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Die Autorin
Danksagung
Heide-Marie Lauterer
Mörderischer Galopp
Reiterkrimi
spiritbooks
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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© 2011 spiritbooks, 73230 Kirchheim/Teck
Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de
Autor: Heide-Marie Lauterer
Herausgeber: Ulrike Dietmann
Coverfoto: Abramova Kseniya
Autorenporträt: Gülay Keskin
Grafik: vectors seamartini
Druck und Verlagsdienstleister: tredition
Printed in Germany
eBook-ISBN: 978-3-944587-89-9
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Die Autorin
Heide-Marie Lauterer, langjährige Schriftführerin des Heidelberger Reitvereins und Pferdebesitzerin kennt sich aus in den Höhen und Tiefen des Reiterlebens. Sie veröffentlicht Kurzkrimis und ist Mitglied der Autorenvereinigung "Mörderische Schwestern".
Für Hans-Jürgen, meinen Mann
„Wie heißt sie denn?“
„Nine-Days-Wonder“, sagte er. „Eine Nerwa-Tochter.“
Der Name gefiel mir, er klang geheimnisvoll und schön, aber Nerwa sagte mir gar nichts. Natürlich wusste ich, dass es sich um ihre Abstammung handelte – aber da kannte ich mich überhaupt nicht aus. Glücklicherweise schien der Händler meine Verlegenheit gar nicht zu bemerken. „Ihr Vater war der Vollblüter Aggregat und ihre Mutter war die schwarzbraune Trakehnerstute Nerwa. Ihre Töchter sind ihr wie aus der Rippe geschnitten – Namibia, Narcisse, Nexe, – und wie sie alle heißen – haben es im großen Sport zu beachtlichen Meriten gebracht.“
Ich schluckte. So ein Pferd war für mich bestimmt zu teuer. Ich hatte mir eine Grenze gesetzt, über die ich auf keinen Fall hinausgehen durfte, als Berufsanfängerin konnte ich nicht gleich in die Vollen gehen. Ich hatte gerade meine Doktorprüfung bestanden und gleich darauf eine Stelle gefunden. Mitten in der Heidelberger Altstadt, zum Universitätsplatz und zu meinem Lieblingscafé war es nur ein Katzensprung, die Bibliothek lag um die Ecke und meine Chefin hatte mir ein eigenes Büro im Institut in Aussicht gestellt. Vertraglich geregelte Arbeits- und Urlaubszeiten, ein regelmäßiges Einkommen und eine interessante Aufgabe, die mir genug Zeit ließ, meinem Hobby nachzugehen. So jedenfalls hatte ich mir meine neue Arbeit vorgestellt, denn sonst wäre ich wohl kaum auf die Idee mit dem Pferd gekommen. Seit meiner Kindheit hatte ich von einem eigenen Pferd geträumt und jetzt sah ich mich plötzlich in der Lage, mir diesen Traum zu erfüllen. Doch dieses Pferd kam für mich nicht in Frage, ich traute mich nicht einmal nach dem Preis zu fragen.
Der Händler schien mein Zögern gar nicht zu bemerken. Er öffnete die Boxentür, streifte der Stute ein Stallhalfter über und zog sie ziemlich unsanft aus ihrem Stall auf den Hof hinaus. Dort band er sie an einem Geländer fest. Doch die Stute, die widerwillig und schläfrig hinter ihm hergetrottet war, ließ plötzlich das Weiße in ihren Augen blitzen, stampfte mit ihrem Vorderhuf so zornig auf den Steinboden, dass die Funken sprühten, verlagerte dann ihr ganzes Gewicht auf die Hinterhand, sodass sich der Anbindestrick bis zum Äußersten spannte und nur nicht zerriss, weil der Panikhaken im letzten Augenblick nachgab. Doch jetzt war das Pferd frei und galoppierte mit donnerndem Hufgetrappel davon.
„Verdammt“, entfuhr es dem Händler und ich hatte den Eindruck, dass er sich nur deshalb vor weiteren und noch schlimmeren Flüchen zurückhielt, weil er auf mich keinen noch schlechteren Eindruck machen wollte. „Irgendetwas hat sie erschreckt, sie ist sonst immer sehr brav.“ Aber davon war der Stute nichts anzumerken. Sie galoppierte immer noch in engen Zirkeln auf dem Hof herum und alle Versuche des Händlers und seiner Helferin, das Tier zu beruhigen, erreichten nur das Gegenteil.
„Lassen Sie mich mal“, sagte ich. Ich wunderte mich über mich selbst – woher nahm ich plötzlich dieses Selbstvertrauen, ein fliehendes Pferd aufzuhalten? Bisher hatte ich doch nur Schulpferde geritten und in den Ferien manchmal das Pony meiner Freundin gepflegt. Ich weiß nicht, was mit mir geschah, ich fühlte nur, wie ich plötzlich ganz ruhig wurde. Langsam näherte ich mich der Stute. „Hoooo, hooo“. Sie spitzte die Ohren, als sie meine Stimme hörte, fiel in einen leichten Trab, ging ein paar Schritte und blieb stehen. Dann drehte sie sich zu mir um und schaute mich aufmerksam an. Ich streckte die Hand aus und forderte sie auf, zu mir zu kommen. Und genau das tat sie.
