Peter Brechtel · Einer weniger

Ich danke dem Team vom Pendragon Verlag für das Vertrauen und die exzellente Arbeit. Ein besonderer Dank geht an Martin Schöne, Jochen Fuhrmann, Nic Tappe, Steffen Schwibinger, Tobias Heinrich, Arta Ramadani und das Polizeipräsidium Mainz für die tolle Unterstützung

Peter Brechtel wurde 1958 in Herxheim, Pfalz geboren. Während des Studiums war er freier Mitarbeiter bei der „Rheinpfalz“. Seit 1991 ist er als Aufnahmeleiter beim DFF, SWR, MDR, SR und ZDF beschäftigt. Peter Brechtel lebt in Mainz. Dort kennt er sich bestens aus – wie seine Krimis beweisen.

Peter Brechtel

Einer weniger

PENDRAGON

Für Eva

1

Nicht zum ersten Mal verfluchte Federico Ponte die chaotische Intervallschaltung der Mainzer Ampelanlagen, die ihn zu einem unnötigen Halt nach dem anderen zwang. Hinter ihm dröhnte der Hummelflug durch den Wagen. Forgiones Handy. Jede Woche lud er sich einen anderen Klingelton runter, einer beknackter als der andere. Hielt es offenbar für hip. Er selbst hatte nichts übrig für diesen Schwachsinn. Aus den Augenwinkeln behielt er seinen Boss im Auge, der genießerisch an seiner Zigarre zog und das Getöse einfach ignorierte.

Ponte ließ den Alfa Romeo ausrollen, bremste sachte ab, als ein Wagen neben ihm hielt und hupte. Misstrauisch musterte er ihn durch die Scheibe. Ein Audi, der plötzlich aufgetaucht war. Vorsichtshalber griff er mit der Rechten nach der Waffe unter seinem Jackett. Das Seitenfenster des Audi glitt nach unten. Eine Hand kam zum Vorschein. Gelähmt beobachtete Ponte im diffusen Straßenlicht, wie ein Gegenstand sichtbar wurde und sich auf ihn richtete. Alarmiert zog er seine Waffe, richtete sie mit einer fließenden Bewegung auf den Fahrer, nur eine lausige Glasscheibe zwischen sich und dem sicheren Tod. Bevor er abdrücken konnte, erkannte er den Gegenstand, der ihm entgegengestreckt wurde – ein aufgeschlagener Stadtplan.

Ein verdammter Tourist! Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus. Forgione schien von dem Vorfall nichts bemerkt zu haben. Das Staccato der Hupe riss Ponte aus seinen Gedanken. Der Fahrer hatte seinen Arm und Kopf aus dem Fenster gestreckt, winkte ungeduldig mit dem Stadtplan. Langsam ließ Ponte die Waffe wieder unter dem Jackett verschwinden. Hinter ihm brach der Hummelflug ab.

„Si?“ Forgione, der endlich dranging. Erneutes Hupen. Im Rückspiegel sah Ponte, wie sich Forgione das freie Ohr zuhielt, ihm irritiert zuwinkte. Er drückte den Knopf für das Seitenfenster, die Rechte am Griff der Waffe. Lautlos glitt das Fenster nach unten, erlaubte ihm einen ersten ungestörten Blick auf den Fahrer. Jung, Mitte 30, eine schwarze Kapuzenmütze auf dem Kopf. Er schrie Ponte etwas zu, das im Trommelfeuer des Regens unterging.

Ponte beugte sich zur Seite. Zu spät erkannte er seinen Fehler. Er hatte sich von dem Stadtplan ablenken lassen. Und die andere Hand völlig vergessen. Matt funkelte das Metall im schwachen Licht der Straßenlaterne.

Reflexartig warf Ponte den Oberkörper nach vorne – raus aus der verdammten Schusslinie! – und versuchte seine Waffe zu ziehen. Mit Erschrecken stellte er fest, dass die halb gezogene Waffe zwischen Brust und Gurt eingeklemmt war. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengrube breit, als er sah, wie sich die Gewehrmündung auf ihn richtete. So wollte er nicht sterben. Ponte nahm den Fuß von der Bremse, um die Blockierung aufzuheben, auch wenn er wusste, dass es für eine wirksame Gegenwehr längst zu spät war.

