Johannes Heinrichs | Korai Peter Stemmann
Das Enneagramm
in Coaching, Beratung und Training
Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:
ISBN 978-3-407-36581-1
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© 2015 Beltz Verlag · Weinheim und Basel
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www.beltz.de
Lektorat: Ingeborg Sachsenmeier
Herstellung: Michael Matl
Satz: Markus Schmitz
Reihenkonzept: glas ag, Seeheim-Jugenheim
Umschlaggestaltung: Lelia Rehm
Umschlagabbildung: © Beltz unter Verwendung von Illustrationen von Manfred Wenzel
Zeichnungen: Manfred Wenzel, Köln
E-Book
ISBN 978-3-407-29436-4
Einleitung
Der Weg des Menschen durch das Enneagramm
Wer fragt, der führt
Der Enneagrammtest und die 81 Untertypen
01
Die philosophischen Grundlagen
Das siebenfache Wesen des Menschen
Die sieben Strahlen der Theosophie und die neun Punkte des Enneagramms
02
Die bewährte Charaktertypologie in neuer Sicht
Die neun Hauptströme – aus ihren Quellgründen verstanden
Entwicklungs- und tiefenpsychologische Verankerung der neun Typen
Die Bewegungsgestalt des Enneagramms
03
Die weiterentwickelte Typologie
Die neun filigranen Deltas im großen Delta (die 81 Untertypen)
Das Individuum ist unaussprechbar
04
Spiritualität und Praxis
Der Enneagrammpraxistest
Epilog
05
Anhang
Die Autoren
Aphorismen von Johannes und Korai
Übersicht über die 81 Subtypen
Literatur
»Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen.«
(Johann Wolfgang von Goethe: Faust)
Im Jahr 2001 veröffentlichte Korai das Enneagrammbuch mit 81 Arbeitskarten des Künstlers Manfred Wenzel im Urania-Verlag. Dieses Buch-Karten-Set war aus der Seminararbeit mit Gruppen und Einzelklienten entstanden, und für Training und Coaching war es auch gedacht, um es dafür als Arbeitsbuch einzusetzen. Als Korai dieses Enneagrammbuch schrieb, gab es schon einige Bücher zum Thema Enneagramm auf dem Markt, und es musste einen guten Grund geben, ein weiteres Buch dazu zu schreiben. Der Grund lag in der Verbindung der Neunheit des Enneagrammsystems zu anderen Neunheiten, die für die Arbeit in Seminaren und Coachings noch nicht beschrieben waren. Mittlerweile sind wieder einige Jahre vergangen und weitere spannende Entwicklungen inhaltlicher und methodischer Art im Training und im Coaching geschehen, die wieder (unsichtbar) mit dem Enneagramm korrelieren.
Da gibt es grandiose Weiterentwicklungen wie den phänomenologischen Ansatz in der Praxis der Systemaufstellung.
Da gibt es völlig neue Anwendungsfelder im Training und im Coaching durch die neue Systemische Radionik (SysRad®), diese besonders kultiviert und vorangetrieben in Kooperation mit Peter W. Köhne vom IFAR®-Institut.
Da gelang dem DGH (Dachverband Geistiges Heilen) die höchstrichterliche Anerkennung der Geistheilung durch das Bundesverfassungsgericht im März 2004 in Deutschland.
Da wurden die Lebens- und Sterbezyklen in einer Unternehmensentwicklung durch die Arbeiten von Professor Ichak Adizes (USA) entdeckt und lehrbar gemacht.
Da wurden mit der Gründung des »Ersten Deutschen Tarotverbands« in München eine Ethik, eine Prüfungsordnung und eine Managementausrichtung für den Umgang mit dem Weisheitssystem Tarot verwirklicht.
Alle diese bemerkenswerten Entwicklungen folgen den inhärenten Abläufen eines Enneagrammmusters, erkennbar für den, der versteht. Wer weiß, wie dieser spannende Erkenntnisweg des Enneagramms weitergeht und welche tiefen Einsichten uns noch bevorstehen zum Besten des Ganzen?
Es ist wie ein nächtlicher Blick auf die schwarze Wiese des Himmels, die uns Tausende von leuchtenden Blumen offenbart, und doch werden immer wieder neue Lichter am Firmament entdeckt. Neue kommen dazu, obwohl sie immer da waren, nur: Wir entdecken mit der Zeit immer mehr von der großen Wirklichkeit.
Wir Menschen haben viele Aspekte und Gesichter. Die Weisheitslehre des Enneagramms fasst diese zunächst in neun Haupttypen zusammen. Das Buch von Korai »Enneagramm. Die neun Gesichter der Persönlichkeit« (1999) mitsamt seiner Zwillingsschwester, den Enneagrammkarten, schließt an eine große Tradition an, die als eine Geheimtradition gekennzeichnet wird. Obwohl jenes Buch sich um geschichtliche Zusammenhänge wenig kümmert, noch weniger als das hier vorliegende, sei doch aus dem Vorwort von Dr. Peter Zürn Folgendes zitiert, sei es zur ersten Information für die Neulinge in Sachen Enneagramm, sei es zur Erinnerung für die schon »Eingeweihten«:
Info
Die Geschichte des Enneagramms
»›Ennea‹ ist das griechische Wort für die Zahl neun, das ›Enneagramm‹ also ist die grafisch-symbolische Darstellung einer ›Neunheit‹ in einem Kreis, dessen Umfang durch neun Punkte – im Uhrzeigersinn von 1 bis 9 – gegliedert ist. Ob die Form des Enneagramms im 14. oder 15. Jahrhundert in Samarkand entstand [einer islamisch geprägten Stadt und Provinz in Usbekistan] und von dort mit den Strömen des Handels zu uns kam, sei ebenso dahingestellt wie Vermutungen, die es in die Nähe von Pythagoras, Plotin (mit seinen Enneaden) oder gar der Babylonier rückten.
