www.vahlen.de
ISBN 978-3-8006-5022-4
© 2015 Verlag Franz Vahlen GmbH
Wilhelmstraße 9, 80801 München
Satz: Fotosatz Buck
Zweikirchener Straße 7, 84036 Kumhausen
eBook‐Produktion: Datagroup int. SRL, www.datagroup.ro
Dieser Titel ist auch als Printausgabe beim
Verlag und im Buchhandel erhältlich.
VORWORT
Kapitel 1: Die Grenzen der Hierarchie in einer beschleunigten Welt
Vom Netzwerk zur Hierarchie
Die Grenzen managementgesteuerter Hierarchien
Eine neue Richtung
Wie geht es weiter?
Kapitel 2: Chancen nutzen mit einem dualen Betriebssystem
Die Struktur eines dualen Systems
Die Prinzipien eines dualen Betriebssystems
Die acht Beschleuniger
Die freiwilligen Helfer
Wachstum und Dynamik
Kapitel 3: Die Risiken – Ein mahnendes Beispiel
Eine neue Strategie
Die HR-IT-Initiative
Einschätzung der Risiken
Die Geschichte – Teil 2
Vorstellung und Realität
Kapitel 4: Führung und Entwicklung
Management ist nicht gleich Führung
Die organisatorische Entwicklung
Zurück in die Zukunft
Kapitel 5: Die fünf Prinzipien und acht Beschleuniger in der Praxis
Davidsons Außendienst
Was Davidson über die fünf Prinzipien lernte
Der 1. Beschleuniger: Dringlichkeit bezogen auf eine große Chance
Der 2. Beschleuniger: Die Führungskoalition
Der 3. Beschleuniger: Eine Veränderungsvision und strategische Initiativen
Der 4. und 5. Beschleuniger: Freiwillige Helfer gewinnen und Initiativen vorantreiben
Der 6. bis 8. Beschleuniger: Erfolge, Erfolge und noch mehr Erfolge
Die Ergebnisse sprechen für sich
Bisherige Ergebnisse in anderen Organisationen
Kapitel 6: Dringlichkeit: Die Triebkraft des Wandels
Dringlichkeit, Selbstzufriedenheit und falsche Dringlichkeit
Ein aufgeschlossener Blick nach außen
Wirksames Vorbildverhalten
Umgang mit Erfolgen und positive Energie
Jeder, immer, überall
Kapitel 7: Die große Chance
Der Ausgangspunkt: Möglichkeiten und Chancen
Wie man ein gutes Opportunity Statement schreibt
Fallbeispiel: Schnelles Wachstum bei einem Maschinenbauer
Fallbeispiel: Revolutionierte Lieferketten
Fallbeispiel: Neue Wege im Vertrieb und Marketing
Fallbeispiel: Neue Spielregeln im Militär
Kapitel 8: Erste Schritte: Fragen und Antworten
Kapitel 9: Strategie – ein Ausblick auf die (unvermeidliche) Zukunft
Exponentielles Wachstum
Die Entwicklung des Strategiebegriffs
Das duale System – und Sie
Anhang A: Können Ihre „Best Practices“ Sie retten?
Eine Einschätzung
Methode 1: Ergänzung der operativen Planung und Umsetzung durch strategische Komponenten
Methode 2: Erweiterung des Grundsystems durch (permanente oder temporäre) neue Einheiten, Mitarbeiter und Vorgesetztenverhältnisse
Methode 3: Beschleunigung durch Übernahmen
Anhang B: Müssen Sie jetzt handeln?
Eine Einschätzung
Das Ausmaß relevanter externer Veränderungen
Was auf dem Spiel steht
Das Ausmaß notwendiger interner Veränderungen
Ihre neuesten Erfahrungen mit einer optimierten Hierarchie
Kulturelle Veränderungen
Bereits angestoßene strategische Veränderungen
Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Ära, die von unkalkulierbaren Turbulenzen und exponentiell zunehmendem Wandel gekennzeichnet ist, auf den wir nicht vorbereitet sind. Das vorliegende Buch zeigt, wie es einigen Pionieren gelingen konnte, dieses aufkeimende Umfeld zu ihrem Vorteil zu nutzen – und damit zu den großen Gewinnern einer neuen Zeit zu werden.
