G. G. Grandt
DIE RÜCKKEHR DES SCHUT
In dieser Reihe bisher erschienen:
1801 Die Rückkehr des Schut von G. G. Grandt
G. G. Grandt
Die Rückkehr des Schut
Eine Reiseerzählung nach den Charakteren von Karl May
© 2015 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-111-3
Agadir, Marokko
Gleißend stand die Sonne über dem zweihundertvierzig Meter hohen Hügel, auf dessen Kuppe sich drohend die kolossale Agadir Oufella, die alte Festungsanlage von Agadir erhob. Von der durch gewaltige Mauern und Türme gesicherten Kasbah aus hatte man einen weiten Blick über die Hafenstadt im Süden Marokkos, an deren feinsandigen Stränden sich sanft die Wellen des Atlantischen Ozeans verloren. Ebenso waren von hier oben das weite, flache Land sowie die ersten Ausläufer des Atlasgebirges im Norden zu sehen.
Der kleine, hagere und spindeldünne Mann verharrte an der mit weißen Steinzinnen bewehrten Festungsmauer, die an verschiedenen Stellen bröckelte. Diese war schon vor mehr als drei Jahrhunderten zum Schutz vor den Angriffen der portugiesischen See- und Landstreitkräfte von den Saʿdīyūn{1} errichtet worden. Zahlreiche eiserne Kanonen auf Holzgestellen sicherten die Stadt innerhalb der Kasbah, die zeitweise bis zu tausend Menschen beherbergte.
Das Gesicht des Kleinen verschwand fast vollständig unter dem drei Fuß durchmessenden Turban. An seinem Kinn hingen ein paar wenige Bartfäden hinab. Zählte man sie, so kam man auf sieben. Weitere acht waren rechts und neun links von seiner Nase gewachsen. Mehr aber auch nicht. So konnte man nur mit Vorbehalt von einem Schnurrbart sprechen, wie ihn die Muslime in diesen Breiten trugen. Sein einstmals weißer Selham{2} strotzte vor Schmutz und Fettflecken und war so weit, dass er wie das Reitkleid einer Dame anmutete.
Neben dem Kleinen stand ein etwa achtjähriger Junge mit großen, dunklen Augen, gleichsam verschmutzter Kleidung und ebenfalls überdimensionalem Turban auf dem schmalen Kopf.
Bei dem Mann handelte es sich um Halef, der bei offiziellen Anlässen allerdings auf die Vollständigkeit seines Namens pochte, der da war: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud Al Gossarah.
Der Junge an seiner Seite war sein Sohn Kara Ben Halef, der nun wie sein Vater über die Festungsmauer auf das klare, blaue Wasser hinunterblickte.
Sie waren den weiten Weg von ihrer Heimat nach Agadir aus drei Gründen gekommen: Zum einen wollte Halef seinem Sprössling den Atlantischen Ozean zeigen. Zum anderen besuchten sie Hamnd Memeh, einen entfernten Verwandten, der sich vor einigen Jahren in der Hafenstadt niedergelassen hatte. Der wichtigste Grund aber war, dass der Hadschi hier seinen alten Weggefährten und Freund Kara Ben Nemsi treffen würde. Schon viele Monate hatte er ihn nicht mehr gesehen und freute sich besonders auf eine Zusammenkunft.
„Siehst du, mein Sohn, das also ist der Atòlasî{3}, der noch größer und mächtiger ist als al-Baḥr al-Abyaḍ, das Weiße Meer{4}“, erklärte Halef soeben seinem Stammhalter voller Inbrunst. Es fiel ihm schwer, den Blick von der grandiosen Landschaft, den glitzernden Wellen und der Endlosigkeit des Himmels abzuwenden. „Das alles hat Allah …“ Er verstummte, denn als er zu seinem Sohn hinuntersah, erstarrte er augenblicklich!
Kara Ben Halef, der soeben noch neben ihm gestanden hatte, war nicht mehr da!
