Inhaltsverzeichnis
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Über das Buch:
Über die Autorin
Ulrike Dietmann
Das Medizinpferd
Band 2:
Unbreak My Heart
spiritbooks
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2013 spiritbooks, 73230 Kirchheim/Teck
Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de
Autorin: Ulrike Dietmann
Coverbild: Daniela Roßner, „Das Model“
Covergestaltung: Daniela Roßner, www.dada-arts.com
Druck und Verlagsdienstleister: www.tredition.de
Printed in Germany
eBook-ISBN: 978-3-944587-86-8
Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Handlungen oder Personen sind rein zufällig.
Für die Sternschnuppen: Martin, Joel, Lea
und für Tinnia, das Spirit Horse
Ich bin nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen,
aber alles ist Teil von mir und ich bin Teil von allem.
Ich stehe fest verwurzelt
und kann doch in jedem Augenblick fliegen.
In jedem Augenblick bin ich dort,
wo ich die größte Freude, das größte Glück,
die größte Zufriedenheit finden kann.
(Pferdeweisheit)
1
"Ich hatte einen seltsamen Traum letzte Nacht. Ich habe keine Ahnung, wie ich dazu komme, ich habe so etwas noch nie geträumt", sagte Valerie voller Überzeugung, so dass Korbas, der große traurige Braune, jedes Wort verstand. Genau so wie sie es gesagt hatte. Seine Hufe machten “klack klack klack” auf dem Asphalt, der zwei abgeerntete Maisfelder voneinander trennte. Es gab wenige Geräusche, die einen so ekstatischen Widerhall auslösen konnten. Sie hatte ein Gefühl, unsichtbar zu tanzen wie Faschingskonfetti, auch wenn es Anfang Oktober war, und Korbas andächtig wie in einer Osterprozession neben ihr herschritt.
Seine Ohren drehten sich wie ein Windspiel. Valerie, von so großer Liebe und Zuneigung gepackt, weinte. Unerträglich schön. Der riesige Kopf schwenkte einen Hauch in ihre Richtung und das große sanfte Auge fiel in ihr Herz wie ein Tropfen flüssiges Gold. Er schnaubte und Valerie schnaubte unsichtbar mit.
Korbas wusste nichts von Sigmund Freuds Traumdeutung, und Sigmund Freud wusste nichts von Korbas goldenem Herzen. Und irgendwo dazwischen hing eine unaussprechliche Wahrheit, die keine Worte hatte.
Vermutlich war es nicht wichtig, die Bedeutung des Traumes zu kennen. Es genügte voll und ganz hier zu sein, mit Korbas spazieren zu gehen und sich den Ekstasen hinzugeben, die vom Wellenschlag des Windes erzeugt wurden. Solange bis die Gedanken aufhörten und das reine Gefühl von Liebe alles überstrahlte. Wenn sie zu viel und zu lange nachdachte über die Mysterien von Träumen und anderem wurde Korbas ungehalten oder, was schlimmer war, sehr traurig. Er hatte recht.
Genauso vorhersehbar war die Tatsache, dass Valerie nicht eher Ruhe geben würde, bis sie wusste, alles wusste, woher, wohin, warum und in welchem Winkel der Traum von letzter Nacht zu dem von vorletzter Nacht stand. Sie war eben eine Angehörige der Spezies Mensch.
"In dem Traum sah ich eine Höhle, und da war diese Frau … umgeben von Licht, strahlendem Licht, wie soll ich sagen …" Valerie sah, wie der Meister des ungetrübten Seins die Ohren aufstellte. "Sie war überirdisch … eine Göttin. Sie sagte, ihr Name sei Epona, die Pferdegöttin. Da sah ich, dass sie auf einem Pferd saß, seitwärts. Mir war, als würde sie lächeln. Als ich aufgewacht bin, war ich glücklich. Es war ein wirklich schöner Traum.“ Valerie seufzte.
