Eine Kleinstadt in Kuba, 1957, kurz vor der Revolution. Der junge Fortunato will sich den Rebellen anschließen, wird, als er sich eine Waffe besorgen will, gefasst, gefoltert, auf der Flucht erschossen, aufgehängt. Zuvor hatte er im Laden des Großvaters Einwickelpapier gestohlen, um darauf einen Roman zu schreiben: die Geschichte seiner Familie.
Das kann kein ruhiger Bericht werden, die Verhältnisse sind nicht danach. In qualvoller Enge drängen sich drei Generationen in einer kleinen Hütte im Dunstkreis einer Guavenfabrik. Alle wollten sie einmal ausbrechen, alle wurden sie zurückgeschleudert ins immer gleiche, ausweglose Elend. Fortunato schreibt das alles auf, den Hass und die Verbitterung, aber auch die Träume – alles, was jeden Einzelnen bewegt. Er kriecht in seine Figuren hinein, verwandelt sich ihnen an, wie ein Besessener folgt er jeder Bewegung, leidet, lebt, stirbt mit seinen Figuren, um wenigstens schreibend der Alternative zu entrinnen, die in Wahrheit keine ist: Wahnsinn oder Tod.
Ein Chaos der Leidenschaften tut sich auf, der Leser wird hineingerissen in wechselnde Perspektiven – ein atemloser Bericht aus dem Untergrund sozialer Revolutionen.
Den wild gemachten Fantasien der Unterdrückten gibt Arenas Ausdruck, weil er ihnen nicht die Zügel einer realistischen Erzählweise anlegt.
»Mit 31 hat er drei Romane geschrieben, die ihn auf die Höhe literarischer Meisterschaft bringen.« (L’Express, Paris)
Reinaldo Arenas, »einer der ergreifendsten kubanischen Romanschriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Jesús Díaz), 1943 im Osten Kubas geboren. Kind der Revolution, von ihr verfemt und verstoßen. 1980 Flucht in die USA, 1990 in New York gestorben. Seine furiosen Memoiren »Bevor es Nacht wird« – Schelmenroman, éducation sexuelle und politisches Manifest zugleich – wurden zu einem weltweiten Bestseller, der von Julian Schnabel mit Javier Bardem in der Hauptrolle 2000 verfilmt wurde. Sie gehören zu den großen Konfessionen unserer Zeit: eine hymnische Schamlosigkeit.
Monika López (1946–1996) lebte als Übersetzerin hispanoamerikanischer Autoren in Köln. Neben zwei Romanen von Reinaldo Arenas übertrug sie belletristische Werke von Miguel Barnet, Eduardo Galeano, Pablo Neruda, Antonio Skármeta und Mario Vargas Llosa ins Deutsche.
Reinaldo Arenas
Der Palast der blütenweißen Stinktiere
Roman
Aus dem kubanischen Spanisch von Monika López
Edition diá
Prolog und Epilog
Das Wort haben die Klagegeschöpfe
Erste Agonie
Zweite Agonie
Dritte Agonie
Vierte Agonie
Fünfte Agonie
Sechste Agonie
Impressum
Der Tod ist bei uns auf dem Hof und spielt mit einer Fahrradfelge. Das Fahrrad hat einmal mir gehört. Was jetzt nur noch eine Felge ohne Reifen ist, war einmal ein neues Fahrrad.
Und ich bin damit die ganze Straße bis zum roten Hügel entlanggefahren.
Und ich bin damit hingeflogen.
Und meine Knie waren bald über und über aufgeschlagen.
Und ich deckte die Knie ab, damit sie keiner sehen konnte. Ich schmierte Schlamm drauf, damit die Leute denken sollten, es wäre Dreck, was ich da hatte, und nicht Blut. Einmal waren an diesem Rad alle zwei Räder dran, und alle Kinder aus dem Viertel wollten damit fahren.
Aber ich sagte zu allen Nein.
Nur ich durfte an das Rad ran.
Meine Mutter rannte hinter mir her und schrie, ich sollte essen kommen.
Aber ich hörte nicht auf sie und trampelte weiter, die Straße immer hoch, bis zum roten Hügel. Dann den roten Hügel wieder runter. Und manchmal hab ich mich selber übertroffen und bin bis auf die Fernstraße gefahren und so. Wirklich, ich begreif selber nicht, wieso ich mit diesem Rad nie überfahren worden bin. Stellt euch vor, wie ich da langtrample, und die Autos fahren mir beim Überholen fast die Räder ab. Junge, Junge. Eine Zeit lang hab ich bloß gedacht, wenn ich doch ein Fahrrad hätte.
Und dann bekam ich eins.
Wie meine Mutter das fertiggebracht hat, das Geld zusammenzukratzen und das Rad zu kaufen, weiß ich selber nicht. Und wie ich mich gefühlt habe, als ich das Fahrrad da vor mir sah, das kann ich gar nicht erzählen. Sie sagten, steig auf. Und ich kann wirklich nicht sagen, wie ich mich da gefühlt habe.
Ich fahre damit auf unserm Hausdach. Und manchmal noch höher. Dieses Stück Blech mit zwei, drei Speichen war einmal ein Fahrrad. Und ich fuhr damit auf der äußersten Kante über die alte Holzbrücke, die immer tschirr tschirr machte, wenn einer sie überquerte. Und ich fuhr über die Brücke, haarscharf am Abgrund entlang. Aber ich bin nie abgestürzt. Nie … Manchmal fuhr ich auch durch die Calixto-García-Anlagen. Über die Mitte der Anlage, ohne mit den Füßen die Pedale zu berühren oder so was. Über die Mitte des Parks fuhr ich und streckte dabei Calixto García die Zunge raus, und die Füße hatte ich auf der Lenkstange. Seht her, was ich kann. Das macht mir keiner nach. Sehts euch nur an. Das war damals. Das war mal … Der Tod ist bei uns auf dem Hof und spielt mit der rostigen Felge von meinem Fahrrad. Vielmehr mit dem, was einmal mein Fahrrad war. Tag und Nacht ist er da draußen auf unserm Hof und geht nicht weg und ruht sich auch keinen Augenblick aus. Er nimmt das Rad, stößt es an und treibt es mit einem Stock vorwärts. Der Tod lässt Stock und Reifen nicht los, weder bei Tag noch bei Nacht, noch wenn es weder Tag noch Nacht ist: immer im Hof herum, immer im Hof herum. Zuerst hat meine Großmutter ihn gesehen. Wann, weiß ich nicht mehr. Sie stand einmal nachts auf – sie gehört nämlich zu den Leuten, die die ganze Nacht durch Druck im Darm haben. Sie ging also raus. Und schrie auf. Rannte ins Haus und fiel vor dem Herd auf die Knie. Ich hatte damals gerade den Tick, mit einem Moskitonetz Fledermäuse zu jagen. Ich hörte also den Schrei vom Dachfirst aus, bis da rauf war ich nämlich einer Fledermaus hinterhergeklettert, der ich das Rauchen beibringen wollte. Ich hörte den Schrei, und ohne zu wissen, was es war, wusste ich, was es war … Weil, es musste das sein, was es war, wenn meine Großmutter so unglaublich schrie. Weil, was sonst sollte ihr in ihrem Alter noch wichtig sein außer dem Tod. Da hörten alle auf zu schlafen oder was sie gerade machten und kamen zum Herd, um zu sehen, was mit meiner Großmutter los war. Und sie sagte: Da, da. Und zeigte auf den Hof. Als Nächster bekam ihn mein Großvater zu sehen. Er trat in die Tür zum Hof. Er steckte seinen Kopf raus, der so kahl war wie der von einem Geier, und steckte ihn wieder rein, ohne einen Mucks zu sagen.