Zunächst glaubte der Hadschi, dass sich der Kleine irgendwohin verdrückt hatte, weil ihm seine Ausführungen zu langweilig geworden waren. Obwohl dies normalerweise keinesfalls seiner Natur entsprach. So suchte er die nähere Umgebung ab, fand jedoch keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Dann befragte er die Straßenhändler, Flötenspieler, Gaukler, Schuhputzer und Bettler, die in den verwinkelten Gassen der Kasbah standen, saßen oder lagen. Allerdings ohne Erfolg. Allmählich verwandelte sich Halefs Unwille in Sorge. Eine eisige Klaue griff nach seinem Herzen.
Wo war sein Sohn? Er konnte doch nicht einfach so verschwunden sein, als hätte ihn von einem Moment auf den anderen der Erdboden verschluckt!
Der Hadschi rannte einen schmalen Weg hinab, der an der Seeseite der Stadtmauer entlang führte. Die einstigen Konstrukteure des Plateaus hatten jeden noch so geringen Platz für die Bebauung innerhalb der Kasbah genutzt. Diese betrug in ihrer Längsrichtung über vierhundert Meter und ihn ihrer Breite einhundertfünfzig Meter. Unterhalb der Oufella lag das portugiesische Fort.
Keuchend hielt Halef inne. Im Südwesten der Kasbah befand sich eine Moschee mit einem großen manāra{5}, das in den wolkenlosen Himmel aufragte, von dem der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet rief. Ebenso der sūq{6} und die madīna ʿatīqa{7} mit den verschiedenen Wohnvierteln, zu denen auch eine mallāḥ{8} gehörte.
Die Schatten, die von den vorspringenden Dächern fielen, wurden bereits länger. Der Hadschi folgte nun den immer verwinkelter werdenden Gassen und Durchgängen mit ihren zahlreichen Steintreppen hinab, vorbei an kastenförmigen Lehmziegelhäusern. Als das Eingangstor vor ihm auftauchte, legte sich unvermittelt eine schmale Hand auf seinen Unterarm.
Mehr erleichtert als erschrocken fuhr Halef herum, in der Erwartung, seinem geliebten Sohn gegenüberzustehen. Doch er wurde bitter enttäuscht. Stattdessen blickte ihn ein zahnloser Greis aus zusammengekniffenen Augen an, die listig blitzten. Er war nur mit einer zerrissenen Hose bekleidet und stützte sich auf einen verwitterten Holzstock. Neben ihm stand ein offener Bastkorb, in dem der schwarze, schuppige Leib einer zusammengerollten Kobra lag.
„Ihr sucht einen Jungen?“, fragte der Schlangenbändiger mit rauer Stimme ohne Umschweife.
Halef packte ihn grob an den Schultern und riss ihn so nahe an sich heran, dass er die Ausdünstung des Alten riechen konnte. „Weißt du, wo mein Sohn ist?“
„Lā, ya sihdi – nein, Herr!“, gab der Schlangenbändiger ängstlich zurück.
„Du hast mich doch soeben gefragt, ob ich einen Jungen suche! Berichte, was du weißt, sonst werde ich dir deine hässlichen Rattenaugen ausstechen, damit sie niemals wieder das Licht des Tages sehen, sondern nur noch die Schwärze der Verdammnis!“
„Ya mussihbe, ya ghumm, ya elehm, ya rezalet – o Unglück, o Kummer, o Schmerz, o Schande!“
„Höre mit deinem Gejammer auf, Unglückseliger!“ Halef griff nach dem Krummdolch, der in seinem Gürtel steckte, und erntete dafür einen ängstlichen Ausruf seines Gegenübers.
„Ᾱna āsef, sihdi – es tut mir leid, Herr! Tatsächlich habe ich einen Jungen gesehen, den zwei Männer an mir vorbeiführten. Er strampelte wild, konnte aber nicht schreien, weil einer von ihnen ihm den Mund zuhielt.“
Halefs Herz schlug bis zum Hals. Doch er musste ganz sicher sein. Er ließ den Alten wieder los und fragte: „Wie war er bekleidet?“
Der Schlangenbändiger deutete auf ihn. „Ähnlich wie Ihr! Der Turban schien ihm viel zu groß … Verzeiht mir meine unbedachten Worte, Sihdi.“
Nun hatte der Hadschi die endgültige Gewissheit, dass es sich um seinen Sohn handelte, der aus seiner unmittelbaren Nähe entführt worden war!
