ganz und gar nicht aggressiv wie Kairo, Lagos oder Nairobi. Ja, ich kann es an der Gestik, am Ausdruck der Gesichter erkennen. Am Boulevard de la Mer suche ich ein Plätzchen in einem Straßenbistro. Schöne Körper wiegen oder eilen vorbei, hässliche schleppen sich mühsam, schwankend bisweilen. Würzige Seeluft wird herangetragen. Wenn ich den Hals recke, kann ich den glitzernden Ozean ausmachen. Wirklich idyllisch dieser Nachmittag in Libreville.
Jäh wird die Idylle zerstört. Brüllende Martinshörner, Blaulicht, hochtourige Motoren kreischen. Von links rauscht ein Konvoi schwarzer Daimler-Limousinen der S-Klasse heran, eskortiert von BMW-Motorrädern der Polizei. Ebenfalls mit Blaulicht- und Fanfarengetöse.
Erschrocken wende ich mich an den Nebentisch, frage: »Eilt der Präsident zum Flughafen? Ein Staatsbesuch?«
Der Mann lacht und meint: »Non, non, das ist ein Holz- oder Ölbaron, aus dem Geldadel um den Präsidenten. Der hat Zugriff auf jede Equipage.«
»Zu welchem Zweck?«
»Werden Sie gleich sehen.«
Als der Tross Limousinen zur Hälfte vorbeigefahren ist, gleitet ein offener Rolls-Royce Silver Cloud in Schneeweiß heran. Auf dem Kühler blitzt Emily gülden in der Sonne. Ein Brautpaar, sie in weißen Tüll gehüllt, mit Schleier, er im Frack, beide haben ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, winken aus dem Fond. Souverän, wie Elisabeth II. Fahrer und Beifahrer sind glatzköpfige Preisboxerfiguren. Gehören wohl zum engsten Zirkel der Bodyguards? Die folgenden Limousinen werden von ebensolchen Leibwächtern chauffiert. Einfaches Defilieren reicht der Hochzeitsgesellschaft nicht. Der fließende Verkehr wird angehalten, die Karawane dreht auf dem Boulevard, um mit Getöse zurück und wieder vorbei zu jaulen. Jetzt wirft die feiste Braut sogar Blumen auf die Straße. Einige Passanten schauen ihr nach, die meisten ostentativ in eine andere Richtung. Der freundliche Mann neben mir meint, als das Spektakel vorüber ist: »Da wird unser Vermögen verprasst!«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, Bodenschätze und der Regenwald sind Volksvermögen, oder etwa nicht?«
»Nach Marx’ ›Das Kapital‹ schon!«
Er meint erklärend: »Dass kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin kein Kommunist!« Wir müssen beide lachen und drücken uns die Hand. Ich esse noch einige verkohlte Fleischstückchen am Spieß und beschließe nach dem Genuss einer lauwarmen Cola, den Weg am Ufer entlang zum Ferry Port und dann den weiten Weg zum Flughafen als Spaziergang zu gestalten.
Der Fähranleger ist verwaist. Auf einer grünen Raseninsel schlafen Afrikaner. Frauen verkaufen unter schlanken, hohen Kokospalmen entbastete Kokosnüsse. Ich komme an einer Werbetafel vorbei, »Fest der Kulturen in Gabun« ist darauf zu lesen. Dann an einem Monument für Léon M’Ba, den ersten Präsidenten Gabuns, der vom Volk noch hoch verehrt wird. Die Uferpromenade verbreitert sich. Hier reckt die wohl wichtigste Statue des Landes ihre Arme in den Himmel. Es ist das gleißend weiße Freiheitsmonument. Die Augen schmerzen beim Hinaufschauen. Aus einem getreppten Fundament entspringend wurden zwei ornamentierte Säulen geschaffen. Etwa fünfzehn Meter hoch. Dazwischen befindet sich, eingerahmt, eine hermaphrodite Gestalt, halb Mann, halb Frau; sie hat ihre Hand- und Fußfesseln zerrissen. Ein in der Tat eindrucksvolles Denkmal eines sich befreienden Sklavenpaars. Ich betrachte es von allen Seiten. Darunter, klein, verlassen wirkend, sitzt ein junger Mann mit Brille, adrett in weißes Hemd und schwarze Hose gekleidet, Typ Collegeboy. Er liest ein Buch, schaut auf und beobachtet mich.
