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Vorwort

Pflanzen führen ein aktives Sozialleben. Sie haben Freunde und Feinde, sind liebevoll zu den Nächsten, bilden Allianzen, betreiben Vetternwirtschaft, sind futterneidisch, machen einander das Wasser streitig und verhalten sich abwehrend gegenüber Fremden. Unter dem Boden bilden sie umfangreiche Beziehungsnetze aus Wurzeln und Pilzen, über die sie Nährstoffe und Informationen austauschen. Und Weinreben reagieren auf gewisse Schallwellen, Mozart-Klänge zum Beispiel. Das zeigt neueste Forschung.

Auch die Beziehungsnetze von Tieren sind viel komplexer, viel differenzierter, als wir bislang dachten. Das zeigen Entdeckungen an unerwarteten Orten, wie bei Zebuherden im westafrikanischen Niger, in Schweizer Schlachthöfen oder bei Berggorillas in Ruanda und im Basler Zoo.

Neue Erkenntnisse füllen langsam die Leerstellen des ökologisch geprägten Weltbildes. Dieses beruht ja darauf, dass alles mit allem irgendwie vernetzt ist, nichts isoliert funktioniert und dass den Genen keineswegs die alles überragende Rolle bei der Steuerung von Lebensprozessen zukommt. In den letzten Jahren haben wir dank vorurteilsloser Beobachtungen und Experimente neue und faszinierende Einblicke in die unendlich komplexen und dynamischen Netzwerke bekommen, die Leben ausmachen.

Was aber bringt das Wissen, dass wir alle – Pflanze, Tier und Mensch – in koevolutionäre Prozesse eingebunden und in gegenseitigen Abhängigkeiten verstrickt sind? Was bedeutet dies konkret für die Landwirtschaft? Sie steht vor gigantischen Herausforderungen: Klimaextreme, endliche Ressourcen, erodierte Böden und wachsende Bevölkerungszahlen.

Das grosse Wüstenbegrünungsprojekt SEKEM in Ägypten zeigt eindrücklich, wie die konsequente Anwendung solcher Erkenntnisse aus Sand blühende Landschaften erschaffen kann – ohne Agrochemikalien und ohne Gentechnik. Doch vermögen ökologische Landwirtschaftssysteme auch die Weltbevölkerung zu ernähren, und sind sie ökonomisch konkurrenzfähig?

Bei unseren Gesprächen mit Expertinnen und Experten fielen immer wieder zwei Schlüsselbegriffe: Vielfalt und Beziehungsnetze. Vielfalt ist aber nicht von gestern auf heute entstanden. Sie hat sich entwickelt, über Millionen von Jahren. Es geht also auch um Evolution. Doch Evolution nur auf genetischer Ebene zu begreifen ist zu engstirnig. Evolution findet auf vielen verschiedenen Ebenen statt, und Beziehungsnetze spielen dabei eine grosse Rolle.

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Giancarlo Cignozzi

Mozart für die Reben

Winzer Giancarlo Cignozzi und Biologe Stefano Mancuso haben festgestellt, dass Pflanzen auf Musik reagieren.

Früher war er Rechtsanwalt in Mailand. Heute ist Giancarlo Cignozzi Weinbauer in der Toskana. Doch ein normaler Winzer ist er nicht. »Viele Leute halten mich für verrückt«, weiss Cignozzi. Der Winzer baut nicht nur nach biologischer Methode Brunello di Montalcino an und verzichtet somit auf synthetische Schädlingsbekämpfungsmittel. Er lässt seinen Reben auch Musik zukommen. Mozart-Opern. Die hört der sechsundsechzigjährige ehemalige Advokat selbst am liebsten.

»Mozart in Vigna« – Mozart im Weinberg – steht auf dem Wegweiser aus Holz, der zu Giancarlo Cignozzis Weingut führt. »Il Paradiso di Frassina«, wie er sein Stück Land nennt, liegt auf einem sanften Hügel 250 Meter über Meer, fünf Kilometer vom Städtchen Montalcino entfernt. Oben angekommen, fällt einem als Erstes die liebliche Gegend auf, die für ihren Wein weltberühmt ist. Sie ist an diesem frühen Septembermorgen in zartes Rosa gehüllt. Montalcino scheint noch in tiefem Schlaf zu liegen. Doch plötzlich hört man, vom Wind zugetragen, eine hinreissende Stimme. Es ist die Stimme von Papageno. Die Reben auf dem Weinberg hören gerade Die Zauberflöte.

Seit über zehn Jahren schon berieselt Cignozzi auf seinem sechzig Hektar grossen Gelände fünfzig Prozent seiner Reben mit Musik. Von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends. Jeden Tag, auch im Winter. Die Musik kommt aus siebzig wetterfesten, auf jeweils einen kleinen Ausschnitt gerichteten Lautsprechern, die zwischen den Reben oder entlang der äussersten Rebenreihen stehen. Die Outdoorboxen wurden vom US-amerikanischen Audiotechnik-Konzern Bose gesponsert. Die andere Hälfte des Weinbergs erhält keine Musikbehandlung.

