I
Der Mond schien hell. Der Pier war verlassen. Nur das gleichmäßige Schwappen der Wellen unterbrach die Stille. Das kalte Licht der Hafenlaternen erleuchtete den Anlegeplatz und ließ den dichten Nebel noch unheimlicher wirken. Der salzige Geruch von Seetang hing in der Luft. Aus der Ferne ertönte ein Schiffshorn, und irgendwo schrie eine Möwe.
Dimitri Csaba strich sich über das kurzgeschorene dunkelblonde Haar und sah sich nervös um. Die anderen Matrosen waren längst von Bord gegangen. Mit schnellen Schritten überquerte er den Landungsplatz.
Dimitri – wie fremd ihm der Name war. Wie viel in den vergangenen Tagen passiert war.
Der junge Mann seufzte tief und zerrte an dem Halsausschnitt seines T-Shirts. Es fiel ihm schwer, sich wieder an moderne Kleidung zu gewöhnen. Nun schon zum dritten Mal in seinem Leben war er im Begriff, alle Brücken hinter sich abzubrechen und eine neue Identität anzunehmen. Vor drei Jahren war er einem Kloster beigetreten. Damals war aus Fabian Eckehard Bruder Simeon geworden. Nun hatte Bruder Simeon dem Kloster für immer den Rücken zugekehrt. Unter dem Namen Dimitri Csaba und mit gefälschtem ungarischen Pass hatte er in Rotterdam auf einem Schiff nach Nordamerika angeheuert. Fabian wusste selbst kaum mehr, wer er wirklich war. Bruder Simeon kam seinem wahren Ich am nächsten, und Fabian konnte von sich nur schwer als jemand anderem als den Mönch denken, der er noch vor weniger als drei Wochen gewesen war. Er spürte in seinem Herzen, dass es auch in Zukunft dabei bleiben würde. Und noch einer Sache war er sich eindeutig bewusst: dass er erreichen musste, was er sich vorgenommen hatte.
Fabian blickte sich unruhig um. Er musste von der Bildfläche verschwinden. Das Gelingen seines Vorhabens hing allein davon ab, dass niemand herausfand, wo er sich aufhielt. Er musste untertauchen, seine Spuren verwischen. Und dazu musste er erneut seine wahre Identität verbergen.
Fabian kam an einem Abfalleimer vorbei. Er blieb kurz stehen, fischte Dimitris ungarischen Pass aus der Jackentasche und warf ihn, ohne zu zögern, hinein. Dann zog er einen kanadischen Ausweis hervor und schlug ihn auf. Der Pass zeigte sein Bild. Doch daneben stand: Michael Hall.
Fabian seufzte erneut. Er würde sich auch an diesen Namen gewöhnen müssen. Wenn sein Freund und ehemaliger Arbeitskollege Shane Storm Hawk, ein Blackfoot-Indianer, ihn jetzt sehen könnte, würde er über Fabian lachen. Bei den Blackfoot und vielen anderen indianischen Völkern war es üblich, im Laufe seines Lebens mehrere Male den Namen zu ändern. Aber Fabian war in Deutschland aufgewachsen, und dort waren Namensänderungen nicht gerade üblich.
Er rief sich zur Ordnung. Er durfte keine Zeit verschwenden. Er musste verschwinden, bevor man ihn fand. Aber vorher hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Die sechsundzwanzigjährige Serena Eckehard hatte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer kleinen Berliner Wohnung gemütlich gemacht. Diffuses Sonnenlicht strömte durch die hellen Gardinen an den Fenstern, und obwohl es noch früh am Vormittag war, war es drückend heiß. Serena hatte ihr schulterlanges schwarzes Haar mit ihrer Lieblingshaarnadel aufgesteckt und blätterte in einer Zeitschrift. Sie fächerte sich beim Lesen Luft zu, aber es half nicht viel.
Verärgert ließ Serena die Zeitschrift sinken. Sie hätte sich einen dieser elektrischen Tischventilatoren besorgen sollen, als noch welche zu haben waren. Mittlerweile waren alle ausverkauft. Aber eine derartige Hitzewelle war auch wirklich ungewöhnlich, selbst für August. Sie konnte kaum einen Temperaturunterschied zu Tunesien feststellen, von wo aus sie erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt war. Serena war freiberufliche Fotografin und oft auf Reisen. Besonders seit ihr Bruder sich vor drei Jahren ganz überraschend in ein Kloster zurückgezogen hatte, hielt sie nicht viel in ihrem Heimatland. Wieder zu Hause, hatte sie sich eigentlich nach ein wenig Ruhe und Erholung gesehnt. Aber davon konnte bei dieser Hitze keine Rede sein.
Das schrille Klingeln des Telefons ließ Serena aus ihren Gedanken aufschrecken. Sie sprang vom Sofa auf, erfreut über die Ablenkung.
Das Display des Telefons zeigte eine Nummer aus Nordamerika an. Verwundert meldete sie sich.
»Ich bin es«, ertönte die vertraute Stimme ihres Bruders.
