Katja Irle
Wie Inklusion in der Schule gelingen kann – und warum manche Versuche scheitern
Interviews mit führenden Experten
Katja Irle ist Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie arbeitet in der Nachrichtenredaktion des Hessischen Rundfunks und war viele Jahre Bildungsredakteurin der Frankfurter Rundschau. Ebenso lange befasst sie sich mit der Umsetzung der Inklusion in Deutschland.
Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:
ISBN: 978-3-407-25724-6
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Lektorat: Heike Gras
Herstellung und Satz: Michael Matl
Umschlagabbildung: © Jag_cz, ThinkstockPhotos
Umschlaggestaltung: Torge Stoffers, Leipzig
E-Book
ISBN 978-3-407-29320-6
Vorwort Inklusion braucht Bewegung im Kopf
Gerecht ist das nicht!
Chronische Überforderung
Persönliche Exzellenz fördern
Der sonderpädagogischen Förderung droht ein Niveauverlust
Die Sonderpädagogik hält einen Mythos am Leben
Max wurde zum Außenseiter
Die größte Sonderschule ist für mich das Gymnasium
Verkehrte Inklusion
Jeder kämpfte für sich
Wir sind Perlentaucher
Du Wirsing!
Ich konstruiere keine Happy Ends
Anerkennendes Verhalten kann man täglich üben
Katja Irle
Inklusion ist eine der größten Reformen in der deutschen Bildungsgeschichte. In ihrer Dimension und Wirkung ist sie vergleichbar mit der Einführung der Koedukation. Auch damals ging es um Teilhabe, nämlich den uneingeschränkten Zugang für Mädchen zur Bildung und das Ende einer fragwürdigen Separation. Den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen stellt heute kaum noch jemand in Frage. Er hat nicht nur die Bildungsbeteiligung der Mädchen eindrucksvoll erhöht. Der gemeinsame Unterricht hat auch in den Köpfen viel bewegt, hat dazu geführt, dass Rollenbilder hinterfragt wurden, und Unterrichtsmethoden verändert.
Bei der Inklusion, zu der sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat, ist es ähnlich. Sie wird die Schulen in Deutschland langsam aber stetig verändern. Dabei verlangt sie einen Perspektivwechsel von allen Beteiligten. Denn anders als etwa beim umstrittenen »Turbo-Abitur« (G8) geht es nicht um einen Teilbereich der Schul- und Unterrichtsgestaltung. Es geht um einen Kulturwandel, der alle Schulen, alle Lehrerinnen und Lehrer1, alle Schülerinnen und Schüler sowie alle Eltern betrifft.
Viele Bäume, wenig Wald
Inklusion ist außerordentlich komplex. Genau das macht es schwer, den Wald vor lauter Bäumen noch zu erkennen. Um was geht es eigentlich? Um den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung? Oder meint Inklusion alle? Was bedeutet »Behinderung« im inklusiven Kontext? Darf ich überhaupt noch »behindert« sagen? Oder spreche ich – politisch korrekt – von »beeinträchtigt«? Wessen Teilhabe an was wird da eigentlich verhandelt? Wie verändert Inklusion die Unterrichtspraxis? Führt mehr Teilhabe automatisch zu einer gerechteren Schule und Gesellschaft? Profitiert mein Kind von der Reform? Gibt es Grenzen der Inklusion?
In vielen Gesprächen mit Experten, bei Tagungen, Konferenzen und Podiumsdiskussionen habe ich immer wieder neue Inklusions-Definitionen gehört. Jeder hat seine eigene Interpretation, wie die UN-Behindertenrechtskonvention in die schulische Praxis umgesetzt werden soll: Politiker, Erziehungswissenschaftler, Lehrer, Eltern und Vertreter der Behindertenverbände. Das führt manchmal dazu, dass selbst Experten aneinander vorbeireden.
Das Spektrum der Positionen reicht von einer minimalistischen Auslegung der UN-BRK, die auf die Integration einiger weniger behinderter Kinder in die Regelschule zielt. Am anderen Ende des Spektrums steht ein allumfassender Ansatz, der eine Gesellschaft beschreibt, in der es keine definierte Normalität mehr geben soll, sondern nur noch »begrüßenswerte« Vielfalt.