Dem Wein scheint die Musik zu bekommen. Die beschallten Pflanzen seien kräftiger und entwickelten mehr Laub als jene ohne Musik, sagt Cignozzi. Vor allem aber seien die Trauben bis zu zehn Tage früher reif. Dies ist ein grosser Vorteil, denn je länger die Trauben brauchen, um auszureifen, desto höher ist die Gefahr, dass Temperaturschwankungen sie schädigen.

Man mag dies kaum glauben. Der Winzer, der von Frühsommer bis Herbst fast täglich in- und ausländische Besucherinnen und Besucher durch sein Weingut führt, hat sich an die Skepsis seiner Gäste gewöhnt. Er deutet auf zwei Rondelle, die etwa fünfzehn Meter auseinanderliegen und in denen je acht Pflanzen in identischer Erde wachsen. Sie sind seine Beweisstücke. Ein Rondell wird beschallt, das andere nicht. Der äussere Unterschied der Pflanzen fällt selbst einem botanischen Laien auf: Die »Mozart-Reben« sind deutlich weiterentwickelt und haben mehr Blätter als jene ohne Beschallung. Auffällig ist, dass die beschallten Weinreben sich regelrecht dem Lautsprecher entgegenstrecken, als ob er eine Lichtquelle wäre. Die Kontrollgruppe ohne Musik bietet im Vergleich einen geradezu traurigen Anblick: Sie ist nicht halb so hoch wie der »Mozart-Wein« und hat viel weniger Blätter.

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Oben: Reben, die mit Mozart beschallt werden; unten: Vergleichspflanzen ohne Beschallung

Als Cignozzi mit dem Musikprojekt begann, war es bloss so ein Gefühl: das Gefühl, seine Weinreben könnten bei Musik besser gedeihen. »Und falls die Musik nichts bewirken würde, dachte ich, kann zumindest ich bei der Arbeit Mozart geniessen.« Nun hat er den doppelten Genuss: guten Wein und schöne Musik.

Im Weinkeller des tausendjährigen Gutshofs, den Cignozzi halb zerfallen übernommen hatte und restaurieren liess, lädt er zur Weindegustation. Hier stehen riesige Eichenfässer, in denen der berühmte Brunello di Montalcino zweieinhalb Jahre lang lagert. Einen jüngeren Brunello, der nur ein Jahr im Eichenfass ruhte, hat Cignozzi nach seiner jüngsten Tochter benannt, die wiederum den Namen der griechischen Muttergöttin trägt: Gea. Cignozzi ist, obwohl einst Anwalt, kein Mann der grossen Worte. Auf die Frage, ob man den Mozart in seinem Wein schmecke, antwortet er unwirsch: »Nein, das ist Unsinn.« Trotzdem sind auf allen Weinetiketten Musiknoten abgebildet. Cignozzis Markenzeichen. 2010 hat Cignozzi seine Autobiographie veröffentlicht: L’uomo che sussurra alle vigne (Der Weinflüsterer).

»Nein, das ist kein Werbegag, und Cignozzi ist nicht verrückt«, antwortet Stefano Mancuso, Pflanzenelektrophysiologe an der Universität Florenz, auf die entsprechende Frage. »Natürlich können Pflanzen nicht hören. Sie haben keine Ohren.« Aber ihre Zellmembranen – also die Hüllen um die Zellen der Pflanzen – sind sehr empfindlich. Die Pflanzen hören nicht die Töne, können nicht wie wir die Arie von Papageno geniessen. »Sie nehmen aber den Schall wahr, die durch die Musik ausgelösten Vibrationen«, erklärt Mancuso.

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Stefano Mancuso mit einer Maiswurzel, seinem wichtigsten Untersuchungsobjekt

Seit fünf Jahren begleitet der Wissenschaftler das Musikexperiment auf dem Montosoli-Hügel. Dass sich der Biowinzer gerade an diesen Professor wandte, hatte seinen Grund: Auch Mancuso gilt – unter Wissenschaftlern – bei vielen als »verrückt«. Er betrachtet Pflanzen nicht wie viele seiner Zunft als Roboter, die nur einem (genetischen) Programm folgen und auf den gleichen Reiz immer gleich reagieren. Mancuso ist vielmehr überzeugt, dass Pflanzen eine Art von Intelligenz besitzen. Sie können Probleme lösen und gezielt auf Umweltsignale antworten.1 Gemeinsam mit dem Zellbiologen František Baluška in Bonn erforscht er Pflanzen – speziell die Pflanzenwurzeln, »ein Universum«, wie Mancuso sagt.2 Er und Baluška konnten nachweisen, dass in Pflanzen elektrische Signale zirkulieren, die nach einer Verletzung der Pflanze besonders gut messbar sind. Beide Biologen sind überzeugt, dass Pflanzen diese elektrischen Impulse, sogenannte Aktionspotentiale, nutzen, um intern Informationen weiterzuleiten. Auch Tiere und Menschen nutzen Aktionspotentiale zur Informationsübermittlung in Nervenzellen.3

Dass Pflanzen diese gebrauchen, ist für Mancuso und Baluška so überraschend nicht. Eine Pflanze könne an die zwanzig physikalische und chemische Grössen registrieren, wie etwa Licht, Schwerkraft, Duftstoffe und auch Schallwellen.4 Auf diese Informationen könne die Pflanze gezielt antworten, indem sie zum Beispiel ihr Wachstum verändere, mehr Blätter entwickle oder in eine andere Richtung wachse.5 Dazu sei ein schnelles Informationssystem nötig. Die Aktionspotentiale von Pflanzen seien zwar viel langsamer als jene von höheren Tieren, in der Geschwindigkeit aber vergleichbar mit denjenigen von Quallen oder Würmern.