Relativ sicher ist, dass diese Neunheit im ausgehenden Mittelalter von den islamischen Mystikern der Sufis weiterentwickelt wurde, um dann – nicht von ungefähr – 1916 erstmals von dem Kaukasier Georg Iwanowitsch Gurdjieff in seiner Petersburger Studien-Gruppe vorgestellt zu werden.
In den frühen 1960er-Jahren begann Oscar Ichazo an seinem »Institute for Applied Psychology« in La Paz/Bolivien, und später auch in Arcia/Chile, mit dem Enneagramm zu arbeiten, bevor er 1971 in New York ein Tochterinstitut gründete. In den 1970er-Jahren lernte der humanistische Psychologe Claudio Naranjo aus Chile am Esalen-Institut in Big Sur/Kalifornien das Enneagramm kennen und machte die Teilnehmer seiner Seminare damit vertraut. Von dort aus fand es über die Jesuitenhochburgen Berkeley und Chicago Eingang auch in diese Kreise der katholischen Kirche, wo es schließlich – nach langjähriger, eingehender Prüfung – als Modell zur geistlichen Begleitung der Exerzitienarbeit empfohlen wurde. Lange vor dem Enneagramm als zirkelhaftem Zeichen spielt die Zahl neun vielerorts eine Rolle – am Himmel wie auf Erden.« (Stemmann 1999, S. 16 f.)
So viel an konzentrierter Information darüber, was uns über das geschichtliche Werden des Enneagramms noch bekannt ist. Du, lieber Leser, wenn wir bei der vertraulichen Anrede aus Korais erstem Enneagrammbuch bleiben dürfen, findest ähnliche und einige weitere Informationen über diverse Schulen und Richtungen des Enneagramms in Theorie und Praxis ausführlicher in der Wikipedia. Dort wird unter anderem ein Streit darüber geführt, ob Gurdjieff diese von ihm publik gemachte, wahrscheinlich eben viel ältere Geheimlehre überhaupt als Persönlichkeitstypologie gemeint habe.
Es kommt hierbei eine grundlegende Unterscheidung ins Spiel, wie sie in der neueren Theosophie wichtig und üblich geworden ist: diejenige zwischen Persönlichkeit und dem Wesen, der Seele eines menschlichen Individuums.
Info
Was meint Theosophie?
Neuere Theosophie meint die von Helena Petrovna Blavatsky initiierte, dann von Alice A. Bailey im Westen und von dem Ehepaar Roerich in Russland weitergetragene Strömung, die 1875 in New York mit der Gründung der »Theosophischen Gesellschaft« einen Ausdruck fand. Charakteristisch für diese aus uralter Weisheit schöpfende Lehre ist die Verbindung zu aufgestiegenen Meistern, die hinter den Kulissen des Weltgeschehens die Entwicklung der Menschheit zu fördern versuchen. Eine Abzweigung der Theosophie stellt die Anthroposophie Rudolf Steiners dar, der Anfang des vorigen Jahrhunderts für mehrere Jahre Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft war.
Persönlichkeit ist die Charaktermaske eines Menschen, die normalerweise sein eigentliches seelisches Wesen verdeckt und egozentriert entstellt. Diese Unterscheidung trifft sich ungefähr mit derjenigen von Aszendentzeichen (Persönlichkeit) und Sonnenzeichen (seelisches Wesen) in der Astrologie.
Wir werden diesen Unterschied im Auge behalten. In der Tat wird sich das Enneagramm in erster Linie als eine Persönlichkeitstypologie in dem begrenzten, durchaus noch vordergründigen Sinne erweisen. Ob eine tiefer liegende Seelen- oder Wesenstypologie für uns unterscheidbar und möglich ist? Dies ist eine der vielen offenen Fragen.
Offene Fragen: Wir wollen keinen neuen Dogmatismus betreiben, sondern aus Einsichten und Erfahrung zu begründen versuchen. Dieser Anspruch unterscheidet dieses Buch wohl von allen bisherigen Enneagrammbüchern. Selbst wenn die besten Darstellungen (von Helen Palmer, Claudio Naranjo, Don Richard Riso) schon aus einem reichen Erfahrungsfundus schöpfen, so wird das Konstruktionsprinzip des Enneagramms wie eine Geheimlehre vorausgesetzt.
Doch passen Geheimlehren noch in unsere Zeit? Ist das Geheime daran nicht ein Notbehelf, eine historische Übergangserscheinung?