Accelerate beschäftigt sich mit der Frage, wie man strategischen Herausforderungen schnell genug, mit Agilität und mit Kreativität begegnen kann, um einmalige Gelegenheiten effektiv zu nutzen, die sich heute schneller denn je auftun und wieder verschwinden. Es zeigt, wie Menschen in einigen führenden, innovativen Organisationen harte Konkurrenzkämpfe gewinnen, nie dagewesenen Turbulenzen standhalten und mit den jederzeit drohenden technologischen Diskontinuitäten umgehen – und zwar ohne ihre kurzfristigen Ergebnisse zu beeinträchtigen oder ihre Mitarbeiter übermäßig zu belasten.
Die hier präsentierten Schlussfolgerungen sind von fundamentaler Bedeutung. Die Welt verändert sich heute so schnell, dass die grundlegenden Systeme, Strukturen und Kulturen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt haben, den neuen Anforderungen nicht mehr standhalten können. Die schrittweisen Anpassungen unserer bisherigen Management- und Strategieentwicklungssysteme, so clever sie auch sein mögen, sind für diese Aufgabe völlig ungeeignet. Um in einer von Umbrüchen und wachsender Unsicherheit geprägten Zeit an der Spitze zu bleiben, ist vielmehr ein völlig neuer Ansatz gefragt.
VIDie Lösung besteht jedoch nicht darin, unser gesamtes Wissen zu verwerfen und noch einmal bei null anzufangen. Sie besteht darin, auf natürliche Weise ein zweites System einzuführen, das den meisten erfolgreichen Unternehmern sogar bereits bekannt sein dürfte. Dabei sorgt das neue System für die notwendige Agilität und Geschwindigkeit, während der Fortbestand des alten Systems Verlässlichkeit und Effizienz gewährleistet. Die Kombination beider Systeme ähnelt sehr der Struktur, die sich im Leben eines jeden reifen Unternehmens irgendwann einmal entwickelt hat, dann aber nicht aufrecht erhalten (und zwischenzeitlich vergessen) wurde. Es gibt eine praktische und äußerst kostengünstige Methode, dieses „duale Betriebssystem“ aufzubauen und rasch greifbare Ergebnisse damit zu erzielen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es funktioniert.
Das diesem Buch zugrunde liegende Forschungsprojekt basiert auf meinen bisherigen Untersuchungen über groß angelegte Veränderungen. Diese wurden von der Harvard University finanziert, an der ich seit vielen Jahrzehnten lehre. Über die Ergebnisse habe ich erstmals in meinem Buch Leading Change (1996) berichtet. Weitere Erkenntnisse folgten in The Heart of Change (2002), Our Iceberg is Melting (2006), A Sense of Urgency (2008) und Buy-in (2010), wobei letzteres auf meinen ersten Studien zum Thema Führung basiert, die bis 1974 zurückreichen. Die vielleicht wichtigsten Ergebnisse in diesem Zusammenhang wurden 1990 unter dem Titel A Force for Change: How Leadership is Different from Management veröffentlicht.1 Es erstaunt mich immer wieder, wie robust die Schlussfolgerungen aus diesen Arbeiten noch heute sind, wie sie nach wie vor Gültigkeit besitzen, obwohl sich die Welt, mit der Führungskräfte in Unternehmen (aber auch in Behörden, gemeinnützigen Organisationen und Bildungseinrichtungen) heute konfrontiert sind, so sehr verändert hat. Die Erkenntnisse, die ich in diesem Buch präsentiere, ergänzen meine bisherige Arbeit. Das Problem liegt in diesem Fall nämlich keineswegs darin, dass alte Ideen aufgrund neuer Realitäten ihre Gültigkeit VIIverlieren. Vielmehr geht es darum, die bisherigen Schlussfolgerungen zu erweitern, um bahnbrechende neue Ideen daraus abzuleiten.