„Aber es ist doch besser, wieder in der realen Welt angekommen zu sein." Korbas blieb stehen und Valerie blickte nach oben, dorthin, wo er seinen großen braunen Kopf wie einen Thron über der Landschaft aufgestellt hatte. Sein undurchdringliches Auge richtete sich auf etwas Unsichtbares in der Ferne. Radfahrer, Traktor oder entlaufener Zwergpudel, alles konnte hinter der Holunderhecke auf sie warten. Aber da war Nichts. Andererseits war Nichts ja auch etwas, dachte Valerie. Sonderbar.
Die Erinnerung an den Traum tauchte wie ein sanft sprudelnder Springbrunnen erneut vor Valeries innerem Auge auf. Sie hüpfte, pfiff und schnalzte und Korbas setzte seinen mächtigen Körper in Trab, warf seine langen Beine eins vor das andere, die Hufe voraus, als wolle er der Welt ein royales Statement entgegenschleudern. Valerie rannte und Korbas trabte mit, den Kopf in die Höhe gestreckt, die Nüstern aufgebläht. Es hätte Valerie nicht gewundert, wenn er im nächsten Augenblick Feuer gespuckt oder sich in eine lila Dampfwolke aufgelöst hätte.
Es ging ihnen gut, besser als sie es sich je hätten träumen lassen. Vor einem halben Jahr hatten sie beide den schwersten Verlust ihres Lebens erlitten. Valerie hatte ihre Tochter verloren und Korbas den ersten Menschen, der ihn in seinem von Gefängnishaft bestimmten Leben, mit Haut und Haar geliebt hatte. Das Schicksal hatte sie aneinander geschmiedet und jetzt waren sie unzertrennbar.
Wie rücksichtsvoll der Riese war. Wie millimetergenau er seinen mächtigen Körper ausrichten konnte, damit er ihr nicht auf die Füße trat. Für Valerie unvorstellbar. Göttlich. Erhaben. Oft unwirklich.
"Ich bin so glücklich!" Sie blieb stehen und brach wieder in Tränen aus. "Ja, ja, ja, ich bin so glücklich und es ist wirklich wahr.“
Sie lief wieder los und fing an zu singen: "He's a jolly good fella, he's a jolly good fella". Es gefiel Korbas. Die Falten um seine Augen wurden glatt und die großen dunklen Kugeln schillerten. Nachdem sie „Fella“ hundertmal wiederholt hatte, sang sie: "She loves you, yeah, yeah, yeah." Das gefiel ihm noch besser. Seine Beine schienen sich in Verzückung einzurollen, als wolle er einen Balletttanz vor Ludwig, dem Sonnenkönig, aufführen.
Sie erreichten die Wegkreuzung mit der hundertjährigen Eiche und stellten sich unter die ausladende Krone. Valerie neigte sich Korbas zu und Korbas Valerie, bis sie sich in der Mitte trafen, einen hauchfeinen Abstand zwischen ihnen, so unvorstellbar fein, jetzt weinten beide. Der ganze Körper von Korbas weinte, der Kopf, der Rücken, die Beine, selbst der Schweif, das war zu erkennen – wenn man sehr fein hinsah –, es war ein warmes, freundliches Weinen, ein Weinen, aus dem Honig floss.
"Ich weiß, auch du denkst an Miriam. Dass sie uns vielleicht sieht und glücklich ist, weil wir zusammen sind." Valerie schluchzte, dann wurde sie ruhig. "Vielleicht war es Miriam, die mir den Traum von der schönen Göttin geschickt hat."