Der laute Knall ließ Forgione zusammenzucken. Etwas Feuchtes klatschte in sein Gesicht, tropfte von dort auf seinen Anzug. Mit der Hand fuhr er sich über die Augen. Sie kam rot zurück. Benommen starrte er nach vorne, auf Federico Pontes blutüberströmte Gestalt. Erschrocken ließ Forgione das Handy sinken. Entfernt hörte er die Stimme des Anrufers, der wissen wollte, was denn verdammt noch mal bei ihm los sei. Wie in Zeitlupe sah er eine vermummte Gestalt, die aus dem Wagen neben ihm sprang und mit einem langen Gegenstand in der Hand auf ihn zueilte.

Im nächsten Moment wurde die Tür neben ihm aufgerissen. Eiskalte Luft drang in den Wagen. Ein Gewehrlauf fand die weiche Stelle unter seinem Adamsapfel, presste ihn in das Polster des Rücksitzes. Forgione wagte kaum zu atmen, saß da wie gelähmt, die Augen auf den maskierten Angreifer gerichtet. Vergessen hing die glimmende Zigarre zwischen seinen Lippen.

„Darf ich?“

Eine behandschuhte Hand nahm ihm sachte das Handy aus der Hand. Ein Knopfdruck. Die quäkende Stimme des Anrufers verstummte mitten im Satz. Die plötzliche Stille ließ Forgione frösteln. Verständnislos sah er zu, wie der Maskierte das Handy vor die Augenschlitze hielt und ihn durch den Sucher fixierte.

„Und Cheese.“ Völlig benebelt starrte er in das kleine Objektiv. Eine gequälte hölzerne Fratze. Das grelle Licht des Blitzes stach in seine Augen. Das Dröhnen des Schusses drang nicht mehr zu ihm durch. Achtlos fiel das Handy neben ihm auf den Sitz.

2

Als Polizeioberkommissar Lars Bosch den SEK-Umkleideraum betrat, blähte sich das Poster an der Wand gegenüber durch den plötzlichen Windstoß auf, als würden die Gesichter der Schwerverbrecher, die darauf abgebildet waren, aus ihrem Dämmerschlaf erwachen und ihm verschwörerisch zuzwinkern.

Verwandte Seelen.

Bosch setzte sich vor seinen Spind. Keine 20 Meter entfernt hatten sich Kahlmann, der Chef des Inneren Dienstes, und Pfeiffer, der Chef der Sicherheitskräfte, in Pfeiffers Büro verbarrikadiert, um über Boschs Karriere zu entscheiden. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, was Kahlmann hinter verschlossener Tür forderte: Boschs fristlosen Rauswurf aus der Polizei. Würde Pfeiffer dem Druck standhalten?, fragte er sich zum tausendsten Mal, während er ungeduldig auf ihr Verdikt wartete. Um ihn herum füllte sich der Umkleideraum mit SEK-Kollegen, die ihn mit high five begrüßten. Schichtwechsel.

„Na? Wieder zurück im Club?“

Halbherzig klatschte Bosch sie ab. Ihm war nicht nach Smalltalk zumute. Drei Monate Kur. Und noch immer kein Ende in Sicht. Ein Blick in seine verschlossene Miene reichte, dann ließen sie ihn in Ruhe. Neben ihm pellte sich Achim Martinoff aus seinen Klamotten. Drahtig, etwas untersetzt, der beste Scharfschütze des SEK.

„Ecki nicht hier?“, fragte Bosch zögernd. Ronald Eckmann, von allen nur Ecki gerufen, und Boschs bester Freund – bis vor Kurzem. Sie hatten als unzertrennlich gegolten, wurden bei SEK-Einsätzen als Erste reingeschickt, wenn’s brenzlig wurde. Bosch, der vorsichtigere, erfahrenere der beiden; Ecki eher ein Draufgänger. Ein Paar, das sich ideal ergänzte. Seit dem letzten Einsatz herrschte Funkstille zwischen ihnen. Ecki hatte auf ihn geschossen, verdammt!