Stefano Mancusos Institut liegt etwa sechs Kilometer ausserhalb von Florenz in einem trostlosen, von Unkraut überwucherten Gewerbeareal. Ein Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland arbeiten in dem unscheinbaren zweistöckigen Institut, das der Universität Florenz angeschlossen ist. Auf dem Tisch im kleinen, engen Büro von Stefano Mancuso stapeln sich Papier und Bücher. An der Wand hängen ein Plakat mit Darwins bärtigem Konterfei, eine Orchideentafel und ein Blumenbild. Mancuso, in weissem Hemd, Bluejeans und Sandalen, scheint bestens gelaunt, ist gesprächig und erklärt – auch mittels rasch hingekritzelter Pflanzenwurzeln – das Mozart-Projekt.

Parallel zum Feldversuch auf dem Weinberg untersucht Stefano Mancuso im Labor die Wirkung von Schallwellen auf Pflanzen. Zum Beispiel stellte er junge Maispflanzen in transparente Behälter, um die Reaktion der Pflanze auf die Schallwellen beobachten respektive filmen zu können (a). Dann platzierte er rechts neben den Pflanzenwurzeln einen Lautsprecher. Dieser sandte zuerst einen tiefen Ton, zwischen 200 und 500 Hertz, aus. Die Reaktion der Pflanze: Die Wurzeln wuchsen in der Folge im rechten Winkel zur Schallquelle hin und nicht mehr senkrecht nach unten (b). Das Umgekehrte passierte bei hohen Tönen mit Frequenzen über 1000 Hertz: Die Wurzeln bewegten sich von der Schallquelle weg (c).

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»Diese Verbiegung nach rechts oder links ist erstaunlich, müssen die Wurzeln doch die Gravitationskraft überwinden, die sie nach unten zieht«, betont Mancuso. Bei sehr hohen Frequenzen reagierten die Wurzeln übrigens nicht – sie schienen diese nicht wahrzunehmen. Kann man also sagen, dass Pflanzen hohe Frequenzen nicht mögen? »Nein«, erwidert Mancuso. »Man kann bloss feststellen, dass sich die Wurzeln bei hohen Frequenzen anders verhalten als bei tiefen.« Dazu komme, dass sowohl die Laborversuche als auch jene im Weinberg wiederholt werden müssten, bevor man wissenschaftlich etwas darüber aussagen könne, wie Pflanzen auf Musik reagierten. Sicher belegen könne man derzeit nur: »Pflanzen nehmen Schall wahr.« Unsere Sprache oder auch Musik seien stark genug, um Pflanzenmembranen zu reizen. »Die Frequenz der Töne kann Einfluss auf das Wachstum haben, auch wenn das manche Wissenschaftler nicht gerne hören.« Mancuso betont aber immer wieder, dass die Pflanzen nicht die Musik wahrnehmen. Sie erfassen allein die Vibrationen. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, Cignozzi hätte seine Reben ständig demselben Ton, zum Beispiel 200 Hertz, ausgesetzt. Doch der Winzer habe Ärger mit den Nachbarn befürchtet, er hätte sie damit vermutlich in den Wahnsinn getrieben. Über Mozarts Opern habe sich jedoch noch niemand beschwert.

Auch wenn die ersten Ergebnisse noch einmal überprüft werden müssen, haben sowohl der Winzer als auch der Wissenschaftler bemerkt, dass die Reben, die auf dem Weingut mit Musik beschallt werden, sich besser entwickeln als jene ohne Beschallung. Auch die Trauben scheinen von besserer Qualität zu sein.

Nicht nur Pflanzen, auch Insekten nähmen den Schall offenbar wahr. Die Reben, die mit Mozart-Klängen berieselt werden, würden deutlich weniger von Schädlingen befallen als jene ohne Musik, sagt Mancuso. Allerdings hielten sich auch mehr Nützlinge von den beschallten Reben fern. »Die Vibrationen scheinen die Insekten zu verwirren.« Er vermutet, dass Männchen und Weibchen nicht mehr miteinander kommunizieren und sich somit nicht fortpflanzen könnten. Wissenschaftler der Universität Pisa untersuchen nun die Auswirkungen der Musik auf Insekten.6