Bei dieser Vielfalt der Meinungen wundert es nicht, dass die Umsetzung der Inklusion in den einzelnen Bundesländern nicht geräuschlos vonstattengeht. Im Gegenteil: Vor mehr als sechs Jahren trat die UN-BRK in Deutschland in Kraft, und es wird immer noch über den richtigen Weg und das Ziel gestritten. Eltern, Kinder und Lehrer in ganz Deutschland erleben, wie oft inklusive Theorie mit schulischer Praxis kollidiert, etwa wenn die versprochene Förderung eines Kindes nicht stattfindet oder das Geld für barrierefreie Zugänge fehlt.
Zudem führt der deutsche Bildungsföderalismus dazu, dass das gemeinsame Lernen in Deutschland überall anders aussieht und finanziert wird. Zwar schmücken sich die Bundesländer mit steigenden Inklusionsquoten, doch es tun sich Widersprüche auf: Die Zahl der Kinder, die an Sonderschulen unterrichtet werden, ist nicht gesunken. Der Weg in die Regelschule bleibt ihnen offenbar trotz Inklusion versperrt. Ein Ende der Separation ist aber das erklärte Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland umsetzen muss.
Die Lehrer stehen bei diesem Prozess immer im Fokus. Sie sollen dafür sorgen, dass Inklusion an den Schulen eine Erfolgsgeschichte wird. Dabei wird von ihnen erwartet, dass sie Stellung beziehen, Eltern vom gemeinsamen Unterricht überzeugen und jedes Kind bestmöglich fördern.
An vielen Schulen gelingt das, und dennoch hat sich Ernüchterung breit gemacht und das inklusive Ideal Kratzer bekommen. Nach einer repräsentativen Umfrage des Lehrerverbands Bildung und Erziehung unterstützt zwar eine Mehrheit von 57 Prozent nach wie vor den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung – aber nur, wenn genug Geld und Personal da ist. 41 Prozent der Lehrer lehnen, frustriert vom Gerangel um Ressourcen, Inklusion sogar ganz ab und möchten stattdessen die Förderschulen erhalten.
Dieses Buch will zeigen, dass Inklusion trotz der zahlreichen Hürden und dem offenbar hohen Frustfaktor der Lehrer gelingen kann. Unter anderem erzählt die Bonner Schulleiterin Christina Lang-Winter, dass ihre Schule im sozialen Brennpunkt von der Inklusion enorm profitiert hat. Die Sonderpädagogin Michaela Rastede aus Bremen beschreibt, wie ihre Schule Talente erkennt – bei Kindern mit besonderem Förderbedarf genauso wie bei Hochbegabten. Der Didaktiker Kersten Reich liefert Bausteine für eine inklusive Schule und erzählt im Interview, wie Lehrer die persönliche Exzellenz ihrer Schüler fördern können. Und der Theologe und Kabarettist Rainer Schmidt berichtet Heiteres bis Absurdes aus seiner eigenen Schulzeit – etwa wie er mit Beinprothese am Gymnasium 1000 Meter rennen musste, Mädchen aber nur 800. Dabei wird klar: Über das gemeinsame Leben und Lernen darf auch gelacht werden!
Das Buch schildert keine heile Inklusions-Welt, hier sind auch kritische Stimmen versammelt. Der Unterrichtsentwickler Heinz Klippert diagnostiziert eine chronische Überforderung bei den Lehrern und geht den Ursachen auf die Spur. Der Erziehungswissenschaftler Hans Wocken empört sich über eine »Verkehrte Inklusion«, die auf dem Rücken der behinderten Kinder ausgetragen werde. In einem Streitgespräch geht es um die Frage, ob die Leistungsschule Gymnasium mit Inklusion vereinbar ist.
Auch die Eltern kommen zu Wort: Tina Stahlschmidt beschreibt, wie ihr Sohn Max an der Regelschule im gemeinsamen Unterricht zum Außenseiter wurde. Aus einem literarischen Blickwinkel bewertet der Schriftsteller Peter Härtling die Inklusionsbemühungen in Deutschland. Im Interview überlegt er, wie der behinderte »Hirbel«, die Hauptfigur seines berühmten Kinderromans aus den 1970er Jahren, wohl heute leben würde.
Alle Interview-Partner sind auf ihre Weise Inklusions-Experten und schildern die Umsetzung der Reform aus ganz unterschiedlichen Standpunkten heraus. Dabei wird klar, welche Schritte auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem noch getan werden müssen, welche Herausforderungen und Risiken bestehen und wo die Konfliktlinien verlaufen. Die Positionen und Einschätzungen der Experten können helfen, nicht nur einzelne Bäume zu sehen, sondern den Wald wiederzuentdecken. Denn Inklusion, wenn sie kein Stückwerk bleiben soll, erfordert nicht nur den Blick auf das einzelne Kind, auf die Klasse oder spezielle Lehrmethoden. Sie fordert den Blick aufs Ganze: auf die Schulgemeinde, die Familien, das Arbeitsleben, eben auf alle Bereiche, in denen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und lernen.