„Das ist Ihr Pferd“, sagte der Händler anerkennend. „Nine-Days-Wonder, die Nerwa Tochter“, fügte er hinzu und es klang, als spräche er von einer Prinzessin. Doch erst als ich selbst im Sattel saß, wusste ich, was er gemeint hatte. Ich hatte das Gefühl auf einer rosa Wolke zu schweben. Noch nie hatte ich ein Pferd geritten, das so weich und feinfühlig auf alle meine Hilfen reagierte. Als ich abstieg und den Sattelgurt lockerte, drehte sich die Stute zu mir um und legte mir ihren Kopf auf die Schulter. Es war mir, als wolle sie mir etwas ins Ohr flüstern, doch ich verstand es nicht, weil der Händler im gleichen Augenblick zu reden anfing.
„Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen – es gibt nicht viele Leute, die mit dieser Stute zurechtkommen – aber Sie beide scheinen die gleiche Wellenlänge zu haben – ich mache Ihnen einen guten Preis – Sie brauchen nur einzuschlagen.“
Colorado Rocky Mountains high – ich hatte den Oldies-Sender eingestellt und dieses Lied spielten sie nur für mich. Ich fuhr durch die sanften Kraichgauhügel zurück nach Hause und sang aus vollem Herzen mit, den Text kannte ich auswendig. He left yesterday behind him, you might say, he was born again, he found a key to every door. Genau so ging es mir in diesen Minuten, ich kam mir vor wie neugeboren, ich fühlte mich glücklich, frei und leicht, als ob ich ohne Sattel durch die Prärie galoppierte, auf meiner Stute Nine-Days-Wonder, immer geradeaus, der Sonne nach. Alles andere lag hinter mir, die schweren Prüfungen, die Suche nach dem richtigen Pferd, und die schwierige Anfangszeit mit Gerson. Er würde jetzt daheim auf mich warten, in unserem Zuhause, begierig darauf, meine Neuigkeiten zu hören.
Wir hatten lange gezögert zusammenzuziehen, aber als wir die Entscheidung endlich getroffen hatten, ganz schnell eine Wohnung gefunden. Sie lag im Heidelberger Stadtteil Neuenheim, dem grünsten Viertel der ganzen Stadt. Die Gärten hinter den Häusern bildeten ein parkähnliches Geviert, mit alten Obstbäumen, Fliederbüschen und Rosenbeeten. Bei unserem Einzug stand der alte Kirschbaum hinter unserem Haus in voller Blüte. Von unserem Küchenbalkon sah man das Eichhörnchen, das in luftiger Höhe vom einen in den anderen Garten wechselte, oder den Buntspecht, mit seiner roten Haube, der die Rinde nach Insekten abklopfte und die gelb-grünen Sittiche, die mit aufreizenden Schreien durch die Luft schossen, aber ich war meistens so beschäftigt, dass mir für solche Musestunden die Zeit fehlte. Ich war auf Pferdesuche und in jeder freien Minute unterwegs. Gerson schüttelte über mich den Kopf: „Du tauschst einen Stall voller Pferdemist gegen ein Paradies“, sagte er.
Wenn er erst einmal Nine kennen lernte, würde er mich verstehen, dachte ich. Der Name war mir beim Mitsingen eingefallen, genauso würde ich die Stute nennen. Er war keine einfache Abkürzung, ich würde ihn nämlich deutsch aussprechen, N-i-n-e, das klang wie Tine, so freundlich und rund, genauso wie sich mir das Pferd gezeigt hatte. Ihren ganzen Namen würde ich mir für offizielle Angelegenheiten vorbehalten, vielleicht gingen wir ja mal zusammen auf ein Turnier, da machte sich Nine-Days-Wonder natürlich besser. Stolz, eigensinnig und überraschend – davon hatte sie ja auch etwas. Sie sollte es gut bei mir haben. Ich würde mir alle erdenkliche Mühe geben, um sie so unterzubringen, dass sie sich richtig wohlfühlte. Sie brauchte eine Wiese, eine große, helle Box mit einem Auslauf, noch besser wäre ein Offenstall, schon wegen des Kontaktes zu anderen Pferden. Und gutes Futter natürlich, immer frisches Wasser und saubere Luft.
Ich hatte es eilig die Wohnungstür aufzuschließen, Gerson war schon zu Hause, ich hatte sein Fahrrad an der Hauswand lehnen sehen. Aber irgendetwas stimmte nicht mit meinem Schlüssel, er klemmte und ließ sich nicht mehr nach rechts und links drehen, und ich konnte ihn nicht wieder herausziehen. Aber das machte nichts, Gerson war ja da, ich konnte also klingeln. Doch niemand öffnete. Vielleicht hört er Radio, oder telefoniert gerade, dachte ich, unsere Klingel ist zu leise, wir hätten sie schon längst austauschen sollen. Also versuchte ich es noch einmal mit dem Schlüssel, ich rüttelte ein bisschen an dem widerspenstigen Objekt, und plötzlich sprang die Wohnungstür auf.