Doch warum können Pflanzen den Schall wahrnehmen, und wozu nutzen sie diese Signale? Mancuso nimmt an: »Pflanzen, die ständig von Vibrationen, also mechanischen Reizen, im Boden umgeben sind, nutzen diese, um etwas über die Qualität und Bodenbeschaffenheit zu erfahren, zum Beispiel, ob Wasser vorhanden ist oder sich ein physisches Hindernis in der Nähe befindet.« Erstaunlich sei, dass die Pflanzen diese Vibrationen nicht nur wahrnehmen können. »Sie interpretieren sie auch und antworten auf sie, zum Beispiel, indem die Maiswurzel ihre Wuchsrichtung ändert.« Das bedeute, dass Pflanzen über ein Erinnerungsvermögen verfügen und aus Erfahrungen lernen können.7

Das Erinnerungsvermögen und das Erfahrungs»wissen« von Pflanzen sind wichtige Bestandteile der Forschung des Florentiner Biologen. Er führt uns durch das Gewächshaus seines Instituts und deutet auf die Venusfliegenfalle, deren Fangmechanismus sein Team untersucht. Die fleischfressende Pflanze ernährt sich von Insekten und Spinnen. Sie fängt ihre Nahrung, indem sie ihre Fangblätter, auf denen ein Insekt krabbelt, innerhalb von gerade mal 100 Millisekunden, also 0,1 Sekunden, zusammenklappt. Das ist eine der schnellsten bekannten Bewegungen in der Pflanzenwelt. Die Venusfliegenfalle klappt die Blätter aber erst zu, wenn das Insekt die Fühlborsten, feine Härchen auf dem Fangblatt, innerhalb von vierzig Sekunden mindestens zweimal berührt hat. Der doppelte Reiz ist sozusagen eine eingebaute Energiesparmassnahme: Würden die Fangblätter schon bei der ersten Berührung zuklappen, wäre dies ein zu grosser Energieverlust. Das Insekt könnte wieder weggeflogen sein. Für Stefano Mancuso ist dieser doppelte Reiz ein »schönes Beispiel dafür, dass sich Pflanzen erinnern können«: Die Venusfliegenfalle erinnere sich an eine Berührung, die bis zu vierzig Sekunden zurückliegt. Seine bisherigen Untersuchungen hätten bestätigt: »Pflanzen können aus Erfahrungen lernen und fällen Entscheidungen über ihr weiteres Vorgehen.«8

Pflanzen sind zu Entscheidungen fähig – ist das nicht eine etwas gewagte Aussage? Mancuso lächelt vieldeutig und zeigt einen Film auf seinem Computer: Eine Kletterpflanze, eine Bohne, in einem Topf sucht Halt – eine Stange ist etwa dreissig Zentimeter von ihr entfernt. Der Zeitraffer zeigt, wie die Bohne versucht, die Stange zu erreichen. Sie kreist und kreist um die eigene Achse und versucht, jeweils mit zusätzlichem Druck an die Stange heranzukommen. Offensichtlich »weiss« sie genau, wo sich die Stange befindet – ein Beispiel dafür, dass Pflanzen in der Lage sind, ihre Umgebung wahrzunehmen. Doch die Bohne kann ihr Ziel nicht erreichen, die Stange steht zu weit weg. Fast tut sie einem leid. Plötzlich stoppt sie abrupt ihre Kreisbewegungen. Sie steht augenblicklich aufrecht und bewegt sich nicht mehr. »Seither weiss ich«, sagt Mancuso, »dass Pflanzen fähig sind, Entscheidungen zu treffen.« Diese Filmaufnahme sei für ihn als Biologen die bisher grösste und zugleich schönste Erkenntnis gewesen.

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Die Reben von Giancarlo Cignozzi »hören« den ganzen Tag lang Mozart: Bose-Lautsprecher im Weinberg

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Nordamerikanischer Meersenf (Cakile edentula): Die beiden Pflanzen links sind »Verwandte«, die beiden Pflanzen rechts sind nicht verwandt, sie sind »Fremde«. Die »fremden« Pflanzen bilden mehr und verzweigtere Wurzeln aus

Das versteckte Sozialleben der Pflanzen

Pflanzen beschützen Familienangehörige, verhalten sich abwehrend gegenüber Fremden und können zwischen Selbst und Nichtselbst unterscheiden, sagt Evolutionsbiologin Susan Dudley.

Der Teufelszwirn (Cuscuta) ist ein Profiteur. Er produziert keine eigenen Nährstoffe und bildet keine Wurzeln aus. Er schmarotzt bei anderen Pflanzen. Seine Opfer sucht er gezielt aus. Hat er eines entdeckt, umwindet er die Pflanze mit seinem dünnen Stängel, dringt mit seinen Saugnäpfchen in sie ein und nimmt ihren zuckerreichen Saft auf. Doch wie findet der Teufelszwirn die beste, die saftigste Wirtspflanze? Er erkennt sein Opfer an dessen Geruch.9 Gleich nach der Keimung bewegt sich sein fadenartiger, weisslicher Stängel suchend nach einem Wirt durch die Luft, hin und her. Der Teufelszwirn riecht, ob vor ihm ein unattraktiver Weizenhalm oder eine begehrte Tomate steht. Doch selbst bei der Tomate ist er noch wählerisch: Verletzte oder kranke Tomaten verschmäht der Teufelszwirn; er ist fähig, die Duftstoffe verletzter Tomaten zu entschlüsseln, und sucht sich nur gesunde und kräftige Pflanzen. Hat er erst einmal sein knackiges Opfer erschnüffelt, wächst er schnell und mit erstaunlicher Präzision darauf zu. Dies berichtet Consuelo De Moraes von der Pennsylvania State University.10, 11, 12