»Das ist unsere Freiheitsstatue. Nicht so berühmt wie die vor New York, aber immerhin«, klärt er mich auf.
»Sehr eindrucksvoll!«, erwidere ich.
»Libreville wurde 1849 nach dem Vorbild von Freetown in Sierra Leone als Siedlung für freigelassene Sklaven gegründet«, erklärt er. Noch ein Blick in den Himmel. Die zwittrige Gestalt mit den gereckten Armen hat ihren Mund wie zu einem Schrei aufgerissen. Schreit sie »Freiheit!« über die Stadt hinaus?
»War das Mündungsgebiet des Komo in diesem Abschnitt unbewohnt?«, will ich wissen.
»Sporadisch lebten die Mpongwé, eine Bantu-Gruppe, als Fischer hier, die jedoch von den portugiesischen Sklavenhändlern und sklavenjagenden lokalen Führern heimgesucht wurden.«
»Afrika verlor Blut aus allen Poren. Küstengebiete lagen im Sterben oder waren entvölkert worden«, pflichte ich ihm bei.
»Am Menschenhandel waren alle beteiligt: die schwarzen Herrscher, Araber, europäische Staaten, Amerika. Die Gründung Librevilles ist ein Paradoxon.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, Anfang 1849 kaperte eine französische Fregatte die Elizia mit einhundertfünfzig Sklaven an Bord. Die Geretteten wurden an dieser Stelle an Land gesetzt, und aus der Siedlungsgründung entstand unsere Hauptstadt. Eigentümlich, nicht wahr? Die Franzosen befreiten vor Gabun Sklaven, während sie in Ostafrika noch kräftig am Sklavenhandel beteiligt waren.«
»Schon mal etwas von Tippu Tip gehört?«, frage ich rundheraus.
»Dem mächtigen Sklaven- und Elfenbeinhändler? – Natürlich!«
»Und Jean-Jacques Rousseau?«
Der Afrikaner schaut mich an, als wolle er sagen, da testet so ein eingebildeter Europäer mein Allgemeinwissen. Doch seine Augen lächeln, als er sagt: »Der Mensch ist frei, und überall liegt er in Ketten – Tippu Tip kontra Rousseau, unterschiedlichere Gestalten der Geschichte sind Ihnen wohl nicht eingefallen?«
»Das liegt an diesem Monument. Es weckt Assoziationen. Rousseaus Äußerung sollte den Sockel zieren. Oder sind die Menschen wirklich frei?«
Er schaut auf die Uhr, klappt das Buch zu und sagt: »Meine Vorlesung beginnt, ich muss los.«
Ich rufe ihm nach: »Was studieren Sie?«
»Soziologie und Geschichte«, wirft er mir über die Schulter zurück zu und rennt über den Boulevard.
Allmählich entschwinden die hohen Gebäude. Ich entfliehe der City, gerate in ein Viertel aus Müll, Kisten, Abfall. Kein wirklich schlimmer Slum, wie er uns in den No-Go-Zonen von Kapstadt, Johannisburg oder Kairo anspringt. Es ist ein Viertel der um ein Plätzchen an der Sonne Kämpfenden. »Wir rudern alle in einem Boot zum Erfolg!«, rief einst Omar Bongo seinem Volk zu. Dass er mit dem Geldadel auf dem Sonnendeck liegt, während die Masse der Bürger schweißgebadet rudert, erwähnte er nicht.
Der Flughafen rückt heran. Ich fühle mich noch fit, marschiere weiter in Richtung Okala, vorbei an großen Militärcamps. Wachen des I. Fallschirmregiments mustern mich argwöhnisch. In Höhe des Vororts Okala stoße ich auf das Hotel Orchidée. Aus Neugierde folge ich einer Stichstraße ans Meer. Unverhofft befinde ich mich in einer anderen Welt: der der Vornehmen und Reichen. Prächtige Villen, Burgen, ja Paläste verstecken sich hinter hohen gesicherten Mauern und spießbewehrten Eisenzäunen. Staunend verharre ich vor der Villa Medici, bewundere die Villa Silvia. Da waren europäische Baumeister mit teuren, ausgesuchten Materialien am Werk. Da reiht sich das Anwesen des chinesischen Botschafters an das des französischen und das des algerischen …
Die Hitze und der lange Marsch haben mich ausgelaugt. Es wird Zeit, etwas zu trinken. Vor dem Beach Club parkt eine Schlange schwerer Limousinen. Direkt vor dem imposanten Entree steht ein weißer Rolls-Royce. Na, das ist ja interessant! Kackfrech halte ich auf Wachen und Bodyguards zu, die mich sogleich stoppen und hinwegkomplimentieren wollen. Ein Griff in die Hosentasche, und schon haben sie meinen internationalen Presseausweis unter der Nase. Afrikaner, die es zu etwas gebracht haben, sind publicitysüchtig – meistens. Mir wird Zugang gewährt. Ich schreite an einem riesigen Pool vorbei in einen märchenhaft angelegten Park. Die Szene, die sich offenbart, ist fantastisch, einfach umwerfend. Ich fühle mich in den Schlossgarten von Versailles versetzt, in dem Ludwig XIV. gerade eine seiner pompösen Gartenpartys zelebriert. Endlich sieht man mal, wo die Petro-Dollars und Edelholz-Euros, Schmiergelder, Bestechungskröten und sonstigen Moneten hingeflossen sind.