Meine Reitstiefel ließ ich im Flur in einer Ecke stehen und stürmte in die Küche. „Gerson, stell dir vor, ich habe – “, aber ich brach mitten im Satz ab. Gerson saß am Küchentisch hinter seiner Zeitung und schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Es war so ruhig, dass man ein Blatt Papier zu Boden fallen hätte hören können, die Luft in der Küche schien zu Eis erstarrt, schneidend, dass mir das Atmen schwer fiel. Ich schaute ihn an, aber er las gar nicht, sondern starrte geradeaus ins Leere. Dann machte er sich umständlich und in aller Ruhe daran, die Zeitung zusammenzufalten, schob die einzelnen Teile ineinander, Ecke auf Ecke, zog den Falz in der Mitte nach, überprüfte die Seitenzahlen und klappte den Packen Papier in der Mitte zusammen. Es war als ob er alle seine Spuren verwischen wollte, warum wusste ich nicht.
„Gerson?“ Ich fühlte einen Kloß in meinem Hals und meine Knie wurden auf einmal weich. Kein Wunder, ich war ja den ganzen Tag auf Achse gewesen und merkte jetzt erst, dass ich müde und hungrig war.
„Da bist du ja endlich – ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet. Gegessen habe ich schon – ist dir eigentlich klar, dass wir in einer halben Stunde zum Kino verabredet sind?“
„Oh nein! Das habe ich völlig vergessen.“ Ich atmete auf, meine Schwäche verflog, jetzt war mir klar, warum Gerson so schlechter Laune war. Eine halbe Stunde würde mir gerade noch reichen, um zu duschen. Ich konnte Gerson ja auf dem Weg zum Kino von Nine erzählen, dachte ich.
„Und stell bitte deine Reitstiefel in den Keller“, sagte er, als ich mich umdrehte, um unter die Dusche zu gehen.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Klingeln des Telefons geweckt. Es war 7 Uhr und noch nicht einmal ganz hell. Gerson blinzelte durch ein halbgeöffnetes Augenlid, murmelte etwas, das so klang wie “wahrscheinlich wieder einer deiner Pferdeleute“ und drehte sich genüsslich auf die andere Seite. Gähnend stand ich auf – es war spät geworden, gestern Abend, der Film hatte Überlänge gehabt und mich nicht die Bohne interessiert – aber das, was ich jetzt hörte, machte mich sofort hellwach. „Frau Roth, wir brauchen die Box, wann können Sie Ihr Pferd abholen?“ Der Händler klang barsch und unfreundlich und schien überhaupt nicht bereit, mir zuzuhören.
„Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich erst einen Stall suchen muss“, versuchte ich, um ihn zu beschwichtigen, doch meine Antwort brachte ihn erst richtig in Rage: „Dann schauen Sie doch mal in Ihren Vertrag und lesen das Kleingedruckte zu § 3 – dort steht klipp und klar, dass das gekaufte Pferd nur solange bleiben kann, bis wir die Box brauchen. Und jetzt ist es soweit.“
Leider hatte er recht, unter Punkt 3 stand alles schwarz auf weiß, so wie er es gesagt hatte. Ich hatte den Vertrag unterschrieben, ohne das Kleingedruckte zu lesen, daran gab es nichts zu rütteln. Ich weiß nicht wie es mir gelang, aber irgendwie schaffte ich es, noch zwei Tage herauszuschinden. „Ich warne Sie“, sagte der Händler, „spätestens übermorgen bringe ich Ihnen die Stute, wohin ist mir egal – notfalls stelle ich sie Ihnen in den Garten.“
Das waren herrliche Aussichten, aber es half alles nichts, ich musste so schnell wie möglich einen passenden Stall finden.
Die beiden Reitställe, die ich mir anschaute, verdienten ihren Namen nicht. Warum der erste nicht schon längst aus Gründen des Tierschutzes geschlossen worden war, war mir ein Rätsel.
Die Anlage lag mitten im Neubaugebiet. Wo einmal Pferdekoppeln waren, taten sich jetzt gigantische Baustellen auf, hier würden in Kürze Wohnblocks und Kliniken entstehen. Die Boxen waren in einem schlimmen Zustand, dunkel, ohne Auslauf, die meisten hatten nicht einmal ein Fenster, durch das die Pferde ihren Kopf hätten stecken können. Der Stall war schlecht gemistet und die Luft stickig und feucht, ein ideales Klima, um Bakterien zu züchten. Meine Frage: „Was würde Nine dazu sagen“, brauchte ich hier gar nicht erst zu stellen, sie beantwortete sich von selbst.