Serena stockte der Atem. Es konnte doch unmöglich wahr sein! Als Fabian damals ins Kloster gegangen war, hatten sie einander für immer Lebewohl gesagt. Sie hatte es sich nicht träumen lassen, seine Stimme in diesem Leben noch einmal zu hören.
»Fabian«, hauchte sie, »bist du es wirklich?« Tränen stiegen ihr in die Augen. Und für einen kurzen herrlichen Augenblick glaubte sie, dass ihr geliebter großer Bruder zu ihr zurückkehren würde. Aber dieses Wunschbild wurde ihr schon mit seinen nächsten Worten genommen.
»Serena, hör mir gut zu«, sagte Fabian. »Ich habe nicht viel Zeit.« Seine Stimme klang nervös, seine Worte überstürzt. »Ich habe das Kloster verlassen. Ich werde nicht dorthin zurückkehren. Meine Gebete sind erhört worden. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.«
»Ich verstehe nicht …«, begann Serena, aber Fabian fiel ihr ins Wort.
»Ich habe dir damals nicht die ganze Wahrheit gesagt«, erklärte er hastig. »Diese Leute wollten, dass ich für sie arbeite. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Sie sind in schlimme Sachen verwickelt, Serena. Sehr schlimme. Und ich habe gesehen, was sie machen. Sie hätten mich umgebracht. Mein einziger Ausweg war das Kloster. Sie ließen mich gewähren, denn dort stellte ich keine Gefahr für sie dar. Aber ich konnte und kann nicht mit dem Wissen um die Verbrechen leben, die sie begehen. Ich muss versuchen, sie aufzuhalten, koste es, was es wolle.«
»Fabian, wo bist du?« Serenas Stimme stockte. Wovon sprach ihr Bruder nur? »Sag mir, was los ist. Vielleicht kann ich dir helfen!«
»Niemand kann mir helfen«, erwiderte Fabian. »Und es ist besser, wenn du keine Einzelheiten kennst. Ich will dich nicht unnötig in Gefahr bringen. Jetzt, wo ich nicht mehr im Kloster bin, werden sie nach mir suchen. Vielleicht auch bei dir. Deshalb rufe ich an – um dich zu warnen. Diese Leute schrecken vor nichts zurück.«
»Wer, um Himmels willen, Fabian? Bitte lass mich doch …«
»Und ich wollte, dass du mich in guter Erinnerung behältst«, unterbrach Fabian sie. »Egal was du irgendwann einmal über mich liest oder was dir jemand einmal über mich weismachen will. Ich habe immer versucht, das Richtige zu tun, das weißt du. Nur dieses eine Mal habe ich es nicht getan. Aus Angst. Das werde ich jetzt geradebiegen.«
»Das hört sich so an, als ob …«
»Ich hab dich lieb, kleine Schwester. Vergiss mich nicht.«
»Fabian!«, rief Serena aufgebracht. »Fabian!«
Aber alles, was sie hörte, war ein monotones Dröhnen. Die Verbindung war abgebrochen.
»Ich hab dich auch lieb«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Dann legte sie das Telefon zurück auf den Tisch und ließ sich aufs Sofa fallen. Entsetzt presste sie die Hand vor den Mund. Worin war Fabian nur verwickelt?
Willst du eine freie Seele haben, so musst du entweder arm sein oder wie ein Armer leben, hatte Fabian Seneca zitiert, als er ihr von seinem Vorhaben, Mönch zu werden, erzählt hatte – Fabian hatte eine Schwäche für Zitate. Dabei hatten eine solche Entschlossenheit und Willensstärke in seinem Blick gelegen, dass Serena nicht einen Augenblick an seinen Motiven gezweifelt hatte. Doch überrascht hatte sie sein Entschluss schon. Natürlich waren sie beide katholisch erzogen worden. Aber Fabian hatte nie viel auf den Glauben gegeben. Im Gegenteil, er war ein sehr praktisch veranlagter Mensch, jemand, der alles hinterfragte, jemand mit sehr viel Köpfchen. Deshalb hatte er erfolgreich Physik studiert, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland. Seitdem war er immer viel unterwegs gewesen, aber er hatte seine zehn Jahre jüngere Schwester nie vergessen. Von überall, wo er sich aufhielt, hatte er ihr lange Briefe geschrieben, Postkarten geschickt und ihr Souvenirs mitgebracht. Und wann immer er zu Hause gewesen war, hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Das Alter, in dem man sich als junger Mensch fragt, warum man eigentlich auf dieser Welt ist, woher man kommt und wohin es einen führen wird, hatte er zu dem Zeitpunkt, als er sich entschloss, ins Kloster zu gehen, längst hinter sich gelassen. Es war damals vielmehr Serena gewesen, die sich mit all diesen Fragen beschäftigt hatte, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen. Trotzdem hatte es bei Fabian diesen plötzlichen Sinneswandel gegeben.