„Hat sich freigenommen.“

Erleichtert atmete Bosch auf, lauschte wehmütig dem vertrauten Lärm um ihn herum. Dem scheppernden Schlagen der Spindtüren gegen Metallrahmen. Dem kameradschaftlichen Frotzeln, um den Stress der letzten Stunden abzubauen oder die Anspannung vor dem bevorstehenden Einsatz herunterzuspielen. Wie gerne wäre er wieder mit im Team.

Das metallische Klimpern von Münzen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Irritiert sah er auf. Wamsi stand im Türrahmen, eine Geldbüchse in der Hand. Das Gefrotzel ringsum verstummte. Das Gelächter im Duschraum ebbte ab. Nasse neugierige Gesichter lugten um die Ecke, die Köpfe voller Shampoo. Das verheißungsvolle Klimpern konnte nur eines bedeuten. Und sie wurden nicht enttäuscht.

„Vom Headhunter.“

Ein gellendes Pfeifkonzert, durchsetzt mit zufriedenen wilden Grimassen und der obligatorischen Becker-Faust, begleiteten Wamsi auf den Weg zwischen den Reihen der Spinde hindurch zur Wand. Vor dem Poster blieb er stehen, musterte die kleinen Schwarz-Weiß-Fotos.

„Es hat den Schlitzer erwischt. Aus …“, eine bedeutungsvolle Pause, „München.“

Kollektives Stöhnen.

„Scheiße“, stöhnte Martinoff und zog die schwarze Weste über seinen Kopf. „Wieder nichts.“

„Hat jemand von euch auf ihn gesetzt?“ Wamsi grabschte sich den dicken Edding, der neben dem Poster hing, überflog ratlos das unübersichtliche Poster. „Haben wir den hier irgendwo?“

Es dauerte eine Weile, bis sie ihn in dem riesigen Puzzle gefunden hatten. Ein quadratischer grimmig dreinblickender Schädel, ziemlich weit unten.

„Was ist mit dir, Bosch?“ Martinoff hielt den Fünf-Euro-Schein bereits in der Hand. Der übliche Einsatz. „Diesmal dabei?“

Bosch schüttelte den Kopf, während seine Kollegen ihren Einsatz in die Büchse stopften. Er hatte ihrem Wetteifer noch nie etwas abgewinnen können. Mit einem bangen Gefühl sah er hoch, als sich gegenüber die Tür öffnete. Kahlmann kam heraus, ging mit ausdrucksloser Miene an der offenen Tür vorbei. Hinter sich hörte Bosch das Kratzen des Edding auf Papier, als Wamsi schwungvoll ein fettes X über das feiste Gesicht malte.

Einer weniger.

Sie hatten den Raum längst verlassen, mit einem aufmunternden Wort, einem Blick oder einer Geste als Zeichen ihrer Unterstützung, als sich die Tür gegenüber wieder öffnete und Pfeiffer Bosch zu sich winkte.

„Na, Cowboy?“ Ein aufmunterndes Nicken. Ein fester Händedruck. „Schon lange zurück?“

Bosch schüttelte seinen Kopf.

„Ja, ja. Die Kur.“ Ein wissendes Zwinkern. „Wie ich Sie darum beneide.“ Eine einladende Bewegung. Ein gutes Zeichen.

Bosch folgte ihm ins Büro. Während seiner Kur hatte sich der Kontakt zwischen ihnen auf ein Minimum beschränkt. Zögernd setzte er sich auf den Stuhl, gespannt darauf, was Pfeiffer ihm mitzuteilen hatte. Er musste nicht lange warten.

Die Kripo? Bosch traute seinen Ohren nicht. Drei Monate?

„Nur vorübergehend“, betonte der Chef der Sicherheitskräfte. „Bei vollem Gehalt. Morgen früh fangen Sie an.“

„Das … das ist der Deal?“, brachte er endlich heraus.

„Was haben Sie erwartet? Gratulationen?“ Pfeiffers Stimme hatte eine schneidende Schärfe angenommen.

Oskar hatte also richtig gelegen. So wie es aussah, hatte er nicht irgendjemanden erschossen, natürlich nicht, sonst hätten sie ihm längst einen Orden verpasst, sondern einen gottverdammten Kronzeugen.