Bis zu diesem Projekt bin ich bei allen Untersuchungen, die ich über viele Jahrzehnte hinweg durchgeführt habe, nach derselben Methode vorgegangen: Finde Unternehmen, die zu den zehn oder zwanzig Prozent der erfolgreichsten Organisationen gehören. Beobachte, was sie tun. Sprich mit Menschen, die in diesem Umfeld gearbeitet haben. Gehe dann bei den Organisationen mit durchschnittlichem Erfolg und bei den Schlusslichtern genauso vor. Suche nach Mustern, in denen die Unterschiede zwischen ihnen deutlich werden. Dokumentiere diese Muster und konzentriere dich dabei auf Faktoren, die man beeinflussen kann – um durchschnittliche in sehr gute und schlechte in zumindest akzeptable Leistungen zu verwandeln.
Bei diesem Projekt habe ich erstmals in meiner beruflichen Karriere eine Vorgehensweise ausprobiert, die sich in zwei grundlegenden Aspekten von meinem bisherigen Ansatz unterscheidet: Hier fange ich bei den Menschen an, die mit ihrer Arbeit wirklich Grenzen überwunden und ganz neue Dimensionen geschaffen haben. Das gilt nur für vielleicht das oberste eine Prozent aller Organisationen – diejenigen, die durch vollkommen neue Handlungsweisen wahrlich herausragende Ergebnisse erzielt haben. Im nächsten Schritt beobachte ich, wie andere (gewöhnlich mithilfe von Kotter International) versucht haben, es den Besten der Besten auf ihre eigene Weise, in ihren eigenen Branchen oder Organisationen gleichzutun. Dieser Wechsel fühlt sich in etwa so an, als würde ein Pharmaunternehmen von reiner Grundlagenforschung zu Grundlagenforschung plus Produktentwicklung plus klinischer Erprobung übergehen.
Accelerate richtet sich an Führungskräfte, die willens und fähig sind, die harte Realität des heutigen wirtschaftlichen Umfelds zu erkennen, zu wissen, dass mutige Veränderungen notwendig sind, und die bereit sind, dabei als Wegbereiter voranzugehen. Ich hoffe, dass die Geschichten der ersten, erfolgreichen Pioniere in diesem Zusammenhang Ihre eigenen Entscheidungen in dieser Richtung bestätigen werden, dass sie Ihnen Zuversicht geben, noch weiter zu gehen, und Sie inspirieren, die dringend erforderlichen zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen. Meiner Meinung nach erfordert der Aufbau VIIIvon Organisationen, die heute und auch in Zukunft erfolgreich sind, zweifelsohne wesentlich größere Anstrengungen, als wir sie bislang unternommen haben. Es muss viel mehr geschehen, um florierende Wirtschaftsstrukturen zu schaffen, die Milliarden von Menschen auf diesem Planeten zu einem besseren Leben mit mehr Wohlstand verhelfen.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Unternehmensberatung Kotter International finanziert, bei der ich als Director of Research tätig bin und die Pioniere bei der Umsetzung der hier vorgestellten Methoden unterstützt. Darüber hinaus ist mir auch die Harvard University nach wie vor eine große Hilfe gewesen – nicht mehr durch finanzielle Mittel zwar, dafür aber umso mehr durch die Kommentare zu meinen Textentwürfen, die ich von Studierenden unserer Executive-Programme und Fakultätskollegen erhalten habe.
Wie immer haben viele Menschen auf die eine oder andere Weise einen Beitrag zu diesem Buch geleistet. Dazu gehören insbesondere Dennis Goin und Randy Ottinger von Kotter International sowie Amy Bernstein und Jeff Kehoe von Harvard Business Publishing.
1 Anm. d. Übers.: In deutscher Sprache erschienen sind die Titel „A Force for Change: How Leadership is Different from Management“ (Abschied vom Erbsenzähler, Econ-Verlag, 1991), „A Sense of Urgency“ (Das Prinzip Dringlichkeit, Campus-Verlag, 2009), „Our Iceberg is Melting“ (Das Pinguin-Prinzip: Wie Veränderung zum Erfolg führt, Droemer, 2011) und „Leading Change“ (Leading Change: Wie Sie Ihr Unternehmen in acht Schritten erfolgreich verändern, Vahlen, 2013).
Dieses Buch ist ein Buch über und für Pioniere. Die Themen, die ich hier ansprechen werde, sind alle mit einer einzigen, bahnbrechenden Beobachtung verbunden: Überall haben Organisationen große Schwierigkeiten, mit dem zunehmenden Tempo des Wandels schrittzuhalten – geschweige denn, ihm zuvorzukommen.
