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C.H.Beck
Mit seiner «Geschichte des Westens», deren abschließender vierter Band «Die Zeit der Gegenwart» zum SPIEGEL-Bestseller geworden ist, hat Heinrich August Winkler den aktuellen politischen Diskussionen eine unverzichtbare Grundlage gegeben.
Der renommierte Historiker mischt sich aber auch immer wieder selbst mit «Interventionen» in das Zeitgeschehen ein. Ob Winkler die Feder kritisch, polemisch oder ironisch spitzt – stets sind seine Lageanalysen und Urteile fundiert, klar verständlich und pointiert. Dieser Band versammelt seine wichtigsten Beiträge aus den vergangenen 25 Jahren.
Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Nach der Habilitation in Berlin 1970 an der Freien Universität war er zunächst dort und anschließend von 1972 bis 1991 in Freiburg Professor. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck sind u.a. erschienen: «Weimar 1918 − 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie» (42005), «Der lange Weg nach Westen» (62005) und zuletzt die vierbändige «Geschichte des Westens» (2009–2015).
Vorwort
I. Deutschland auf der Suche nach sich selbst
Der unverhoffte Nationalstaat. Deutsche Einheit: Die Vorzeichen sind günstiger als 1871
War die Wiedervereinigung ein Fehler? Bonn oder Berlin: Eine Glosse zum Hauptstadtstreit
Wider die postnationale Nostalgie
Rücksichtslos gewaltfrei. Der Balkan, die SPD und die politische Moral
Lesarten der Sühne. Zur linken Instrumentalisierung von Auschwitz
3. Oktober oder 9. November? Der Streit um den Tag der deutschen Einheit
Die Fallstricke der nationalen Apologie. Eine Antwort an Martin Walser
Ganz gewöhnliche Antisemiten. Wo sich Nationalkonservative und Rechtsradikale berühren
Macht, Moral und Menschenrechte. Über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik
Die Spuren schrecken. Putins deutsche Verteidiger wissen nicht, in welcher Tradition sie stehen
Ein ziemlich deutscher Pazifismus
II. Streitfragen der deutschen Innenpolitik
Wandel durch Anbiederung?
Von Australien lernen? Zum Streit um nachträgliche Studiengebühren
Die Stunde der Generalisten. Bloß nichts lernen: Mitternacht der Hochschulpolitik
Wenn der Pfarrer ein Komödiant ist. Über einen merkwürdigen Amnestievorschlag
Sozialliberal oder sozialkonservativ? Zum «Schröder-Blair-Papier»
Von Marx zur Marktlücke. Warum die PDS für die SPD ein Problem ist
Missgriff in die Geschichte. Gerhard Schröder ist nicht Heinrich Brüning der Zweite
Die große Illusion. Warum direkte Demokratie nicht unbedingt den Fortschritt fördert
III. Europa zwischen Erweiterung und Vertiefung
Grenzen der Erweiterung. Plädoyer für eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei
Europa an der Krisenkreuzung
Schreckliche Vereinfacher am Werk. Was rechte und linke Populisten verbindet
Europa wird westlich oder gar nicht sein. Gedanken über die normative Identität der EU
IV. Zerreiß- und Bewährungsproben des Westens
Die NATO in der Zerreißprobe. Kritik der Bush-Doktrin
Die Welt vom Bösen zu erlösen. Die amerikanische Hegemonialpolitik fordert Europa heraus
Wenn die Macht Recht spricht. Amerikas konservative Revolutionäre stellen die Werte des Westens in Frage
Wer schweigt, hat unrecht. Der Westen, Rußland, China und die Menschenrechte
Angriff auf das westliche Projekt. Die Ukrainekrise als historische Zäsur
V. Die Deutschen von sich selbst befreit
Rede zum 70. Jahrestag des 8. Mai 1945 im Deutschen Bundestag
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Drucknachweise
Personenregister
Für Dörte
Dieser Band enthält Essays zu politischen Streitfragen, entstanden in den Jahren 1990 bis 2015, ein Interview mit dem Wiener «Standard» sowie die Rede, die ich auf Einladung von Bundestagspräsident Norbert Lammert aus Anlass des 70. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 2015 im Deutschen Bundestag gehalten habe.
Die Texte betreffen vier Themenbereiche: erstens die Versuche der Deutschen, nach der unverhofften Wiedererlangung der staatlichen Einheit sich über ihren historischen und politischen Standort klar zu werden; zweitens innenpolitische Kontroversen über so unterschiedliche Fragen wie die wechselseitigen Vorbehalte von West- und Ostdeutschen, notwendige Reformen, nicht zuletzt an den deutschen Universitäten, und das Für und Wider von mehr direkter Demokratie; drittens Krisen und Widersprüche des europäischen Einigungsprozesses; viertens Herausforderungen des Westens zwischen dem transatlantischen Zerwürfnis unter Präsident George W. Bush, ausgelöst durch die Vorbereitung und Durchführung des Irakkriegs von 2003, und der neuen Ost-West-Konfrontation um die Ukraine seit Ende 2013.