Die mir vom Straßenkorso bekannte Braut sitzt unter einem Brokatbaldachin. Ihr Bräutigam hält ihr Händchen, als wolle er ihr einen Handkuss geben. Ich zähle fünfzehn Fotografen, die um Brautpaar und Gäste wieseln und aus allen Rohren schießen. Haben sie eine Serie im Kasten, eilen sie an ihre transportablen Drucker, um den Abgelichteten die Papierbilder zu offerieren. Die Gesellschaft zählt mindestens vierhundert Gäste. Unter einer Schatten spendenden Platane spielt eine Band herzerwärmenden Blues. Paare wiegen sich im Tanz. Gabuns High Society gibt sich distinguiert, ist von einer gewissen Eleganz geprägt. Die jüngere Damenwelt trägt aufregende Cocktailkleider in weißer, cremefarbener oder bunter Seide. Ältere Ladys sind in langer, teurer Abendrobe erschienen. Auf ihren geglätteten Haaren oder Perücken prangen ausladende Hüte in Pink, Rot oder Gelb. Herren tragen Fantasiefräcke in allen Farben zwischen Schwarz und Weiß. Ihre Schädel sind kahlgeschoren, sie glänzen wie gewachst und poliert. Jungen und Mädchen sind ebenfalls herausgeputzt worden, die Bürschchen im Minifrack, Girlies tragen putzige Petticoats. Zwischen Sitzgruppen, Stehtischen, jeweils mit Blumenbuketts edel dekoriert, huschen livrierte Kellner mit weißen Handschuhen hin und her. Sie jonglieren barocke Silbertabletts. Eifrigen Bienen gleich schwirrt das übrige Servicepersonal aus, um die Gäste aus Küchen oder vom Büfett mit Köstlichkeiten zu versorgen oder ständig den Champagner mit dem Großen ›S‹, Champagne Salon, die Flasche zu fünfhundertzehn Euro, nachzuschenken. Selbstredend wird an Hummer, Almas-Beluga-Kaviar, schwarzen und weißen Trüffeln nicht gespart. An den Bars diskutieren Yuppies mit der Jeunesse dorée und High Potentials aus Wirtschaft, Politik oder Finanzwelt. Vielleicht ist auch ein arrivierter Künstler dabei? Tipps werden gegeben, lukrative Deals eingefädelt, Seilschaften gepflegt. Hier befindet sich das Zentrum der Netzwerker. Hier wird Gabun regiert. Mit Sicherheit sind Minister unter den Gästen. Wahrscheinlich hat sich Präsident Ali-Ben Bongo längst sehen lassen.
Per Zufall bin ich in einen Machtapparat geraten, spannend, dennoch fühle ich mich unwohl und eigentlich deplatziert. Komme mir vor wie ein Zaungast, der den Tanz auf dem Vulkan überlebt hat. Auch ein bisschen wie ein Spion, der jeden Augenblick enttarnt werden könnte. Gerade wird eine Lady, die an Naomi Campbell erinnert, von einem Blitzlichtgewitter eingedeckt. Was sie genießt, und daher bringt sie Busen nebst Hintern noch besser in Position. Ich winke einen Kellner heran.
»Wer ist das?«
»Dorety Baussillion«, flüstert dieser, »eine bekannte Schauspielerin.«
»Noch nie gehört«, sage ich.