Danach ging er ins Wohnzimmer und stellte das Radio an. Aber aus dem Radio kam kein Ton, weil es noch vor Morgengrauen war und kein Sender ging. Meine Mutter, Adolfina und Digna schauten gleichzeitig hin. Und kaum hatten sie ihn gesehen, fingen sie an zu tanzen. Zu tanzen und zu tanzen. Sie tanzen heute noch … Kind, Kind, auf diesem Rad wirst du dich noch zu Tode stürzen … Mein Cousin Tico und meine Cousine Anisia haben ihn auch gesehn. Und ihn angesprochen. Aber er hat sie anscheinend gar nicht beachtet, denn er machte weiter mit der Radfelge: eine Runde nach der andern, immer im Kreis um den ganzen Hof herum. Ich, von meinem Dach aus, sah ihm unentwegt zu. Und vergaß die Fledermäuse, nahm das Moskitonetz und warf es über den Tod.
Das Netz fiel über ihn, und er verhedderte sich mit Armen und Kopf darin. Und einen Augenblick lang rollte der Reifen weiter, ohne dass der Tod ihn mit seinem Stock steuern konnte. Der Reifen kam fast bis an die Küchentür gerollt, während der Tod mit dem Netz kämpfte. Bis er sich schließlich rauspusseln konnte. Und dann ging er ganz langsam auf die Tür zu und sprühte tausend Funken dabei. Und nahm den Reifen an sich. Und drehte und drehte ihn wieder im Kreis herum. Kind, Kind … Mein Alter sitzt im Schaukelstuhl, und meine Alte liegt im Wohnzimmer auf den Knien. Der Alte schaut sie an, und die Alte betet. Tico und Anisia reißen sich los und fangen an, einander Rätsel aufzugeben. Kannst du mir sagen, woran ich jetzt gerade denke, na, woran denk ich wohl. Der Alte sagt nichts, einfach weil er keine Lust dazu hat. Warum sagt mein Großvater bloß nichts. Sag mir, woran ich gerade denke. An eine Schildkröte mit acht Beinen. Beinahe erraten, aber noch nicht ganz. Mit acht Beinen und einem Goldzahn.
Nah dran, aber immer noch nicht ganz richtig.
Mit acht Beinen, einem Goldzahn und einem Nasenring im Schwanz. Mein Alter ist eingeschlafen. Meine Mutter kriegt das Beten satt und legt sich ins Bett. Ätsch, danebengeraten. Ich hab an eine Schildkröte mit acht Beinen, einem Goldzahn, einem Nasenring im Schwanz und einem Pfahl im Panzer gedacht. Wie scheußlich, was du dir aber auch für Sachen ausdenkst. Wolln mal sehen, jetzt bist du ja dran mit Raten. Adolfina geht ins Bad und riegelt die Tür ab. Im Bad steht die Flasche mit Spiritus. Die Streichhölzer nimmt Adolfina, die nichts vergisst, unter den Brüsten versteckt mit rein. Ich weiß nicht mehr, wie ich mein Leben noch weiterfristen soll. Ich weiß wirklich nicht mehr, wozu mein Leben noch gut sein soll. Mein lieber Sohn, ich hoffe, du bist wohlauf, wenn du diesen Brief erhältst. Adolfina zieht sich aus und steigt in die Badewanne. Adolfina betrachtet sich im Spiegel und schreit. Und schreit nicht. Und schreit. Was kann man von einer Kanarierfamilie auch erwarten. Was soll man von jemand erwarten, der mit Vieh zusammenlebt. Nichts, da kann ja nichts rauskommen. Da muss man mit allem, mit allem rechnen. Adolfina fängt an, nackt in der Badewanne zu tanzen. Was siehst du, was siehst du. Ich sehe eine Spinne, die in einer trockenen Badewanne ersäuft. Sei nicht albern, sag mir die Wahrheit, was siehst du. Ich sehe eine Hexe, die mit einer Spinne in der Badewanne ihre Spielchen treibt. Trottel, du lügst mir ja nur ständig was vor. Heute gehe ich früher als je in die Sträucher. Misael, nackt unter einem Busch, wartet auf mich.
Herr Gott, Sohn der allergrößten Hure. Herr Gott. Mein Gott. Ich glaube nicht an dich, aber ich höhne dich. Wenn es dich gibt, warum näherst du dich nicht. Komm doch näher, du Hund, dass ich dir die Fresse einschlage. Ich schwinge mich früh am Morgen aufs Rad, und was passiert mir als Erstes. Ich komm mit dem Fuß in die Kette und knalle voll in eine Schlammpfütze. Komm doch näher, dass ich dich blau prügeln kann, Gott. Der Hunger ist so groß, dass wir schon anfangen, uns gegenseitig aufzuessen. Der Tod treibt weiter seinen Reifen, und mir scheint, er lässt ihn manchmal zu sehr in die Nähe der Tür rollen, hinter der wir sitzen und ihn uns vorstellen. Inzwischen versuche ich von zu Hause abzuhauen, denn ich halt es nicht länger aus, mit diesen Frauen zusammenzuleben und mit einem Großvater, der stumm ist, bloß weils ihm so passt. Und inzwischen bewegt der Tod weiter den Reifen. Eine Runde nach der andern. Und inzwischen macht meine Mutter die Papiere fertig, nachdem sie sich auf den tausend Gängen von Konsulat zu Konsulat die Füße abgelaufen hat und endlich auswandern darf. Um zu arbeiten wie ein Maultier,
Um vor Kälte und Einsamkeit umzukommen.
Um greinenden Kindern den Hintern abzuwischen.
Um wie Vieh zu leben.
Um Geld zu verdienen.