„Und wenn wir schon dabei sind“, fuhr Pfeiffer fort. „Was, verdammt noch mal, hat Sie bloß geritten, Kriminalhauptkommissar Schultze tätlich anzugehen? Einen Kollegen! Der spuckt Gift und Galle, und mit ihm die ganze Abteilung. Wenn Sie nicht verletzt gewesen wären … Sie können von Glück reden, dass Sie noch einen Job haben. Drei Monate ohne weitere Zwischenfälle“, betonte Pfeiffer in einem versöhnlicheren Ton, „und Sie haben die Beförderung zum Kommandoführer in der Tasche. Habe ich mich damit klar genug ausgedrückt?“

Bosch nickte zerknirscht. Was blieb ihm auch anderes übrig.

„Es wäre Ihrer Angelegenheit sicherlich dienlich“, hörte er Pfeiffers gedehnte Stimme nach einer Weile, „wenn Sie das Angebot unserer Kriminalpsychologischen Abteilung, Ihnen zu helfen, positiv überdenken würden.“

Boschs Kopf schnellte hoch. Die Seelenklempner? Was …?

„Ich weiß“, stoppte Pfeiffer seinen Protest mit erhobener Hand, „wie Sie und Ihre Kollegen darüber denken. Trotzdem … in Ihrem eigenen Interesse.“

Bosch zählte langsam bis drei, bevor er widerstrebend nickte. Hatte er denn eine Wahl?

An der erstbesten Kneipe hielt er an, versuchte den gröbsten Ärger runterzuspülen. So sah er also aus, dachte er verbittert, der berühmte Deal, den Pfeiffer eingefädelt hatte. Strafversetzung gegen Verfahrenseinstellung. Der übliche Kuhhandel. Wie hatte Pfeiffer nach dem Einsatz noch geklungen?

„Zwei Tote? Das lässt sich einrenken. Wie wir beide wissen, findet so etwas“, er musste den Begriff Polizeigewalt nicht nennen, „zum Glück vor Gericht kaum Gehör. Die sind auf unserer Seite. Keine Sorge. Das biegen wir schon irgendwie hin“.

Drei Monate! Bevor es zum Besäufnis ausarten konnte, brach er auf. Als der schwarze BMW, der ihm schon den ganzen Abend gefolgt war, im Rückspiegel auftauchte, behielt er ihn im Auge. Der kam ihm gerade recht! Erst im letzten Moment bog er nach links ab. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Wagen hinter ihm schlagartig beschleunigte, um ihn in den engen, unübersichtlichen Einbahnstraßen der Mainzer Neustadt nicht zu verlieren. Bosch nahm die engen Gassen so schnell er konnte. Am Frauenlobplatz hielt er an, stieg aus und kramte nach seiner EC-Karte. Als der BMW gleich darauf um die Ecke gerast kam, war es schon zu spät. Wahllos drückte Bosch eine Taste des Zigarettenautomaten, während der BMW das Tempo drosselte und langsam vorbeifuhr. Durch die getönten Scheiben konnte er nicht erkennen, wer im Inneren saß. Dann war der Wagen vorbei, quetschte sich in der nächsten Querstraße zwischen die parkenden Autos, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Desinteressiert steckte Bosch die ausgeworfene Schachtel ein.

3

Kurz vor Mitternacht betrat Bosch die Zentrale. Sie war leer. Nur Oskar Berg, der Wachhabende, ein Bär von einem Mann, hielt einsam die Stellung und hing am Telefon, sichtlich genervt. „Ja … neeeiin. Ich hab’s nicht vergessen. Ich habe momentan kein Team frei. Das ist der Grund. Wir schicken sobald wie möglich jemanden vorbei.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel. „Blödes Arschloch! Wo sind wir denn hier?“ Erst dann nahm er Bosch wahr. „Du hast mir gerade noch gefehlt.“

„Hektisch?“, fragte Bosch.