Die Anlässe meiner Interventionen sind jeweils aktueller Natur, die Probleme von denen sie handeln, reichen aber über den Tag hinaus, sind also eher grundsätzlicher Art. Das gilt auch für die Texte, bei denen ich der Versuchung, eine Satire zu schreiben, nicht widerstanden habe. Wo der Hintergrund eines Beitrags nicht mehr als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann, habe ich dem Text eine kurze Erläuterung vorangestellt. Wörtliche Zitate werden, wo immer möglich, in den Anmerkungen belegt. Dass einige zentrale Argumente und Zitate mehr als einmal vorkommen, habe ich in Kauf genommen.
Die meisten Essays wurden in Tages- und Wochenzeitungen, einige in anderen Periodika veröffentlicht. Sie wenden sich an ein Publikum, das sich für Geschichte und Politik interessiert, und nicht so sehr an die Fachwelt. Die Zeit, von der die folgenden Beiträge handeln, ist das Vierteljahrhundert von der deutschen Wiedervereinigung bis zur unmittelbaren Gegenwart. Um ebendiese Zeit geht es auch im vierten und letzten Band meiner «Geschichte des Westens», der unter dem Titel «Die Zeit der Gegenwart» Anfang 2015 im Verlag C.H.Beck, München, erschienen ist. Auf dieses Buch möchte ich alle Leserinnen und Leser verweisen, die sich intensiver mit einigen der in diesem Band behandelten Fragen befassen wollen.
Bei der Vorbereitung dieser Essaysammlung waren mir Frau Monika Roßteuscher, Frau Janna Rösch und Herr Angelo D’Abundo, beim Korrekturlesen und bei der Herstellung des Personenregisters Herr Alexander Goller eine große Hilfe. Ihnen allen danke ich herzlich.
Berlin, im Juni 2015 |
Heinrich August Winkler |
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Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 entfielen die alliierten Vorbehaltsrechte «in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes». Deutschland erhielt seine Souveränität zurück. An das höhere Maß an außenpolitischer Verantwortung, das damit verbunden war, mussten sich die Deutschen aber erst mühsam gewöhnen. Die Folgerungen, die aus den Verbrechen der nationalsozialistischen Zeit zu ziehen waren, blieben bis in das neue Jahrtausend hinein umstritten. Es gab auch immer wieder Versuche, das schrecklichste Kapitel der deutschen Geschichte in nationalapologetischer Absicht zu relativieren – Versuche, die teilweise heftige Debatten auslösten.
Marx mag tot sein, aber die Dialektik lebt. Jedenfalls ist die Geschichte noch immer gut für überraschende Volten und schwer auflösbare Widersprüche. Jahrzehntelang haben die Deutschen sich an den Gedanken gewöhnt, daß es mit dem Ende ihres Nationalstaates seine historische Richtigkeit habe und die Lösung der deutschen Frage infolgedessen keine nationalstaatliche mehr sein könne. Fast über Nacht fällt ihnen jetzt in den Schoß, woran sie kaum mehr geglaubt, worauf sie auch nicht hingearbeitet haben: ein neuer deutscher Nationalstaat. Werden die Deutschen mit dieser unverhofften Entwicklung fertig werden?
In keinem anderen europäischen Land ist die Skepsis gegenüber dem Nationalstaat so groß wie in Deutschland. Der Grund liegt auf der Hand: Nirgendwo ist der Nationalstaat auf so furchtbare Weise gescheitert wie hier. Der deutsche Nationalstaat, das 1871 von Bismarck gegründete Reich, hat sich selbst zerstört, bevor er nach dem zweiten der von ihm ausgelösten Weltkriege von den Siegern besetzt und schließlich geteilt wurde. Dem äußeren Untergang von 1945 war zwölf Jahre zuvor der innere vorausgegangen. Mit der Übertragung der Macht an Hitler am 30. Januar 1933 endete nicht nur die kurzlebige erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, sondern auch der sehr viel ältere deutsche Rechts- und Verfassungsstaat. Das Ende des deutschen Nationalstaates hätte sich nur noch aufhalten lassen, wenn es den Deutschen gelungen wäre, sich aus eigener Kraft von der Diktatur Hitlers zu befreien.
Der äußere Untergang des Deutschen Reiches war eine Folge seiner totalen militärischen Niederlage. Der innere Untergang hatte seine tieferen Ursachen in den Widersprüchen der Nationalstaatsgründung von 1871. In der Revolution von 1848/49 war der Versuch der Liberalen und Demokraten fehlgeschlagen, gleichzeitig die Einheit und Freiheit Deutschlands zu verwirklichen. Bismarcks Reichsgründung, nach seiner eigenen Meinung wie der der Zeitgenossen eine «Revolution von oben», brachte den Deutschen die ersehnte Einheit – in der «kleindeutschen» Form, also unter Ausschluß Österreichs. Diese Lösung der deutschen Frage war nicht nur mit den Interessen des übrigen Europa verträglicher als ein noch mächtigeres «Großdeutschland». Sie entsprach auch den Wünschen der Liberalen nordwärts des Mains und vor allem in Preußen: Sie waren zumeist evangelisch und sahen im katholischen Vielvölkerstaat der Habsburger ein klerikales, wirtschaftlich rückständiges, national nicht integrierbares Gebilde, kurz ein Relikt des Mittelalters.