Um sich um anderer Leute Gören zu kümmern, damit ihr eigenes nicht verhungert.
Um.
Um.
Um.
Der Mond ist furchtbar. Er dringt durchs Fenster ein und fällt mit Fäusten über mich her. Auf mich darf der Mond nicht scheinen, denn ich werde wahnsinnig davon. Meine Mutter weiß, dass ich wahnsinnig werde, wenn der Mond mich trifft. Aber sie traut sich nicht, das Fenster zu schließen, weil sie dann den Tod sehen muss, wie er in der Mitte des Hofs mit dem Reifen spielt. Sie sieht ihn. Sie sieht ihn doch. Jetzt traut sich keiner aus dem Haus zu gehn. Nicht einmal aus dem Fenster zu sehn. Wir sterben vor Angst, eingeschlossen hier drinnen, ohne auch nur einen Blick nach draußen zu wagen, aus Angst, den Tod zu erblicken. Ich, weil ich diesen riesigen Mond nicht mehr aushalten kann, stell mich im Bett auf und versuche, die Jalousie zu kippen. Ich hab zwar entsetzliche Angst, und obwohl ich mir sage, ich mach die Augen nicht auf, ich mach einfach die Augen nicht auf, mache ich sie trotzdem auf.
Und da steht er im Mondschein glänzend, vor dem Fenster. Der Tod vor der Jalousie hält sich den Bauch vor Lachen und schneidet Grimassen. Ich renne davon und verkrieche mich bis über die Ohren unter dem Bettlaken. Aber umsonst, ich seh weiter den Tod, wie er sich krümmt vor Lachen und mir Grimassen über Grimassen schneidet. Der Mond sickert weiter durch die Jalousien. Früher oder später werde ich brüllend auf die Straße rennen müssen. Früher oder später werde ich mir den Kopf abhacken müssen. Was soll man auch schon erwarten von jemand, der unterm Vieh lebt. Alles, haben sie gesagt. Nichts, haben sie gesagt. Ich steh vor unserm Haus mit den zwei Kindern auf dem Arm und dem Sack Wäsche auf dem Kopf und wünschte, die Erde sollte mich verschlingen. Ich bin eine sitzen gelassene Frau.
Und nie wieder werde ich mich mit einem Mann im Bett vergnügen.
Nie mehr.
Erde, tu dich auf und verschlinge mich. Erde, tu dich auf und verschlinge mich. Rate, was ich jetzt seh. Ein uraltes Männlein, das auf dem Hof mit der Felge von Fortunatos Fahrrad spielt. Erraten, du hasts erraten, beinah … Jetzt bin ich dran. Tico und Anisia schlagen unser Geschirr zu Scherben. Meine tote Tochter ist wie ein zerscherbter Teller. Ich versuche, die Teile einzusammeln und wieder zum Teller zusammenzusetzen. Aber es sind zu viele … Wenn ich eine Scherbe aufhebe, fallen mir zehn aus der Hand.
Meine tote Tochter. Ah, was für ein Glücksgefühl, ich habe eine tote Tochter. Ist es nicht komisch, dass ich, obwohl sie tot ist, sagen kann »ich habe«. Ah, bin ich glücklich. Ich darf wenigstens sagen, dies ist mein Unglück. Ich kann es zur Schau stellen. Ich kann es auskosten. Ah. Aber Tico und Anisia. Was wird aus Tico und Anisia. Die Fabrik macht zu: Dort konnte ich mir wenigstens ab und zu ein paar Centavos verdienen. Die Fabrik macht auf: Der Lärm der Maschinen ist zum Wahnsinnigwerden. Der Lärm und der entsetzliche Gestank der verfaulten Guavenfrüchte. Dabei können wir noch froh sein, dass wir diese Fabrik im Viertel haben. Denn wovon sollten wir sonst leben. Tomasicos Fabrik ist die »Lebensader des Viertels«.
Ich schwing mich aufs Rad, und die Kinder sagen, lass uns auch mal drauf. Und ich sag Nein. Und sie wollen unbedingt, dass ich es ihnen leihe. Und ich will es ihnen um keinen Preis leihen und rase los – trete die Pedalen, was das Zeug hält. Was das Zeug. Die Jungen werfen mit Steinen hinter mir her. Aber keiner der Steine spaltet mir den Schädel. Meine Großmutter sagt, mein Kopf wäre härter wie eine Paranuss. Ich weiß zwar nicht, was eine Paranuss ist, aber ich denk, dass meine Großmutter recht hat. Die Steine knallen an meinen Kopf.
Und prallen ab. Und ergreifen die Flucht. Mit meinem Fahrrad bin ich bald auf der Landstraße verschwunden. Die Autos fahren hupend ganz nah an mir vorbei, und die Fahrer brüllen mir zu: Halt dich rechts, du Schafskopf, rechts halten. Ich scher mich einen Dreck drum, ich weiß weder, wo rechts ist, noch, was das mit dem Halten bedeuten soll. Busse überholen mich und machen fuss fuss. Hinter sich machen sie so einen Sturm, dass es mich fast in den Straßengraben weht. Rechts halten. Rechts halten. Verdammter Lümmel, du stürzt einen noch ins Unglück … Eines Tages wird man dich tot am Straßenrand finden, sagte meine Großmutter zu mir. Meine Mutter sagte mir, bevor sie auswanderte: Mach dir keine Sorgen, ich hol dich nach, sobald ich kann. Meine Mutter … Ich hab noch nie das Meer gesehen und möchte zu gerne hin. Es ist kaum zu glauben, wo Gibara doch ganz in der Nähe von uns ist, dass ich trotzdem noch nicht das Meer gesehen hab. Aber das will nichts heißen, ich bin ja jung und komm eines Tages schon noch hin. Traurig ist es allerdings bei meiner Tante Emérita, der Verhassten: Sie wird bald fünfzig Jahre alt und hat es noch nicht gesehen. Neulich kam meine Tante Emérita, die Verhasste, die uns sonst übrigens nie besucht, weinend zu mir nach Haus, oder vielmehr zu Großvater nach Haus. Sie lehnte sich an den Wasserkrugständer und weinte da weiter. Stundenlang. Ein Geschrei machte sie. Als meine Großmutter sie dann endlich fragt, warum sie heult, sagt sie, die Verhasste: Wissen Sie, was das heißt, ich hab nicht mehr lange zu leben und werd sterben, ohne das Meer gesehen zu haben. Der Reifen dreht sich und dreht sich und dreht sich. Und der Mond steigt wütend herab auf unser Dach und schlägt von Neuem auf mich ein. Die Tauben fliegen auf, und ich weiß, dass sie nun nie mehr zurückkommen werden. Ich muss mir jetzt was anderes vornehmen.