»Geheim« meint erstens: nicht für die Öffentlichkeit mit ihren mächtigen, oft mörderischen Institutionen bestimmt, die gerne mit dem Scheiterhaufen »argumentieren«. Bis vor ganz wenigen Jahrhunderten, bis ins 18. Jahrhundert hinein, waren es im Abendland Scheiterhaufen im wörtlichen Sinne. Heute sind diese Scheiterhaufen im übertragenen Sinne durchaus noch aktuell: als sozialer Druck mit Benachteiligungen, Diskriminierungen aufgrund abweichender Weltanschauung, Ausschluss von Ämtern, informelle Berufsverbote und so weiter.
Zweitens meint »geheim« den Verzicht auf rationale oder empirische Begründung, seien diese alltäglicher, seien sie wissenschaftlicher Art. Alle Wissenschaften stellen eine Verbindung von logisch-rationaler Konstruktion und Empirie dar. Bei den Naturwissenschaften besteht das Logisch-Rationale vorzüglich aus mathematischer Berechnung, bei den Geisteswissenschaften sind andere logische Strukturen maßgebend, letztlich solche, die aus der Selbstreflexion des Menschen hervorgehen, das heißt aus dieser Selbstreflexion erkennbar sind: Reflexionslogik, wie sie Johannes Heinrichs als Essenz abendländischer Philosophie, angewendet auf menschliches Handeln, Gesellschaft, Sprache und Naturerkenntnis, in vielen Büchern herausgearbeitet hat.
Die wissenschaftliche Philosophie des Abendlandes ist ihrem Selbstverständnis nach eine Wissenschaft und somit eine Erkenntnis aus Gründen (scientia ex causis), sogar aus letzten Gründen (scientia ex causis ultimis), dies im Unterschied zu laienhaftem Hin-und-Her-Philosophieren. Wo immer sie noch nicht zur bloßen Philosophiegeschichte und Philologie früherer Bücher herabgesunken ist, versteht sie sich als die Disziplin der begrifflichen Erkenntnis der Dinge aus dem Spiegel des eigenen Selbst: aus der Selbstreflexion oder Selbstbesinnung.
So verstandene Philosophie ist von Anfang, spätestens von Sokrates an die Feindin aller autoritären Überlieferungen und somit auch aller Geheimlehren. Wenn in ihr etwas geheim gehalten werden muss, dann wegen äußerer sozialer Autoritäten (Machthaber) oder mit Rücksicht auf die Menge, die noch blind an unbegründeten Traditionen festhalten will. Das war die erste der genannten Bedeutungen von »geheim«. Leider mussten Philosophen oft ihre Lehren oder einen Teil davon geheim halten, allenfalls einem inneren (»esoterischen«) Kreis vorbehalten wie Platon. Oder wie Descartes, der Vater des neuzeitlichen Ansatzes beim Selbstbewusstsein, der mit ziemlicher Sicherheit Opfer eines »frommen« Mordes in kirchlichem Auftrag wurde.
Literaturtipps
Wer mehr darüber wissen möchte, kann das Buch »Der Mordfall Descartes« von Eike Pies (1996) oder »Der rätselhafte Tod des René Descartes« von Theodor Ebert (2009) lesen. Kürzer dazu und zur Bedeutung des Denkers: »Doppelmord an Descartes: Körper und Geist. Warum seine Philosophie zu Unrecht in Verruf steht. In: ZeitGeist 31 (2012); http://www.johannesheinrichs.de/media/155/cms_4fa8d544e5483.pdf.
Descartes hatte schon früh für sich den Wahlspruch angenommen: »Ich lebe unter einer Maske« (Sub persona prodeo). Solches Verstecken seiner wahren Gedanken ist heute allenfalls noch aus Karrieregründen, beruflichem Opportunismus üblich und angeblich nötig. Wobei das Verstecken oft genug zur Folge hat, dass die Gedanken dem sie Versteckenden selbst entfliehen und es am Ende gar nichts mehr zu verbergen gibt.
Doch die Geheimhaltung als Überliefern ohne Begründung gilt in unserem aufgeklärt sein wollenden Zeitalter mit Recht als verpönt. Einzig in traditionalistischen Kreisen lässt man eine theologische Dogmatik noch ungefragt gelten. In manchen esoterischen Kreisen wird die alte kirchliche Dogmatik allerdings durch neue Geheimnistuerei ersetzt, die der wirklichen, persönlichen Erfahrung ebenso fremd bleibt wie dem Denken. Sicherlich gibt es viele Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt. Sicherlich müssen wir manches zunächst einmal ehrfürchtig hinnehmen wie Kinder. Doch dass es diese außerordentlichen Dinge gibt, muss irgendeiner unserer Erfahrungsebenen zugänglich sein, und das Denken darf sich behutsam auch daran versuchen.
In diesem Sinn versuchen wir im Folgenden, uns die Geheimtradition des Enneagramms erfahrend wie denkend anzueignen. Erst durch solche Aneignung wird sie unser Eigenes und bleibt kein Autoritätsglaube mehr.
Der Pol der jahrzehntelangen Erfahrungen mit der weisheitlichen Überlieferung des Enneagramms und mit Hunderten von Kursteilnehmern und Einzelklienten wird in diesem Buch schwerpunktmäßig von Korai Peter Stemmann vertreten.