Aber die Freiheit im Sinne eines parlamentarischen Systems und damit der politischen Vorherrschaft des liberalen Bürgertums konnte und wollte Bismarck den Deutschen nicht gewähren. Er erfüllte nach dem Sieg über Österreich im Jahre 1866 jene liberalen Forderungen, die mit den Interessen der altpreußischen Führungsschicht – Dynastie, Adel, Armee und hohes Beamtentum – vereinbar waren. Das liberale Bürgertum konnte sich in Kultur und Wirtschaft frei entfalten und der Gesetzgebung weitgehend seinen Stempel aufdrücken. Das Zentrum der staatlichen Macht jedoch, die eigentliche Regierungsgewalt, blieb ihm in Bismarcks konstitutioneller Monarchie versperrt.
Die Nationalliberalen, wie sich der kompromißwillige Flügel der liberalen Bewegung nannte, wußten sich zu trösten: «Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?» fragte einer ihrer Wortführer, Ludwig Bamberger, im Dezember 1866 in einem Aufruf an die Wähler Rheinhessens.[1] Für die deutsche Einheit eintreten, das hieß aus der Sicht der Liberalen, aber auch der jungen Arbeiterbewegung, für Freiheit und Fortschritt, gegen die vielen Dynastien und ihren adligen Anhang sein. Die nationale Parole war bis in die Reichsgründungszeit ein Kampfruf der Liberalen und der Linken. Aber die Nationalliberalen trugen selbst dazu bei, daß nach 1870/71 der freiheitliche Glanz dieser Parole rasch verblaßte. Während des «Kulturkampfes», den sie im Bunde mit Bismarck führten, scheuten sie nicht davor zurück, die kirchentreuen Katholiken als Deutsche zweiter Klasse, ja als «Reichsfeinde» zu diffamieren. Mit demselben Begriff wurden die Sozialdemokraten bedacht, die Bismarck von 1878 bis 1890 mit Hilfe eines von den Nationalliberalen gebilligten Ausnahmegesetzes verfolgte.
Der Begriff «national» verwandelte sich seit Mitte der 1870er Jahre von einer linken in eine rechte Parole. Sie diente dem Kampf gegen die international gesinnte Sozialdemokratie und gegen die liberale Freihandelslehre, der der «Schutz der nationalen Arbeit» in Gestalt hoher Einfuhrzölle entgegengestellt wurde. Antisemitische Agitatoren machten hinter der «roten Internationale» der Arbeiter und der «goldenen Internationale» des Bankkapitals einen gemeinsamen Drahtzieher aus: das internationale Judentum. National sein hieß fortan in erster Linie antiinternational und sehr häufig auch bereits antisemitisch sein.
Der deutsche Nationalstaat hat die inneren Feindbilder seiner Entstehungsphase nie völlig überwunden. Den Sozialdemokraten half es nur wenig, daß sie im August 1914 dem Reich Kriegskredite bewilligten und wie alle Deutschen zu den Fahnen eilten. Noch in den Jahren der Weimarer Republik galten sie in den Augen «nationaler» Kreise als «vaterlandslose Gesellen». Auch gegenüber den Katholiken gab es in der ersten deutschen Demokratie fortdauernde Vorbehalte. Sie waren so stark, daß ein katholischer Politiker wie Heinrich Brüning, der Reichskanzler der Jahre 1930 bis 1932, sie nur durch einen forcierten Nationalismus glaubte entkräften zu können.
Die Republik von Weimar, wie sie aus der Revolution von 1918/19 hervorging, erscheint uns rückblickend als ein Versuch, den Hauptwiderspruch des Kaiserreiches, den Gegensatz zwischen kultureller und wirtschaftlicher Modernität auf der einen und der Rückständigkeit des politischen Systems auf der anderen Seite, zu überwinden. Gegen das Gelingen dieses Versuches stand eine doppelte Erbschaft der Monarchie: die Abneigung großer Teile der traditionellen Eliten gegen die neue Mehrheitsherrschaft und das Unvermögen vieler Demokraten, sich auf die Kompromisse einzulassen, ohne die ein Vielparteienstaat nicht parlamentarisch regiert werden konnte. Der Übergang zu einem vom Reichspräsidenten gestützten Notverordnungsregime im Jahre 1930 markiert das Ende Weimars als parlamentarische Demokratie und die Rückkehr zu einer bürokratischen Spielart des Obrigkeitsstaates.
Doch das Rad der Geschichte ließ sich nicht einfach zurückdrehen. Seit sechs Jahrzehnten waren die Deutschen an das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer gewöhnt, und seit 1918 bedurften die Regierungen des Vertrauens des Reichstags, mittelbar also auch der Bevölkerung. Daß die Präsidialregierungen ab 1930 den Willen der Massen auszuschalten suchten, mußte massenhaften Protest auslösen. Das wirkungsvollste Sprachrohr dieses Protests waren die Nationalsozialisten. Die Partei Hitlers appellierte gezielt an beides: den überlieferten Anspruch der Massen auf politische Teilhabe und an das verbreitete Ressentiment gegenüber dem neuen, angeblich undeutschen parlamentarischen System, das den Willen des Volkes verfälsche. Was die Nationalsozialisten der parlamentarischen Demokratie und dem Präsidialregime entgegensetzten, war ein System, das sie als Ausdruck des wahren Volkswillens ausgaben: der plebiszitär legitimierte Führerstaat.