Ich weiß schon, was: Ich stell Wein her. Ich werd Wein herstellen. Jeden Tag versteck ich mich mit vier, fünf Flaschen im Badezimmer. Die Felge glitzert und funkelt: Manchmal sieht es aus, als ob sie weint. Hier hast du deine Tochter zurück. Vom Mann verstoßen und zwei Kinder auf dem Hals. Komm raus und bring diesen Schamlosen um. Komm doch raus, bring ihn wenigstens um. Komm schon, du Schlappschwanz. Komm raus. Die Flaschen voll vergärtem Wein platzen unterm Bett, und die besoffenen Kakerlaken machen sich dran, das Bettgestell zu erklimmen. Es ist furchtbar, sich an einem Ort gefangen zu wissen, wo man nichts damit ändert, dass man eine Tür öffnet und auf die Straße geht. Es ist furchtbar. Großmutter weint und sagt: Ich dachte doch, er schläft. Ich dachte doch, er schläft.
Es ist furchtbar.
Ich krieche langsam über den Fußboden bis ans Bett, auf dem die beiden Alten Ferkeleien miteinander treiben. Darunter steht das Kästchen mit dem Geld. Ich schieb mich vorsichtig unters Bett und fange an, mir Zwanzig-Centavo-Stücke in die Taschen zu stopfen. Während die Alten auf dem Bett unter Röcheln zum Ende kommen, plündere ich, unter dem Bett, sie inzwischen aus. Solange sie nur das Kästchen mit dem Geld da stehen lassen, kann ich mich nicht beklagen. Im Bad wird es hell. Im Bad brennt es. Die Feuerkugel rollt aus dem Bad. Ay, ay, sagt die Feuerkugel. Mein geliebtes Kind, mein geliebtes Kind.
Geliekind.
Es kommt jeden Tag schlimmer.
Im Gemüseladen verkaufen wir jeden Tag weniger. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.
Meine Tochter.
Sie schreibt mir nicht mehr. Meine Tochter hat mich vergessen. Ach, Elternlos, Elternlos: Man zieht Kinder groß, damit die einem das Herz in Stücke reißen. Ach, Eltern … Und das nennt sich leben. Guten Tag, Don Polo. Wie geht es Ihnen. Ich denke nach. Ja, ich sehe. Ay, Polo, das Leben … Jetzt ist es immer Nacht. Mein Großvater redet nicht, und die Fabrik ist geschlossen.
Wir sterben vor Hunger.
Großmutter betet und scheißt dabei auf Tico, die Heiligen und manchmal auch auf Gott, bittet ihn aber gleich darauf um Vergebung. Digna haben wir gestern gegessen, aber heute ist heute und nicht vorgestern … Aber ich bin wenigstens jung und kann vielleicht eines Tages das Meer sehen. Rechts halten, das Meer. Rechts halten, das Meer. Wenn ich immer geradeaus renne, muss ich ans Meer kommen. Wenn ich hier lang weiterlaufe, muss ich auch ans Meer kommen. Ich werd ans Meer kommen, wo immer ich langlauf. Ans Meer. Halt dich doch rechts, Lümmel. Und ich komm doch hin. Wetten, dass du nicht rauskriegst, woran ich grade denk. An eine Stute in weißen Kleidern. Das Meer. Beinahe erraten, bloß waren sie nicht weiß, sondern lila. Stimmt ja gar nicht, du sagst bloß jedes Mal schnell was anderes, wenn ichs erraten hab. Während ich schwitze, huste und die Moskitos verscheuche, schreibe ich. Während ich huste und du hustest, während ich schwitze und mit den Händen in die Luft schlage, schreibe ich. Ich bin zu einer Schreibmaschine gekommen, ich weiß nicht wie, und hab schon den ganzen Packen Papier verbraucht, den mein Alter in seinem Laden hatte. Der Alte sagt nichts dazu, weil er ja nicht redet. Aber man sieht ihm an, dass er fast platzt. Und Großmutter würde mich am liebsten umbringen vor Wut, wenn sie sieht, dass mein Alter den Leuten die Ware nun uneingewickelt in die Hand geben muss. Während meine Mutter mich ausschimpft, schreib ich und schreib ich. Und schlafe nicht. Und esse nicht. Bis mir schließlich die Lust am Schreiben vergeht und ich den ganzen Haufen Papier in die Klosettgrube schmeiße. Die Alte siehts und kriegt einen Anfall. Tico und Anisia spielen Nicht-die-Erde-berühren. Mein Vater sagt nichts. Lieber Sohn. Adolfina legt Feuer an sich. Das Leben ist hart.
Hanfschuhe. Mir sollt ihr erst mal Hanfschuhe geben. Ein Paar Hanfschuhe. Danach könnt ihr was von mir verlangen. Arschloch, Arschloch. Ich geh nackt auf die Straße. Gott schütze dich, Maria du Segensreiche … Wetten, dass du dich nicht traust, dich in die Haustür zu stellen und laut Dicke fette Klöten zu rufen. Wetten, du hast nicht den Mumm. Wetten, du hast nicht den Mumm. Dicke fette Klöten, dicke fette Klöten. Donnerwetter, er bringts fertig. Gleich wird er verhaftet. Wenn ihr mich fragt, dieser Junge ist nicht ganz richtig im Kopf: Sein neuester Tick ist, Schnecken zu braten und mit Brot zu essen. Pfui Teufel … Jetzt ist es nur noch Nacht, und Digna singt auf der Terrasse, ohne den Mund aufzumachen. Arme Digna: allein und mit zwei Kindern. Arme Kinder. Arme Adolfina. Arme Großmutter. Ich mein, armer Großvater. Ich mein, meine arme Mutter. Ich mein, armer Ich. Kurz, arme Digna.
Der Laden wird dichtgemacht, weil die Fabrik dichtmacht und es jetzt niemanden mehr gibt, der auch nur die Hälfte von einem Centavo in der Tasche hätte. Der Laden ist pleite. Der Alte versucht sich ohne Erfolg aufzuhängen. Meine Alte glaubt nicht mehr an Gott und betet zum Glasschrank. Ich hab endlich das Meer gesehn. Nichts Umwerfendes. Nicht, wie ich es mir gewünscht hätte und wie es für mich war. Nichts als Wasser und noch mal Wasser. Hätte ichs doch besser nie zu Gesicht bekommen. Das Meer … Adolfina hockt im Bad. Und meine Mutter schickt mir Brief auf Brief. Brief auf Brief.