Zuhause googelte Valerie "Epona, die Pferdegöttin". Sie geriet auf die Seiten von Wiccas, Hexen, Heilerinnen und Anhängerinnen zahlreicher Göttinnen und landete schließlich auf einer Seite, in der sie die längste Passage über Epona, die Pferdegöttin, fand. Über ihre Herkunft war dort zu lesen: "Eponas Vater, der ein Frauenhasser war, hatte Verkehr mit einer weißen Stute, die ein hübsches Mädchen namens Epona gebar. Unter mythologischem Blickwinkel ist Epona das Kind einer Verschmelzung zwischen patriarchaler und matriarchaler Kultur, die Lösung einer metaphysischen Krise, die durch fremde Besiedlung verursacht wurde." Interessanter Stoff, dachte Valerie. Das erinnert mich an die metaphysische Krise, die ich erlitt, als mich Miriams Vater kurz nach der Geburt sitzen ließ. Interessant war auch die nächste Seite, auf der sich von Licht umhüllte Gestalten tummelten, die aussahen wie in ihrem Traum. Noch interessanter waren die Worte, die eine Person namens „soulhorse“ unter eines der digitalen Bilder gesetzt hatte: "Ich hatte das Gefühl, dass Epona mich rief, um ihr zu dienen. Es begann mit einem Traum, in dem ich eine in Licht getauchte Göttin sah. Sie trug ein Tuch über ihrem Kopf und das Licht, das ihren Körper umgab, schillerte in allen Farben des Regenbogens …" Valerie wurde heiß, dann kalt. Genau das hatte sie in ihrem Traum auch gesehen. Die Farben des Regenbogens. Sie stand auf und machte sich eine Tasse Tee. Wollte sie wirklich weiterlesen? Sie hatte das Gefühl, in den hypnotischen Bann von esoterischen Traumtänzern zu geraten.
Valerie schwang ein Bein über ihren tibetanischen Schreibhocker. "Sie befand sich in einer unterirdischen Höhle. Ohne, dass ich es erklären kann, wusste ich, dass es sich um die Pferdegöttin Epona handelte. Ich konnte mich nicht erinnern von dieser Göttin gehört zu haben. Trotzdem kannte ich ihren Namen. Ihr Anblick war so wunderschön, dass ich im Traum weinte. Seither weine ich oft, wenn ich zu meinen Pferden gehe, denn in ihren Augen sehe ich das, was ich in diesem Traum gesehen habe. Seither will ich nichts anderes als dieses wunderschöne Licht wiederfinden und dieses Gefühl von bedingungsloser Liebe.“
Valerie stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ den Blick durch den Raum schweifen, um sicherzustellen, dass alles noch am selben Platz stand. Schluss, sagte sie und holte ein Glas Orangensaft aus der Küche. Auf dem Weg zurück, einen Schritt vor der Couch auf der noch die Bettdecke lag, blieb sie plötzlich wie gelähmt stehen. Sie hatte letzte Nacht im Wohnzimmer geschlafen, weil im Schlafzimmer ein Foto von Miriam hing, das sie nicht fertig brachte, abzuhängen. Korbas und Miriam im Licht der untergehenden Sonne. Auf dem Sofa war der Traum gekommen. In diesem Augenblick wusste sie, dass auch das Sofa sie nicht schützen konnte. Sie ließ sich auf die fliederfarbene Bettdecke fallen. Beim nächsten Atemzug wich alle Luft aus ihrem Körper und sie war nicht mehr als ein lebloser Sack Fleisch.
Der Schmerz steckte wie ein silbernes Messer in ihrer Brust. Beim nächsten Klappern des Fensterladens würde ihr Herz aufhören zu schlagen. Miriam war tot. Alle andere Zuckerschneckenglasur.
Ihr fiel auf, dass es dunkel geworden war. Der Computerbildschirm leuchtete wie ein Bote von einem fremden Stern. Das Gefühl, ein zweites Leben zu leben, das sie nach Miriams Tod begonnen hatte, machte sich leise breit. Ein zweites Leben, in dem es nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren gab. Da konnte sie auch wieder auf esoterischen Webseiten surfen und dem Hirngespinst einer Pferdegöttin namens Epona hinterher hängen. Valeries Lunge holte tief Luft und ihre Hand griff nach dem Orangensaft.