Pflanzen reagieren auf Musik, Pflanzen können riechen, Pflanzen fällen Entscheidungen – all diese Fähigkeiten hatten sie bislang allenfalls in der Märchenwelt. In der Realität betrachten immer noch viele Wissenschaftler Pflanzen als eine Art lebende Reflexmaschine. Denken wir an Pflanzen, sehen wir vielleicht ein einsames Mauerblümchen und stellen uns vor, dass dieses allein und verlassen dahinvegetiert. Welch ein Irrtum! Sieht man genau hin, entdeckt man: Pflanzen plaudern unter und über der Erde rege miteinander und sogar mit Insekten.13 Sie führen ein aktives Sozialleben. Sie haben Freunde und Feinde, sie mögen Geselligkeit, sind liebevoll zu den Nächsten, bilden Allianzen, betreiben Vetternwirtschaft, sind futterneidisch, machen einander das Wasser streitig und verhalten sich abwehrend gegenüber Fremden. Zudem unterhalten sie vielfältige Beziehungen zu Insekten und Vögeln, zu Pilzen, Bakterien und anderen Mikroorganismen.

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Susan Dudley

Die Evolutionsökologin Susan Dudley von der McMaster-Universität in Hamilton, Kanada, erforscht das reichhaltige Sozialleben der Pflanzen. Sie und ihr Team konnten zeigen, dass Pflanzen fähig sind, nahe Verwandte innerhalb der eigenen Art zu identifizieren, und dass sie sogar Familienangehörige gegenüber Nichtverwandten beschützen und bevorzugen.14 »Lange Zeit dachten wir, die Pflanzen sind einfach nur da. Doch sie können sich viel besser verteidigen, als wir annahmen, und ihre Umgebung kreieren: Es zeigt sich, dass sie durch chemische Kommunikation eine gewisse Kontrolle darüber haben, was um sie herum passiert«, bringt Dudleys Mitarbeiterin Meredith Biedrzycki die Erkenntnisse über das Sozialleben der Pflanzen im Fachblatt New Scientist auf den Punkt.15

Susan Dudley, Sie sagen, dass Pflanzen ihre Geschwister erkennen können. Wie fanden Sie dies heraus?

»Das konnten wir anhand von Experimenten mit dem Springkraut (Impatiens pallida) zeigen. Diese Pflanze kommt sowohl in Wäldern in Kanada wie auch in Europa häufig vor. Wir haben zweimal vier Setzlinge nahe beieinander in je einen Topf gesetzt. Die vier Setzlinge im einen Topf waren nicht miteinander verwandt, wir nannten sie die ›Fremden‹. Die vier Setzlinge im zweiten Topf stammten alle von derselben Mutterpflanze ab, waren also Geschwister. Wir nannten sie die ›Verwandten‹. Wir konnten beobachten, dass ein Springkraut, das neben ›Fremden‹ aufwächst, seine Wurzeln sehr schnell wachsen lässt. Wächst das Springkraut hingegen neben ›Verwandten‹ auf, investiert es weniger Energie in das Wurzelwachstum, es geht viel langsamer voran.«

Das Springkraut ist also gegenüber Familienmitgliedern kooperativer, es teilt mit ihnen Ressourcen wie Wasser oder Nährstoffe. Hat es dagegen »Fremde« in der Nachbarschaft, findet ein Wettkampf um die Ressourcen statt.

»Wir nehmen an, dass dem so ist. Auch über der Erde verhielten sich die Pflanzen unterschiedlich: Wuchs das Springkraut unter ›Fremden‹ auf, kämpfte es gegen diese um das Sonnenlicht. Das Springkraut investierte viel Energie in die Produktion von Blättern und war von kleinerem Wuchs. Hatte das Springkraut aber ›Verwandte‹ als Nachbarn, gab es wenig Konkurrenzkampf um das Sonnenlicht: Dieses Springkraut bildete kleinere Blätter aus, wuchs höher und war auch verzweigter als das Springkraut, das sich gegen ›Fremde‹ durchzusetzen versuchte.«

Pflanzen nehmen tatsächlich Rücksicht auf »Verwandte« und kämpfen gegen »Fremde«?

»Ja. Interessant war, dass wir diese unterschiedlichen Effekte nur beobachten konnten, wenn die Wurzeln sich berührten. Wuchsen die Pflanzen zwar nahe beieinander, aber in getrennten Töpfen, konnten wir keine Unterschiede feststellen. Es muss also eine Art Kommunikation zwischen den Wurzeln stattgefunden haben. Wurzeln, das wissen wir seit einiger Zeit, scheiden Signalstoffe aus, um miteinander zu kommunizieren.«

Kennt man das Vokabular, das Pflanzenwurzeln für ihre Untergrundkommunikation verwenden? Wissen Sie, anhand welcher Signalstoffe sie einander erkennen?