Deutschland war das einzige hochindustrialisierte Land, das im Verlauf der Weltwirtschaftskrise sein demokratisches System aufgab und durch eine totalitäre Diktatur ersetzte. Ohne die Langlebigkeit des Obrigkeitsstaates oder, anders gewendet, die verspätete Demokratisierung Deutschlands ist dieser «Sonderweg» nicht zu erklären. Gewiß läßt sich im historischen Vergleich nirgendwo ein «Normalweg» zur liberalen Demokratie erkennen, und so gesehen ist alle Geschichte eine Geschichte von Sonderwegen. Aber im Hinblick auf die deutsche Entwicklung darf man hinzufügen: Einige dieser Sonderwege sind noch besonderer als die anderen.
Eine der Voraussetzungen für Hitlers Erfolg war die allgemeine Überzeugung, daß Deutschland keine größere Schuld am Ersten Weltkrieg auf sich geladen hatte als die anderen kriegführenden Mächte, der Vertrag von Versailles also schreiendes Unrecht war. Zwar belegten die seit 1919 bekannten deutschen Dokumente die kriegstreibende Rolle der Reichsleitung in der Julikrise von 1914 zur Genüge, aber das behinderte nicht die Verbreitung einer Kriegsunschuldlegende – der ebenbürtigen Schwester jener Dolchstoßlegende, wonach «marxistische» Verräter der kämpfenden Front in den Rücken gefallen seien und damit Deutschlands militärische Niederlage herbeigeführt hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestritten nur kleine Gruppen von Unbelehrbaren, daß dieser Krieg vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselt worden war. Diese Einsicht erleichterte den moralischen Bruch mit dem Nationalsozialismus.
Der politische und gesellschaftliche Bruch mit dem untergegangenen Regime war 1945 ebenfalls ungleich tiefer als 1918. Neben der politischen Führung verschwand auch die militärische von der Bildfläche. Den ostelbischen Rittergutsbesitzern, die bei der Zerstörung der ersten Republik und der Machtübertragung an Hitler eine Schlüsselrolle gespielt hatten, wurde durch Vertreibung und Enteignung im Wortsinn der Boden entzogen. Das Land Preußen, das schon durch den Staatsstreich des «Kabinetts der Barone» vom 20. Juli 1932 seiner staatlichen Selbständigkeit beraubt und nach 1933 von den Nationalsozialisten rigoros gleichgeschaltet worden war, hörte 1947 aufgrund eines Gesetzes des Alliierten Kontrollrats auf zu bestehen.
Die Tiefe der Zäsur von 1945 erklärt zu einem guten Teil, warum Bonn nicht Weimar wurde. Aber es war nur ein Teil Deutschlands, der eine zweite Chance erhielt, sich als Demokratie zu bewähren. Die Wiedervereinigung mit dem anderen Teil wurde von den Bundesregierungen unter der Kanzlerschaft Adenauers immer wieder beschworen, aber nicht «operativ» angestrebt. Der Preis, um den die deutsche Einheit allenfalls zu haben gewesen wäre, erschien Adenauer aus guten Gründen zu hoch: Eine Neutralisierung Deutschlands hätte Europa in das Zeitalter der nationalen Rivalitäten zurückgeworfen und das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Sowjetunion verschoben. Ein isoliertes Deutschland wäre, schon wegen des noch längst nicht bewältigten Verlustes der Ostgebiete, vor nationalistischen Versuchungen mitnichten gefeit gewesen. Eine solche Perspektive war nicht nur für Adenauer und viele Deutsche erschreckend, sondern erst recht für alle Nachbarn Deutschlands.
Adenauers vorrangiges Ziel war mithin nicht die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, sondern die volle Souveränität für die Bundesrepublik und deren unauflösliche Verbindung mit Westeuropa. Eine Wiedervereinigung hielt der erste Bundeskanzler nur dann für wünschenswert, wenn sichergestellt war, daß auch Gesamtdeutschland ebenso zum Westen gehören würde wie die Bundesrepublik. Da diese Art von deutscher Einheit auf absehbare Zeit nicht erreichbar war, hatten Adenauers wiederholte Bekenntnisse zur Wiedervereinigung primär eine innenpolitische Funktion: Sie dienten der Gewinnung der Mehrheiten, die er für seine Politik brauchte, die er durch eine Darlegung seiner wirklichen Prioritäten aber schwerlich gefunden hätte.
Mag sein, daß Adenauer die deutschen Ereignisse von 1990 mit dem berühmten Satz kommentiert hätte: «Die Situation ist da.» Tatsächlich ist die deutsche Vereinigung, die sich jetzt vollzieht, die Lösung der deutschen Frage, die er für die einzig annehmbare hielt. Aber möglich wurde diese Lösung erst durch die Ostpolitik seiner sozialdemokratischen Nachfolger.
Die SPD, die sich während der Kanzlerschaft des überzeugten Europäers Adenauer als Wiedervereinigungspartei profiliert und damit den nationalen Part in der bundesdeutschen Politik übernommen hatte, zog nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 die Konsequenzen aus der Tatsache, daß die Spaltung Deutschlands im Zeichen der «Politik der Stärke» immer tiefer geworden war. Mit dem ersten Berliner Passierscheinabkommen von 1963 begann jene Neuorientierung der deutschen Politik, die in den Ostverträgen der Regierung Brandt-Scheel gipfelte. Die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten im östlichen Mitteleuropa, einschließlich der staatlichen Existenz der DDR, hat jenen Wandel in Gang gesetzt, dessen Höhepunkt die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 bilden.