Tico und Anisia sind bald erwachsen. Der Laden geht pleite. Ich langweile mich. Ich glaub, das Beste, was ich tun kann, ist, zur Guerilla gehn. Es gibt Aufständische. Überall sind jetzt Guerilleros. In der Stadt brennt kein Licht mehr. Der Laden macht pleite. Lieber Sohn, lass dich bloß auf nichts ein. Der Tod spielt immer weiter mit dem Reifen auf dem Hof. Der Tod geht gar nicht mehr weg von unserm Hof. Esther, Esther. Und Celia? Die unterhält sich da mit Engeln und Teufeln. Meine Cousine Esther und meine Tante Celia. Heute Nacht hab ich gesehn, wie Esther sich mitten auf dem Hof mit dem Tod unterhalten hat. Heute Nacht, als ich grad aufstand, um wieder mal das Fenster zuzumachen, hab ich Esther mit dem Tod reden und ihm weiß Gott was für Anträge machen sehn. Der Tod hob und senkte den Kopf, wie einer, der Ja, ja sagt. Und am Ende fing Esther zu tanzen an. Der Tod sah sie kurz an und blieb dann mit tief gesenktem Kopf stehen. Esther tanzte weiter und verschwand überm Dach. Esther ist meine Cousine Esther. Ich hab eine tote Cousine, die Esther heißt. Celia weinte ganz leise vor sich hin; und schließlich schloss sie die Küchentür zu und setzte sich vors Haus und unterhielt sich mit den Teufeln und mit den
Engeln
und mit den Gespenstern
und mit den Unmenschen.
Ich geh zu den Guerilleros.
Es ist schrecklich heiß. Schrecklich. Ständig diese schreckliche Hitze. Sie hängt mir schon zum Hals raus. Irre, irre. Die Busse zischen wie Blitze vorbei. Ich kann nicht mehr. Paka paka paka pakapakapakapkakkka. Die Alte schreit zwischendurch, während sie zum Glasschrank betet. Lieber Sohn. Ich geh zu den Rebellen in die Berge. Mir stehts bis zum Hals. Dreckiger Lümmel. Dreckiger Lümmel, dreckiger Lümmel.
Dreckiger Lümmel.
Ich geh in die Berge. Überall sind Rebellen. Die Stadt liegt im Dunkeln. Sogar Eufrasias Puff hat zu. Die Nutten sind in die Berge oder sonst wohin. Ich geh zu den Rebellen. Mir ist sogar die Lust vergangen, mir einen zu wichsen. Ich geh zu den Rebellen. Ach so, du hast keine Waffe? Was willst du dann hier? Eine Waffe musst du schon mitbringen. Und zwar eine Knarre. Eine Knarre. Kakakakakakak ka
Ich bin jetzt dreizehn und habs so satt wie noch nie. Meine Mutter kann auch nichts anderes als mir vor den Leuten das Blut in den Kopf treiben … Und Baudilio hat mich den ganzen Abend nicht angeschaut. Jemand hat mir gesagt, er hätte eine Braut. Und als obs damit noch nicht genug wär, guckt mir auch noch der Unterrock unterm Kleid vor, und Dignas Kinder brüllen wie am Spieß. Ich würde eine Flasche Strychnin nehmen, mich hier ins Bett legen und nicht mehr aufstehn, wenn ichs nicht schon getan hätte und bereits läge.
ka, ka. In diesem Haus traut sich keiner mehr raus, aus Angst, mitten auf dem Hof auf den Tod zu stoßen, und darum gehen wir hier drinnen langsam drauf. Und draußen spielt der Tod, wie wenn nichts wäre. Aber ich muss raus, und ich geh auch raus. Der Reifen dreht und dreht und dreht sich. Lieber Sohn. Esther, Esther. Wie furchtbar der Mond ist. Wenn wir doch wie früher in der Einöde lebten. Die Erinnerung daran ist mir geblieben. Mir kommt es vor, als wäre ich immer noch derselbe, der im hohen Guineagras verschwindet und hinter den Kokospalmen Versteck spielt. Immer noch … Mir scheint immer noch, ich bade im Fluss. Das Wasser schwappt noch mal und noch mal über mich, und alle Bäume machen bir, bir, bir. Wie jenes eine Mal, erinnerst du dich? Ja, ich weiß, du erinnerst dich. Ich weiß, du kannst nicht abstreiten, dass du dich erinnerst. Denn du lebst von den Dingen, von denen du nicht wusstest, dass sie du selber waren. Denn da stehst du und klopfst an die Tür derselben Nacht, auf der großen Einfahrt unter den Blauregenranken, beim Rorr Rorr der Kröten und in dem irgendwo herkommenden Glanz. Was für eine Nacht. Was für eine Nacht. Ich geh hinaus ins Feld und höre nur tausendfaches Getöse. Was für eine Nacht. Ich bade in dem Wasser, das auf die Kassienwiese gefallen ist, und schrubbe mich damit ab und bade weiter. Und renn dann auf die Weide und werf mich ins Gras und seh tausend Helligkeiten niedergehen. Was für eine Nacht, Junge, was für eine Nacht. Und du liegst da und genießt sie. Und du da im Gras und der durchscheinende Nebel. Mit dem Gesicht nach oben auf der Welt, während die Nacht kommt und dich feucht und weiß macht. So schläfst du ein, und die Geister kommen. Was für eine Nacht. Es ist fast, als träumtest du. Es ist.
– Kind, wie kannst du dich da hinlegen. Die roten Milben werden dich auffressen.
Aber die Dinge ändern sich. Aber die Dinge sind nicht, wie man denkt, dass sie mal waren. Aber die Dinge sind nichts als Erfindungen, die man macht, um sich an ihnen festhalten zu können. Um auch hinterher noch leben und sagen zu können: damals, ja damals. Und jetzt wird damals sein. Und jetzt ist nicht. Aber danach wird damals sein. Und damals ist etwas. Und wie viel … Die Alte zetert und zetert und sagt, es ist nichts zum Essen da. Adolfina kommt nicht aus dem Bad raus. Celia beweint ihre tote Tochter und sagt, sie weiß nicht mehr, wie sie war. Digna singt mit geschlossenem Mund. Der Alte jagt stundenlang mit der Spritze herum und vergiftet eingebildete Moskitos. Und du, und du, und du? … Ich bin zu Eufrasias Puff gegangen, und er war zu. Ich geh zu den Rebellen. Noch heute Nacht. Diese Nacht gehört mir. Der Alte nimmt die Spritze und fängt an, im ganzen Haus Flit zu versprühn. Die Alte hustet und stößt sich an einem Stuhl. Sie kreischt: Immer noch besser, die Moskitos fressen uns, als wir krepieren an dem vielen Flit.
Alle liegen im Bett.