»Nein, das wissen wir noch nicht. Pflanzenwurzeln sondern sehr viele Signalstoffe in ihre Umgebung ab, wie Phenole, Flavonoide, auch organische Säuren oder gar Proteine.16 Für uns sind die Signalstoffe wie eine Fremdsprache. Wir können zwar erkennen, dass Pflanzen miteinander kommunizieren, verstehen aber ihre Sprache nicht, können sie nicht entziffern. Es ist vergleichbar mit meiner Situation in Taiwan, wo ich zurzeit für ein paar Monate forsche. Um mich herum gibt es unzählige Informationen, die ich nicht entschlüsseln kann, weil ich kaum ein chinesisches Wort kenne. Auch bei den Pflanzen kenne ich die Zeichen nicht. Im Moment wissen wir erst, dass die Signalstoffe wasserlöslich und flüssig sind.«

Könnten Ihre Beobachtungen mit dem Springkraut nicht auch Zufall sein? Die Zusammensetzung der Topferde oder andere Umweltfaktoren haben vielleicht diese Unterschiede verursacht.

»Gerade solche Effekte wollten wir mit einem zweiten Versuch ausschliessen. Dazu benutzten wir wildwachsende Ackerschmalwand (Arabidopsis). Wir kultivierten die Pflanzensetzlinge in Gefässen mit einer sterilen Lösung. Wir wussten, dass die Wurzeln der Ackerschmalwand chemische Signalstoffe in diese Lösung abgeben. Nach sieben Tagen nahmen wir die Setzlinge heraus. In die einen Gefässe setzten wir dann ›Verwandte‹ der Ackerschmalwand, in die anderen Gefässe ›Fremde‹. Alles, was die ›Verwandten‹ und die ›Fremden‹ in der Flüssigkeit vorfanden, waren die Signalstoffe der Vorgängerpflanze. Erneut konnten wir signifikante Unterschiede beobachten: Die Wurzeln der ›Verwandten‹ verzweigten sich nicht, sie wuchsen nach unten, in die Länge. Die Wurzeln der ›Fremden‹ wuchsen schneller und entwickelten viele Seitenwurzeln, als ob sie sich gegen Konkurrenten durchsetzen müssten. Es scheint, als ob die Pflanzen kompetitiv werden, sobald sie die fremden Signale erkennen. Sie versuchen, Mineralstoffe und Wasser von ihren fremden Nachbarn zu ergattern.«

Können alle Pflanzen ihre Familienmitglieder erkennen?

»Das wissen wir nicht. Vieles deutet darauf hin, dass Pflanzen ganz unterschiedlich reagieren können. Einige investieren mehr ins Wurzelwachstum, wenn ›Fremde‹ mit im Topf sind, wie wir gesehen haben. Andere reagieren genau umgekehrt: Sie lassen mehr Wurzeln wachsen, wenn ›Verwandte‹ mit im Topf sind. Wieder andere zeigen Wachstumsveränderungen über dem Boden. Es ist ein hochkomplexes und differenziertes Verhalten, wir wissen erst sehr wenig darüber.«17, 18

Pflanzen können nicht nur die Identität anderer Pflanzen wahrnehmen, sie sind auch fähig, zwischen Selbst und Nichtselbst zu unterscheiden. Ein Beispiel: Wurzeln einer Erbsenpflanze kommen einander nicht zu nahe; sie konkurrieren nicht miteinander. Wird aber eine Erbsenpflanze in einem Topf der Länge nach in zwei Teile geschnitten, so dass zwei genetisch identische Pflanzen entstehen, erkennen die Wurzeln der einen Pflanze jene des »Zwillings« bald als Nichtselbst: Die Pflanze bildet plötzlich mehr und längere Wurzeln aus, die nun auch in den Bereich des »Zwillings« hineinwachsen.19 Die Fähigkeit der Wurzeln, zwischen Selbst und Nichtselbst zu unterscheiden, konnte auch bei Erdbeere, Ambrosie und Büffelgras nachgewiesen werden. Wie Pflanzen diese Unterscheidungen zu treffen vermögen, ist den Forschern bislang ein Rätsel.

Einige Pflanzen können auch erkennen, ob ihre Nachbarinnen der eigenen oder einer anderen Art angehören. Amanda Broz von der Colorado State University hat in einem Gewächshaus einen Flohknöterich (Persicaria maculosa) aufgezogen – einmal allein, einmal zusammen mit Idaho-Schwingel (Festuca idahoensis). Dann simulierte die Forscherin mit Duftstoffen einen Schädlingsangriff. Die Antwort des Flohknöterichs auf die Attacke hing von der Nachbarschaft ab: Bestand sie ebenfalls aus Flohknöterichpflanzen, produzierte er in den Blättern Toxine zur Abwehr. Befand er sich jedoch in der Gesellschaft des Idaho-Schwingels, investierte er seine Energie in das Blatt- und Stängelwachstum und nicht in die Herstellung von Toxinen. Das sei durchaus sinnvoll, schreibt Broz: Der Flohknöterich überlasse die Abwehr dem Idaho-Schwingel und konzentriere sich auf aggressives Wachstum. Diese Strategie erkläre vermutlich auch die erfolgreiche Verbreitung des Flohknöterichs.20