Die meisten Menschen nehmen die rasanten Entwicklungen in ihrem Umfeld gar nicht in ihrem vollen Ausmaß wahr, und das ist ein Teil des Problems. Objektiv betrachtet aber sind die Daten überzeugend: Fast alle großen Wirtschaftsindizes zeigen, dass sich die Welt rasend schnell verändert. Und ähnlich exponentiell nehmen auch die Dinge zu, die dabei für uns auf dem Spiel stehen – die finanziellen, gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Konsequenzen des beschleunigten Wandels.
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Doch wie kann man in einem zunehmend von Turbulenzen und Umbrüchen geprägten Umfeld wettbewerbsfähig bleiben und profitabel wachsen? Das ist die große Frage, mit der sich Führungskräfte heute überall auseinandersetzen müssen. Das größte Problem liegt darin, dass jedes Unternehmen jenseits der Gründungsphase viel stärker auf Effizienz hin optimiert wird als auf strategische Agilität – die Fähigkeit, schnell und selbstbewusst Chancen zu nutzen und Gefahren auszuweichen. Ich könnte Ihnen bestimmt hundert Beispiele von Unternehmen nennen, die wie der US-Buchhändler Borders oder der kanadische Smartphone-Hersteller Research in Motion (RIM) die Notwendigkeit eines großen strategischen Schrittes zwar erkannt haben, ihn aber nicht schnell genug umsetzen konnten und am Ende von agileren Konkurrenten an den Rand gedrängt wurden. Das Muster ist immer dasselbe: Eine Organisation sieht sich plötzlich mit einer echten Bedrohung konfrontiert oder erkennt eine große Chance und versucht – ohne Erfolg – mithilfe von Strukturen, Prozessen und Methoden, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, große Veränderungen im Schnellverfahren herbeizuführen. Doch die alten Methoden reichen für die Entwicklung und Umsetzung neuer Strategien oft einfach nicht mehr aus.
Früher haben Unternehmen ihre grundlegenden Strategien nur selten überarbeitet – eigentlich nur dann, wenn sie dazu gezwungen waren. Heute setzt jedes Unternehmen seine Existenz sofort aufs 3Spiel, wenn es seine grundsätzliche Ausrichtung nicht wenigstens alle paar Jahre überdenkt und bei Bedarf zügig die erforderlichen operativen Änderungen vornimmt (auf neue Bedingungen muss es natürlich ständig reagieren). Das sind die Auswirkungen des beschleunigten Wandels. Dabei kann jede Führungskraft bestätigen, dass es oftmals einem Spagat gleichkommt, wenn man in einem immer härteren Wettbewerbsumfeld die Nase vorn behalten will und gleichzeitig die jährlichen Finanzziele erreichen muss.
Wir dürfen die zahlreichen Aufgaben nicht unterschätzen, die in jedem Unternehmen tagtäglich zu erledigen sind und die von traditionellen Hierarchien und Managementprozessen noch immer sehr gut bewältigt werden können. Ganz im Gegensatz zu der Herausforderung, die größten Gefahren und Chancen früh genug zu erkennen, in kürzester Zeit innovative strategische Initiativen zu formulieren und diese vor allem hinreichend schnell umzusetzen.
Praktisch alle erfolgreichen Organisationen weltweit durchlaufen einen ganz ähnlichen Lebenszyklus: Sie beginnen als netzwerkartige Struktur, die einem Sonnensystem mit Sonne, Planeten, Monden und sogar Satelliten ähnelt. Im Mittelpunkt stehen die Gründer. Die einzelnen Knoten repräsentieren die Mitarbeiter, die an verschiedenen Initiativen arbeiten. Alles Handeln ist darauf ausgelegt, Chancen zu nutzen und Risiken einzugehen, und folgt dabei stets einer Vision, mit der sich alle Beteiligten identifizieren – mit dem Ergebnis, dass energiegeladene Mitarbeiter schnell und flexibel agieren.