Der Alte verwahrt die Flitspritze unterm Kopfkissen. Die Alte röchelt. Der Alte kann nicht einschlafen. Die Alte hustet. Der Alte greift zur Spritze, sobald er denkt, dass sich ein Moskito dem Bett nähert. Er macht dann fusss und sprüht Flit in die Luft und der Alten ins Gesicht. Die Alte steckt den Kopf unters Laken und fängt an zu schnauben. Der Alte steckt die Flitspritze wieder weg. Die Alte steckt den Kopf wieder vor und streift mit dem Fuß einen Fuß vom Alten. Der Alte legt sein Bein über das Bein der Alten. Ein Moskito macht dziiiiiii und fliegt über das Bett. Aber weder der Alte noch die Alte hören es. Draußen hört man die Schüsse. Draußen hängt ein Riesenmond, der mich lähmen will, der mich in Stücke zerschmettern will. Du musst das Fenster zumachen. Du musst raus auf die Straße und zu den Rebellen gehn. Die Rebellen gewinnen bald, und du verkriechst dich immer noch im Haus. Wie kannst du da jetzt noch im Bett rumliegen. Nichtsnutz, Pantoffelheld, kommt nicht aus seinen vier Wänden, wie eine Frau. Du Klotz, du Trottel, du Schlappschwanz. Während andere ihr Leben aufs Spiel setzen, sitzt du hier und wirfst deins weg, ohne es auch nur aufs Spiel zu setzen, raff dich auf. So wie du lebst, könntest du genauso gut auch nicht leben. Wenn du dich aber aufraffst, dann wäre es vielleicht … Wenn du aber. Lieber Sohn. Wenn du aber. Ich halts nicht mehr aus. Kikiriki. Der Alte macht den Mund nicht auf. Sprüh doch nicht so viel Flit rum, Gottverdammich, du vergiftest mich noch. Heilige Mutter Gottes, in diesem Haus kriegt man nichts wie Unanständigkeiten zu hören. Tico und Anisia. Anisia und Tico. Eine Strafe, diese Kinder. Fortunato. Fortunato hat jetzt den Tick, Eidechsen zu fressen … Feuer, Feuer. Hör doch nur, wie sie schießen. Unterm Bett platzen die Weinflaschen. Die Kakerlaken ergreifen die Flucht. Der Mond dringt wieder durch die Jalousien und schlägt wieder auf dich ein und streckt dir die Zunge raus. Du versuchst, ihn zu packen und ihm einen Denkzettel zu verpassen, aber das schlaue Biest ergreift die Flucht. Kaum schläfst du ein, schlüpft der Mond wieder durch die Jalousien und schlägt dich von Neuem und streckt dir die Zunge raus. Du versuchst, ihn zu packen, aber das schlaue Biest entwischt dir. Und du kannst kein Auge zutun. Das kann ja keiner mehr aushalten. Wie sie schießen.
Jede Nacht dasselbe. Dasselbe. Und die Hunde bellen und bellen, bellen und bellen.
Die Alte und der Alte schnarchen. Die Kakerlaken klettern das Moskitonetz hoch. Das Leben ist ein einziges Dreckschlucken. Was mag wohl in zehn Jahren aus mir geworden sein. Nein, gar nicht daran denken. Ich steck den Kopf unterm Moskitonetz vor. Der Mond vorm Fenster sieht mich kalt und wütend an, von oben herab und entsetzlich grausam. Du wirst zu den Rebellen gehn. Lieber Sohn. Es ist schon fast Tag auf dem Hof. Eine Million Geister stieben zwischen deinen Füßen davon. Wohin willst du mit den Eidechsen. Was für eine Nacht, was für eine Nacht. Jetzt gleich mach ich mich auf in die Berge. Du kommst.
Du kommst bis an die Hoftür. Und öffnest sie. Unentwegt ist der Tod dort auf dem Hof und spielt mit der Felge eines Fahrrads. Der Tod spielt mit der Felge von meinem Fahrrad. Er spielt und spielt. Ich mach die Tür sperrangelweit auf. Du wirst dich eines Tages noch zu Tode stürzen … Der Mond umspült den Tod, der beinahe aussieht wie ein weißer Stern, wie er da mitten auf dem Hof funkelt und blitzt. Unter den Schlägen des Stocks, den der Tod in der Hand hält, dreht sich der Reifen weiter und weiter. Die Tür steht sperrangelweit offen. Der Hof glitzert und glitzert, und der Mond steigt immer tiefer und tiefer. Die Tauben auf dem Dach machen ruh ruh. Der Mond steigt tiefer und tiefer. Der Tod glitzert und glitzert. Lieber Sohn … Der Tod lässt den Reifen zum ersten Mal wegrollen. Der Reifen rollt bis zu meinen Händen. Der Tod hebt die Arme, und der Mond schüttelt sich vor Lachen. Das Haus beginnt zu glitzern und zu glitzern. Der Tod hebt die Arme noch höher wie in einer Bewegung vollkommener Befreiung. Wie einer, der eine Strafe abgebüßt hat. Wie einer, der sich endlich einer unerträglichen Verantwortung entledigt. Die Tauben – ruh ruh. Der Reifen – ruh ruh. Der Hof – ruh ruh. Der Tod – ruh ruh.
Tico und Anisia erscheinen in der Tür und brechen in schallendes Gelächter aus, als wären sie der Mond.
Die Fliege hat sechs graue Beine, unruhige, winzige Krällchen, die gewöhnlich unentwegt in Bewegung, auf der Suche nach etwas sind. Die aus Millionen mikroskopisch kleiner Augen bestehenden Augen der Fliege entbehren der Lider und sind, wenn mich meine bescheidenen Kenntnisse nicht trügen, in den Zeiten des Suchens wohl auch nicht ausschlaggebend. Dank ihrem kurzen Hals, ihren kurzen Flügeln, ihren sechs Krallenfüßen, die sich wiederum in unzählige Kleinstkrallen unterteilen, dank ihrem zielsicheren und schläfrigen Flug und dank ihrer Unbekümmertheit gegenüber Worten ist es der Fliege gelungen, sich extremen Temperaturen, der Kälte, Feuchtigkeit und dem Dunkeln ebenso wie plötzlichem Wechsel und den immer wiederkehrenden Hungersnöten anzupassen. Auf dem Rücken liegend, bietet die Fliege jedoch einen trostlosen Anblick: Millionen Häutchen, Haare, kleine Stacheln, spitzige, rosige, feuchte, eitrige, stinkende Körperöffnungen toben auf dieser Landschaft eines gesträubten Panzers, eines schwankenden Saugnapfs. Die Fliege pflanzt sich in rhythmischem, unaufhaltsamem Tempo fort. Eine einzige Fliege kann am Tag mehr als zweihundert Eier legen. Darüber hinaus ist es unrichtig, dass ihre Lebensdauer, wie vielerseits behauptet, auf vierundzwanzig Stunden beschränkt ist. Nur zwei Bestrebungen, zwei Triebe bestimmen ihr Dasein: im Aas zu wühlen und sich zu paaren.