Ein fast unglaubliches Zusammenspiel zweier ganz unterschiedlicher Pflanzenarten konnte Jarmo Holopainen von der Universität Ostfinnland in Kuopio beobachten: Hängebirkenwälder in nordskandinavischen Berggebieten werden im Herbst oft von Schwärmen von Rüsselkäfern (Polydrusus flavipes) heimgesucht. Holopainens Gruppe beobachtete, dass sich einige dieser Hängebirken (Betula pendula) besonders gut gegen die Insekten zur Wehr setzen können, und zwar dann, wenn in ihrer Nachbarschaft ein Rhododendron (Rhododendron tomentosum) wächst. Die Forscher stellten fest, dass diese besonders wehrhaften Hängebirken ein klebriges Gemisch aus chemischen Duftstoffmolekülen absondern. Dieser Duftstoffcocktail vertreibt die Insekten wirksam, kommt aber normalerweise nicht auf Hängebirkenblättern vor.21, 22 Es ist die Feindabwehr des Rhododendrons. Die Hängebirken absorbieren die Düfte ihrer Nachbarn und geben sie über ihre eigenen Blätter wieder ab. Eine raffinierte Strategie. Dasselbe Parfumgemisch schützt die Hängebirke offenbar auch gegen die Blattlaus. Dass die Hängebirke zur Abwehr von Feinden einfach den Duft des Rhododendrons kopiert hat, scheint Jarmo Holopainen selbst beeindruckt zu haben. Das sei, sagt er, »ein gutes Beispiel dafür, dass bei der Erforschung ökologischer Auswirkungen mehr von der Sicht einer Pflanzengemeinschaft als von der Sicht einer einzelnen Pflanze ausgegangen werden sollte«.23

Pflanzen kommunizieren auch mit Insekten. Dass sie Frassfeinde erkennen und manchmal auch identifizieren können, ist seit einigen Jahren bekannt. So »weiss« zum Beispiel die Limabohne (Phaseolus lunatus), deren Kommunikationsfähigkeiten am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena erforscht werden, nicht nur, dass sie von Schädlingen angegriffen wird, sondern auch von wem (vgl. auch PflanzenPalaver, S. 47). Ist der Angreifer eine Spinnmilbe, lockt sie mit einem Duft Raubmilben herbei, welche die Spinnmilben fressen. Wird sie hingegen von Raupen befallen, lockt sie mit einem etwas anderen Duftstoffgemisch Schlupfwespen an, welche die Raupen parasitieren. Doch wie erkennt die Limabohne, wer an ihr frisst? Sie »schmeckt« am Speichel, wer sie gerade angreift, und produziert darauf das Parfumgemisch, das den entsprechenden »Bodyguard« anzulocken vermag.

Es gibt Pflanzen, die ihre Feinde sogar identifizieren, lange bevor der Frassschaden eingetreten ist. Monika Hilker und Torsten Meiners von der Freien Universität Berlin konnten zeigen, dass der Rosenkohl seinen grossen Fressfeind, den Kohlweissling, bereits erkennt, wenn dieser seine Eier auf die Blätter legt und sie festklebt. Der Rosenkohl nimmt eine Komponente des Klebstoffes, Benzylzyanid, wahr und verändert darauf seine Blattoberfläche. Damit lockt er die auf Insekteneier spezialisierten Schlupfwespen an. Diese legen ihre Eier in jene des Kohlweisslings. Die Schlupfwespenlarven fressen die Schmetterlingseier auf und befreien so den Rosenkohl von seinem Feind.24, 25 Auch andere Pflanzen erkennen Schädlinge bereits bei der Eiablage. Eine bestimmte Erbsensorte zum Beispiel bildet nach der Eiablage eines Feindes kleine Pusteln, die alsbald mitsamt den darauf festgeklebten Eiern abgeworfen werden. Kohlund Kartoffelpflanzen wiederum faulen an der Eiablagestelle, so dass die schlüpfenden Larven sich mangels Nahrung nicht entwickeln können und oft verhungern. Und Tannen verströmen, drei Tage nachdem ein Schädling seine Eier auf den Nadeln abgelegt hat, »SOS«-Duftstoffe, die parasitäre Wespen anziehen.

Noch steht die Forschung über das Beziehungsnetz von Pflanzen ganz am Anfang. Doch immer mehr Befunde zeigen: Pflanzen sind regelrechte Networker.26 Sie kooperieren zum Beispiel über ihre Wurzeln mit Pilzfäden, wie der Basler Biologe Andres Wiemken im nächsten Kapitel erläutert. Diese noch weitgehend unbekannte Welt der Pflanzen-und-Pilz-Gemeinschaften sei so etwas wie ein »unterirdisches Internet« von noch ungeahnter Dimension, meldete Mitte 2011 auch die Wissenschaftszeitschrift New Scientist.