„Epona ist eine Pferdegöttin und kein Gott in Menschengestalt. Für mich wohl die einzige Möglichkeit, den Schmerz zu überwinden, den ich durch Menschen erlitten habe.“ Die Webseite von „soulhorse“ war reichhaltig. Valerie hatte auf den Menüpunkt Meine Geschichte geklickt. Der Text musste mindestens fünfzehn Normseiten lang sein, aber als geübte Leserin hatte Valerie die Essenz schnell erfasst. Im Wesentlichen hatte „soulhorse“ ihren Traummann namens Udo geheiratet, wohlhabend, nicht gutaussehend, aber er hatte ihr drei Pferde geschenkt, ein arabisches Vollblut, eine Tinkerstute und einen Araber-Paint-Mix namens Udo. Der größte Teil der Geschichte drehte sich um die täglichen Abenteuer der drei Musketiere. Udo, der Ehemann-Wohlhabend-Mix hatte seine Firma in den Sand gesetzt und die Drei vom Stall hinter ihrem Rücken an einen Pferdehändler verkauft, weil er die Stall- und Tierarztrechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Daraufhin, so interpretierte Valerie die letzten Zeilen des Eintrags, hatte soulhorse den Glauben an die gesamte Menschheit verloren und betrieb jetzt eine Webseite über Epona, die Pferdegöttin. Womit sie ihr Geld verdiente, ging nicht daraus hervor. War ja auch nicht das Thema, sagte sich Valerie. Sie ertappte sich dabei, wie sich in Gedanken ihre eigene Geschichte zu Worten formte, die sie auf einer imaginären Webseite in die Welt schickte. Vermutlich war da immer noch ein Rest Rachegefühl gegenüber Paul in ihr. Überraschend nach so vielen Jahren. Ich hatte ein Kind, ein Zauberkind, das mich verließ nach zwölf Jahren. Sein Vater verließ mich schon früher. Er hat sie nie zu Gesicht bekommen.
Es lag etwas Beruhigendes darin, ihre Geschichte zusammen zu fassen. Drei Sätze hatten genügt.
2
Seit Miou, ihre geliebte Katze, gestorben war, war das Haus wie tot. Auch Miou hatte sie verlassen. Ich hätte Grund, den Glauben zu verlieren, nicht nur an die Menschheit, dachte Valerie, während sie die Abzweigung in Richtung des Tierheims einschlug. Seit sich die am meisten geliebten Wesen ihres Lebens verabschiedet hatten, hatte Valerie eine merkwürdige Fähigkeit entwickelt, Dinge vorherzuahnen. In diesem Fall die Gewissheit, dass im Tierheim eine Katze auf sie wartete.
Sie hatte gerade den Zündschlüssel abgezogen, als ein röhrender Geländewagen mit Reifen, groß wie ein Traktor, auf den Parkplatz neben ihr einfuhr. Auf der Fahrerseite prangte in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund: „Epona-Pferdefutter. Himmlische Müslis und Leckerlis.“ Valerie lächelte in sich hinein. Der Fahrer des Wagens stieg aus und warf Valerie einen Blick zu, der alle Träume platzen ließ. Man musste nicht hellsichtig sein, um zu erkennen, dass dieser Typ seine Frau schlug und seine Kinder anschnauzte. Vielleicht sitze ich auch nur einem alten Trauma auf, korrigierte sich Valerie und erinnerte sich, dass sie wegen dieses Traumas schon öfters falsche Urteile getroffen hatte. Es war besser, wenn sie ihre telepathischen Fähigkeiten nicht auf Männer richtete. Sie lächelte – und er lächelte zurück.
"Sie vertreten Epona", stotterte Valerie wie ein Hund, der auf einem Badvorleger ausgerutscht war. Der Mann stutzte, dann schien es Klick zu machen.
"Brauchen Sie Pferdefutter?"
An Pferdefutter hatte Valerie gar nicht gedacht. Die warme Oktobersonne fiel durch die gelben Blätter und der Anblick zauberte Valerie ein Lächeln auf die Lippen. "Der Name Epona, wissen Sie … " Valerie wusste nicht genau, wovon sie redete. „Die keltische Pferdegöttin.“
"So heißt die Firma, für die ich arbeite." Er zuckte mit den Schultern.
„Die Schutzpatronin der Pferde und Reiter. Eine Verkörperung der Großen Muttergöttin matriarchaler Kulturen. Liegt schon lange zurück. Fällt mir nur auf, ich meine, in Ihrem Fall ist ein Pferdefutter nach ihr benannt.“ Valerie wollte nicht zu belehrend oder etwa rechthaberisch wirken.