„Hektisch? Alle Mann sind raus, nur weil bei einem Ehemann so kurz vor Weihnachten sämtliche Sicherungen durchgeknallt sind und er unbedingt mit dem Messer auf seine Frau losgehen musste. Das Übliche vermutlich. Weihnachtsbraten gestrichen. Die liebe Verwandtschaft hat sich angekündigt.“ Müdes Abwinken. „Irgend so ’ne Lappalie. Kennen wir ja. Ist doch jedes Jahr das Gleiche.“ Aufgebracht zeigte Oskar auf das Telefon. „Und dann ruft ständig dieser Blödmann an. Er kann nicht schlafen! Ich soll ein Team rausschicken. Sofort. Wo sind wir denn hier?“

„Was Ernstes?“

„Ach was. Lautes Hupen und zwei Schüsse angeblich. Böller vermutlich, so kurz vor Neujahr. Aber bring das dem Alten mal bei! Jetzt blockiert auch noch ein liegen gebliebener Wagen die Fahrspur. Und wer darf der ganzen Sache nachgehen? Dreimal darfst du raten.“

Bosch blieb keine Zeit Luft zu holen, als Oskar loslegte. Sein Lieblingsthema: der eskalierende Streit zwischen der Stadt Mainz und der Polizeidirektion über die permanente Unterbesetzung des Ordnungsamtes, die unnötig Kräfte band, die der Polizei an anderer Ecke fehlten. In der Zentrale liefen ständig Anrufe auf, beklagte sich Oskar, die nicht in ihren Aufgabenbereich fielen. Über 220 Mal hatte die Polizei allein im letzten Monat ausrücken müssen. „In einem Monat! Stell dir das mal vor!“ Andere Vorfälle wie aggressives Auftreten, Zwangseinweisungen oder öffentliches Urinieren nicht mitgerechnet, schimpfte Oskar, als wäre es Boschs Schuld. Die Stadt hatte zwar eine Personalaufstockung des Ordnungsamtes angekündigt, „aber dafür wollen sie die Kontrollen ausweiten“, wetterte Oskar, „auf die Abend- und Nachtstunden. Und an wem bleibt das alles wieder hängen? Hm? Bald müssen wir hier wegen jeder Hundescheiße ausrücken!“

Oskar drehte das Logbuch um, tippte erregt auf den letzten Eintrag. „Ich komme gar nicht mehr dazu, sämtliche Anrufe von dem Blödmann hier einzutragen.“ Nur langsam bekam er seine Wut in den Griff. „Rentner müsste man sein. Nichts zu tun. Und alle Zeit der Welt.“

Das Schrillen des Telefons. Ein Blick auf das Display. „Das ist er schon wieder. Was soll ich bloß … so geht das seit einer halben Stunde. Sag mal …“ Oskars Augen huschten zwischen der Wanduhr und Bosch hin und her. Das schrille Bimmeln des Telefons für den Moment vergessend. Ein berechnender Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit. „Wann fängt dein Dienst an, Bosch? Um sieben?“ Langsam bewegte sich der Sekundenzeiger auf die zwölf zu.

Abwehrend hob Bosch die Hände, wich einen Schritt zurück. „Geht nicht, tut mir leid. Anne …“ Er schluckte. „Morgen früh kommt sie vorbei.“

Sie hatte ihn angerufen. Das erste Lebenszeichen, nachdem sie Louis, ihren gemeinsamen Sohn, nach dem letzten Einsatz geschnappt hatte und Hals über Kopf ausgezogen war. Bosch kämpfte die Erinnerung nieder. Er hatte sie vermisst während seines Kuraufenthalts, sie und Louis. Würden sie wieder einziehen? Hatte Anne deswegen angerufen? Beschwörend sah er Oskar an. „Da kann ich unmöglich …“

„Wann?“ Bedächtige Stimme, als spräche Oskar mit einem geistig Behinderten, während er weiter fasziniert den Weg des Sekundenzeigers verfolgte. „Um sieben? Oder acht?“

Bosch wusste es nicht.

„Bis dahin bist du längst zuhause. Tu mir den Gefallen“, flehte Oskar. „Das dauert fünf Minuten. Höchstens.“

Als Bosch nicht reagierte, zog er den Dienstplan zu sich, schnappte sich einen Bleistift. „Mal sehen.“ Stirnrunzelnd überflog er den Plan. „Dein Dienst fängt morgen an. Das wäre, genau genommen …“ Mit dem Stift tippte er jede verstreichende Sekunde mit, bis der Zeiger auf zwölf sprang. „Jetzt.“

Oskars Gesicht verzog sich zu einem Haifischgrinsen. „Ich könnte natürlich auch … aber bevor ich jemand anderen aus dem Schlaf reißen muss.“ Reglos verharrte der Stift über Boschs Namen. „Also?“