„Wie sahen die Männer aus?“
„Ya salam, ya laṭīf – o Himmel, o Gütiger, es waren Schejatin{9}, Sihdi!“ Kurz nur hielt der Greis inne, dann beschrieb er zwei bärtige Kerle mit weiten Hosen, bestickten Jacken und turbanartigen Schesch, wie sie die Berglandbewohner trugen.
„Wohin brachten sie meinen Sohn?“
„Sie gingen mit ihm zur Kasbah hinaus. Mehr konnten meine müden, alten Augen nicht sehen.“
„Bist du dir ganz sicher?“
„Na’am, sihdi – ja, Herr!“ Der Schlangenbändiger machte eine kurze Pause, dann streckte er dem Hadschi die knorrigen, schmutzigen Finger seiner rechten Hand entgegen, die einen zusammengefalteten Zettel hielten. „Das soll ich Euch geben!“
Halefs Gedanken überschlugen sich. „Woher weißt du, dass das für mich ist, Unglückseliger?“, fragte er mit scharfer Stimme, während er das Papier entgegennahm.
„Die Männer haben mir Euch beschrieben, Sihdi. Sie wussten, dass Ihr an dieser Stelle wieder zur Kasbah hinausgehen werdet, denn einen anderen Weg gibt es nicht. Ich musste also nur auf Euch warten …“
„Steckst du mit diesen verfluchten Hunden etwa unter einer Decke?“
„Maschallah!{10}“, rief der Schlangenbändiger erschrocken aus, duckte sich unwillkürlich, als erwarte er Schläge. „Asch ka t-abber-ek, sihdi – was denkt Ihr von mir, Herr?“
Der Hadschi faltete den Zettel auseinander, überflog die Worte, die darauf gekritzelt waren, und sagte dann: „Wenn ich herausfinden sollte, dass du zu diesen dreimal Verdammten gehörst, werde ich zurückkommen und dich eigenhändig in die Dschehenna{11} schicken, so dass du ewiglich in en Nar{12} brennen wirst!“
„Ich bin nur der harmlose Überbringer dieser Botschaft, Sihdi.“
Halef atmete tief durch, wollte sich von dem Schlangenbändiger abwenden, als dieser ihn erneut festhielt.
„Ya Allah, Sihdi, sind Euch meine Auskünfte gar nichts wert?“
Der anfängliche Zorn des Hadschis auf den ärmlichen Alten war verraucht. Er glaubte, dass der ihm die Wahrheit gesagt hatte. So gab er ihm einen Dirham und strebte eiligen Schrittes dem Steintor zu, die Kasbah hinaus.
„Ma´a as-salāma – mit dir sei Friede!“, rief der Schlangenbändiger ihm nach. Aber Halef hörte es nicht mehr, denn nur noch die Gedanken an seinen entführten Sohn beherrschten ihn.
In Kürze sollte Kara Ben Nemsi im Hafen eintreffen. Er würde ihn bitten, ihm bei der Suche nach seinem Jungen zu helfen. Das Wiedersehen mit seinem deutschen Weggefährten hatte er sich wahrlich anders vorgestellt.
Wieder einmal war ich mit einem Schiff der Reederei Messageries Maritimes von Frankreich aus, genauer gesagt von Marseille, an die Küste Nordafrikas gefahren. Und erneut war es die Avignon, die mit ihren über sechstausend Bruttoregistertonnen ruhig jede Welle nahm, so dass ich mich verhältnismäßig sicher fühlte.{13} Dieses Mal jedoch steuerte sie nicht den Hafen von Algier an, sondern Agadir an der Südküste Marokkos.
Hier wollte ich mich nach einer beschaulichen Zeit in meiner Heimat mit meinem treuen Freund Hadschi Halef Omar treffen. Den Zeitpunkt meiner Ankunft hatte ich ihm schon vor vielen Wochen per Brief mitgeteilt. So ergriff mein orientalischer Weggefährte die Gelegenheit beim Schopfe, um nicht nur einen fernen Verwandten in Agadir zu besuchen, sondern seinem Sohn auch den Atlantik zu zeigen. Das jedenfalls schrieb er mir zurück.