Enttäuscht stellt er mir ein Glas Ananassaft auf den Tisch. Ich hatte mich etwas abseits unter einem Verandavordach niedergelassen, die Kamera vor mir aufgebaut. Der Campbell-Verschnitt entdeckt mich. Das ist nicht verwunderlich, schließlich bin ich der einzige Weiße in der illustren, farbigen Gesellschaft.
»Für wen arbeitet der Monsieur?«, fragt sie.
»Suchen Sie sich das Blatt aus: Paris Match, New York Times, Le Figaro, Le Monde …«
»Oh, dann sollten Sie auch Aufnahmen von mir machen. Ich heiße Dorety Baussillion«, sagt der Mund mit Lippen wie Autoreifen.
»Ich weiß, Dorety, hab viel von Ihnen gehört.«
Ich drücke dreimal auf den Auslöser. Dorety entschwindet zufrieden.
Von dem Saftkellner erfahre ich, dass es sich bei der Hochzeit um die Vermählung der Tochter eines Staatssekretärs mit dem Sohn des wohl größten Sägewerkbesitzers des Landes handelt. »Eine gute Liaison«, meint er augenzwinkernd.
Zwei Stunden später, es ist bereits dunkel, bin ich wieder in meiner kleinen, bescheidenen Welt. Der Ozean rauscht. Der Wind klagt im Duett mit hungrigen Möwen. Afrika – gegensätzlicher konnte ich Gabun für den Beginn einer Reise nicht erleben! Was meint der ›alte‹ Fahrensmann und Weltenbummler Helge Timmerberg ganz richtig? »Der erste Tag ist immer schwierig. Bei Fernreisen kommt die Seele erst drei Tage später an. Und man fühlt sich seltsam ohne Seele. Man ist nirgendwo zu Hause, weder im Alten noch im Neuen.« Heute ist mein zweiter Tag. Ich fühle mich angekommen. Morgen werde ich in den Südosten, in den Wald fahren.
Lambaréné
Wieder hocke ich in einem Taxi, zum vierten Mal an diesem Vormittag. Das erste brachte mich in die Stadt. Das zweite an einen Busbahnhof, an dem aber auch gar nichts funktionierte. Das dritte fuhr zu einem Platz, auf dem dicke Staubfahnen und schwarzer Auspuffqualm waberten. Als sich der Qualm mal für einen Moment verzog, hatte ich den Eindruck, auf einen Pkw-Friedhof geraten zu sein, auf dem King Kong wütend mit Autos um sich geworfen hatte.
Der Eindruck täuscht. Einige Pkws sind einsatzfähig. Ihre Fahrer bieten lauthals ihre Fahrkünste, Routen und Preise an. So gerate ich an Pierre, der das trichterdurchsetzte Asphaltband bezwingt wie einst Toni Sailer Slalompisten. Autsch, gerade hat er ein Schlagloch voll erwischt. Sieben Köpfe knallen ans Blech des Autodachs, aus zwei kleinen kommt Geplärre. Die anderen stoßen Flüche aus. Wir sitzen in einem passablen Renault. Ich fühle mich mal wieder unwohl, so bequem neben dem Fahrer, während hinten eine breite Mami, auf dem Schoß zwei Kinder, von zwei Männern eingequetscht wird. An einem technischen Halt biete ich an, den Platz zu tauschen. Pierre protestiert. Ich sei Gast des Landes, und schließlich hätte ich für die Passage so viel bezahlt wie alle anderen zusammen. Na gut, ich füge mich.
Wir brausen durch Kango, Oyan, Bifou, stoßen dann direkt südwärts. Lambaréné kann nicht mehr weit sein. Stellenweise führt die Straße durch dichten Regenwald, dann vorbei an gerodeten Flächen, auf denen der Mutterboden weggewaschen und die Erde erodiert ist. Lichtungen geben Dörfer mit Rundhütten, Versammlungshäusern, rudimentären Kirchen und Moscheen frei. An Straßenrändern stehen Verkaufsstände mit Bananen, Mangos, Ananas, Erdnüssen. Sattelschlepper, hoch beladen mit mächtigen Baumstämmen, brettern uns entgegen. Ihnen gehört die Fahrbahn, wer nicht weicht, wird zermalmt. Einst bestand Gabun fast nur aus Regenwald. Knapp die Hälfte steht noch zum Abholzen zur Verfügung.