Vielleicht gelingt dem ein oder anderen bei der Lektüre auch ein Perspektivwechsel. Denn Inklusion braucht vor allem Bewegung im Kopf, sonst kommt die größte Reform-Baustelle der deutschen Bildungspolitik nicht voran.
Rainer Schmidt
Über den manchmal absurden Umgang mit Verschiedenheit: Der Kabarettist Rainer Schmidt wurde in der Sonderschule nicht wegen seiner kurzen Arme, sondern wegen seiner Hornbrille ausgelacht. Auf dem Gymnasium musste er mit Beinprothese 1000 Meter laufen. Mädchen nur 800. Heute erklärt Schmidt Lehrern mit viel Humor, was echte Inklusion bedeutet – und wie sie in der Praxis funktioniert.
Herr Schmidt, Inklusion ist ein Thema, über das man keine Witze macht. Aber wenn Sie auftreten, dann lachen alle. Nehmen Sie das Thema nicht ernst?
Natürlich nehme ich das ernst. Aber deshalb muss ich nicht sauertöpfisch darüber reden. Inklusion ist eine Chance für alle. Oder um es mit Humor zu sagen: Es macht mehr Spaß in einer inklusiven Gesellschaft zu leben als in einer, die separiert.
Warum gucken dann alle immer ganz ernst, wenn es um den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung geht?
Das eigentlich Leichte und Schöne an dieser Idee führt immer dann zu ernsten Mienen, wenn es an die Umsetzung geht. Dann sehen alle plötzlich nur noch Probleme und Fallen. Ich hingegen glaube nach wie vor an das Versprechen, dass Inklusion eine Bereicherung ist, weil ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen – gerade in der Schule. Ich habe das schließlich selbst erlebt. Und genau das versuche ich meinen Zuhörern zu vermitteln.
Wenn man mit Lehrern über Inklusion spricht, bilden sich Sorgenfalten. Pure Freude über eine humanistische Idee sieht anders aus.
Das liegt an einem sehr großen Missverständnis. Es heißt immer, Inklusion bedeute, dass behinderte Kinder die Regelschule besuchen sollen. Das ist Mumpitz!
Heißt das, die Mehrheit der Pädagogen und Eltern versteht Inklusion falsch?
Inklusion bedeutet die Auflösung der Kategorien „Kinder mit und Kinder ohne Behinderungen“. Aber da sich unsere Gesellschaft an einem medizinisch definierten Menschenbild orientiert, können wir mit dem Sortieren in Schubladen nicht einfach aufhören. Wir trennen die Kinder permanent in normal und nicht normal, krank und gesund, Kinder mit Regelförderbedarf und Kinder mit besonderem Förderbedarf. Statt die Individualität und Einzigartigkeit jedes Lernenden zu betonen, bilden wir Kategorien und Klassen, in denen alle das Gleiche leisten müssen!
Aber diese Unterschiede gibt es doch. Was hilft es einem Lehrer, wenn er in seinem Kopf die Kategorien auflöst, aber im Alltag auf die Beeinträchtigungen jedes einzelnen Schülers eingehen muss?
Die Auflösung der Kategorien bewirkt ein Bewusstsein, dass nicht von jedem Kind das Gleiche erwartet werden kann. Ich sage nicht, dass es keine Beeinträchtigungen gibt und Schule darauf nicht reagieren muss. Im Gegenteil: alle Lernenden haben Beeinträchtigungen. Die Aufteilung der Kinder in „behindert“ und „nicht behindert“ aber schafft Außenseiter. Ich bin kein unnormaler Mensch, sondern mit meinen Talenten und Grenzen normal. Die empirische Bildungsforschung lehrt uns, dass auch in der Kategorie „normal“ die Unterschiede zwischen den Kindern so groß sind, dass ein zielgleicher Unterricht eigentlich sinnlos ist.
Wie lautet dann Ihre Definition von Inklusion für die Schule?