Die Vorfreude auf die beiden war groß. Zudem plante ich von hier aus eine erneute Reise durch das Morgenland, um meine weiteren Erzählungen mit neuen Eindrücken zu bereichern.
Ich selbst hatte im Maghreb oder al-maghrib, wie ihn die Araber nannten, schon viele Abenteuer bestanden{14}. Für mich war der Maghreb-el-aksa, der äußerste Westen, der aus Marokko, Algerien und Tunesien bestand, eine Region voller Gegensätze, die doch harmonisch miteinander vereint war. Seit jedoch die Franzosen 1830 Algerien eroberten und in den Jahren 1843 und 1844 Krieg gegen die marokkanischen Truppen führten, die sie schließlich besiegten, war das Gebiet zu einem Zankapfel europäischer Kolonialmächte geworden. Das Deutsche Reich bildete hierbei gewiss keine Ausnahme. Ebenso wenig das Königreich Spanien.
Ein altes arabisches Sprichwort besagte: „Der Maghreb ist ein heiliger Vogel. Sein Leib ist Algerien, sein rechter Flügel Tunesien, sein linker Marokko.“
Als ich das Passagierschiff im Hafen von Agadir verließ, atmete ich die nordafrikanische Luft tief ein, die mir so gut bekam. Sie war durchsetzt vom Salz des Ozeans, von den vielfältigen Gewürzen der Händler und dem allgegenwärtigen Geruch von frischgefangenem Fisch. Ganz anders, als die unbeständigen und trockenen Brisen im kühlen Deutschland.
Mit meinem scharfen Blick durchforstete ich jede Stelle des Kais, die mir einsichtig war, konnte Halef jedoch nirgends entdecken. Die Schwierigkeit dabei war, dass der Hadschi, klein von Statur, vom dichten Gedränge nahezu verschluckt wurde, das die ausgestiegenen Passagiere, Matrosen und Soldaten der Kolonialinfanterie bildeten. Hinzu kamen die zahlreichen Bettler und Dirnen, die bereits auf die Neuankömmlinge warteten.
So packte ich schließlich meinen Reisesack und die Segeltuchtasche, in der ich meine Waffen verstaut hatte, und schritt den Steg an der Kaimauer entlang.
Dann endlich sah ich meinen treuen Freund, der einmal mein Diener gewesen war. Er stand abseits der anderen Wartenden, um sich wohl so einen besseren Überblick zu verschaffen. Nun erkannte auch er mich, kam unverzüglich mit seinem watschelnden Gang auf mich zu. Wie eh und je wunderte ich mich, dass er nicht über seinen überlangen Burnus stolperte.
Als er vor mir stehen blieb, sah ich sofort, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. So elend hatte ich ihn in all der Zeit, in der wir uns kannten, noch nicht gesehen. Obwohl sich sein Mund vor Wiedersehensfreude zu einem schnellen Lächeln verzog, war der Blick in seinen Augen seltsam leer. Seine Barthärchen zuckten, seine Gesichtszüge waren verzerrt, als leide er seelische Qualen. Es musste irgendetwas Furchtbares geschehen sein!
Wir wechselten ein paar Begrüßungsfloskeln, dann strebten wir dem kleinen Hotel in der Nähe des Hafens zu, in das ich mich für ein paar Tage eingemietet hatte. Halef ging schweigend und eiligen Schrittes neben mir, so als stünde er unter großem Zeitdruck. Erst als ich das Gepäck auf mein Zimmer brachte, erzählte er mir, was er auf dem Herzen hatte. Als ich hörte, dass vor etwa zwei Stunden sein Sprössling in der Kasbah entführt worden war, verspürte ich einen Knoten in meinem Magen. Wie mochte es da erst meinem Freund ergehen?
Schließlich gab er mir den Zettel, den der Schlangenbändiger ihm ausgehändigt hatte. In krakeliger Schrift stand dort auf Arabisch: „Folge dem Sand ins Land Gottes und du wirst eine Spur zu deinem Sohn finden.“ Darunter waren diese Schriftzeichen abgebildet:
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich.