An einer Tankstelle wird etwas repariert und am Verteilerkopf herumgefummelt und von den Insassen Spritgeld für die Weiterfahrt eingesammelt. Pierre bezahlt die Reparatur, fürs Tanken hat er kein Geld mehr. Es geht weiter. Zwischendurch werden Fahrgäste raus- und andere am Weg winkende reingelassen. Pierre ist sprachfaul. Seit Stunden trifft mich der eisige Strahl der Klimaanlage. Ich verrenke mich wie ein Spastiker, vermag der Kälte, die es auf meine Augen abgesehen hat, nicht zu entgehen, doch der Fahrer kann oder will die Anlage partout nicht drosseln.
Kurz vor Sonnenuntergang biegen wir links in eine tunnelartige Stichstraße ein, die an einem Rondell mit Schlagbaum endet. Ich lese: »Hôpital Albert Schweitzer, Lambaréné« auf einem Hinweisschild. Arrivé! Ich schnappe mein Bündel und begebe mich zur Pförtnerloge und zur Anmeldung. Höflich, aber bestimmt werde ich nach meinem Begehren gefragt. Ich erkläre, dass ich angemeldet sei, mich im Hospital umsehen und einige Ärzte sprechen wolle. Einigermaßen skeptisch schiebt man mir ein Anmeldeformular zu. Als ich mich ausweise, werden die beiden Pförtner zugänglicher. Man lässt mich passieren. Ein weitläufiges Gelände mit gepflegter Grünanlage und hell gestrichenen, soliden Gebäuden erstreckt sich in leichter Hanglage. In Richtung Wald, rechts, wird es bergig. Auf den Hügelkuppen stehen vereinzelt Bungalows. Ein befestigter Weg führt zu einem repräsentativen Komplex, den ein Flaggenwald schmückt. Unter einer Palme, gleich gegenüber, steht eine uralte Dampflokomotive. Einer ›Kulturbaracke‹ schließen sich weitere Flachbauten mit Läden und Aufenthaltsräumen an. Auf einem Sportplatz wird Fußball gespielt. Die Fondation International de l’Hôpital Albert Schweitzer, Lambaréné ist ein ansehnliches, autarkes Dorf am Ufer des Komo-Flusses, mitten im Wald gelegen, gut vier Kilometer von der Inselstadt Lambaréné entfernt.
Orientierungslos irre ich im Barackenbereich des Areals umher, bis ein Pfleger sich meiner annimmt. Gemeinsam suchen wir das flaggengeschmückte Hauptgebäude auf. Dort habe ich Glück, gleich an kompetente Personen zu geraten: Dr. Schnorr, einen Schweizer Arzt, und die Chefsekretärin Léonie. Dr. Schnorr ist sehr beschäftigt, da sich gerade mehrere Delegationen aus Asien und Europa im Krankenhaus aufhalten. Dennoch nimmt er sich die Zeit, mir die Unterkunft zu zeigen, die mir Léonie zugedacht hat. Léonie aus Gabun ist übrigens mehrsprachig, hübsch und ausgesprochen umsichtig. Im Laufe meines Aufenthalts sollte sie mir noch aus einer verzweifelten Lage helfen können.
Ich bekomme das Appartement 37 hinter dem neu erstellten Labor. Die Hauskatze, groß wie ein Luchs, tigergestreiftes Fell, liegt vor dem Eingang. Wir steigen über das schnurrende Tier. Dr. Schnorr präsentiert die saubere, funktionale Unterkunft nicht ohne Stolz. Küche, Bad, Wohn- und Schlafbereich, großer Arbeitstisch, sogar ein Kleider- und Bücherschrank mit Literatur stehen zur Verfügung, um sich wohlfühlen zu können. Es ist alles vorhanden. Rasch habe ich mich eingerichtet, steige über die Tigerkatze und suche den Weg hinüber zu den Baracken, um etwas Essbares einzukaufen. Es ist dunkel geworden. Die feuchte, schwere Hitze treibt den Schweiß aus allen Poren, lockt Fliegen und Moskitos an. Der Shop, typisch für afrikanische Läden, besteht aus einem Loch mit Tresen, an den Wänden reichen rohe Holzregale zur Decke, aus denen der patron mit seinen Helfern allerlei Lebensmittel, Obst und Gemüse zerrt. Ich kaufe Brot, eine Tüte Milch und Käse. Dabei muss ich mich mit Nachdruck an den Tresen drängen. Die Kunden weichen auch nach dem Einkauf nicht davon zurück. Abendstunden in Lebensmittelgeschäften werden gern für nicht endende Schwätzchen genutzt.