Die bundesdeutschen Leitartikel und Sonntagsreden, in denen die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gefordert wurde, haben die Umwälzung in der DDR nicht gefördert, sondern eher verzögert. Bis zum Herbst 1989 konnte Honeckers SED ihre Reformblockade mit der auch für Gorbatschow lange einleuchtenden Alternative begründen: «Wir oder die Wiedervereinigung.» Unter diesen Umständen sprach alles dafür, statt der Abschaffung der DDR die Schaffung demokratischer Verhältnisse in der DDR, also nicht die staatliche Einheit, sondern die Freiheit für alle Deutschen zum obersten Ziel der Deutschlandpolitik zu machen.
Wer so argumentierte (ich selbst tat es zuletzt in dem Aufsatz «Die Mauer wegdenken» in der «Zeit» vom 11. August 1989), setzte seine Hoffnungen auf Reformkräfte in der DDR, die bis in die SED hineinreichten. Heute wissen wir, daß die oppositionellen Gruppen sehr viel weniger Rückhalt in der Bevölkerung hatten, als sie und wir meinten. Die schweigende Mehrheit verhielt sich abwartend. Der Ruf nach «Deutschland einig Vaterland» wurde erst laut, nachdem die SED bereits kapituliert hatte. Diese Entwicklung wäre undenkbar gewesen, hätte die Sowjetunion sich im Oktober 1989 zugunsten «brüderlicher Hilfe» entschieden. Die Nichtintervention Moskaus machte die Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglich, der Wille der Deutschen in der DDR machte sie notwendig.
Die deutsche Einheit käme nicht zustande, wenn die Weltmächte und Europa ein neues Deutsches Reich, die Wiederherstellung eines souveränen Nationalstaates der traditionellen Art, zu gewärtigen hätten. Aber dies steht nicht auf der Tagesordnung. Das vereinigte Deutschland wird nicht weniger föderalistisch und nicht minder «multikulturell» sein als die bisherige Bundesrepublik. Außerdem ist es von vornherein eingebunden in die Europäische Gemeinschaft und in eine Atlantische Allianz, die dabei ist, ein neues, kooperatives Verständnis von europäischer Sicherheit zu entwickeln. Diese supranationale Einbindung ist, zusammen mit der von Deutschland akzeptierten Beschränkung seines militärischen Potentials und dem Verzicht auf ABC-Waffen, geradezu das politische «a priori» der Vereinigung. Der deutsche Nationalstaat hebt sich infolgedessen, indem er entsteht, teilweise auch schon wieder auf. Und das ist gut so. Denn erstens liegt es im wohlverstandenen Interesse der Deutschen selbst, daß aus der Wirtschaftskraft des bevölkerungsreichsten Landes westlich des Bug keine deutsche Vorherrschaft über Europa erwächst. Und zweitens kann nur ein bewußt europäisches Deutschland dazu beitragen, daß die Teilung des Kontinents überwunden wird und ein Rückfall in nationalstaatliche Politik nicht stattfindet.
Was sich heute in Deutschland vollzieht, kann schon deshalb keine Rückkehr zu nationalstaatlicher Normalität sein, weil es diese in Deutschland nie gegeben hat. In den Grenzen des Bismarckreiches lebten starke Minderheiten, die aus Deutschland hinausstrebten, nämlich Polen, Dänen, Elsässer und Lothringer. Nach 1918 waren die Deutschen mit dem ihnen verbliebenen Territorium nicht zufrieden; sie verlangten die Rückkehr vieler der an Polen abgetretenen Gebiete und den «Anschluß» Österreichs. Das vereinigte Deutschland von 1990 begreift sich dagegen, von einigen Vertriebenenfunktionären abgesehen, als vollständig und kennt keine ungelösten Nationalitätenprobleme.
Gleichwohl gibt es eine historische Kontinuität zwischen dem neuen Nationalstaat und dem von 1871. Die Entscheidung für die kleindeutsche Lösung wird heute nochmals bestätigt. Wer bislang lässig von «drei deutschen Staaten» sprach (und damit die Bundesrepublik, die DDR und Österreich meinte), muß umlernen: Es gab nur zwei Staaten, aus denen jetzt einer wird. Österreich ist kein deutscher Staat, weil es keiner sein will. Revisionsbedürftig sind auch andere Formeln und Theorien. Als wenig tragfähig hat sich zum Beispiel die Annahme erwiesen, die Bundesdeutschen könnten die Frage nach ihrer nationalen Identität dadurch ausreichend beantworten, daß sie ihren Staat als «postnationale Demokratie» definieren. Erst recht hat die jüngste Entwicklung denen unrecht gegeben, die zu Beginn der achtziger Jahre einen Prozeß der «Bi-Nationalisierung» beider Teile Deutschlands zu erkennen glaubten. Was so aussah, war auf der einen Seite bundesdeutsche Bequemlichkeit und auf der anderen SED-Propaganda. Ein moralisches Fundament hatte das Konstrukt von den zwei deutschen Nationen zu keiner Zeit, weshalb es denn auch in der intellektuellen Diskussion kaum Spuren hinterlassen hat.