"Dann verkaufe ich dieses Pferdefutter umso lieber", erwiderte er noch breiter lächelnd. Als Nächstes holte er eine Katzen-Box vom Rücksitz seines Wagens. "Das arme Tier habe ich am Straßenrand gefunden, halb tot. Ich arbeite für das Tierheim. Wollen Sie mit reinkommen?"
Einen Mann, der so erwärmend lächelte und verletzte Tiere rettete, hatte Valerie seit der letzten Sonnenfinsternis nicht getroffen. Sie folgte ihm durch das Tor aus grün lackierten Metallstangen, das er mit einer Chip-Karte öffnete.
"Ich möchte eine Katze aufnehmen" sagte sie.
"Haben Sie eine bestimmte Vorstellung?"
Woher wusste er das? Vielleicht meinte er auch nur etwas ganz Banales.
"Zu den Katzen – nach links." Er zeigte in die Richtung eines langgestreckten Gebäudes mit einem Satteldach. "Epona, die Pferdegöttin", murmelte er. Er verabschiedete sich mit einem Lächeln und drehte ab in Richtung des Bürogebäudes über dessen Tür das Schild Empfang hing. Sie gehen alle, dachte Valerie.
„Ich dachte, Sie würden mitkommen.“ Was hatte sie da eben gesagt? Ich bin besserwisserisch und aufdringlich.
Er stutzte. „Ich hab im Büro zu tun, aber … Ach, das ist eine gute Idee.“
Ich bin schwer traumatisiert, dachte Valerie. Gut aussehend nach herkömmlichen Kriterien.
„Ich bin Ludger und dieser feine Kater ist Sammy", sagte er. Ludger, so hieß der Epona-Mann. Volles dunkles Haar, glutvolle Augen. Valerie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen waren. Ludger trug nicht mehr die Transportbox mit der verletzten Katze bei sich. Er musste sie abgegeben oder abgestellt haben. Und sie musste in einem Lila-Land gewesen sein, das bestimmte Ausschnitte auf dem Zeitstrahl löschte und andere zerdehnte.
Ludger zeigte auf einen schwarz-weiß aus dem Dunkeln emporsteigenden Körper, der mit atemberaubender Geschmeidigkeit auf die Stangen des Käfigs zustrebte. Mit steil aufragendem Schweif. Aus jeder Pore seines winzigen Körpers strahlte Selbstbewusstsein, wie man es unter Menschen nicht fand. Stolz, vor Leben strotzend und ohne eingebildet zu sein. Der Geschmack des Lebendigen, dichtete Valerie von überirdischer Inspiration umweht.
"Er ist drei Monate alt. Für die Kastration, die wir verlangen, wenn wir Tiere an neue Besitzer vermitteln, übernehmen wir 50% der Kosten."
"Woher kommt er?"
"Teneriffa. Tierschützer haben ihn hierhergebracht, ansonsten wäre er in der Tötungsanstalt gelandet wie viele Straßenkatzen." Valerie war tief beeindruckt davon, wie Sammy bereits im Alter von drei Monaten das Schicksal auf seine Seite hatte ziehen können. Und wie ihr nichts anderes blieb, als diesem Sog zu folgen und ihn glücklich zu machen, denn genau das gab er ihr mit seinem hypnotischen Blick zu verstehen.
"Es scheint eine abgemachte Sache." Valerie lächelte. Besserwisserisch, aufdringlich und irgendwie süß. Sammy hatte sie angesteckt.
"Wollen Sie nicht erst die anderen Katzen sehen?"
"Ich glaube nicht.“ Sie hatte sich in Sammys Blick verhakt, der eine Quelle des Wohlgefühls und Selbstbewusstseins war. Sammy würde sie nicht verlassen. Er verstand es zu überleben.