In den Laborräumen brennt noch Licht. Ich werfe einen Blick ins Sekretariat und die Räume dahinter. An Computern arbeiten junge Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Hautfarben. Ein großer, schlanker Mann steht auf und stellt sich als Dr. Lell aus Österreich vor. Sein Kollege Schnorr hat ihn über meine Anwesenheit informiert.
»Seien Sie gegrüßt, im neuen Forschungslabor!«, empfängt er mich. »Ich führe Sie gern herum.«
Eine Luftschleuse bringt uns ins Herz der Forschungsstätte, wo Rechner, Zentrifugen, Mikroskope, elektronische Waagen sowie eine Menge anderer Hightech-Apparaturen stehen. Eine Französin und ein Inder sind mit der Auswertung endloser Zahlenkolonnen beschäftigt. Vor einem monströsen Mikroskop justiert ein Afrikaner den Objektträger.
»Die Abteilung Forschung leite ich mit zwei weiteren Kollegen«, erklärt Lell. »Die Fondation wurde 1974 gegründet. Sie betreibt die Bereiche Forschung, also uns, das Krankenhaus und das Museum.«
»Welche Aufgaben haben die Sektionen?«, frage ich, als wir im Sitzungsraum Platz nehmen.
»Nun, unser Bereich wird seit 1992 von Professor Peter Gottfried Kremsner von der Universität Tübingen betreut. Forschungsschwerpunkt ist Malaria tropica, aber auch an anderen Tropenkrankheiten wie Bilharziose, Ebola-Fieber, Lepra wird geforscht. Die Crew ist international und besteht aus rund einhundert Wissenschaftlern, meist Afrikanern, aber auch Deutschen. Soweit ich informiert bin, befinden sich zurzeit auch zwei Hamburger unter uns. Doktoranden sorgen für Fluktuation und frischen Wind. So wird es hier im Wald nie langweilig. Meine Kollegen sind übrigens die Wissenschaftler Akim aus Gabun und Issifou aus Benin.«
»Und der zweite Bereich?«
»Das Hospital, also der Krankenbereich, ist natürlich ungleich größer. Dort gibt es die Innere, die Chirurgie, eine Geburts- und Zahnklinik sowie eine Pädiatrie, also eine Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin.«
»Ist dies das einzige Krankenhaus der Region?«
»Nein, Lambaréné drüben, mit seinen vierzigtausend Einwohnern, hat ein staatliches Krankenhaus.«
»Und wie sieht es mit der Bezahlung aus? Ich kann mir vorstellen, dass nicht jeder Gabuner genug Geld für eine Behandlung aufbringen kann.«
»In diesem Bereich ist das Land vorbildlich. Viele Bürger haben eine Krankenversicherung. Wer arm und mittellos ist, wird bei uns umsonst behandelt. Bisweilen übernehmen auch Firmen oder die Familien die Kosten. Als Stiftung haben wir die Pflicht, großzügig zu sein. Ganz im Geist des Gründers. Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass wir drauf und dran sind, eine Universitätsklinik zu werden? Die Fondation Albert Schweitzer genießt national wie international einen hervorragenden Ruf in der Medizin. Persönlichkeiten aller Disziplinen besuchen uns. Ständig sind Kollegen auch Ihrer Zunft hier.«
»Kann ich mir denken.«
»Ich meine einen bestimmten. Er besuchte uns 2009. Literaturnobelpreisträger Vidiadhar Surajprasad Naipaul, der Schriftsteller aus Trinidad mit indischen Wurzeln. ›Ein Haus für Mr. Biswas‹ hat mich beeindruckt, deshalb habe ich mir seinen Namen gemerkt.«
»Mit ›An der Biegung des großen Flusses‹ hat er sich in Afrika keine Freunde gemacht«, antworte ich.