Für den Pol der denkenden Durchdringung dieser Erfahrungen mit den Mitteln der auf den neuesten Stand entwickelten abendländischen Philosophie steht der Philosoph Johannes Heinrichs. Von diesem Dialog zwischen Begriff und Erfahrung, zugleich zwischen abendländisch-wissenschaftlicher Philosophie und Weisheitslehre, versprechen wir beide uns eine neue Qualität der Aneignung des Enneagramms, nämlich eine Aneignung aus wissenschaftlichen Gründen.
Das Hin und Her zwischen Begriff und Erfahrung hat einen rekonstruktiven Charakter, dies im Unterschied zur einseitigen Deduktion aus Begriffen oder ebenso einseitiger Induktion aus (angeblich) bloßer Erfahrung. Rekonstruktiv bedeutet: das konstruierende Moment, das all unsere Begriffe – insbesondere aber zusammenhängende Begriffskonstruktionen – kennzeichnet. Es dient dazu, unsere Erfahrungen verstehend zu durchdringen, und wird dadurch gerechtfertigt, dass die Erfahrungen in geordneter Weise zu Wort kommen.
Die so wichtige antiautoritäre Art von Begründungserkenntnis macht nicht allein einen formalen Unterschied aus gegenüber der bloßen Hinnahme aus der Überlieferung. Sie führt, soweit sie gelingt, zugleich auch zu inhaltlicher Vertiefung, Bereicherung und Weiterführung der Erkenntnis.
»Wer fragt, der führt.
Wer dumm fragt, führt dumm.
Wer gar nicht fragt, führt gar nicht.
Wer intelligent fragt, der führt intelligent.«
(Alle nicht zugeordneten Zitate stammen von den Verfassern.)
Beginnen wir mit einigen Fragen an die bisherigen Darstellungen des Enneagramms. Durch die Fragen wird deutlich, welchen neuen Erkenntnisgewinn wir uns durch ihre Beantwortung versprechen dürfen. Diese Fragen mögen besonders für diejenigen Leser interessant sein, die das Enneagramm und die Arbeit mit ihm schon kennen. Sie könnten jedoch auch einleitendes Interesse wecken bei denen, für welche die ganze Theorie und ihre Anwendung neu sind und die sich ihr mit einem eher kritischen als autoritätsgläubigen gesunden Menschenverstand nähern.
Vorausgesetzt ist keineswegs ein besonders trainierter philosophischer oder psychologischer Verstand – obwohl es wiederum nicht schaden kann, solchen mitzubringen. Wir versuchen, mehreren Lesergruppen gleichzeitig gerecht zu werden:
denen, die das Enneagramm schon in bisheriger Überlieferung mehr oder weniger gut kennen
denen, für die es neu ist
denen, die geisteswissenschaftliche Voraussetzungen mitbringen oder überhaupt wissenschaftliches Denken gewohnt sind
denen, die »nur« einen wachen gesunden (unverbildeten) Menschenverstand ihr Eigen nennen, der in anderen Lebensbereichen, in der allgemeinen Lebensschule, schon etwas geschult ist – und sei es bisher hauptsächlich in der Schule
sowie den Multiplikatoren dieser einzigartigen Lehre wie Trainern, Seminarleitern, Coaches, Therapeuten und Weisheitslehrern.
Es sind allein die Wachheit und Aufmerksamkeit wie das Interesse am Menschen, das wir bei all diesen Lesergruppen als Gemeinsames voraussetzen. Nun also zu den Fragen, die für Neulinge zugleich Informationen darstellen sollen:
Info
Die anstehenden Fragen
1. Wie kommt es dazu, eine Neunheit (griech. ennea = neun) von Menschentypen anzusetzen?
2. In welchem Sinn handelt es sich überhaupt um Menschentypen – und nicht allein um Charakterstrukturen eines jeden Menschen? Liegt die Antwort auf die erste Frage vielleicht einfach darin, dass bestimmte Charakterstrukturen bei dem einen stärker, bei einem anderen schwächer ausgeprägt oder anders kombiniert sind?
3. Worin gründen also diese angeblichen Charakterstrukturen? Liegt da etwas Allgemeinmenschliches zugrunde? Eine anthropologische, allgemeinmenschliche Grundstruktur?
4. Worin liegt der Grund oder liegen die Gründe, weshalb bestimmte Charakterstrukturen bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger ausgeprägt sind? (Genetische, entwicklungs- und erziehungsbedingte, kulturelle oder sonstige?)
5. Wie verhält sich die angenommene Neunheit von Charakterschwerpunkten beziehungsweise -typen zu den anderen »heiligen« Zahlen, die alle ebenfalls für Typologien herangezogen wurden: besonders zur Drei, zur Vier, zur Sieben? Kommt die Neun als drei mal drei zustande, und welche Dreiheit wäre dafür grundlegend?
6. Wie kommt es zu der besonderen, rätselhaften Gestalt der überlieferten Neunheit des Enneagramms: nicht nur neun Punkte, die sich gleichmäßig auf einem Kreisumfang verteilen, sondern ein besonderes Muster, eine ungleiche Gewichtung der Punkte, mit ungleichen Verbindungslinien zu den anderen Punkten?