Der nächste Hof auf meiner Liste lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. In unmittelbarer Nähe dieser Anlage befand sich ein gigantischer Müllplatz, der im Zehnminutentakt von donnernden LKWs angefahren wurde. An dieser Zufahrtsstraße lagen die Pferdekoppeln. Dennoch fuhr ich auf den Hof, um den Pächter kennenzulernen. Doch der hatte offensichtlich vergessen, dass er sich mit mir verabredet hatte, denn er ließ mich eine halbe Stunde vor verschlossenem Hoftor warten. Ein untersetzter, dickbäuchiger Mann mit einem kugelrunden Kopf und kleinen schlauen Äuglein, die mich aufmerksam taxierten. Er war das genaue Gegenbild eines Reitlehrers, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte.
„Was für ein Pferd haben Sie denn?“, wollte er als erstes wissen. „Eine sechsjährige Stute, eine Nerwa-Tochter“, sagte ich. Als hätte ich ein Zauberwort ausgesprochen, fing der Mann an auf mich einzureden. „Sie brauchen bestimmt Beritt? Und Reitstunden? Da sind Sie bei uns richtig!“ Während unseres Gespräches wurde ich das Gefühl nicht los, dass er sich im Stillen überlegte, wie es auf meinem Bankkonto aussah. Die einzige freie Box, die er mir anbieten konnte, befand sich ganz hinten in einem dunklen Stallgebäude, das gleichzeitig als Heulager genutzt wurde. Als er mir den Preis für dieses Loch nannte, drehte ich mich auf dem Absatz um und verlies grußlos den Hof.
Als ich den Zündschlüssel umdrehte, musste ich an Gerson denken. Was mein Verhältnis zu Nine-Days-Wonder betraf, hatte er sich schnell eine Meinung gebildet. Er bezeichnete mich als Pferdenärrin, die wie alle Pferdefrauen von einem gefährlichen Virus befallen sei. Aber damit nicht genug, setzte er hinzu, wenn es hart auf hart käme, würde ich mich nicht für ihn, sondern für das Pferd entscheiden.
Wie sehr er mit dieser Unterstellung ins Schwarze getroffen hatte, merkte ich jetzt auf der Stallsuche. Ich konnte ja nichts dafür – es war mir, als ob man Nine-Days-Wonder und mich zu einem Paket zusammengeschnürt hätte, dessen Schnüre von Tag zu Tag fester gezurrt wurden. Diesen Druck spürte ich, denn ich sagte mir, dass ich eine große Verantwortung übernommen hätte – eine Verantwortung für ein Wesen, das mich brauchte, weil es nicht für sich selbst sorgen konnte. Es kam mir sogar vor, als ob Nine und ich so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft bildeten.
Mit bangem Herzen machte ich mich auf den Weg zu dem dritten Hof auf meiner Liste. Was sollte ich bloß anfangen, wenn sich auch dieser Stall als Pleite herausstellte? „Wenn alle Stricke reißen“, hatte Gerson geulkt, „stellst du Nine eben in die Garage beim Nachbarn.“ Er hatte leicht reden, seine Surfbretter und seine beiden Mountainbikes waren leichter unterzubringen als ein Pferd.
Der Leierhof lag in Stadtnähe wie eine Insel im tosenden Verkehrsstrom, umgeben von einem dichten Netz von Straßen und Autobahnen. Aber wenn man die richtige Ausfahrt erwischte und dann noch den Schleichweg an den Ami-Kasernen vorbei über die Felder nahm, sah man überall Pferde auf grünen Wiesen grasen. Der Leierhof schien wie für einen Werbeprospekt entworfen. Ich stellte meinen Golf auf dem Parkplatz unter einem alten Nussbaum ab. Weil ich ein paar Minuten zu früh angekommen war, vertrieb ich mir die Zeit, indem ich einen passenden Text zu dem Prospekt entwarf: „Genießen Sie Ruhe und Frieden vor den Toren der Großstadt. Unsere hochqualifizierten Fachkräfte verbessern Ihr reiterliches Können und den Ausbildungsstand Ihres Pferdes. Luxuriöse Pferdeboxen machen unsere Anlage noch attraktiver“, genau das war es doch, was ich suchte!
Eine junge, sympathisch wirkende Frau in Reithosen führte mich wenig später durch die Anlage. Im Stall duftete es nach Heu, die Pferdeboxen waren sauber, luftig und hell, Nine-Days-Wonder würde sich hier wohlfühlen, da war ich mir sicher.
Doch gerade, als wir den Stall verlassen wollten, hörte ich Schreie. Das Gebrüll klang beängstigend, ein Mann versuchte verzweifelt, ein Pferd zum Aufstehen zu zwingen. Vielleicht hatte sich das Tier festgelegen und er brauchte Hilfe?