Wieder tauchte sie aus einem Zeitloch auf. Ihr Blick ruhte, ohne dass sie es gemerkt hatte, auf einem schwarzen Fleck im hinteren Teil des Geheges, auf etwas, das so regungslos dalag, dass Valerie glaubte, es wäre tot. Ludger stand immer noch neben ihr, ebenso regungslos, sie hörte seinen Atem. Zwei Augen glühten wie gelbe Kohlen. Der dazugehörige Körper war dünn und so zerbrechlich, dass es weh tat. Valerie wartete, ob die Katze sich bewegen würde. Sie hat jemanden verloren, dachte Valerie, wie ich.
"Diese Katze möchte ich auch mitnehmen", hörte Valerie sich sagen.
"Zwei Katzen?"
"Ja."
"Haben Sie denn so viel Platz?"
"Ein Haus, das ich allein bewohne und einen schönen Garten."
"Jemand hat die Kätzin in einer baufälligen Hütte gefunden, halb verhungert. Sie war noch sehr jung, wahrscheinlich ist ihre Mutter gestorben."
Valerie riss sich los und seufzte.
"Dann … gehen wir ins Büro."
"Warten Sie", sagte Valerie.
"Ich verstehe, dass Sie noch einmal überlegen wollen." Seine Stimme war sanft wie die fallenden Blätter.
"Überlegen nicht. Ich nehme diese beiden, aber …"
Valerie wusste selbst nicht …
„Ich möchte doch alle Katzen besuchen. Sie haben mich gefragt, ob ich eine bestimmte Vorstellung habe. Ich hatte tatsächlich eine. Sie war grau.“
Im letzten Käfig, am Ende des Gangs, saßen drei graue Katzen wie aufgereiht nebeneinander. Die Mittlere. Selbst in der Dunkelheit war ihre Anmut unübersehbar. Da war noch etwas anderes. Valerie lachte.
"Ich glaube, ich weiß, welche Ihnen gefällt", sagte der Mann. Die Blätter fielen vor dem Fenster und jetzt hörte man noch einen sanften Wind.
"Einige, die hierher kamen, haben gesagt, dass diese Katze wie eine Göttin aussieht. Keiner wollte sie mitnehmen, sie ist schon seit drei Monaten hier. Wir haben selten eine so schöne Katze. Vielleicht erschreckt das die Leute auch."
Die Graue blickte durch Valerie hindurch. Es schien ihr nicht wichtig, ob sie hier lebte oder an einem anderen Ort. Sie ruhte ganz in sich. Sie hob den Kopf und miaute. Ihre Stimme, ihr Aussehen, ihr Blick, war eine Kopie von Valeries geliebter Miou. Erstaunlich.
"Ich glaube, ich brauche eine zusätzliche Transportbox."
Ludger stellte die Transportbox auf die Theke. Dabei sah Valerie den goldenen Ehe-Ring an seinem linken Zeigefinger. Ein Linkshänder, dachte sie. Sie verlassen einen alle.
Jetzt war sie nicht länger allein. Drei Katzen und eine Göttin waren in ihr Leben getreten. Valerie hatte das Gefühl, dass sie vielleicht länger Rast in ihrem Leben machen würde.
3
"Frau Rosenstein, Ihr Name wurde mir von einer indianischen Heilerin namens Salik Noor genannt, die Gast in einem unserer Hotels in Amsterdam war. Ich erzählte ihr von meinem Hengst Navarro, ein bucking bastard, bucking bastard! Sie sagte, Sie wüssten, was zu tun ist. Ich habe eine Gala international bekannter Trainer verschlissen, das Pferd war hinterher schlimmer als zuvor. Ich glaube, dass mir nur etwas helfen kann, das jenseits … von Jenseits ist.“
„Wie bitte?“
Die Hengstbesitzerin würde sich nicht aufhalten lassen, so viel stand fest. Valerie brauchte noch einen Augenblick, um das Feuerwerk, das auf ihre Synapsen einprasselte, zu fassen zu bekommen.