Bosch konnte die Zwickmühle verstehen, in der Oskar steckte. Solange der Streit um die Zuständigkeiten anhielt, standen die Einsätze bei den täglichen Dienstbesprechungen unter verschärfter Beobachtung. „Na gut“, lenkte er ein. „Weil du’s bist.“

Das Haifischgrinsen wurde breiter. Oskar nannte ihm eine Adresse, Holzhofstraße Ecke Windmühlenstraße, und ließ Dienstplan und Bleistift spurlos verschwinden. „Das liegt praktisch auf deinem Heimweg.“ Wenn man den Umweg durch die Innenstadt nicht mitrechnete.

Bosch warf eine Schachtel auf die Theke. Oskar warf einen Blick auf die Verpackung. Menthol. Irritiert sah er Bosch an. Das süßliche Kraut rauchte keiner von ihnen.

„Kannst du den Wagenhalter für mich ermitteln?“, fragte Bosch.

Erst jetzt fiel Oskar die dünne, krakelige Schrift am oberen Rand auf. Zögernd griff er danach, versuchte die verschmierten Zahlen zu entziffern. „Kann einen Moment dauern.“

Bosch nickte. Das hatte keine Eile.

Nur wenige Fahrzeuge kamen ihm entgegen, als er die Rheinallee entlangfuhr, die schnellste Route zu seinem Ziel. Das Mainzer Nachtleben spielte sich zu seiner Rechten ab, in den engen Gassen der Altstadt, nicht hier in der Nähe des Rheins, wo man dem nasskalten Wind schutzlos ausgeliefert war, der durch die Straßen pfiff. Das änderte sich, als er sich seinem Ziel näherte. Tief geduckt hasteten Fußgänger unter ihren Schirmen vorbei, auf dem Weg zu den Tiefgaragen. Vor dem Großraumkino standen kleine Grüppchen zusammen. Besucher der Spätvorstellungen, die auf ein Nachlassen des heftigen Regens warteten, auf den Bus, oder vielleicht einfach keine Lust hatten, schon nach Hause zu gehen.

Als Bosch die Kreuzung erreichte, sah er die Limousine, die die mittlere Fahrspur blockierte, gebadet in das kränkliche Licht der Straßenbeleuchtung. Monoton blinzelten die gelben Warnblinker, zauberten verwaschene, pulsierende Ringe auf die Windschutzscheibe, als er langsam vorbeifuhr und seinen Wagen hinter dem Alfa Romeo stoppte.

„Vermutlich eine Panne“, informierte er Oskar. Kein Grund, die Kollegen rauszuschicken.

„Dachte ich mir“, kam die erleichterte Antwort aus dem Hörer. „Bin froh, wenn ich den Alten los bin. Der ruft bestimmt jeden Moment wieder an.“ Prompt schrillte im Hintergrund ein Telefon. „Das ist er!“, stöhnte Oskar. „Warte mal.“ Der Hörer wurde zur Seite gelegt. „Nein, nein …“, in Oskars Stimme schwang Panik mit. „Sie können ganz beruhigt sein. Mein Kollege ist gerade vor Ort. Einer unserer verdeckten Ermittler. Die fahren in Zivil … ja, ja … machen Sie sich keine Sorgen.“

Rascheln, dann war Oskar wieder dran.

„Der Alte. Wollte wissen, wo wir bleiben. Ist natürlich sofort ans Fenster gerannt und hat keinen Polizeiwagen gesehen. Tu mir einen Gefallen. Steig aus. Schau dich um. Mach irgendwas, um den Alten zu beruhigen, sonst habe ich den noch die ganze Nacht am Hals.“

Bosch fügte sich in das Unvermeidliche, hastete geduckt nach hinten, zog eine Regenjacke über seine nassen Klamotten und schnappte sich die Stablampe. Er wusste nicht, gegen wie viele Polizeidienstvorschriften er verstieß, als er auf den Wagen zustiefelte. Offiziell war er nicht im Dienst, hatte keinen zweiten Beamten dabei, der ihn absicherte. Scheiß drauf. Er richtete den Strahl seiner Lampe auf den Alfa Romeo, blinzelte gegen das grelle Licht, das sich in der Scheibe vor ihm spiegelte. Bevor er etwas erkennen konnte, nahm er den beißenden Gestank nach Pulverrückständen wahr, der in der Luft hing.