Doch die Gefahr besteht, daß man demnächst in einem ganz anderen Sinn von «zwei Nationen» sprechen könnte – in dem Sinn, in dem Benjamin Disraeli 1845 in seinem Roman «Sybil, or the Two Nations» diese Formel eingeführt hat: als Umschreibung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich. Zwischen den Deutschen im Westen und denen im Osten gibt es ein Wohlstandsgefälle, das durch die Währungsunion stärker als zuvor ins allgemeine Bewußtsein gerückt worden ist. Das Bild von den «two nations» könnte, so paradox es klingt, im Zeichen der Einigung einen größeren Wirklichkeitsgehalt bekommen als in den vier Jahrzehnten der Trennung. Und es geht ja nicht nur um ein materielles Gefälle. Es sind radikal unterschiedliche Erfahrungswelten, die jetzt in einem Staat aufeinanderstoßen und Spannungen hervorrufen werden.
Um die Teilung zu überwinden, müssen die Westdeutschen infolgedessen nicht nur tun, was der Bundeskanzler allzu lange bestritten hat, nämlich materielle Opfer bringen. Sie müssen, was viel schwerer ist, sich in vielerlei Hinsicht innerlich umstellen. Sie müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, daß sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte. Und es gilt für die Hauptstadtfrage. Das Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands verlangt eine Hauptstadt, die diesen Vorgang als ihre ureigenste Herausforderung begreift und erlebt. Bonn mag auch künftig einen Teil der Ministerien beherbergen und eine Art Verwaltungshauptstadt bleiben. Die politische Hauptstadt Deutschlands aber kann nur Berlin sein.
Für Berlin sprechen aber nicht nur deutsche, sondern auch europäische Gründe. Das vereinte Deutschland hat gegenüber den neuen Demokratien des östlichen Mitteleuropa eine Bringschuld abzutragen: Polen war der Pionier jener friedlichen Revolutionen, in deren Verlauf schließlich auch die Deutschen in der DDR ihr diktatorisches System abschütteln konnten. Kein Land hat so viel wie Ungarn zur Öffnung der Mauer und der innerdeutschen Grenze beigetragen. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei sind nicht weniger europäisch als die DDR, aber sie werden sehr viel später als diese in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen werden. Deutschland muß sich in der EG zum Anwalt der neuen Demokratien machen. Berlin als tatsächliche und nicht nur nominelle deutsche Hauptstadt kann noch mehr bewirken: Es wird das Bewußtsein schärfen, daß Europa größer ist als der Torso, der diesen Namen bisher für sich in Anspruch nahm. Die Wiedervereinigung des Westens mit der Mitte Europas bedarf der Symbole. Die deutsche Hauptstadt an der Spree wäre ein solches Symbol.
Die deutsche Vergangenheit, die so oft gegen Berlin ins Spiel gebracht wird, ist in Wahrheit ein Argument für die alte Hauptstadt. In Berlin kann man der Vergangenheit des deutschen Nationalstaates nicht ausweichen, der Zeit des Nationalsozialismus und seiner säkularen Verbrechen schon gar nicht. Berlin fordert zur Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte heraus; es ist der Ort, wo die Nation mehr als in irgendeiner anderen deutschen Stadt in ihren Spiegel blicken muß. Zum Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands gehört auch das gemeinsame Nachdenken über die deutsche Geschichte – die gemeinsame wie die getrennt erlebte. Eine Hauptstadt Berlin würde dies fördern – ein Grund mehr, sich in der Hauptstadtfrage nicht von Gesichtspunkten der Bequemlichkeit leiten zu lassen.
Die bundesstaatliche Einheit ist die Form, in der die Freiheit auch für die Deutschen Wirklichkeit wird, die sie bis zum Herbst 1989 entbehren mußten. Anders als in der Vorgeschichte der ersten Gründung eines deutschen Nationalstaates läßt sich die Einheit diesmal nicht gegen die Freiheit ausspielen. So schwierig die Vereinigung für die Deutschen selbst auch noch werden mag, ein neuer deutscher Sonderweg ist 1990 nicht in Sicht.
Sage niemand, es gebe in Deutschland keinen Fortschritt der politischen Kultur. Wer würde heute seine Abneigung gegen Berlin als Hauptstadt noch so unverblümt ausdrücken wie der Schriftsteller Ludwig Thoma im Miesbacher Anzeiger vom 28. November 1920: «Wir Bayern wissen, daß alle Schuld am Unglück Deutschlands der Berliner Unfähigkeit, der alten wie der neuen, zuzuschreiben ist … Berlin ist nicht deutsch, ist heute das Gegenteil davon; es ist galizisch verhunzt und versaut. Und jeder brave Mann in Preußen weiß heute, wo er den Grundstock eines ehrlichen Deutschtums zu suchen hat – in Bayern. Daran macht sie und uns kein Jud irre.»[1]