„Salik Noor sprach in den höchsten Tönen von Ihnen. Ich möchte sofort mit dem Training oder der Behandlung oder wie auch immer sie es nennen, anfangen. Ich brauche eine Lösung – heute noch!“
Valerie hatte keine Ahnung, wo die langbeinige Frau mit den schwarzen Haaren, deren Blick wie Feuer brannte, herkam. Sie war plötzlich neben ihrem Einkaufswagen vor dem Bio-Gemüse-Regal aufgetaucht. Valerie war so verblüfft, dass sie laut seufzte.
„Der Preis spielt keine Rolle", fügte die Feuerfrau hinzu.
Valerie seufzte noch lauter.
"Ich hätte mich vorstellen sollen", schlussfolgerte sie und erhob beide Hände wie ein Redner, der eine Schar Gläubiger in eine Massenhysterie putschen wollte. "Leonor Fini."
Valerie seufzte ein drittes Mal. "Ist das nicht der Name einer surrealistischen Malerin? Der ersten Malerin, der es gelang, auch ohne einen berühmten Mann an ihrer Seite, internationalen Ruhm zu erlangen? Sie lebte mit 17 Katzen zusammen."
Valeries Synapsen waren zu ihrem gewohnten Verhalten zurückgekehrt.
„Mein Vater ist Kunstliebhaber. Unser Familienname ist Fini. Da konnte er nicht widerstehen." Leonor Fini lächelte so undurchdringlich, geheimnisvoll und anziehend zugleich, dass Valerie glaubte, tatsächlich vor der surrealistischen Malerin zu stehen. Sie hatte vor einiger Zeit ein Foto von ihr gesehen.
"Woher wissen Sie, dass ich ich bin?" Valerie versuchte, einen Zipfel der merkwürdigen Begegnung zu fassen zu bekommen.
"Sie sind Valerie Rosenstein. Ihr Name wurde mir von Salik Noor genannt. Sie haben eine Webseite mit einem Impressum.“
„Als Sachbuchlektorin.“
„Ich habe mit Ihrer Nachbarin gesprochen, Frau Retter. Sie hat mir erklärt, dass Sie einkaufen gegangen wären, zum Edeka. Das wüsste sie, weil Sie angeboten hätten, ihr zwei Heidelbeer-Joghurt, eine Tüte Müller-Milch, Lebkuchen und ein Kürbiskernbrot mitzubringen.“
Valerie fragte sich, wie Leonor Fini, Frau Retter dazu gebracht hatte. So viele Details gab Frau Retter nicht einmal ihrem Hund preis.
„Ich habe mich unter den Kunden umgesehen“, setzte die Frau mit den Feueraugen ihre Rede an das Volk fort. „Drei Damen über achtzig, zwei ältere Herrn, einer davon bestückt mit zwei Flaschen Gordon Dry Gin, eine Mutter mit drei Kindern und Sie."
"Woher kommen Sie?“, fragte Valerie und erwartete etwas wie: vom Planeten Sirius, um der Menschheit zum nächsten Bewusstseinssprung zu verhelfen.
„Aus Amsterdam.“
„Sie sind aus Amsterdam gekommen, um mich in diesem Supermarkt hier zu treffen?“
„Hier neben Blumenkohl und Rettich."
Valerie schnaubte, was bei ihr äußerst selten vorkam. "Einen Augenblick, bitte. Ich brauche einen Augenblick.“
"Nun, wie ich sehe", fuhr Leonor Fini ungerührt fort, "sind Sie Frau Valerie Rosenstein. Sie kennen doch Salik Noor, oder nicht?"
Valerie entschied, keine privaten Informationen preiszugeben. Ja, sie kannte Salik Noor. Sie war Salik im Frühjahr während einer Reise in die USA begegnet und sie hatten sich angefreundet. Ja, Salik war eine begabte Heilerin und nein, Valerie war sicher nicht dazu in der Lage, einen Hengst zu behandeln oder zu trainieren, an dem die Trainer dieser Welt gescheitert waren.