„Kommen Sie“, sagte die Frau zu mir und schob mich schnell dem Ausgang zu. Es schien ihr nicht recht zu sein, dass ich den Grund für die Aufregung erfuhr. Aber jetzt war ich neugierig geworden. Ich trat an die Gittertür heran, hinter der ich die Schreie gehört hatte. Mir bot sich ein schrecklicher Anblick. Im zerwühlten Stroh lag ein Pferd mit weitaufgerissenen, blutunterlaufenen Augen. Es lag auf der Seite und streckte alle Viere von sich. Das Fell klebte nass und schwarz am Körper, ich hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Braunen oder einen Rappen handelte. Das Tier röchelte, Schaum trat vor das Maul, sein Leib hob und senkte sich, der Kopf lag flach im Stroh, es war zu schwach, um ihn zu heben. Ein großer, hünenhafter Mann mit schwarzem Vollbart traktierte das Pferd mit Fußtritten. „Steh` auf“, schrie er es an, aber der Wallach verdrehte nur seine Augen und atmete immer flacher.
„Das Pferd stirbt!“ Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Begleiterin versuchte mich zu beruhigen. „Eine Kolik“, sagte sie. „Das Pferd neigt dazu. Iwan, der Pfleger hat den Tierarzt gerufen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
Mit weichen Knien und einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte ich ihr hinaus zu den Außenplätzen. Vor der Weide lag das große Dressurviereck. Eine Frau auf einem eleganten Fuchs übte fliegende Galoppwechsel. Um das Pferd herum sprang laut bellend eine grauschwarz gesprenkelte Dogge. Der blonde Pferdeschwanz, der im Takt hin- und herwippte, ließ die Reiterin jünger aussehen, als sie vielleicht war. Mit ihren Reitkünsten würde ich mich nicht messen können, aber was Nine-Days-Wonder anging, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.
Alles was ich hier draußen sah – die gepflegten Reitplätze, die Reiterin, bei der es sich bestimmt um eine bekannte Turnierreiterin handelte, und die großen, mit leuchtend weisen Holzgattern umzäunten Weiden – ließen mich den traurigen Vorfall im Stall schnell vergessen. Gerade als ich mich entschlossen hatte, nach dem Preis einer Box zu fragen, sagte die junge Frau: „Im Augenblick ist unser Stall voll. Ich kann Sie aber vormerken.“
Meine Enttäuschung stand mir auf der Stirn geschrieben. Endlich hatte ich einen Hof gefunden, der rundum meinen Vorstellungen entsprach und ausgerechnet hier hatten sie keinen Platz für uns! Ich hatte nur noch einen Tag Galgenfrist und morgen musste ich die anderen Höfe auf meiner Liste besichtigen. Aber wer weiß – vielleicht geschah ja ein Wunder und sie konnten mir hier doch eine Box anbieten? Ich versuchte meine Enttäuschung so gut es ging zu verbergen und ließ mich auf die Warteliste setzen.
Und tatsächlich – zu meiner größten Überraschung erhielt ich schon am nächsten Abend einen Anruf. Eine der schönsten Boxen im Stall sei gerade frei geworden, ich solle mich schnell entscheiden. Natürlich sagte ich sofort zu.
Am nächsten Morgen machte ich Nine mit ihrem neuen Zuhause bekannt. ‚Nine’ passte gut zu ihr, wie ich fand, vor allem, wenn sie, wie gerade jetzt, am langen Strick hinter mir her trottete. Manchmal blieb sie abrupt stehen, streckte den Kopf in die Höhe und schaute sich mit großen Augen um. Besonders interessierte sie sich für die Pferdäpfel, die am Putzplatz vor der Sattelkammer lagen. Sie beschnupperte sie ausführlich. Auf der Stallgasse standen drei Mädchen in Reithosen, die sich aufgeregt unterhielten. Im Vorbeigehen hatte ich den Eindruck, dass sie über uns sprachen.
„Hast du die Neue schon gesehen?“
„Nein! Wo soll die denn stehen?“
„In Windspells alter Box.“
„Oh – ausgerechnet – aber wir sind ja nicht abergläubisch.“
„Meinst du etwa, dass es an der Box gelegen hat?“
In diesem Augenblick nahmen die drei uns wahr und ihr Gespräch stockte. Ich schob Nines Boxentür auf und ließ die Stute hinein.
„Hallo – willkommen auf dem Leierhof!“
Eines der Mädchen streckte mir die Hand hin: „Ich bin Carmen“, sagte sie. „Wir kennen uns schon – ich habe Sie vor zwei Tagen herumgeführt!“
Die Begrüßung wurde von einem lauten Grunzen unterbrochen. Nine hatte sich ins frische Stroh geworfen und wälzte sich genüsslich. Beim Aufstehen schüttelte sie sich schnaubend. Mähne und Schweif steckten voller Strohhalme. Carmen trat einen Schritt vor und gab Nine einen Klaps auf die Schulter. Ein Ruck ging durch die Stute, sie ließ das Weiße in ihren Augen aufblitzen, fletschte die Zähne und reckte den Kopf abwehrbereit nach vorne. Geistesgegenwärtig sprang Carmen zurück und hätte beinah ihre Freundin umgeworfen, wenn nicht die Dritte des Kleeblatts: „Vorsicht, Mascha!“ gerufen hätte.