7. Auf welche Ebene des Menschseins (anthropologische Ebene) sollen sich die neun offenbar als Strukturmerkmale zu verstehenden Punkte des Enneagramms beziehen: auf die Erscheinungsweise (Persönlichkeit) oder das Wesen des Menschen? Und was bedeuten diese beiden unterschiedlichen Begriffe tatsächlich?
Es wäre zu wünschen, ja im Sinne unseres ebenso kritischen wie konstruktiven Erkenntnisanspruchs zu fordern, dass sich die in manchem rätselhafte Gestalt des überlieferten Enneagramms schon aus der Beantwortung der ersten Fragen ergäbe, also rekonstruktiv herleiten ließe.
Diese Fragen reichen für den Anfang wohl aus, um unser Denken und Beobachten in Gang zu setzen, sowohl im Sinn der Motivation zum folgenden Gedankengang (denn genaues Beobachten und Denken brauchen wie jede Anstrengung eine Motivation) als auch zu seiner Strukturierung. Denn eine gut gestellte Frage enthält fast immer selbst schon den Keim oder Wegweiser zu ihrer möglichen Beantwortung.
Die meisten bisher vorliegenden Enneagrammtests sind behavioristisch angelegt, denn sie analysieren durch Fragen das Verhalten eines Menschen. Die Aussagekraft eines solchen Ergebnisses bezieht sich dementsprechend auf die Handlungsvarianten, die einer Enneagrammfixierung zugeordnet werden können.
Wir veröffentlichen in diesem Buch erstmals einen Enneagrammpraxistest, der in die psychologische Tiefe der Motivation einer Person geht. Wir haben etwa zwei Jahre mithilfe einer zehnköpfigen Gruppe von Enneagrammlehrerinnen und -lehrern diesen Test entwickelt, in der Praxis getestet und ständig weiterentwickelt. Anwendung und Auswertung werden beim Test näher erklärt (s. →).
Wir entdeckten, dass eine konkrete enneagrammatische Charakterbestimmung eine verfeinerte Zuordnungsmöglichkeit erfordert. Daher entwickelten wir 81 Untertypen, die ab Seite → genau beschrieben werden.
01
»Zahlen beweisen gar nichts.
Wohl können sie Kurzformeln von Einsichten sein.«
Wie kommt es dazu, eine Neunheit von Menschentypen anzusetzen?
Kommt die Neun als drei mal drei zustande, und welche Dreiheit wäre dafür grundlegend?
Bei diesen Fragen unter den vorhin gestellten sollten wir ansetzen, weil es diejenigen nach dem Grundlegenden für das Enneagramm sind. Um die Antwort thesenhaft vorwegzunehmen und damit die Orientierung im folgenden Begründungsgang zu erleichtern:
Der Mensch ist ein Kompositum, eine Dreiheit aus Körper, Seele und Geist.
Dieser Satz scheint nicht besonders aufregend, nachdem die Dreiheit von Körper, Seele und Geist besonders in der Esoterikszene viel genannt wird und bekannt ist. Das Bekannte ist aber nicht schon das Erkannte. Wäre es in diesem Falle so, dann könnte auch die akademische Philosophie sich ihr nicht verschließen. Denn in der abendländischen Tradition herrscht seit Aristoteles der Dualismus von Körper und Geist vor. Dieser Dualismus wird mit dem anderen von Körper und Seele einfach gleichgesetzt. Es könnten hier unzählige gelehrte Abhandlungen zu Körper und Geist beziehungsweise Körper und Seele aufgelistet werden. Allen ist gemeinsam, dass sie schon deshalb zu keinem befriedigenden Resultat kommen, weil die Begriffe Seele und Geist nicht unterschieden werden. Besonders die heute vorherrschende materialistische Mentalität, wie dies beispielsweise in der Hirnforschung der Fall ist, kümmert sich um diesen »feinen« Unterschied nicht.
Die aus der Esoterik bekannte Dreiheit geht auf indische Traditionen zurück, mit denen im Abendland nur der (in dieser Hinsicht vergessene) Platon und seine Strömung korrespondierten. Doch da man keine genaueren Begriffe einführt, bleibt dieser Gegensatz von der professionellen Philosophie unbeachtet. Man lebt in ganz verschiedenen Bewusstseinswelten, um nicht zu anspruchsvoll von Denkwelten zu sprechen. Die denkende Klärung dieses Gegensatzes bleibt eben aus.
Die Esoterik hat in der Sache recht, doch ihre Vertreter bemühen sich höchst selten um »zünftige« Klärung und sorgfältige Einführung der Begriffe Körper, Seele und Geist. Also können sie die akademischen Dualisten nicht aus ihrem Dornröschenschlaf aufwecken. Mit Liebesküssen kann das in diesem Fall nicht geschehen, nur mit begrifflicher Sorgfalt. Solange das nicht geschieht, sind die Esoteriker selbst schuld, wenn sie von den akademischen Philosophen beziehungsweise meist Philosophiehistorikern nicht ernst genommen werden. Sie bleiben der Welt selbst etwas schuldig, was diese zur Veränderung bewegen könnte – und wundern sich darüber.