Mit der Zeit entwickelt sich eine erfolgreiche Organisation in mehreren Phasen (ein wichtiger Aspekt, daher später mehr dazu) zu einem Unternehmen, das hierarchisch aufgebaut ist und von altbekannten Managementprozessen angetrieben wird: Planung, Budgetierung, Stellenbildung, Stellenbesetzung, Messung und Problemlösung. Mit einer gut strukturierten Hierarchie und geschickt gelenkten Managementprozessen kann diese reifere Organisation unglaublich zuverlässige und effiziente Wochen-, Quartals- und Jahresergebnisse liefern.
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Eine gut strukturierte Hierarchie ermöglicht es uns, Arbeit in Abteilungen, Sparten und Regionen aufzuteilen, in denen fundierte Fachkenntnisse entwickelt und gefördert, bewährte Verfahren erfunden und eingesetzt werden und eindeutige Vorgesetztenverhältnisse und Rechenschaftspflichten bestehen. Zusammen mit Managementprozessen, die selbst Tausende Mitarbeiter auf der ganzen Welt lenken und koordinieren können, ergibt sich daraus ein Betriebssystem, das die Menschen genau das tun lässt, worin sie besonders gut sind.
Es gibt Menschen, die all das als bürokratisches Überbleibsel der Vergangenheit verspotten, das für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts völlig ungeeignet ist. „Weg damit“, fordern sie. „Dem Erdboden gleichmachen. Von vorn anfangen. Als Spinnennetz organisieren. Das mittlere Management eliminieren und auf Selbststeuerung der Mitarbeiter setzen.“ Die Wahrheit aber ist, dass die managementgesteuerten Hierarchien, die in guten Unternehmen zum Einsatz kommen und die wir für selbstverständlich halten, zu den genialsten Innovationen des 20. Jahrhunderts zählen. Und sie sind nach wie vor absolut notwendig, damit Organisationen überhaupt funktionieren können.
Genial ist zum Beispiel die Tatsache, dass sie optimiert werden können, um auf Veränderungen zu reagieren, die über bloße Wiederholung 5hinausgehen – zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Wir haben gelernt, in einem hierarchischen System Initiativen auf den Weg zu bringen, um neue Aufgaben zu bewältigen und unsere Leistung bei den alten zu verbessern. Wir wissen, wie man neue Probleme identifiziert, Daten in einem dynamischen Marktumfeld findet und analysiert, und anhand von Business Cases untersucht, wie wir verändern können was wir tun, wie wir es tun, wie wir es verkaufen und wo wir es verkaufen. Wir haben gelernt, diese Änderungen umzusetzen, indem wir Taskforces, Tiger-Teams, Projektmanagement-Abteilungen und Executive Sponsoren für neue Initiativen einsetzen. Dabei können wir uns gleichzeitig noch immer um die tagtäglichen Aufgaben der Organisation kümmern, weil sich diese Methode der strategischen Veränderung leicht in eine hierarchische Struktur und in einfache Managementprozesse integrieren lässt. Und genau das haben Führungskräfte bisher überall getan – und zwar jedes Jahr in einem etwas größeren Ausmaß.
Jede einschlägige Umfrage unter Führungskräften, die mir in den letzten zehn Jahren untergekommen ist, hat ergeben, dass mehr strategische Initiativen denn je auf den Weg gebracht werden. Fähige Führungspersonen waren schon immer um Produktivitätssteigerungen bemüht. Jetzt aber versuchen sie, mehr Innovationen in kürzerer Zeit hervorzubringen. Und wenn historische, über viele Jahre oder Jahrzehnte entstandene Organisationskulturen schwerfälliger werden, versuchen ungeduldige Führungskräfte, sie zu verändern. Dabei besteht das oberste Ziel all dieser Bemühungen natürlich immer darin, profitables Wachstum zu beschleunigen, um mit der Konkurrenz mitzuhalten oder sie zu überholen.
Dieselben Umfragen zeigen aber auch, dass der Erfolg bei all diesen Initiativen oft nur eine Illusion ist. Ein kürzlich unternommener Neustart bei dem US-Einzelhändler JC Penney etwa schien außergewöhnlich vielversprechend – für ein paar Monate. Und dann begannen die vielen strategischen Projekte langsam komplett auseinanderzufallen.
Die Schwachstellen des Systems sind uns allen wohlbekannt.