Es war ein Haus. Und in dem Haus lag jemand im Sterben. In den Häusern der Armen liegt immer jemand im Sterben. In den Häusern der Armen sterben immer wir alle. Da war auch der Wind, immer der Wind, der durch die zerklüfteten Wände hindurchfuhr, durch die Risse, die so groß waren, dass man sie schon mit den Türen verwechseln konnte. Ein Haus, ein Sterbender und die ausgetrocknete dürre, allen Träumen gegenüber unnachgiebige Erde. Die schmutzige und ausgetrocknete, salzige und ausgetrocknete, zur Verbeugung zwingende, zur Demütigung auffordernde Erde, die alles trägt. Die Erde … Das Kind – und damals war er wirklich ein Kind, wenn es ihm auch jetzt unglaubwürdig, eine Ironie und beinahe beleidigend erscheint – kam von der Erde, vom Wind und sah von Neuem seine sterbende, seit ewig sterbende Mutter. Er trat zu ihr, verbeugte sich vor ihr und grub ihr die Zähne ins Ohr. Zum ersten Mal beschwerte seine Mutter sich nicht. Es stand also fest: Diesmal starb sie wirklich. Man musste schnell ein Loch machen und der Erde wieder einmal etwas übergeben. Man musste es schnell zuschütten und danach weiter auf der Erde rumkratzen. Noch schneller aber galt es von hier zu verschwinden, diese verruchten Felsen hinter sich zu bringen, diesen Ort, der einen nur gebückt leben ließ. Er trat ein und gleich wieder hinaus. Hier ist meine Scholle, hier ist meine Hölle. Aber in der Ferne war das Meer, das wogende und funkelnde Meer. Die massigen und glatten, straffen Wasser des Atlantik schienen sich ihm gleichsam anzubieten, ihn nach Afrika, nach Australien oder nach jener Insel zu tragen, von der es heißt, dass man dort kein Wasser herbeizuschleppen braucht, damit die Ernte gedeiht; auf der man in Ruhe leben kann und nur Löcher zu machen und auf die Wolken zu vertrauen braucht. Konnte das wahr sein? War es möglich, dass es einen so paradiesischen Ort gab, auf dem, wer von Dämmerung zu Dämmerung arbeitete, zweimal am Tag zu essen hatte und sogar Wasser trinken konnte, sooft es ihn gelüstete? Es gab den Ort. Viele seiner Freunde (oder besser Bekannten, denn Freundschaft meint einen gewissen Luxus, eine gewisse Verschwendung zumindest von Zeit, die er nicht besaß) hatten sich davongemacht. Und wenn es auch stimmte, dass er nie wieder von ihnen gehört hatte, so war doch gerade das ein Beweis dafür, dass sie ihr Glück gemacht hatten; dass sie jeden Tag zu essen hatten. Nur wer scheitert, kommt zurück. Oder geht gar nicht erst weg … Dort war das Meer, glatt und funkelnd, immer fließend … Er trat ein und wieder hinaus; und sah den ausgedörrten Acker. Die spärlichen und müden Bäume waren ein weiterer augenscheinlicher Beweis, dass man in der Unbeweglichkeit scheiterte. Und der Boden war immer rissiger. Und alle flohen, alle machten Gott weiß wo ihr Glück. Auf jener Insel, auf der man einen Samen auswirft und ein Baum emporsprießt, dort, wo man das Wasser mit den Händen auffangen kann … Schließlich starb die Mutter. Erlosch das harte Gesicht einer stumpfsinnigen Kanarierin, die grobschlächtigen Hände einer stumpfsinnigen Kanarierin. Und ihr Leib, das einzige Vermögen der Elenden, dehnte sich, entzündete sich, begann eine Heiterkeit oder eine spöttische Grimasse an den Tag zu legen, die zu zeigen sie im Leben niemals die Zeit oder das Talent gehabt hatte. Der Leib, der in der Erde gescharrt, der Hügelchen auf der Erde aufgeschüttet hatte, der sich auf der Erde stets rastlos hatte rühren müssen, kehrte jetzt verunstaltet und übel riechend zur Erde zurück. Und die Erde, die diesen Leib, der doch, sie ergründend stets nur zu ihren Diensten gewesen war, nie mit Früchten, mit Wasser, mit etwas Greifbarem und Nützlichem gedankt hatte, zeigte nun plötzlich ein nicht gekanntes Interesse an jenem Unrat, sie verschlang ihn, sie zermahlte ihn, bezog ihn bereits in ihre ekelhafte Masse ein. Die Erde … Und in der Ferne das Meer gleich einer riesigen Ebene, über die man sich davonmachen kann. Das Meer – die einzige Alternative für den, der das Verhängnis der Inseln erleidet. Und der Junge trat schnell ein und wieder hinaus, sah die sterbende (endlich sterbende!) Mutter und rannte in die Küche, nahm die große Muschel und kletterte damit auf den großen welken Baum im Hof. Und dort fing er an, die Muschel zu blasen, um zu verkünden, auch wenn es noch nicht wahr war, dass seine Mutter gestorben war. Zuerst kamen die Kühe, in spärlicher Zahl und verwundert, denn so rief sie der Junge immer bei Dunkelwerden, damit sie zum Schlafen heimkehrten, und jetzt hatte der Nachmittag kaum angefangen … Und am selben Tag noch verließ Polo den Hof, zu Hause kümmerten sich felsgesichtige alte Frauen um die Tote. Und am selben Tag noch kam er ans Meer. Und am selben Tag gelangte er durch ein Wunder auf ein Piratenschiff (inzwischen hießen sie rechtmäßig schon »Emigrantenschiffe«) voller Makao- und Kontinentalchinesen, Neger, Russen, Italiener, Portugiesen; alles Leute wie er. Wilde und Hungrige, Flüchtlinge und Hungrige, Träumer und Hungrige. Leute, die, nur um ihrem Land zu entkommen, das Einzige, was sie besaßen, ihren Körper, verpfändeten, die sich, um der Sklaverei zu entrinnen, nach Recht und Gesetz zu Sklaven machten … Am selben Tag noch erfuhr er, dass das Schiff (die sich vermengenden Gerüche und Geräusche waren ihm noch schwer erträglich) zu der Insel mit den großen Bäumen (dem Auffangzentrum für Emigranten), zu dem großen Grün fuhr, dahin, wo man, so unwirklich es ihm auch noch immer schien, das Wasser mit den Händen auffangen konnte. Und einen Monat später sprang der Alte (damals ein Kind) auf die Insel Kuba (sie kamen in Oriente an) und konnte bestätigen, dass zumindest das mit dem Wasser die Wahrheit gewesen war. Und bereits trinkend schwor er sich, dass er nie mehr auf die verhassten Kanarischen Inseln zurückkehren würde.