„Ich versuche gerade, mich zu erinnern, wie die Malerin Leonor Fini genau ausgesehen hat“, sagte Valerie. „Sie war dunkelhaarig. Sehen Sie Ihr ähnlich?“
„Ein wenig schon.“
„Lieben Sie auch Katzen?“
Sie nickte. „Und Pferde. Navarro bedeutet mir sehr viel. Er ist ein König, ein strahlendes Licht, er kennt keine Gnade. All diese Jammerlappen, die glauben, ihn beherrschen zu können. Man kann ihn nicht beherrschen. Warum auch, man muss mit ihm kooperieren, aber davon verstehen sie nichts.“
Valerie sah das Foto von Leonor Fini jetzt genauer vor sich – in einem Bildband, den sie auf einer Reise nach Paris im Quartier Latin erworben hatte. Eine katzenhafte Sphinx mit schwarzen Augen und einer verstörenden, magnetischen Aura. Valerie riss eine Tüte vom Tütenspender, befüllte sie mit zwei Paprika und begab sich zur Obst- und Gemüsewaage.
„Wann haben Sie Zeit?“, fragte Leonor Fini
„Einen Augenblick, ich brauche einen Augenblick.“ Valerie hatte vergessen, welche Nummer die Paprika hatte und machte sich auf den Weg zurück zum Regal.
"Würden Sie einen Kaffee mit mir trinken?", fragte Leonor Fini.
"Sie sind wirklich wegen mir aus Amsterdam hierher gekommen?"
"Ich bin nach Stuttgart geflogen und habe mir einen Mietwagen genommen."
"Warum haben Sie nicht erst angerufen oder mir eine E-Mail schrieben?"
"Ich spreche gern persönlich mit Menschen."
"Cafés sind hier nicht breit gestreut", erwiderte Valerie. "Wir sind im Hinterland. Und ich muss Ihnen sagen, dass ich nicht die richtige Person für Ihr Anliegen bin. Ich weiß nicht, warum Salik Noor meinen Namen genannt hat. Es tut mir leid, dass sie sich umsonst bemüht haben. Ich habe keine Ahnung von Pferden. Ich bin vor einem halben Jahr unfreiwillig zur Pferdebesitzerin geworden. Ich gehe mit meinem Pferd im engen Umkreis des Stalls spazieren. Das ist alles."
Leonor Finis iPhone klingelte mit einer Melodie, die den Namen King of the Beasts verdient hätte. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display. Daraufhin verzerrte sich der sphinxhafte Ausdruck in ihren Augen in den eines Raubtiers. Es sprang mit Anlauf aus dem Bilderrahmen, wie auf einem Bild eines anderen surrealistischen Malers, Salvador Dali. Valerie war sicher, dass das Raubtier dem Empfänger am anderen Ende der Leitung direkt ins Gesicht sprang.
„Fuck you“, sagte das Raubtier.
Valerie rann ein kalter Schauer über den Rücken. Sie musste schnell und unauffällig durch den Hinterausgang des Supermarktes verschwinden, bevor sie zu Boden geworfen und mit bloßen Zähnen zerfleischt werden würde.
„Ich hab’s eilig.“ Valerie umklammerte den Bügel des Einkaufswagens, aber Leonor Fini hatte schon begriffen, was Valerie vorhatte. Leonor Fini lächelte und eine gewisse chemische Komponente, die in diesem Lächeln enthalten war, verursachte eine Lähmung in Valeries Gliedern. Sie blieb wie in Harz gegossen stehen.
Leonor, immer noch am iPhone ließ eine Salve Flüche auf Holländisch los (hatte Valerie noch nie zuvor gehört, aber hatte einen eigenen Humor), dann sagte sie ganz ruhig "Fuck yourself". Der dramatische Bogen von „Fuck you“ zu „Fuck yourself“ erzählte einen ganzen Roman. Valerie würde heute Abend darüber nachdenken, aber jetzt musste sie handeln.
Leonor Fini warf ihr iPhone in ihre Handtasche, atmete tief aus und sagte: "Es tut mir leid, aber ich muss mich um etwas kümmern.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich melde mich." Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand, flüchtig und materielos, wie eine Computeranimation, die sich selbst auf das nächste Level geschossen hatte, hinter den Regalen.
Valerie fragte sich, ja, was fragte sie sich … nicht einmal das wusste sie.
Achso, die Nummer für die Paprika.
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