Wenn wir einmal darüber nachdenken, stellen wir fest, dass wir die Leitung von Schlüsselinitiativen immer wieder demselben kleinen Kreis vertrauter Personen überlassen. Das schränkt sowohl unseren Handlungsspielraum als auch die Umsetzungsgeschwindigkeit erheblich ein.
Wir stellen fest, dass die Kommunikation in siloartigen Strukturen nicht ausreichend schnell und wirksam ist. Dasselbe gilt für den Informationsfluss von der Spitze der Organisation an die Basis und umgekehrt. Die Folge: Weitere Verzögerungen.
Wir stellen fest, dass selbst die sinnvollsten Grundsätze, Regeln und Verfahren strategische Veränderungen blockieren. Im Laufe der Zeit nehmen diese Mittel – implementiert als Lösungen für reelle Kosten-, Qualitäts- oder Compliance-Probleme – zwangsläufig an Umfang zu. In einer schnelllebigeren Welt aber macht sie das mindestens zu Bremsschwellen, wenn nicht gar zu ausgewachsenen Betonbarrieren.
Wir stellen fest, dass der kurzfristige Fokus auf Quartalszahlen mit zukunftsorientierten Anstrengungen kollidiert, Gas zu geben und unsere Konkurrenten zu überholen. Es ist klar, welches Thema eine Besprechung dominieren wird, bei der sowohl über ein großes Programm zur Ausweitung der Innovationstätigkeit als auch über die Aufräumarbeiten nach einem Brand in einer Ihrer Betriebsstätten diskutiert werden soll. Multipliziert mit dem Faktor Hundert oder Tausend führt diese inhärente Tendenz unvermeidlich dazu, dass so viele gute Ideen zur Steigerung des Innovations- und Erfolgspotenzials einer Organisation entweder zum Stillstand kommen oder völlig verkümmern.
Zum Teil ist dieses Problem politisch und gesellschaftlich bedingt: Es widerstrebt uns oft, ohne die Einwilligung unserer Vorgesetzten Risiken einzugehen. Zum Teil hat es ganz einfach mit der menschlichen Natur zu tun: Menschen sind Gewohnheitstiere und haben Angst davor, Macht und Ansehen zu verlieren.
7Selbstzufriedenheit und mangelnde Akzeptanz – typische Konsequenzen früherer Erfolge – machen die Sache noch komplizierter. Schon das kleinste bisschen Zufriedenheit mit dem Status quo versetzt Menschen in den Glauben, es seien keine großartigen Neuerungen mehr notwendig, und führt dazu, dass sie sich jeglichen Veränderungen widersetzen. Fehlt es dagegen an Akzeptanz, dann sind Ihre Mitarbeiter zwar vielleicht auch der Meinung, dass etwas Neues gebraucht wird, aber eben nicht die strategischen Initiativen aus der Vorstandsetage. Beide Einstellungen bringen Beschleunigung zum Stillstand.
Es kann verlockend sein, einfach bestimmte Menschen für die Schwierigkeiten verantwortlich zu machen: die kontrollbesessenen mittleren Manager etwa oder die Kollegen mit MBA, die immer zuerst an die eigene Karriere denken. In Wahrheit aber ist das Problem systemisch und direkt auf die Einschränkungen hierarchischer Strukturen und einfacher Managementprozesse zurückzuführen.
Abteilungssilos sind ein fester Bestandteil hierarchischer Betriebssysteme. Ihre Wände mögen dünner werden und Führungskräfte mögen versuchen, sie durchlässiger zu machen – aber eliminieren lassen sie sich nicht. Dasselbe gilt für Regeln und Verfahren: Wir können sie reduzieren, aber wir werden immer einige davon brauchen. 8Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Sie können Hierarchieebenen reduzieren, aber nicht vollkommen eliminieren. Sie können Ihre Mitarbeiter auffordern, die langfristige Perspektive im Blick zu halten, aber auf Ihre Quartalsbudgets können Sie trotzdem nicht verzichten. Diese und andere Faktoren sind untrennbar mit dem System verbunden. Es ist also kein Wunder, dass sie früher oder später wie schwere Ketten an unseren Bemühungen um mehr Agilität bei der Strategieentwicklung und -umsetzung hängen.