„Ach du meine Güte, die sieht so aus, als ob sie zu allem fähig ist.“
„Scheint ja ein heißer Ofen zu sein.“ Und zu der Dritten gewandt, sagte Mascha: „Penny – wir müssen die Pferde von der Koppel holen.“
„Was ist denn mit Ihnen los“, sagte Carmen, die neben mir stehen geblieben war. „Sie sehen ja ganz blass aus?“
Ich war ziemlich erschrocken – so wild und aggressiv hatte ich mein Pferd noch nie gesehen.
„Es war meine Schuld“, beruhigte mich Carmen. „Das Pferd kennt mich ja nicht – vollkommen normal so eine Reaktion. Wie hieß sie doch gleich?“
„Nine-Days-Wonder“, sagte ich. Der ganze Name war mir einfach so herausgerutscht, das freundliche „Nine“ hatte mir einfach nicht über die Lippen gehen wollen.
In diesem Augenblick klingelte mein Mobiltelefon. Es war Gerson und über seine Stimmung gab es keinen Zweifel.
„Wo steckst du eigentlich den ganzen Tag? – Ich habe versucht dich anzurufen – hörst du eigentlich noch deine Mailbox ab?“
Dazu hatte ich keine Zeit gehabt. Gerson fühlte sich vernachlässigt. „Ich wollte mit dir heute Abend ausgehen“, sagte er.
„Morgen gerne“, sagte ich, um Schadensbegrenzung bemüht – „Für heute hab ich erst mal genug! Es war doch Nines Umzugstag – sie ist beim Händler nicht in den Hänger gegangen und ein paar Mal von der Rampe gesprungen, deshalb hat alles länger gedauert. – Hörst du mir noch zu?“
Am anderen Ende der Leitung war es merkwürdig still. Das kannte ich nicht von ihm, doch ich ahnte, dass die Funkstille etwas mit Nine zu tun hatte. Sie gehörte mir noch keine Woche und schon jetzt fand er, dass ich zu viel Zeit mit der Stute verbrachte, Zeit, die ich besser ihm gewidmet hätte.
„Übrigens – ich koche gerade Spaghetti mit Tomatensauce“, sagte Gerson, und es klang wie eine Schönwettermeldung nach einem grauen Regentag.
„Ich mache einen Salat dazu. In einer halben Stunde bin ich da“, sagte ich erleichtert.
Ich nahm mir vor, an diesem Abend das Thema „Nines Umzug auf den Leierhof“ so gut es ging zu vermeiden, auch wenn es mir schwer fiel. Aber dann fing Gerson an, von Pferden zu sprechen. Nicht direkt natürlich, wie immer nahm er den Umweg über seine Kamera. Er erzählte von den Photos, die er in der vergangenen Woche geschossen hatte und landete nach kurzer Zeit bei seinem Lieblingsthema, der alten Leica Baujahr 1939.
„Ich muss sie dir mal zeigen, du musst sie mal in der Hand halten – schon allein das Lederetui ist sehenswert.“
Er hatte die Kamera in einem Secondhandladen entdeckt. Es war genau das gleiche Modell, mit dem mich mein Großvater als Kind geknipst hatte.
„Ich habe die Bilder schon entwickelt, du musst sie dir unbedingt mal anschauen!“
An anderen Tagen betrachtete ich mir seine Photos gern, aber heute fielen mir fast die Augen zu.
„Hat das nicht Zeit bis morgen?“, fragte ich, doch er hielt mir die Abzüge so dicht unter die Nase, dass ich einen Blick darauf werfen musste.
„Was für ein tolles Pferd!“ Ich war auf einmal hellwach. „Der geht sicher im ganz großen Sport? Ein Traumphoto! Wo hast du das geknipst?“
„Kennst du das Pferd etwa nicht? Das ist doch Windspell, der berühmte Dressurhengst, der letztes Jahr den Grand Prix auf dem Mannheimer Maimarkt gewonnen hat – ich habe ihn dort auf dem Turnier photographiert. Er stand übrigens auf dem Leierhof“, fügte Gerson hinzu.
„Ja – und?“ Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte.
„Vera! – Das pfeifen die Spatzen doch von den Dächern – wahrscheinlich steht es schon in der Zeitung – Windspell ist vor ein paar Tagen eingegangen. Kolik, Darmverschluss, sagt man, das Übliche, zu spät in die Klinik – na ja, vielleicht war es auch was anderes.“
„Wie schrecklich! Gerson! Dann war Windspell am Ende das Pferd mit der Kolik – ich hatte es völlig vergessen – er ist also doch gestorben – ich habe so etwas geahnt! Kein Wunder, dass sie für Nine so schnell eine Box frei hatten“, sagte ich und ich merkte, wie sich meine Freude über Nines Umzug in Luft auflöste. Gerson schenkte mir ein Glas Rotwein ein. „Du hast Windspell sterben sehen?“ sagte er voller Mitgefühl.