Die Sterne machen dschii, dschii, wenn ich mit der Spitze des
Hört doch nur, ihr. Und sagt, ob man als Frau dabei nicht wahnsinnig werden muss.
Grapack. Grapack. Grapack.
Die Sterne machen dschiii, dschii, wenn ich mit der Spitze des Spießes in sie steche. Genau wie frisch geborene Kaninchen, wenn jemand den Fuß auf sie setzt und sie zermalmt. Arme Sterne. Jedes Mal, wenn ich sie so quietschen hör, krieg ich eine Gänsehaut.
Aber wir sind ja bald fertig.
Vom Siebengestirn sind nur noch zwei da. Und auch nur, weil wir an sie nicht rankommen. Aber wartet nur, wenn wir uns einen anderen, längeren Spieß beschaffen, dann sollen sie uns kennenlernen. Vom Kreuz des Südens ist nur noch einer da. Und das südliche Dreieck haben wir restlos rausgerissen.
Wenn wir sämtliche Sterne aufgelesen haben, fangen wir an, Wachteln zu jagen, und danach, Aale zu angeln. Und danach riechen wir an unseren Fingern. Und dann holen wir Kokosnüsse von den Palmen. Und dann werfen wir dem Mond das Lasso über. Und dann. Und dann.
Girindann. Girindann. Girindann. Sagt bloß, dass eine Frau dabei nicht wahnsinnig werden muss.
Was machen wir dann.
Da kommt deine verlassene Tochter.
Halts Maul.
Da kommt ja deine verrückte Tochter.
Halts Maul.
Da kommt deine rausgeschmissene Tochter.
Halts Maul.
Da kommt sie, deine sitzen gebliebene Tochter.
Halts Maul.
Da ist sie ja endlich, die Adolfina.
Halts Maul.
Halts Maul.
Halts Maul.
Groß, mager und herrschsüchtig – die drei Wörter hatte sie schon öfter gehört, ihr zu »Ehren« wiederholt, ausgesprochen, damit sie sie hörte. Groß, mager und herrschsüchtig, und jetzt auch noch sitzen geblieben. Denn manchmal hörte sie auch, was ihre Eltern sich zuraunten. Vor allem wenn er sagte: Die lädt sich keiner mehr auf den Hals. Oder: Zu allem Übrigen noch eine sitzen gebliebene Tochter. Oder: Das fehlte uns noch, um das Maß vollzumachen. Sie ging aber jede Woche mit einem Sack zu der Koppel mit der weißen Erde. Grub. Füllte den Sack. Kehrte zurück. Wischte das ganze Wohnzimmer. Und verteilte dann mit dem Besen die weiße Erde auf dem Boden. Und glättete den weißen Belag dann noch mit den Händen, deckte mit dem weißen Mörtel jedes Stückchen Fußboden zu. Sodass sie, wenn sie ankamen und auf jene feine, knirschende Schicht weißen Lehms traten, jene »Kruste«, die unter ihrem Stampfen erzitterte, – manchmal – Abbitte taten und sogar – manchmal – ihr Werk lobten, denn erst dann merkten sie, dass sie es war, die dieses »Wunder« vollbracht hatte. Das würde sie vielleicht in ihren Entschlüssen beeinflussen … Groß, mager und herrschsüchtig, und dazu noch die älteste, die erstgeborene Tochter, die wie immer die Geschwister hatte aufziehen müssen. Und wie immer hatten die Geschwister sie nicht als Schwester, sondern als zweite Mutter, will sagen, als etwas Nützliches, Hassenswertes und, wie jeden Ersatz, als etwas Falsches angesehen. Da sie die Älteste war, konnte man sie allein zu Hause lassen und aufs Feld jäten gehn: Sie würde inzwischen kochen und sich um alles kümmern. Und sie fand neben der Küche, dem Abwasch, den Kindern, dem Umweiden des Viehs, dem Schleppen von Wasser, Brennholz, Palmrinde und Palmfrüchtezweigen (den leichtesten Arbeiten, wie die Mutter sagte) noch Zeit, rings um das Haus Büsche mit glänzenden Blättern, hohe zartgliedrige und duftende Kräuter anzupflanzen, die zwar nichts abwarfen, wie der Alte richtig sagte, dafür aber auch wieder die Palmrindenverkleidung (deren er sich schämte) und sogar die Löcher verdeckten, die die Tiere (sie hielten Schweine, Hühner, Ziegen, Truthähne und sogar Kälber) in die Wände gerissen hatten. Wenn der Frühling kam, nahm sich außerdem der mit Blumen und bunten Blättern gesäumte Weg zum Haus so hübsch aus, dass sich das Opfer durchaus lohnte. Und die jungen Männer, die zu Besuch ins Haus kamen, lobten die Pflanzen, rissen wohl auch im Vorbeigehen ein Blatt ab und steckten es sich zwischen die Zähne. Und sie hatte das alles gepflanzt und gesät … Sie, die das Lob dafür fast beschämt entgegennahm. Groß, mager und herrschsüchtig. Herrschsüchtig ja, aber nicht ihnen, nicht den Männern gegenüber, die ins Haus kamen und dabei auf dem Boden umherstampften, den sie mit der Handfläche glatt gestrichen hatte, oder ein Blatt von den Pflanzen abrissen, die sie unter unendlicher Mühsal (denn es gab auch Ziegen) begoss und beschützte … Und neben all diesen Arbeiten und ihren unablässigen Gängen zu der Koppel mit der weißen Erde und neben dem Umweiden des Viehs lernte sie noch nähen. Man musste schließlich vorausschauend denken: Ein Mann wird sich immer für eine Frau interessieren, die nähen kann. Und sie lernte es. Aber da sie groß, mager und herrschsüchtig war, kamen die Männer, traten auf ihren Boden, rissen ihre Blätter ab, und manche ließen sich sogar eine Hose von ihr schneidern, um am Ende ihren Schwestern den Hof zu machen, die nichts konnten. Und dabei war sie es, die Große, die sie als Erste entdeckte, wenn sie die Savanne herunterkamen, und sie, die Magere, die als Erste loslief, um sie zu empfangen, und sie, die Herrschsüchtige, die sich dann in den Schaukelstuhl setzte (die Burschen aufs Sofa) und auf das Pärchen aufpassen musste, während der Alte auf dem Hof vor sich hin knurrte und die Alte am Herd türkischen Honig zubereitete und dabei abwechselnd betete und fluchte.