„Das Rätsel ist schnell gelöst, Sihdi“, antwortete Halef mit rauer Stimme. „Mit dem Land Gottes und den Zeichen ist ein und dasselbe gemeint!“
„Und was ist das?“
„Die Perle des Südens!“
Fragend sah ich den Hadschi an, der für einen Moment seine Besorgnis vergaß, um mir den Sachverhalt zu erklären.
„Du beherrschst zwar einige Sprachen, Sihdi, aber gegenüber meinen Kenntnissen ist das geradeso, als würde sich eine Regenpfütze mit einem Ozean vergleichen wollen!“
Tatsächlich war der Hadschi aller Dialekte mächtig, die zwischen dem großen Dschebel Schur-Schum in der westlichen Sahara, dem Wohnsitz der Uëlad Selim und der Uëlad Bu Seba, von denen sein Großvater Dawuhd Al Gossarah abstammte, und der Nilmündung vorkamen.
„Die Schriftzeichen sind auf Tamazight, einem Berberdialekt, der im gesamten Maghreb sogar bis nach Libyen und Ägypten gesprochen wird“, fuhr er belehrend fort. „Dieser unterscheidet sich jedoch von den beiden anderen in Marokko weitverbreiteten Dialekten, dem Taschelhit, der im Süden des Landes gesprochen wird und dem Tarifit, der im Norden und dort vor allem im Rifgebirge zu Hause ist. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zum Tamaschek der Tuareg.“
„Heißt das, dass die Entführer berberische Berglandbewohner sind? Aufgrund der Beschreibung ihrer Kleidung durch den Schlangenbändiger sowie des Tamazight-Dialekts in der Botschaft liegt das nahe.“
„Nicht unbedingt, Sihdi. Wie gesagt, wird der Berberdialekt überall im Maghreb und darüber hinaus gesprochen.“
„Und das Land Gottes und die Perle des Südens bedeuten demnach ein und dasselbe?“
Mein Freund nickte so heftig, dass ich die Befürchtung hatte, sein übergroßer Turban würde von seinem schmalen Haupt fallen.
„Gemeint ist damit die Stadt Murrākuš, die weitläufig Marrakesch genannt wird. Oder auch mar-our-kouch, das Durchzugsland.“
„Terre de parcours“, sinnierte ich auf Französisch, was das gleiche bedeutete.
„Wer könnte Interesse daran haben, deinen Sohn dorthin zu verschleppen?“
„Ich weiß es nicht, Sihdi! Aber wenn ich ohne Kara Ben Halef zu Hanneh zurückkehre, wird ihr das Herz für immer brechen! Sie war es, die zusagte, dass ich unseren Sohn mit nach Agadir nehme, um ihm die Weite des Atòlasî zu zeigen.“
Hanneh war Halefs junge Ehefrau, eine Ateïbeh-Beduinin, Angehörige des Stammes der Haddedihn. Die beiden hatten sich auf höchst eigenartige Weise kennengelernt: Hanneh sollte eine Haddsch{15} nach Mekka absolvieren. Da dies jedoch nur verheirateten Frauen erlaubt war, schlug ihr Großvater Scheik Malek vor, eine Scheinehe mit Halef einzugehen. Mein Freund versprach, die Ehe nach der Pilgerreise wieder aufzuheben. Doch es kam anders: die beiden so unterschiedlichen Menschen verliebten sich ineinander und Halef erreichte mit der Aufnahme in den Stamm der Ateïbeh, der sich später den Haddedihn anschloss, dass Hanneh seine Gattin bleiben durfte. Nach den kurzen Flitterwochen und während mein Weggefährte mich bei meinen gefahrvollen Abenteuern durch Kurdistan begleitete, bekam die junge Beduinin ihren Sohn.{16} Er wurde nach mir benannt: Kara Ben Halef. Eine große Ehre für mich und auch deshalb fühlte ich mich verpflichtet, seinem Vater unter allen Umständen zu helfen.
„Lass uns unverzüglich aufbrechen!“, sagte ich.