Inklusion ist das gemeinsame Lernen von sehr verschiedenen Menschen – und sie bedeutet das Ende eines zielgleichen Unterrichts bei gleichzeitiger, maximaler Kooperation der Kinder untereinander. Sie lernen und arbeiten gemeinsam – nicht immer, aber häufig –, werden aber nicht miteinander verglichen, sondern an ihrer eigenen Entwicklung gemessen. Wir wissen seit langem aus der Forschung, dass Kinder nicht nur vom Lehrer lernen, sondern besonders profitieren, wenn sie miteinander agieren. Man darf dann nur nicht erwarten, dass am Ende einer Unterrichtsreihe 30 Kinder den exakt gleichen Output haben.
Schöne Theorie, aber so sieht Inklusion in der schulischen Praxis meistens nicht aus.
Nein. Da heißt es dann: „Ihr bekommt zum neuen Schuljahr fünf behinderte Kinder, die zieldifferent unterrichtet werden müssen.“ Und der Lehrer muss das dann irgendwie umsetzen, obwohl er meistens klassisch dafür ausgebildet wurde, im Mittelpunkt des Unterrichts zu stehen und sich alleine dafür verantwortlich zu fühlen, was die Schüler wie und in welcher Qualität lernen. Ich kann verstehen, dass Pädagogen das Angst macht. Sie sind überfordert, denn sie glauben, sie müssten nun 30 verschiedene Lern- und Förderpläne für die Kinder entwerfen, statt wie bislang einen einzigen Unterrichtsentwurf. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns einmal von der Vorstellung verabschieden könnten, dass der Lehrer allein dafür verantwortlich ist, was die Kinder lernen.
Wer sollte sonst dafür verantwortlich sein?
Lernerfolge sind bei Kindern nur durch zwei Komponenten zu erreichen: Interesse mal Zeitaufwand. Das ist eine ganz simple aber extrem wirksame Formel.
Das klingt aus Lehrerperspektive sehr naiv. Wenn am Ende einer vierten Klasse die meisten Kinder nicht lesen gelernt haben, werden Schulleitung und Eltern den Klassenlehrer wohl kaum aus der Verantwortung entlassen.
Natürlich möchte jeder Lehrer, dass jedes Kind aus seiner Klasse möglichst viel lernt. Er ist wie ein Gärtner, der dafür die nötige Voraussetzung schafft. Aber wachsen muss die Pflanze allein. Kinder zu belehren, ist kein inklusiver Gedanke. Das wissen wir seit Maria Montessori! Kinder müssen selbst aktiv werden und lernen. Zudem können Lehrer ja nur das lehren, was sie selbst für wichtig halten. Dabei orientieren sie sich an den offiziellen Lehrplänen. Das ist aber selten deckungsgleich mit dem, was Kinder lernen wollen und was wirklich Relevanz für ihr Leben hat.
Nennen Sie mal ein Beispiel!
Nehmen Sie mich und meine für jeden ersichtliche Behinderung: Meine Lehrerin in der Sonderschule sah meine kurzen Arme und hat dann versucht, mir das Schreiben mit den Füßen beizubringen, weil das für Schüler mit Körperbehinderungen wie meiner damals so üblich war. Sie hat also mit viel Geld und Aufwand einen Schreibtisch für mich organisiert, dessen Arbeitsplatte man bis zum Boden hinunter senken konnte, mir die Socken ausgezogen und den Stift zwischen die Zehen geklemmt. Ich habe das alles mitgemacht, weil ich ein folgsames Kind war. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte ich längst ohne Probleme einen Stift zwischen meine kurzen Arme klemmen. Meine Lehrerin ist damals gar nicht auf die Idee gekommen, mich vorher mal zu fragen, wie ich am besten schreiben lernen kann und will.
Warum nicht?
Das war nicht üblich. Der Lehrer wusste am besten, was gut ist für ein behindertes Kind. Es gibt noch ein schönes Beispiel aus dieser Zeit, das zeigt, wie sehr die Annahmen eines Pädagogen an der Lebenswirklichkeit und den Interessen eines Kindes vorbeigehen können. Meine Lehrerin hätte mir niemals das Schreibmaschineschreiben beigebracht. Sie dachte sich: „Wie soll der das schaffen mit seinen kurzen Armen und ohne Finger?“ Die Sache ist bloß: Ich schreibe heute unglaublich schnell auf dem Computer, weil ich es mir selbst beigebracht habe, als mein Bruder einen Schreibmaschinenkurs machte. Das angeblich Unmöglich wurde möglich, weil ich es wollte. So funktioniert effizientes Lernen.
Lernen Kinder dann nicht nur das, was ihnen Spaß macht? Was ist mit den Inhalten, die Anstrengung und Mühe kosten?