Gute Führungskräfte sind sich all dieser Dinge zumindest rein intuitiv bewusst und versuchen, die Probleme durch die üblichen Optimierungsmaßnahmen zu kompensieren. Sie rufen unterschiedlichste Managementstrukturen ins Leben, um konkrete Projekte durchzuführen. Sie setzen abteilungsübergreifende Taskforces ein, um Silos zu durchbrechen. Sie beauftragen Strategieberater oder bauen Strategieplanungsabteilungen auf, um langfristigere Vorhaben umzusetzen. Sie ergänzen die alljährliche operative Planung um eine strategische Komponente. Und sie entwickeln Change-Management-Kompetenzen, um Selbstzufriedenheit und Widerstand wirksam zu bekämpfen und mehr Mitarbeiter für ihr Vorhaben zu gewinnen. Wenn man es richtig macht, können diese und andere Maßnahmen die Trägheit im Unternehmen durchbrechen und durchaus für mehr 9Schnelligkeit und Agilität sorgen – aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Was wir heute brauchen, ist ein leistungsstarkes neues Element, mit dem wir den durch wachsende Komplexität und schnellen Wandel bedingten Herausforderungen begegnen können. Die Lösung, die meiner Erfahrung nach verblüffend gut funktioniert, ist eine zweite, netzwerkartig aufgebaute Struktur, die eher dem „Sonnensystem“ eines Gründungsunternehmens als der „ägyptischen Pyramide“ einer reifen Organisation ähnelt und für Beweglichkeit und Schnelligkeit sorgen kann. Sie ergänzt wirkungsvoll die Hierarchie einer älteren Organisation, ohne sie zu überlasten, und setzt dadurch Kapazitäten frei, damit sie genau das tun kann, wofür sie optimiert wurde. Sie erleichtert die Unternehmensführung und beschleunigt gleichzeitig strategische Veränderungen. Die ganze Sache ist keine Frage von entweder/oder, sondern von sowohl/als auch. Was wir brauchen sind zwei Systeme, die Hand in Hand funktionieren – also ein duales Betriebssystem.
Damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum, noch mehr riesige, abteilungsübergreifende Taskforces, nach neuen Modellen arbeitende Strategie-Teams, Innovationsräte, selbstgeführte Arbeitsgruppen, Konzepte, die Mitarbeitern Zeit für eigene kreative Projekte geben, oder all das zusammen ins Leben zu rufen. Diese Dinge können vielleicht dazu beitragen, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht, aber es sind immer noch lediglich Erweiterungen eines einzigen Systems. Hier geht es um etwas Größeres, dessen Wurzeln aber trotzdem in bekannten Strukturen, Praktiken und Denkweisen liegen.
Die meisten Start-ups sind tatsächlich als Netzwerk organisiert, weil sie beweglich, schnell und kreativ sein müssen, um jede Gelegenheit beim Schopf zu packen. Und selbst in reifen Organisationen bilden sich praktisch unbemerkt von der Hierarchie oft informelle 10Netzwerke von „Change Agents“, um neue Ideen schneller umzusetzen.
Was ich in diesem Buch beschreiben werde, spiegelt auch einige der interessantesten Managementkonzepte der letzten Jahrzehnte wider – von Michael Porters Weckruf, mit dem er Organisationen dazu mahnt, Strategien sehr viel expliziter und häufiger Beachtung zu schenken als bisher, über Clayton Christensens Erkenntnisse darüber, wie schlecht traditionell organisierte Unternehmen mit den technologischen Diskontinuitäten einer von zunehmendem Wandel geprägten Zeit umgehen, bis hin zu den Arbeiten des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, die das Gehirn als aus zwei koordinierten Systemen bestehend beschreiben, von denen das eine eher emotional und das andere eher rational ist.