Ich fühlte mich müde und erschlagen und ging früh zu Bett. Aber ich schlief schlecht in dieser Nacht und träumte wirres Zeug. Nicht von dem jämmerlich eingegangenen Windspell, es ging natürlich um Nine. Sie war gewachsen, zuerst die Ohren, dann die Beine, ich würde mir zum Aufsitzen eine Trittleiter ausleihen müssen, dachte ich besorgt. Zum Schluss schoss ihr Widerrist derartig in die Höhe, dass mein alter Sattel nicht mehr passte. Nine verdrehte die Augen, bleckte die Zähne und wieherte mir zu: „Ich muss wachsen, und du musst abnehmen!“ Merkwürdigerweise konnte ich sie problemlos verstehen, doch als ich sie anflehte, endlich mit dem Wachsen aufzuhören, stellte sie sich taub. Sie tänzelte aufgeregt in ihrer Box herum und ich bekam Angst, dass sie sich den Kopf anstoßen und in Panik geraten würde. Es fehlte nicht viel und sie würde auf der Hinterhand kehrtmachen, die Stallgasse hinunter galoppieren, ausrutschen, und sich die Beine brechen. Doch im letzten Moment packte mich jemand an der Schulter und das Pferd verschwand.
„Danke, Gerson“, sagte ich schlaftrunken. „Du hast uns sehr geholfen“, drehte mich um und schlief traumlos bis zum Morgen.
Der erste Gedanke, der mir beim Aufwachen durch den Kopf ging, galt Nine. Ob sie der Pfleger auch ordentlich gefüttert hatte? Ich hatte nur kurz mit dem Mann gesprochen und mir war sein harter russischer Akzent aufgefallen. Aber es war nicht nur seine Aussprache, die mich verstörte. Er war von hünenhafter Gestalt und sein schwarzer Vollbart verdeckte seine Züge fast vollständig, was ihm etwas Verschlagenes gab. Nur seine eisblauen Augen stachen wie zwei kalte Sterne aus dem Gesicht hervor. Und wie er das leidende Pferd mit seinen Fußtritten traktiert hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Plötzlich fiel mir ein, dass ich gestern Abend vergessen hatte, nach der Tränke zu sehen – es kam oft genug vor, dass die Pferde Stroh hineinstopften, dann waren die Tiere die ganze Nacht ohne Wasser. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Wassermangel ein Grund für Koliken sein konnte, wenn Nine anfällig für Bauchschmerzen wäre, dann hätte ich allen Grund zur Besorgnis.
Gerson schlief noch, als ich mich anzog. Unter der dünnen Decke bildeten sich die Formen seines Körpers ab. Er lag mit angezogenen Beinen auf der Seite wie ein Kind, hatte die Finger zu einer Faust geballt und den Daumen über den Mund gelegt. Das Bild rührte mich, aber ich riss mich von diesem Anblick los – auf Zehenspitzen schlich ich in die Küche. Normalerweise frühstückten wir samstags zusammen. Frische Brötchen, Feigenmarmelade, Milchkaffee und Spiegeleier. Gerson holte die Zeitung aus dem Briefkasten, ich schnappte mir das Feuilleton, Gerson den Politikteil und wir lasen uns gegenseitig die Schlagzeilen vor. Doch dazu war heute Morgen keine Zeit.
Als Gerson noch im Pyjama in die Küche kam und sich verdutzt die Augen rieb, stellte ich gerade meine Tasse in die Spülmaschine. „Ich bin schon seit einer Ewigkeit wach“, sagte ich. „Ich bin bestimmt wieder zurück, wenn du mit frühstücken fertig bist!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, packte ich meine Reitstiefel und verließ das Haus. Ich hatte das dringende Bedürfnis, nach Nine zu sehen, schließlich hatte sie die erste Nacht in einer fremden Umgebung verbracht und wer weiß, was ihr da alles hatte zustoßen können.
Auf dem Leierhof traute ich meinen Augen kaum. Nines Stalltür war mit einem leuchtend gelben Kranz aus Löwenzahn geschmückt, davor stand ein Sack mit frischen Karotten, in dem ein Fähnchen mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen“ steckte. Nine stand kauend vor einem riesigen Haufen duftenden Heus und lies es sich schmecken. Von mir nahm sie keine Notiz, auch dann nicht, als ich die Schiebetür öffnete und die Stute von oben bis unten musterte.
„Stockmaß einssiebzig?“
Ich sah mich um.
„ Hi!“
Vor mir stand Carmen in Reitstiefeln, engen Reithosen und einem kurzen T-Shirt, mit der Aufschrift „Leierhof“. Ihr blondes kurzgeschnittenes Haar und ihre schlanke, aber kräftige Figur wirkten knabenhaft, aber ihre Oberweite erinnerte mich an Marilyn Monroe in „Misfits“, wie sie hinter Clark Gable und den wilden Mustangs her war.
„Mit Ihrer Stute habe ich mich inzwischen bekannt gemacht – es scheint ihr bei uns zu gefallen.“
„Ein Meter achtundsechzig“, sagte ich erleichtert, „sie ist kein bisschen gewachsen.“
Carmen, der die innere Logik meiner nächtlichen Gedankengänge verborgen blieb, sah mich erstaunt an. Ich entschuldigte mich bei ihr, dass ich mich gestern nicht richtig vorgestellt hatte.