„Du hilfst mir bei der Suche, Sihdi?“
Ich sah Halef erstaunt an. „Natürlich! Hast du etwas anderes erwartet? Du bist mein Freund, der immer treu an meiner Seite gestanden hat! Nun ist es an der Zeit, mich dafür zu revanchieren!“
„Das hast du schon oft getan, Sihdi. Aber dennoch danke ich dir von ganzem Herzen. Allah wird weiter über dich wachen!“
Kurz sah es so aus, als würde der Kleine mich umarmen wollen. Dann wandte er sich schnell von mir ab, wischte sich mit dem rechten Zeigefinger über seine wässrigen Augen. Er schaute kurz zu Boden, als schäme er sich für seinen Gefühlsausbruch.
Ich schlug ihm auf die Schulter, um ihm Mut zu machen, ohne dabei auch nur im Geringsten zu ahnen, was auf uns zukommen würde.
Atlas-Gebirge/Marrakesch, Marokko
Der Atlas, der Ǧibāl al-Aṭlas, ist ein Hochgebirge im Nordwesten Afrikas, das sich fast zweieinhalbtausend Kilometer über den Maghreb erstreckt. Es bildet eine Scheidelinie zwischen dem feuchten Klima des äußersten Nordens Westafrikas und der extrem heißen und trockenen Sahara.
Die antiken griechischen Dichter, Denker und Historiker Homer und Herodot sahen im Atlas die westliche Grenzlinie der damals bekannten Welt.
Der al-Aṭlas al-kabīr, der Hohe Atlas im Süden Marokkos, ist die höchste Gebirgskette, die sich von der Atlantikküste im Westen bis an die marokkanisch-algerische Grenze erhebt. Im Osten schließt sich der Tellatlas und der Saharaatlas an, die größtenteils zu Algerien gehören. Der steilste Gipfel ist der Jbel Toubkal, der über viertausend Meter über dem Meeresspiegel liegt.
Nach einem Dreitages-Ritt von Agadir aus stieg das Land immer weiter an. Der natürliche Saumpfad wechselte in eine kurvenreiche Kamelpiste über, die direkt ins Hochgebirge führte. Auf den höchsten Gipfeln schimmerte das Weiß des Schnees.
Zum Schutz vor Sonne, Wind und Sand hatten Halef und ich uns Schesch, lange Musselintücher, um Kopf, Hals und Mund gebunden. Neben unseren beiden Hudschûn{17} hatten wir noch ein weiteres Wüstenschiff im Schlepptau, beladen mit unserem Gepäck, den Vorräten und den Waffen. Darunter mein fünfundzwanzigschüssiger Henrystutzen und der „Bärentöter“, die Elefanten-Doppelbüchse. Meinen Adams-Trommelrevolver und das schwere Bowiemesser trug ich am Gürtel.
Für den Ungeübten war der Ritt auf einem Hedschîn{18} gewiss nicht einfach. Allerdings hatten Halef und ich lange Übung darin. Der schaukelnde Gang der Reitkamele und der harte Sattel konnten schnell für Gesäßbeschwerden sorgen. So blieb einem Unbedarften nur übrig, sich auf das Sattelhorn zu stützen, mal nach links und mal nach rechts zu rücken, um so dem beanspruchten Hinterteil etwas Linderung zu verschaffen.
Manchmal stiegen wir aber auch ab und führten die Lastentiere am Zügel, um später wieder aufzusitzen. Kamele erwiesen sich als die zuverlässigsten Begleiter für Wüstenmänner. Sie waren in der Lage, bis zu zweihundert Liter Wasser zu trinken und konnten damit bis zu dreißig Tage auskommen.
Trotz all dieser Vorzüge vermisste ich nicht zum ersten Mal meinen legendären Rappen Rih{19}, den ich einst als Geschenk des Scheichs der Haddedihn, Mohammed Emin, erhalten hatte. Er war von edelstem Blut und seine Vorzüge wurden kaum von einem anderen Pferd erreicht. Nachdem ihn eine Kugel des Bebbeh-Kurden Ahmed Azad, die eigentlich mir galt, in die Brust getroffen hatte, rappelte Rih sich tödlich verletzt auf, ging mir nach, um schließlich in meinen Armen zu sterben. Das letzte Blut aus seiner Wunde fing ich mit meinem Kefije{20}–