Das Schreibmaschineschreiben hat mich anfangs sehr viel Mühe gekostet, das können Sie mir glauben! Anderen Kindern geht es bei anderen Lerninhalten ähnlich. Aber sobald ein Stoff Relevanz für das Leben hat, lernen sie gern. Und die Aussicht auf weitere Erfolgserlebnisse treibt Menschen zu weiteren Anstrengungen.
Sie sagen, Inklusion heißt, Kinder nicht zielgleich zu unterrichten. Wie wirkt es sich beispielsweise bei einem Schüler mit Down-Syndrom oder einer Schülerin mit emotionalen und sozialen Lernbehinderungen aus, wenn alle anderen in der Klasse Noten bekommen und er oder sie nicht?
Das ist keine Inklusion, sondern die höchste Stigmatisierung, die ich mir vorstellen kann.
Aber das ist inklusiver Alltag an den Schulen.
Da steht das Etikett Inklusion drauf, sie ist aber nicht drin! Ich verdeutliche das mal mit einem Beispiel aus dem Sport: Ich ging nach der Sonderschule aufs Gymnasium und nahm dort am regulären Sportunterricht teil.
Wie geht das, wenn man kurze Arme und eine Beinprothese hat?
Sie werden es nicht glauben, aber ich musste 1000 Meter laufen wie die anderen auch. Ich war im Grundkurs Sport, und auch ich bekam Noten. Jeden zweiten Tag habe ich trainiert, weil ich das gut machen wollte. Dann kam der Prüfungstag und ich stellte fest, dass die Mädchen nur 800 Meter laufen mussten.
Wie ging die Sache aus?
Ich kam mit meiner Beinprothese hinter dem letzten Mädchen aus meiner Klasse ins Ziel. Trotzdem war ich sehr stolz auf mich, weil ich meine persönliche Bestzeit gelaufen war.
Was hat der Lehrer gemacht?
Der steckte in einem Dilemma und wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte meine Zeit gestoppt und überprüfte nun seine Liste, fand aber nichts, was meiner Laufzeit entsprochen hätte. Nach dem bei uns üblichen Notenspektrum hätte ich vermutlich eine 9 bekommen müssen, weil ich natürlich viel langsamer war als alle anderen. Das empfand auch mein Lehrer als extrem ungerecht. Aber ist es nicht genauso ungerecht, wenn ein 1 Meter 50 großer Junge gegen seinen Freund mit 1 Meter 80 antritt? Oder die dicke Ilse gegen die schlanke Hanna? Hier zeigt sich doch exemplarisch, wie unterschiedlich die Voraussetzungen der Kinder sind, und dass es völlig sinnlos ist, wenn alle 1000 Meter in der gleichen Zeit schaffen sollen. Zielgleicher Unterricht sorgt permanent für Überforderungen bis hin zur Angst und Unterforderungen, sprich Langeweile.
Beim Sport ist das offensichtlich. Aber in Deutsch und Mathe?
Die große Kunst ist, Beeinträchtigungen für alle sichtbar und erklärbar zu machen, ohne ein Kind dabei zu stigmatisieren. In meiner Gymnasialklasse war damals völlig klar, dass ich für die Klausuren mehr Zeit brauchte, weil jeder meine kurzen Arme sehen konnte. Bei Aishe, die zu Hause nur Türkisch spricht, wird es schon schwieriger. Dennoch ist auch hier evident, dass dieses Kind viel schwieriger das gleiche Ergebnis in der Deutscharbeit erzielen kann wie Professorensohn Jens, der jeden Abend Hermann Hesse vorgelesen bekommt. Dennoch legen wir dem Unterricht genau diese Gleichheits-Hypothese zugrunde. Inklusion ist mit zielgleichem Unterricht nicht vereinbar.
Lehrer haben Vorgaben, müssen bestimmte Leistungsziele mit den Kindern erreichen und am Ende stehen Noten und der Schulabschluss. Inklusion setzt diese Mechanismen ja nicht außer Kraft.
Genau das ist unser Dilemma. Inklusive Schulsysteme verzichten auf das zu frühe Messen und Bewerten der Kinder. Der Schwerpunkt liegt ganz auf den größtmöglichen Lernfortschritten des Einzelnen. Und deshalb ist das deutsche Schulsystem allerhöchstens ein integratives, aber kein inklusives.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft mit Prüfungen und Schulabschlüssen. Wollen Sie die Schule zu einer Oase machen, aus der die Kinder später ohnehin vertrieben werden?