Bosch zuckte zurück. Mit einem lauten Platsch verschwand die Stablampe in der schäumenden Gischt vor seinen Füßen. Ein letzter peinlicher Moment der Klarheit, dann kam die stinkende Brühe aus Essensresten hoch, klatschte mit einem satten Geräusch gegen die Wagentür vor ihm. Mühsam rang er nach Atem, leicht vornübergebeugt, mit zitternden Knien, beide Arme schützend um den Magen gelegt. Der krampfte sich zusammen. Pumpte. Drückte alles nach oben, was er zu sich genommen hatte. Immer und immer wieder. Bis nichts mehr kam.

Sein Finger rutschte immer wieder ab, als er die Nummer der Zentrale in sein Handy einzutippen versuchte. Hinterließ blutige Schlieren auf der metallenen Tastatur. Musste er sich beim Abtasten des Bodens zugezogen haben, als er die Stablampe in dem aufgewühlten Regenwasser gesucht hatte.

„Die MK-Bereitschaft?“ Oskars zynisches Gelächter am anderen Ende der Leitung, als er nach der Bereitschaft der Mordkommission fragte. „Ich kann dir noch nicht mal eine Streife vorbeischicken, Bosch. Ich habe niemanden hier, hörst du? NIE-MAN-DEN.“

Die ganze Mannschaft war ausgerückt, mit Mann und Maus. Und das konnte dauern. Innerlich kochend erklärte Bosch sich bereit, auf sie zu warten. Notdürftig sicherte er den Tatort ab. Dann klemmte er sich hinter das Lenkrad, drehte die Heizung hoch, machte sich auf ein langes Warten gefasst.

Die letzten Sekunden zählte er an den gespreizten Fingern seiner Hand ab. Dann glitt er lautlos hinein, dicht gefolgt von Ecki. In einer fließenden Bewegung schwenkte er die P226 über seine Seite, bereit beim geringsten Anzeichen einer Gefahr abzudrücken. Niemand tat ihm den Gefallen. Er klappte das Visier nach unten. Augenblicklich wurde seine Welt grün. Der Effekt des Restlichtverstärkers.

Fahles Mondlicht fiel durch ein Fenster auf die Stufen, als sie vorsichtig hochschlichen, die Waffen gezückt. Ein tückischer Parcours aus Glasscherben und zerbeulten Bierdosen, die unter ihren schweren Stiefeln knackten. Irritierende Lichtreflexe im grünlichen Flimmern ihrer Nachtsichtgeräte. Bosch riskierte einen Blick nach draußen, erkannte Achim Martinoff und Klaus Wamsi unter ihren Camouflage-Decken auf dem Flachdach gegenüber, für das normale Auge kaum sichtbar, die Präzisionsgewehre im Anschlag. Die Welt reduziert auf den kleinen Ausschnitt ihrer Zielfernrohre. Das Fenster im Visier, hinter dem sich die Zielperson aufhalten sollte.

Sie postierten sich seitlich vor der Tür. Ein Flashbang kullerte in den dunklen Raum. Genug, um selbst den härtesten Gegner auf ein wimmerndes Häufchen Elend zu reduzieren. Sekunden später folgten die Detonationen. Kurz nacheinander. Um sie herum brach die Hölle los, als sie die Bude stürmten. Die Ratten waren aufgewacht. Ihnen blieb nicht viel Zeit.

Ein grauer Schatten schälte sich aus dem dichten Qualm der Granaten, zielte auf ihn. Beinahe hätte er abgedrückt, erkannte im letzten Moment Ecki, der ratlos seine P226 hin und her schwenkte, genau wie er. Das Nest war leer.

„Falscher Raum!“, brüllte er ins Helmmikro. Sollten sie sich später ruhig über die Lautstärke beklagen. Fahrige, nervöse Anweisungen über Funk. Jetzt rächte sich, dass keiner wusste, wo alle steckten. Für zwei, drei Minuten vielleicht waren sie von jeder Unterstützung abgeschnitten. Eine Ewigkeit.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Er richtete seine Waffe auf die geschlossene Tür, hinter der er das Geräusch gehört hatte. Er baute sich vor der Tür auf, zog seinen schweren Stiefel zurück, nahm sorgfältig Maß und…

… schreckte hoch, schweißgebadet, mit trockenem Mund und rasendem Puls. Der dumpfe Schlag aufs Dach ließ Bosch mit einem gellenden Schrei hochfahren.