„Ich bin Vera Roth und das ist Nine-Days-Wonder, oder einfach Nine. Je nachdem.“
„Doch nicht etwa eine Nerwa-Tochter?“
„Genau.“
„Sie hatten bestimmt schon Erfolge mit ihr?“
Ich tätschelte Nine, die mir einen schrägen Blick zuwarf, den Hals und tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte. Wahrscheinlich war es gar nicht so sehr ihre Frage, als das „Sie“. Warum duzte mich das Mädchen eigentlich nicht? Sah ich schon so alt aus, dass man mich siezen musste? Oder hatte ich mit meinem Uni-Job jetzt endgültig die Fronten gewechselt und gehörte zum Establishment? Ich siezte meine Chefin und ein paar ältere Respektspersonen, die ich an einer Hand abzählen konnte, aber auf dem Reitplatz gab es für mich kein „Oben“ und „Unten“. Uns verband doch alle die Liebe zu unseren Pferden, und das machte uns alle irgendwie gleich.
Aber wenn Carmen mich unbedingt siezen wollte, bitteschön – dann musste ich es auch tun.
„Und welches Pferd reiten Sie?“, fragte ich.
Carmens Stirn verdüsterte sich. Ihr Pflegepferd sei leider eingegangen. Woran wusste sie nicht, die Besitzerin habe mit ihr nicht darüber gesprochen. Sie, Carmen, sei eines Tages in den Stall gekommen und habe das Pferd nicht mehr vorgefunden.
„Das war schlimm“, sagte Carmen. „Aber jetzt kann ich eben wieder besser für die Schule lernen. Ich mache ja auch bald Abitur“, fügte sie hinzu und wollte offenbar noch mehr von sich erzählen, als wir unterbrochen wurden.
„Hallo, ich bin Liberty.“
„Ihr – ich meine dein – Name klingt amerikanisch, habe ich recht?“
Liberty lachte. „Oh, ja, ich komme aus Laramie, Wyoming. Myboy und ich sind schon seit zwei Jahren hier.“ Das Auffälligste an Liberty waren ihre stahlblauen Augen, die sie wie Pfeile auf mich richtete.
„Darf ich?“, fragte sie mit einem Blick auf Nine. Ohne meine Antwort abzuwarten, hielt sie der Stute eine Rübe hin.
Plötzlich wirkte Liberty irgendwie abgelenkt. Ihr breites Grinsen verschwand und um ihren Mund zeigte sich ein bitterer Zug, der ihr etwas Strenges gab. „Ja, ich komme“, murmelte sie, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Richtung Koppeln.
Carmen verdrehte die Augen und atmete tief durch. „Wahrscheinlich hat Myboy gerufen!“ sagte sie mit einem ironischen Lächeln. „Liberty ist Tierschützerin.“
Sie hielt unsere Stallgenossin für nicht ganz dicht, das merkte ich deutlich – aber warum? Eigentlich fand ich sie ganz sympathisch in ihrem karierten Hemd und ihrem roten Halstuch. Ihre blonden, von grauen Strähnen durchzogenen, kinnlangen Haare, die ihr in Ponyfransen in die Stirn fielen, gaben ihr etwas Verwegenes. Sie schien sich mit Pferden auszukennen und viel Zeit auf dem Hof zu verbringen, das zeigte mir ihr sonnengegerbtes Gesicht.
„Ja“, sagte Carmen, „sie geht über Leichen, wenn sie glaubt, dass ein Pferd schlecht behandelt wird. Und sie kann mit Tieren sprechen – wenigstens behauptet sie es.“
„Was es nicht alles gibt.“ Ich schaute zerstreut auf die Uhr. Gerson war natürlich schon mit dem Frühstück fertig. Wenn ich jetzt nicht anfinge, zu satteln, würde ich nicht einmal mehr rechtzeitig zum Mittagessen kommen. Und Gerson hatte bestimmt nicht daran gedacht, einzukaufen, also musste ich auf dem Weg nach Hause noch beim Supermarkt vorbeifahren.
Doch Carmen wich mir nicht von der Seite. Sie zeigte mir die Sattelkammer und erklärte mir die wichtigsten Gebäude. Vom Putzplatz aus schaute man auf die Wohnung des Pferdepflegers Iwan. Der Reitlehrer wohnte nicht auf dem Hof, sagte Carmen, er benutzte dort nur ein Zimmer, um in der Mittagspause zu vespern.
Das Mädchen hatte sich mindestens schon eine Stunde lang mit mir beschäftigt, obwohl sie doch betont hatte, dass sie viel für die Schule lernen müsse und kaum Zeit mehr für den Reitstall habe. Carmen schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie sagte plötzlich: „Okay – ich habe noch etwas zu tun – wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich ruhig an mich!“
Erleichtert nickte ich. Endlich konnte ich mich in Ruhe meinem Pferd widmen. Doch gerade als ich Nine den Sattel aufgelegt hatte, sah ich mich von drei Reiterinnen umringt. Jede schwenkte ein Sektglas und auch mir wurde eines in die Hand gedrückt.