Heute findet man dergleichen, ohne antisemitisches Beiwerk, versteht sich, allenfalls in den Leserbriefspalten von Regionalblättern. Ein südwestdeutscher Universitätsrektor etwa tat unlängst, bevor er in sein hohes Amt gewählt wurde, seine Meinung zur Hauptstadtfrage dergestalt kund, daß er der örtlichen Zeitung anvertraute, mit welcher Begründung seinerzeit ein juristischer Kollege einen Ruf in die Reichshauptstadt abgelehnt habe: «Berlin verdirbt den Charakter.»[2] Im führenden Blatt einer anderen Universitätsstadt des deutschen Südwestens hieß es am 3. September 1990 in einem Leserbrief, Berlin sei das Symbol für die ganze unselige deutsche Vergangenheit dieses Jahrhunderts, mit Bonn dagegen verbinde sich Frieden, Freiheit und Bescheidenheit: «Berlin erinnert an Unfreiheit, Krieg und großdeutsches Protzentum … Wer für die Kosten einer Verlegung der Bundeshauptstadt aufkommen müßte, steht ohnehin schon fest. Es wären wieder einmal die süddeutschen Bundesländer, die ohnehin schon die Zahlmeister der Nation sind und wohl auch die Hauptlast der deutschen Vereinigung werden tragen müssen. Von ‹Wiedervereinigung› will ich hier gar nicht reden. Pfälzer, Bayern oder Schwaben haben sich von niemand getrennt gefühlt.»[3]
Die prominenteren Fürsprecher Bonns würden so etwas weder schreiben noch sagen, noch, in den meisten Fällen jedenfalls, denken. Im Zweifelsfall lieben sie alle Berlin, und wenn sie den Parlaments- und Regierungssitz am Rhein belassen wollen, dann natürlich im wohlverstandenen Interesse von Spree-Athen, das schon rein verkehrs- und smogmäßig dankbar sein müßte, wenn nicht auch noch Abgeordnete, Ministerialbeamte und Diplomaten seine Straßen und Autobahnen verstopfen. Andererseits würden die Bonn-Freunde vielleicht nicht gerade der Magnifizenz, aber doch dem anderen Leserbriefschreiber, der offenbar ein Mann aus dem Volk ist, ein wenig zustimmen: Berlins Ruf war ja wirklich nicht immer der beste, es liegt ziemlich nahe bei Potsdam und unbestreitbar in Preußen, und daß sein Image sich nach 1945 etwas gebessert hat, ist vor allem seiner Entlastung durch Bonn zu verdanken, das bekanntlich nicht nur nicht Weimar, sondern eben auch nicht Berlin ist.
Zugegeben: Es wäre noch besser, wenn im Juni 1963 ein amerikanischer Präsident vor dem Rathaus der kleinen Metropole einer jubelnden Menge zugerufen hätte, alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, seien Bürger Bonns, und er selbst sei stolz zu sagen: «Ich bin ein Bonner.» Und ganz unbezahlbar wäre der Nachweis, daß der Bundestag immer wieder beschlossen habe, nach einer Wiedervereinigung Deutschlands müsse Bonn endgültig zur deutschen Hauptstadt werden. Aber auch wenn sich solche Entschließungen nicht auffinden lassen und statt dessen Bekenntnisse zu einer Hauptstadt Berlin ans Tageslicht gefördert werden sollten, so darf man doch darauf vertrauen, daß schon immer allen mündigen Bürgerinnen und Bürgern bewußt war, wie solche Erklärungen gemeint waren: als vertrauensbildende Maßnahme nämlich und insoweit dem Versprechen vergleichbar, im Zusammenhang mit der deutschen Einheit werde es keine Steuererhöhungen geben.
Es sollte auch niemanden irritieren, daß einige der wärmsten Befürworter einer wenn schon nicht offiziellen, so doch real existierenden Hauptstadt Bonn – zu denken wäre an Horst Ehmke, Otto Graf Lambsdorff und Gerhart Baum – ihre Wahlkreise in Bonn, um Bonn und um Bonn herum haben. Und ein Schuft, wer Böses dabei denkt, daß es im größten Bundesland, was die Hauptstadtfrage angeht, keine Parteien mehr gibt, sondern von Rau bis Blüm nur noch Nordrhein-Westfalen. Geradezu infam wäre die Unterstellung, manche Bonner Korrespondenten ließen sich bei ihrem Eintreten für den Regierungs- und Parlamentssitz Bonn davon beeinflussen, daß ein Hauptstadtwechsel den Verkaufswert ihrer Eigenheime drücken könnte.
Im übrigen treten ja nicht nur Nordrhein-Westfalen und Bonner Residenten für einen Regierungssitz am Rhein ein, sondern auch die meisten Ministerpräsidenten der alten Bundesländer. Wollen wir sie etwa verdächtigen, sie täten das nur deshalb, weil eine Hauptstadt Berlin an kulturellem Glanz Kiel, Mainz oder München übertreffen könnte? Von den Ministerpräsidenten der neuen Länder und ostdeutschen Abgeordneten hört man zwar mitunter, sie zögen Berlin vor, aber vermutlich hat nicht einer von ihnen zur Kenntnis genommen, was 1990 ein bedeutender Denker aus Walter Wallmanns Wiesbadener Staatskanzlei namens Alexander Gauland über das westöstliche Kulturgefälle in Deutschland herausgefunden hat.[4] Es ist ja wohl kein Zufall, daß die Zentren von Wirtschaft Technologie, Presse und Hochfinanz alle im alten Westen liegen. Und da sollte gerade die Politik eine Ausnahme machen und sich, durch eine Übersiedlung nach Berlin, aus dem eigentlichen Deutschland entfernen?
Die Entwicklung der erweiterten Bundesrepublik verlangt vor allem eines: Optimismus. Wo aber sollen die Abgeordneten und Beamten den hernehmen, wenn sie ihre Gesetze nicht mehr in einer Umgebung rheinischen Frohsinns, sondern mit jenem penetranten Armeleutegeruch in der Nase verabschieden müssen, der bei ungünstiger Windrichtung vom Prenzlauer Berg zum Reichstagsgebäude herüberweht? Und könnte nicht schon die Anreise auf dem Landweg den Parlamentariern auf das Gemüt schlagen? Schließlich bieten viele Städte und ganze Regionen Ostdeutschlands einen Anblick, den man den Volksvertretern gern ersparen würde.