Die Prozesse innerhalb der neuen Netzwerkstruktur erinnern weniger an systematisches Management (das Verlässlichkeit und Effizienz schafft) und mehr an mobilisierende Führung (die für Geschwindigkeit und Flexibilität sorgt). Sie bauen auf der Acht-Stufen-Methode auf, die ich erstmals vor 15 Jahren im Rahmen meiner Untersuchungen über erfolgreiche, groß angelegte Veränderungen in meinem Buch Leading Change dokumentiert habe. Der Netzwerkteil eines dualen Betriebssystems basiert auf diesen Schritten und macht sie noch effektiver: Indem er noch mehr Menschen zu aktiven Treibern des Wandels macht, die in weniger Zeit mehr erreichen können, und indem er noch intensiver und wirksamer strategische Dringlichkeit erzeugt – und zwar nicht im allgemeinen Sinne, sondern immer ausgerichtet auf eine konkrete große Chance. Und wenn sie einmal begonnen haben, sich mit der ersten strategischen Herausforderung zu beschäftigen, laufen diese Prozesse immer weiter und werden zu dauerhaften „Beschleunigern“, die eine Kultur der Flexibilität und Schnelligkeit in der Organisation schaffen und erhalten.
Der Weg, den ich mit diesem Buch einschlage – genauer gesagt der Weg, den einige Pioniere bereits eingeschlagen haben – löst Probleme, die uns seit Jahrzehnten plagen.
Seit einem Vierteljahrhundert wird darüber geredet, dass wir mehr Führungspersönlichkeiten brauchen, weil die vielfältigen Aufgaben in einer so turbulenten Welt einfach nicht mehr von den zwei oder 11drei Spitzenkräften einer Organisation bewältigt werden können. Gleichzeitig gibt es in traditionellen hierarchischen Organisationen nur wenige Stellen, die Mitarbeitern die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln, um echte Führungspersonen zu werden. Und die verfügbaren Lösungen – Leadership-Seminare und dergleichen – sind für sich allein ganz offensichtlich ungeeignet, weil man sich komplexe Perspektiven und Fähigkeiten weitgehend am Arbeitsplatz und nicht im Klassenzimmer aneignet.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Verwendung des Wortes „Innovation“ in der geschriebenen und gesprochenen Sprache exponentiell vervielfacht. Doch es gibt kaum Organisationen, die wirklich innovative Finanzfunktionen, Lieferketten oder IT-Abteilungen haben. Wir kritisieren Manager dafür, dass sie geistlos oder kurzsichtig sind – aber sehen Sie sich doch einmal das System an, in dem sie arbeiten. Hierarchien mit komplexen Managementprozessen und guten Führungskräften an der Spitze sind nicht darauf ausgelegt, sich Hals über Kopf in eine kreative Zukunft zu stürzen. Um innovativ zu sein, muss man Risiken eingehen. Man braucht Perspektiven aus unterschiedlichen Silos, Menschen, die über den eigenen Tellerrand hinausschauen, und vieles mehr. Managementgesteuerte Hierarchien sind aber darauf ausgelegt, Risiken zu minimieren und Menschen in vorgegebenen Bahnen und Silos zu halten. Gegen diese Realität radikal vorzugehen, wäre eine verlorene Schlacht.
Seit fünfzig Jahren wird darüber geschrieben, dass wir die menschliche Leistungsfähigkeit und Leidenschaft freisetzen und diese Energien auf große unternehmerische Herausforderungen lenken müssen. Aber wem ist das schon jemals außerhalb eines Gründungsumfelds gelungen? Kaum jemandem, weil alle in einem System arbeiten, das auf die Erledigung der heutigen Aufgaben ausgelegt ist und von den meisten Mitarbeitern – durchaus wohlwollend – verlangt, still zu sein, Anweisungen zu befolgen und routinemäßig ihre Arbeit zu tun.
Seit Jahren wird über Strategieberater gemeckert, die mit ihren Berichten oft nicht imstande sind, Strategien für eine bessere Anpassung an ein sich wandelndes Wettbewerbsumfeld zu finden und (vor allem auch) umzusetzen. Kein Wunder: Mit den schnelleren und 12zunehmend unvorhersehbaren Veränderungen unserer Zeit sinken die einst strahlenden Erfolgsaussichten von Berichten zwangsläufig, die nur mit dem Kopf und ohne Herzblut geschrieben werden, die vorhersagen wollen, wo Sie in zwei, fünf oder zehn Jahren besonders erfolgreich sein können, und die von verständigen Außenseitern erstellt und eins zu eins von einigen wenigen Auserwählten umgesetzt werden.