Um an die drei Wesensbestandteile oder -konstituenzien des Menschen begrifflich sauber heranzukommen und sie nicht nur dogmatisch zu setzen, müssen wir in der heutigen geistesgeschichtlichen Situation beim Bewusstsein und Handeln des Menschen ansetzen.
Alles menschliche Handeln, einschließlich der inneren Bewusstseinsvollzüge, bewegt sich zwischen folgenden grundlegenden Polen oder Sinnelementen:
Diese vier Sinnelemente sind gleichursprünglich, das heißt nicht weiter aufeinander rückführbar. Eine solche Gleichursprünglichkeit bricht bereits den altabendländischen Subjekt-Objekt-Dualismus auf, mit seinen ihn kennzeichnenden Entweder-oder-Alternativen zu einer logischen Mehrwertigkeit, hier Vierwertigkeit. Für Johannes Heinrichs’ Denken ist seit 1975 folgendes Beziehungsgefüge menschlicher Bewusstseinsvollzüge und Handlungen maßgebend:
»Ich« ist Selbstbezüglichkeit, die wenigstens anfängliche Einheit von Erkennenden und Erkannten, die wir Selbstbewusstsein im philosophischen (nicht im psychologischen) Sinn nennen.
Selbst die Objekte, seien sie Natur oder künstlich hergestellte Gegenstände, stehen den Subjekten nicht einfach räumlich gegenüber. Selbst sie sind zunächst nur Erscheinungen für mich beziehungsweise für uns (Kants grundlegender Ausgangspunkt), das heißt Teil der dialektischen (durch Selbstbezüglichkeit gekennzeichneten) Verhältnisse, die wir »Erkennen« und »Handeln« nennen. Alles, was ich über Objekte sage, sage ich – streng genommen – zunächst einmal nur über Erscheinungen in meinem Bewusstsein.
»Du« meint die antwortfähige Freiheit gegenüber dem Ich, welches dieselbe Selbstbezüglichkeitsstruktur hat. Die gleichursprüngliche Einbeziehung der Du-Beziehung in das obige Beziehungsgefüge macht das aus, was wir »dialogisches Denken« nennen, was also grundsätzlich über die bloße Subjekt-Objekt-Dialektik hinausführt.
Zwischen Ich und Du steht aber ein traditionell noch mehr übersehenes »Zwischen«, ein Ausdruck Martin Bubers für den gemeinsamen Geist, der in der Ich-Du-Begegnung, aber auch in einer Gruppe, zustande kommt. Das Zwischen ist jedoch nicht bloß Resultat der zwischenmenschlichen Begegnung, sondern noch grundlegender auch deren Voraussetzung, ein »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« (so der Titel des zweiten Bandes von Karl-Otto Apels zweibändigem Werk »Transformation der Philosophie«, 1976): das aller Begegnung und Gemeinschaft schon vorausgesetzte Zwischen oder Medium. Das Zwischen ist jedoch nicht bloß ein jeweils subjektiver »Horizont« der einzelnen Beteiligten. Ihm kommt vielmehr von vornherein eine eigene Seinsweise als Medium zu. Daher spricht Johannes Heinrichs lieber von einem Sinnmedium. In der griechischen Philosophie hieß dieses Medium »Logos«. Diese mediale Realität wurde jedoch von einem an den Gegenständen orientierten Denken in der abendländischen Geistesgeschichte nach Aristoteles verdrängt.
Der Anfahrtsweg vom Handeln oder (allgemeiner) von den menschlichen Bewusstseins- oder Sinnvollzügen ist heute notwendig, um einen überholten, allein objektgerichteten Dogmatismus zu vermeiden. Was der Mensch in seinem Wesen ist, werden wir weder aus naturwissenschaftlichen Objektdaten noch von einem vorgefassten Seinsbegriff her erfahren. Deshalb wird hier der im Sinne Kants »kritische« (»transzendentale« oder einfach reflexive) Ausgang von den vier notwendigen Sinnelementen all seiner Bewusstseinsvollzüge gewählt. Dass damit und mit der hier beiseitegelassenen Theorie von den vier Reflexionsstufen des Handelns zugleich an älteste abendländische Traditionen angeknüpft wird, beweist die folgende Schwurformel der Pythagoreer, hier in der Übersetzung von Arthur Schopenhauer, die gleichzeitig das Motto seines Werkes »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde« war (erschienen 2007 in 11. Auflage bei Diogenes).
Bei ihm, der einpflanzte die Vierzahl unserem Geiste,
Sie, die Quelle und Wurzel der ewig strömenden Schöpfung.
Dieser Ansatz führt aber unter anthropologischer Rücksicht, wenn es uns also nicht um diesen oder jenen Einzelvollzug des Menschen, sondern um die seinsmäßige Auswertung der genannten Grundkonstellation seines Handelns geht, überraschend schnell zu dem Ergebnis, das zwar in den letzten zweitausend Jahren abendländischer Philosophie und Theologie zunehmend in Vergessenheit geriet, aber durchaus starke historische Anhaltspunkte bei Platon, vor allem aber in der alten vedischen Philosophie hat. Gemeint ist die in der Esoterik gängige, doch selten begrifflich korrekt erfasste Lehre, dass der Mensch ein triadisches (dreifaches), aus den Wesenskomponenten Körper, Seele und Geist »zusammengesetztes« Wesen ist.