»Kein Wunder, beschreibt er darin nicht die Vertreibung eines indischen Kaufmanns aus dem Kongo?«
»Ein altes Problem. Durch ihre Tüchtigkeit haben sich die Inder in Afrika überall Feinde geschaffen und sind verfolgt worden: Kenia, Tansania, Sansibar, Uganda. Ein heikles Kapitel der Völkerverständigung!«
»Einen hilfreichen Besucher hatten wir im September 2005. Manfred Alker aus Deutschland erschien mit dem Fahrrad zum 40. Todestag von Schweitzer. Er blieb einige Wochen und half unentgeltlich in der Werkstatt und der Leprastation.«
Ich habe von der Fahrradtour des Sechzigjährigen gehört. Zum 30. Todestag hatte er bereits die gleiche Strapaze auf sich genommen. Traurig war er, dass am Gedenktag des Wohltäters der Menschheit kaum jemand an seinem Grab erschienen war, weder Politiker noch Abordnungen aus Gabun, Deutschland oder Frankreich. Lediglich ein kleines Grüppchen Einheimischer stand am schlichten Steinkreuz, um kurz innezuhalten. Anders 2013: Der Deutsche Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V. hatte zum 100. Jubiläum der Spitalgründung ein würdiges Programm unter dem Motto »Hundert Jahre Menschlichkeit« mit einer Vielzahl von Benefiz-Orgelkonzerten initiiert.
»Der dritte Bereich, wir nennen ihn Hospital I, liegt drüben am Ufer des Ogooué (Ogowe), vier Kilometer westlich des heutigen Standorts. Dort hat Schweitzer 1913 die erste Hütte gebaut. Sein erster Behandlungs- und Operationssaal war ein Hühnerstall. 1927 zog er hierher um. Wir bezeichnen die Hütten, Baracken, Gemäuer aus damaliger Zeit als Hospital II. Es bildet den Museumstrakt, die historische Zone, sie ist Weltkulturerbe. Das sollten Sie sich unbedingt ansehen.«
»Dann ist Hospital III der moderne Krankenhausbereich?«
»So ist es. Er wurde 1979 bis 1981 gebaut und ständig erweitert. Zur Fondation gehören zusätzlich Kindergarten, Grundschule, Unterkünfte für die Mitarbeiter, der Sportplatz, Werkstätten für Autos, Metall- und Holzarbeiten. Mittlerweile sind wir ein Dorf mit über tausend Bewohnern.«
»Wie wird die Stiftung eigentlich verwaltet?«
»Es gibt einen international besetzten Rat, in dem die Gabuner die Mehrheit besitzen und die wichtigsten Unterstützer, die Schweiz, Deutschland, Frankreich, China, die USA, vertreten sind. Die Stiftung besteht seit achtunddreißig Jahren. Maßgebende Persönlichkeiten sind der Wormser Studiendirektor Dr. Roland Wolf, der Lambaréné regelmäßig besucht und jährlich Gruppenreisen hierher organisiert. Er hat sechs Jahre als Deutschlehrer in Gabun gelebt und sich Schweitzers Philosophie der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ zu eigen gemacht. Dann ist da Dr. Lachlan Forrow, ein Internist aus Boston, zu erwähnen. Forrow ist Professor der Medizin an der Harvard-Universität, Friedensnobelpreisträger und Präsident der Albert-Schweitzer-Gesellschaft.«
Mir schwirrt der Kopf von all den Fakten. Als wir den Raum verlassen, will gerade eine Ärztin, Mitte zwanzig, das Labor verlassen, um Feierabend zu machen. Dr. Lell spricht sie an. Ich erfahre, dass sie aus Brasilien kommt, sich auf Tropenkrankheiten spezialisiert hat und überglücklich ist, hier an Malariaerregern forschen zu können.
»Die Erkenntnisse werden von großem Nutzen für mein Land sein«, sagt sie und eilt zu ihrer Unterkunft.
ALBERT SCHWEITZER
Hühner gackern unter Palmwedeln. Eine Frau hängt Wäsche über eine Leine. Ich begebe mich an den Ogooué, der sich braun und träge in Richtung Südwesten wälzt, vorbei an Sandbänken, Uferschlamm, überhängenden Baumriesen in den dichten Dschungel hinein. Der Ogooué, der so lang ist wie der Rhein, ist neben dem Ngounié der mächtigste Fluss Gabuns und eine der wichtigsten Verkehrsadern in dem von 1,8 Millionen Menschen besiedelten Land. Immerhin ist Gabun so groß wie Deutschland, Belgien und die Niederlande zusammen. In bunte Wickelröcke gekleidete Frauen palavern unter Bananenstauden. Die Sonne sticht äquatorialheiß aus dem frühen Vormittagshimmel. Mein Ziel ist die lange, auf Stelzen stehende Baracke, das Museum, die einstige Wirkungsstätte von Albert Schweitzer. Eine Holztreppe führt zu einer die ganze Front einnehmenden Veranda hinauf und zu einem knarrenden Eingang.