„He!“, hörte er eine genervte Stimme.

Bosch sah zur Seite. Durch die beschlagene Scheibe erkannte er eine Gestalt, die ihm ungeduldig zuwinkte, die Tür zu öffnen. Die MK-Bereitschaft. Endlich. Nachdem der Zugführer seine Leute eingewiesen hatte, zogen sie sich zu zweit in den relativen Schutz eines überdachten Hauseingangs zurück und beobachteten von dort aus, wie die Beamten in Windeseile Metallstangen zusammensteckten und Lichtstative aufstellten, um den Platz auszuleuchten.

„Schöner Wagen“, brummte der Zugführer neidisch.

Ein Notaggregat sprang an, spie dunkle Dieselschwaden in den nächtlichen Himmel über ihnen. Weitere Fahrzeuge tauchten auf. Gestalten stiegen aus, eilten den Beamten zu Hilfe, stemmten sich laut fluchend gegen die heftigen Windböen, bis es ihnen endlich gelang, eine Plane über die Stangen zu ziehen. Der Form halber, wie alle wussten. Die Wassermassen hatten längst alle brauchbaren forensischen Spuren weggespült.

Ein Beamter blieb neben seinem Fahrzeug stehen, sah dem Treiben von dort aus ungerührt zu. Als sein Blick auf Bosch fiel, straffte sich die gedrungene Gestalt, stapfte resolut auf sie zu, den Kopf unter der Kapuze leicht gesenkt, nach vorne gereckt wie ein attackierender Bulle. Als er vor ihnen zum Stehen kam, hob er den Kopf. Die Kapuze rutschte nach hinten, enthüllte sein hasserfülltes Gesicht.

„Der Rambo vom SEK.“

Ungläubig starrte Bosch zurück, spürte, wie ihm für einen Moment der Boden unter den Füßen wegzukippen drohte. Das Wieselgesicht, wie er Kriminalhauptkommissar Ingo Schultze im Stillen getauft hatte. Der Scheißkerl, den er nach dem missglückten Zugriff, in Pfeiffers Worten, tätlich angegangen war. Eine nette Umschreibung dafür, wie Bosch seinen Schädel gegen den Boden gerammt hatte, bis seine Kollegen ihn endlich von der wimmernden Gestalt weggezerrt hatten.

Großspurig baute sich Schultze vor ihm auf, die Arme vor der Brust verschränkt. Regen tropfte ihm von der Krempe ins Gesicht. „Ist dir der Boden zu heiß geworden nach der letzten Sauerei?“

Bosch spürte, wie der Zugführer sie beide abschätzend musterte, gespannt auf den Ausgang des pissing contest, bis ihn der eisige Blick des Kriminalhauptkommissars an seine Aufgaben zu erinnern schien.

„Na dann wollen wir mal“, murmelte er schicksalsergeben, sah Bosch mitleidig an, bevor er sich tief geduckt auf den Weg machte und gleich darauf in dem provisorischen Zelt verschwand.

„Was bildest du dir ein, Killer?“, zischte das Wieselgesicht. Seine Augen fixierten Bosch, bohrten tiefe Löcher in seine Brust. „Zwei Tote? Und du traust dich noch hierher?“ Ein anklagender Finger richtete sich auf Bosch, machte stechende Bewegungen. „Glaubst du wirklich, du kannst weitermachen als wäre nichts passiert? Drei Monate lang ’ne ruhige Kugel schieben und gut is’? Nee“, zischte er voller Hass, richtete sich zu voller Größe auf. „Nicht mit mir!“

Ein letzter, warnender Blick noch, dann rauschte er davon, stieg in seinen Wagen und fuhr los.

Ohnmächtig ballte Bosch die Hände. Keine weiteren Zwischenfälle? Wie denn, wenn der Scheißkerl ihm ständig über den Weg lief? Wenigstens schien er mit den Ermittlungen hier nichts zu tun zu haben.