Zudem ist Berlin, wofür es natürlich nichts kann, sehr an den Rand gerückt. Es liegt näher an der polnischen Grenze als Bonn an der belgischen und daher an der Peripherie jenes Europa, das von Bonn aus als das eigentliche erscheint. Ein Umzug von Bonn nach Berlin würde das Bild der Westdeutschen von Deutschland und Europa nachhaltig verändern. Deutschland ließe sich dann nicht mehr mit der alten Bundesrepublik, Europa nicht mehr mit der Gemeinschaft der Zwölf gleichsetzen. Das aber hieße Abschied nehmen von Gewohnheiten, die durch lange Dauer den Charakter wohlerworbener Rechte erlangt haben, und die pflegen in Deutschland auch Revolutionen zu überdauern.
Eine Hauptstadt Berlin, die diesen Namen wirklich verdient, würde die Deutschen an eine Vergangenheit erinnern, von der man in Bonn manchmal nicht sicher sein konnte, ob sie nicht bloß eine Erfindung der Historiker war. Die Möglichkeit, diese Vergangenheit mit Berlin zu identifizieren, wirkte auf angenehme Weise entlastend. Während des letzten Bundestagswahlkampfes wurde das noch einmal besonders deutlich, als die Bayernpartei in einem Fernsehspot den Hauptstadtanspruch Berlins mit der Behauptung konterte, Berlin sei die «Hauptstadt des Nationalismus und des Kommunismus» gewesen. (Welche süddeutsche Landesmetropole einst den Titel «Hauptstadt der Bewegung» führte, blieb der knappen Sendezeit wegen unerwähnt.) Eine derartige Entsorgung der gemeinsamen deutschen Vergangenheit ließe sich weniger leicht bewerkstelligen, würde Berlin tatsächlich zur deutschen Hauptstadt. Aber wiederum fragt sich, ob die Macht einer vierzigjährigen Gewohnheit nicht bereits zu einem einklagbaren Rechtsanspruch geworden ist.
Ein Umzug von Bonn nach Berlin will also wohlbedacht sein. Käme es dazu, würde aus dem Anschluß der DDR doch noch eine Vereinigung. Das hätte über kurz oder lang Auswirkungen auf Alltag, Habitus und Mentalität der Westdeutschen. Die ostdeutsche Revolution würde Westdeutschland mehr durcheinanderwirbeln, als bei der Aushandlung des Beitritts nach Artikel 23 Grundgesetz absehbar war. Die Freunde Bonns haben richtig erkannt, daß es jetzt an das Eingemachte geht. Noch ist nicht sicher, ob sie sich durchsetzen werden. Sollten sie unterliegen und Berlin Parlaments- und Regierungssitz werden, ist eine schmerzhafte Selbstprüfung angesagt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird dann die Frage beantwortet werden müssen, die sich manche insgeheim jetzt schon stellen: War die Wiedervereinigung nicht vielleicht doch ein Fehler?
Von «DDR-Nostalgie» liest und hört man viel und wahrscheinlich mehr, als der Sache angemessen ist. Denn ernsthaft zurück hinter die «Wende» von 1989/90 wollen nur sehr wenige Ostdeutsche. Anders steht es um ein Phänomen, von dem vergleichsweise selten die Rede ist: die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik. Diese Nostalgie ist weitverbreitet, und wenn sie auch noch keinen klaren Begriff von sich hat, so wirkt sie sich doch praktisch aus: als innerer westdeutscher Vorbehalt in bezug auf Deutschland als Ganzes.
Die alte Bundesrepublik hatte sich spätestens in den achtziger Jahren selbst anerkannt: Sie verstand sich als «postnationale Demokratie unter Nationalstaaten». Die Formel wurde 1976 von dem Bonner Zeithistoriker und Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher geprägt.[1] Sie machte Karriere, weil sie klärend wirkte. Das postnationale Credo räumte auf mit der immer unglaubwürdiger gewordenen Doktrin, die Bundesrepublik sei bloß ein Provisorium. Die Standortbestimmung von 1976 verwandelte überdies einen deutschen Mangel in eine europäische Tugend: Gerade weil sie kein Nationalstaat war, schien die Bundesrepublik besonders befähigt, die supranationale Integration Westeuropas voranzutreiben.
Bracher verband sein Verdikt von 1976 mit einer eindringlichen Absage an «Sonderwege», wie sie das Verhältnis Deutschlands zum Westen vor 1945 geprägt hatten. Die alte Bundesrepublik hatte sich im Verlauf der Jahre zu dem entwickelt, was die Weimarer Republik nie gewesen war: eine funktionstüchtige westliche Demokratie. Der historische deutsche «Sonderweg» hatte im Nationalsozialismus seinen Höhe- und Endpunkt erreicht. Der «Zusammenbruch» des «Dritten Reiches» und die Teilung Deutschlands konfrontierten die Deutschen mit den Folgen ihrer erst (bis 1918) autoritären, dann (nach 1933) totalitären Abweichung vom demokratischen Westen und bildeten darum ein schlagendes Argument für die Demokratie: Das war der breite liberale Konsens, der bis 1990 zu den Bedingungen von politischer Stabilität in der Bundesrepublik gehörte.