Insofern handelt es sich hier darum, diese alte, heute im Westen eher esoterische Lehre mit nachcartesischer und nachkantischer Strenge und Methode durchaus »exoterisch« (rational nachvollziehbar) zu rekonstruieren – und Folgerungen aus ihr zu ziehen.
Blicken wir nämlich auf diese Vierheit der Sinnelemente aus der Beobachterperspektive »von oben«, also nicht aus der Sicht eines beteiligten Ich oder Du, sondern bloß auf die Seinsart der Elemente bezogen, dann reduziert sich jene handlungsmäßige Vierheit auf eine anthropologische (das Sein und Wesen des Menschen auszeichnende) Dreiheit:
Körperliches Das ist das im Raum erscheinende Ausgedehnte, von René Descartes »res extensa« genannt. (Selbst die atomare und subatomare Welt der Quantenphysik haben es noch mit Ortsbestimmung und Ausdehnung zu tun.) Descartes setzte das Ausgedehnte in seinem erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt vom Ich, der »res cogitans« her, dem Selbstbewusstsein gegenüber. Natürlich wäre das Verständnis von Selbstbewusstsein und Bewusstsein bloß im Sinne des rationalen Denkens allein viel zu eng.
Wir sollten Descartes aber zugutehalten, dass er mit seinem weiten Begriff von »Denken« Bewusstsein allgemein anzielte, also Wahrnehmen, Fühlen, Intuition – und ebenso die praktischen Vermögen des Wertens und Wollens keineswegs ausschloss, wenngleich er sie nicht alle ausdrücklich meinte.
Selbst wenn er also Bewusstsein rationalistisch enger verstand, war die grundlegende Gegenüberstellung der Instanz des (Selbst-)Bewusstseins gegenüber den ausgedehnten Dingen richtig.
Gravierender als die angedeuteten gegen ihn erhobenen Standardvorwürfe aber ist, dass er beim Dualismus von Seele und Körper blieb. Die »geistige Seele« war ihm gleichbedeutend mit »Geist« – und darin unterschied er sich nicht von Generationen der Denker vor ihm. Auch er hatte im Gefolge der starken aristotelischen Tradition, die im Mittelalter vorherrschte, keinen Sinn und Begriff für mediale Wesenheiten. Gerade hier müssen wir aber differenzieren: Das individuelle Bewusstsein kann mit Recht »Seele« genannt werden, auch geistfähige Seele – keineswegs aber einfachhin »Geist«, wie es auch heute noch geschieht! Die geistige Seele ist Logosträger, keineswegs aber der Logos, der Geist selbst.
Sinnmedium Mit dem Sinnmedium, wie wir bereits ausgeführt haben, wird dagegen gerade nichts Individuelles gedacht, sondern im Gegenteil: das Überindividuelle, die Welt der mathematischen und logischen Gesetze, die Welt der »Ideen«, die Platon meinte, das »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, das letztlich in der grundlegenden Fähigkeit jedes einzelnen selbstbewussten Wesens besteht: »Alles« denken und sagen zu können. Das durch Selbstreflexion zu sich kommende, dadurch individuierte Ich ist eben dadurch offenbar auch des Unendlichen fähig. Nichts kennzeichnet das menschliche Ich so wie seine Fähigkeit zur Selbstreflexion – und beinhaltet damit seine Fähigkeit, Träger des unendlichen Geistes oder Logos zu sein.
Wir brauchen hier keineswegs auf die naheliegenden theologischen Fragen einzugehen, die sich im Zusammenhang mit den Gedanken »Alles«, »Unendliches« oder »Logos« stellen. Allerdings sei angemerkt, dass das Erfassen medialer Realität notwendig ist, um göttliche Allgegenwart mit der möglichen Individualität, auch menschliche Individualität mit Teilhabe (nicht: Teilsein) am Göttlichen zusammenzudenken.
Es genügt uns hier, zu erfassen, dass der Mensch das zum Logos fähige Lebewesen ist: »zoon logon echon«, wie noch Aristoteles feststellte, obwohl er nicht mehr wie sein Lehrer Platon diesen Logos als mediale Realität (»Idee«) eigener Art und als nicht bloß subjektiven Gedanken des Menschen erfasste. Der Logos könnte jedoch keine reale intersubjektive, besser transsubjektive Gemeinschaft vermitteln, wenn er selbst nicht viel mehr als ein je subjektiver Gedanke wäre. Im Sinn dieser medialen, überindividuellen Realität wird hier von Geist gesprochen: weithin gleichbedeutend mit Sinn und Logos. Die »transpersonale Psychologie« lebt von dieser Einsicht in die mediale Natur des Logos – und von daher erst untergeordneter Medien wie zuerst der Sprache, auch wenn diese philosophische Grundlage nicht deutlich ausgesprochen wird. Auch »morphogenetische Felder« (Sheldrake 1985), die der Mensch mit den Tieren teilt, haben übrigens solch einen medialen Charakter. Doch die umfassendste mediale Realität, die dem Menschen kraft seiner Selbstreflexion erschlossen ist, bildet der Geist, das Sinnmedium, selbst.