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Hirse und Flachs nach acht Wochen: rechts mit Mykorrhizapilzen, links ohne

Hirse füttert Flachs

Pflanzenwurzeln und Pilze tauschen gegenseitig und untereinander Nährstoffe aus. »Geht da auch alles gerecht zu?«, fragt sich Biologe Andres Wiemken.

»Voilà.« Andres Wiemken legt ein Foto auf den Schreibtisch. Darauf sind zwei Töpfe abgebildet, in denen je eine Flachs- und eine Hirsepflanze zusammen wachsen. Im rechten Topf ist die Flachspflanze mehr als doppelt so gross wie jene im linken Topf. Auch die Hirse ist ein bisschen grösser. Und dies, obwohl die Pflanzen in beiden Töpfen in gleicher Erde wachsen und gleich viel Wasser und Nährstoffe erhalten haben. Ist der Grössenunterschied Zufall? »Nein«, sagt der Botanikprofessor von der Universität Basel, »der Grund für den Unterschied sind Pilzgeflechte.«

Im Topf rechts sind Mykorrhizapilze in der Erde, im anderen Topf gibt es keine. In beiden Töpfen wurde in der Mitte zwischen den Pflanzen eine feinmaschige Membran in die Erde eingelassen, damit sich die Wurzeln nicht berühren. »Für die Pilzfäden jedoch ist die Membran durchlässig«, erklärt Wiemken. »Diese sind so dünn, dass man sie mit blossem Auge nicht sieht.«

Der Botaniker untersucht mit seinem Team Mykorrhizapilze. Praktisch alle Landpflanzen leben unter natürlichen Bedingungen in einer Symbiose mit unterirdischen Pilzgeflechten.27 Fossilienfunde weisen darauf hin, dass diese Symbiose vermutlich eine Voraussetzung dafür war, dass die Pflanzen vor etwa 500 Millionen Jahren aus dem Wasser ans Land kommen konnten. Mykorrhiza heisst auf Griechisch »Pilzwurzel« und bezeichnet das aus der Symbiose entstehende »Organ«, das Produkt aus dem Zusammenspiel von Pflanzenwurzel und Pilzfaden. Unter der Erde, erklärt Wiemken und deutet auf den rechten Topf, gebe es ein dichtes Geflecht aus Pilzfäden, die auch die Wurzeln der beiden so ganz verschiedenen Flachs- und Hirsepflanzen miteinander verbinden. Die Mykorrhizapilze führen dem Flachs und der Hirse Nährstoffe aus dem Boden zu – vor allem Phosphat, aber auch Stickstoff und andere Mineralstoffe. Die Pflanzen ihrerseits beliefern die Pilze mit Kohlenhydraten, die sie mittels Photosynthese produzieren, wie zum Beispiel Zucker. »Mit unserem Versuch wollten wir noch mehr über den gegenseitigen Austausch herausfinden«, erläutert Wiemken. »Wir fragten uns: Geht da auch alles gerecht zu? Erhalten in einer Pflanzengemeinschaft jene Pflanzen, die viel in das gemeinsam betriebene und genutzte Pilzgeflecht im Boden investieren, auch entsprechend viel von den Pilzen zurück und die anderen, die weniger investieren, entsprechend weniger?«

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Andres Wiemken

Hirse und Flachs sind zwei landwirtschaftlich genutzte Pflanzen – das war Agronom Andres Wiemken wichtig. Doch die beiden haben eine etwas unterschiedliche Art, Photosynthese zu betreiben. Bei viel Sonnenlicht und Trockenheit ist die Hirse effizienter.28 Mit einer speziellen Nachweismethode – der Isotopenuntersuchung – kann man die von der Hirse photosynthetisch gewonnenen Kohlenhydrate von denjenigen des Flachses unterscheiden.29 Wiemkens Team untersuchte, von wem die Pilzfäden ihre Kohlenhydrate beziehen: von der Hirse oder vom Flachs? Das überraschende Resultat: Rund achtzig Prozent der Kohlenhydrate in der Pilzbiomasse stammten von der Hirse. »Die Hirse baut das Pilznetz auf, und der Flachs profitiert am meisten davon«, erklärt Andres Wiemken. »Man könnte sagen: Die Hirse füttert den Flachs.« Dank dieser Kooperation werde eine Flachspflanze neben einer Hirsepflanze fast doppelt so gross wie ohne Pilzgeflecht. Und was bekommt die Hirse? »Auch sie erhält von den Pilzen Nährstoffe aus dem Boden, also Phosphat und Stickstoff. Ob sie noch einen anderen Profit daraus zieht, wissen wir nicht.«

Mykorrhizen sind Andres Wiemkens Passion. Der Forscher spricht voller Respekt von den Wundern der Pflanzenwelt, von diesem imponierenden Zusammenspiel von Pflanzen und Pilzen. Wir sitzen in der Bibliothek des Botanischen Instituts der Universität Basel. In Andres Wiemkens kleinem Büro hätten keine zwei Personen Platz, auf Tischen, Stühlen und auf dem Boden türmen sich riesige Stapel von markierten Artikeln und Büchern. Er sei vor kurzem von einem Feldbesuch aus Indien zurückgekommen, da sei vieles liegengeblieben, erklärt er entschuldigend.