Der allumfassende, unendliche Geist muss ferner als aktuale, wirklich erreichte Unendlichkeit verstanden werden, nicht als bloßes Immer-Weiter im Sinn einer endlosen Raumvorstellung. (Darin wie im Fehlen des Reflexions- und Teilhabegedankens liegen wesentliche Kritikpunkte an Ken Wilber, s. www.integralworld.net/pdf/heinrichs.pdf.)
Der unendliche Geist wird zu kulturellen »Geistern« (Sprachgemeinschaften und anderes mehr) heruntergebrochen, auch zu sozialen Normen, ferner zum jeweiligen Zwischen der Begegnung von Ich und Du: All dies sind Ausprägungen der ursprünglichen Medialität von Sinn.
Kein Zweifel, dass über jeden dieser Begriffe lange Seminare erforderlich und lohnend wären. Im Zusammenhang mit dem Enneagramm geht es lediglich um eine ganz umrisshafte Skizze eines Menschenbildes, das wesentlich durch die Dreiheit der Wesenskomponenten Körper – Seele – Geist konstituiert ist. Unsere erste Folgerung aus dieser Sicht ist: Es gibt gar kein dualistisches Körper-Geist-Problem oder – was meist unklar dasselbe meinen soll – ein Körper-Seele-Problem. Es gibt lediglich das Problem der »Durchdringung« von drei Komponenten: das Ineinander und Miteinander von ausgedehnter Körperlichkeit, überindividuellem Geist und selbstreflektierter Individualität, die an den beiden anderen Komponenten offensichtlich gleichermaßen, aber in ganz verschiedener Weise partizipiert.
Diese Dreiheit bildet nun die Grundlage für die Neunheit des Enneagramms. Um es etwas vorgreifend zu formulieren:
Drei der neun Punkte gehören zur Geisttriade, nämlich die Punkte 8, 9 und 1.
Die Punkte 2, 3 und 4 gehören zur Seelentriade.
Die Punkte 5, 6 und 7 bilden die Körpertriade.
Don Richard Riso gebraucht etwa gleichbedeutend die Ausdrücke Beziehungstriade, Gefühlstriade und Handlungstriade. Wir modifizieren seine grafische Darstellung (Riso 1989, S. 45) und verändern die Benennungen der Triaden, weil diese besser den anthropologischen Grund der Dreiheit zum Ausdruck bringen: Beziehung ist Geist als Zwischen, Gefühl ist die sich selbst empfindende Seele, Handlung ist die körperliche Äußerung von Bewusstseinsvollzügen.
»Vorgreifend« ist das Gesagte in mehrfacher Hinsicht: Erst in der Besprechung der einzelnen »Ennea-Punkte« und ihrer Bedeutung werden diese Bezeichnungen plausibel werden. Vor allem aber bedarf der Weg von der grundsätzlich erkannten Dreifachnatur des Menschen zu dem, was die »Punkte« auf dem Kreisumfang signalisieren, nämlich Charakterschwerpunkte der jeweiligen Personen, noch vielfacher Erörterung und Begründung.
Um uns diese »Durchdringung« der drei Wesenskomponenten des Menschen logischer und zugleich konkreter vor Augen zu führen, können wir uns eines Verfahrens bedienen, das in der abendländischen Philosophie unbekannt ist, allerdings in der Geometrie für quantitative Untersuchungen unter den Bezeichnungen »Schnittmengen« und »eulersche Kreise« verwendet wird. Als Johannes Heinrichs es 1988 erstmals im folgenden Sinn einer qualitativen, philosophischen Interpretation der »Schnittmengen« öffentlich verwendete, kannte er kein abendländisch-philosophisches Vorbild für dieses Verfahren. Inzwischen trifft man es häufiger an, allerdings nur zur Veranschaulichung der Tatsache, dass aus der Drei eine Siebenheit von Schnittmengen hervorgeht, nicht mit einer genaueren Interpretation dieser Schnittmengen.
Gehen wir davon aus, dass sich die drei Wesenskomponenten des Menschen im anfänglich eingeführten Sinn auf gleichwertige Weise durchdringen, so kann die begriffliche Gleichursprünglichkeit der drei Komponenten oder Energiefelder eben am genauesten durch drei Kreise dargestellt werden, deren Mittelpunkte jeweils zugleich ein Schnittpunkt (einer der beiden Schnittpunkte) der beiden anderen Kreise sind:
Es entstehen sieben Schnittflächen der drei sich gleichwertig durchdringenden Kreise. Damit wird blitzartig und auf geometrisch zwingende Weise (»more geometrico«) der Weg von der Drei zur Sieben sichtbar. Zwar ist die geometrische Veranschaulichung nur ein umfangslogisches Hilfsmittel für die Analyse begrifflich-unanschaulicher Verhältnisse. Doch warum sollten wir uns dieses Hilfsmittels nicht bedienen? Die philosophische Interpretation der Schnittflächen geht nun allerdings über die bloße Umfangslogik weit hinaus.