Als Serena jetzt an den Tag des Abschieds zurückdachte, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass zu jener Zeit noch etwas anderes in dem Blick ihres Bruders gelegen hatte: ein Hauch von unterdrückter Verzweiflung, von Ausweglosigkeit, den Serena bisher versucht hatte zu verdrängen. Das Telefonat eben hatte es ihr wieder in Erinnerung gerufen. Sollte sie die Motive ihres Bruders bisher missdeutet haben? Hatte er damals ihre Hilfe gebraucht und ihr war es nicht aufgefallen? Wie dem auch sei, jetzt hatte sie es bemerkt und sie würde handeln.
Serena holte ihre Handtasche und wühlte hastig darin herum. Wo hatte sie den Zettel nur hingesteckt? Da war er! Vorsichtig faltete sie das zerknitterte Papierstückchen auseinander. Darauf war in ihrer klaren, geschwungenen Handschrift eine Telefonnummer vermerkt. Sie hatte sich geschworen, niemals weich zu werden und die Nummer nur im äußersten Notfall zu gebrauchen. Aber jetzt musste es sein.
Serena griff nach dem Telefon und wählte mit zitternder Hand die Rufnummer. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich eine Männerstimme.
»Kloster Engelstein.«
»Guten Tag«, sagte Serena, so ruhig es ging. »Ich muss meinen Bruder in einer dringenden Familienangelegenheit sprechen. Würden Sie ihm bitte ausrichten, er möge sich umgehend bei mir melden?«
»Wer bitte ist Ihr Bruder?«, fragte die Männerstimme.
»Fabian Eckehard.«
»Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Stille. Serena rutschte nervös auf dem Sofa hin und her. Endlich meldete sich jemand. Ein Mann. Aber es war nicht Fabian.
»Man sagte mir, dass Sie Bruder Simeon in einer wichtigen Familienangelegenheit sprechen möchten.«
»Fabian Eckehard, das ist richtig«, erklärte Serena mit stockender Stimme.
»Es tut mir aufrichtig leid, verehrte Frau, aber Bruder Simeon ist nicht mehr bei uns.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Meine Tochter, ich stehe diesem Kloster vor, ich weiß, wovon ich spreche.« Dann fügte er mitfühlend hinzu: »Es tut mir wirklich sehr leid.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Serena leise und legte auf. Es war also tatsächlich wahr. Alles war wahr. Fabian hielt sich nicht mehr im Kloster auf. Er war irgendwo da draußen, und er brauchte Hilfe. Sie musste ihn finden!
Serena nahm erneut das Telefon. Diesmal rief sie ihre Eltern an. Mit wenigen Worten berichtete sie, was vorgefallen war.
»Fabian ist aus dem Kloster verschwunden, Vati. Und ich glaube, er ist in irgendwelchen Schwierigkeiten«, beendete sie ihren Bericht.
»Das Leben deines Bruders ist für deine Mutter und mich nicht mehr von Belang«, erwiderte ihr Vater kühl. »Als er vor drei Jahren ins Kloster ging, habe ich ihm ins Gesicht gesagt, dass er für uns gestorben ist, sollte er bei seiner Entscheidung bleiben. Nun, er ist dabei geblieben. Dann muss er auch für die Konsequenzen geradestehen.«
»Aber Vati«, versuchte Serena es noch einmal, »es hat sich wirklich angehört, als ob …«
»Bitte spar dir deine Worte«, wehrte ihr Vater ab. »Es bleibt dabei.« Dann hängte er einfach auf.
Serena seufzte. Ihr Vater konnte so starrköpfig sein! Er hatte es Fabian nie verziehen, dass er seine brillante Karriere, sein gesamtes Leben aufgegeben hatte, um Mönch zu werden.
Serena wusste, sie hatte diesen Starrsinn von ihrem Vater geerbt. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann blieb sie dabei. Und jetzt hatte sie sich vorgenommen, ihrem geliebten Bruder zu helfen, und das würde sie auch tun!
Aber um Fabian zu helfen, musste sie zunächst einmal herausfinden, wo er sich aufhielt.
Fabian hat aus Nordamerika angerufen, ging es ihr durch den Kopf. Und plötzlich kam ihr eine Idee. Sie hatte auf ihrem Kleiderschrank eine Schachtel mit Fabians persönlichsten Sachen verstaut, die er ihr übergeben hatte, bevor er ins Kloster gegangen war. Vielleicht konnte sie dort einen Anhaltspunkt für ihre Suche finden.
Sie lief ins Schlafzimmer, kletterte auf einen Stuhl und holte die Schachtel vom Schrank. Sie war nicht groß und vollkommen verstaubt. Serena hatte sie seit langer Zeit nicht in den Händen gehabt. Die Erinnerung an Fabian schmerzte sie zu sehr.
Mit der Schachtel auf dem Schoß setzte sie sich aufs Bett. Sie holte tief Luft. Sie würde nicht weinen. Sie würde sich zusammenreißen und die Angelegenheit ganz praktisch angehen.
Serena öffnete den Deckel und begann, einen Gegenstand nach dem anderen herauszunehmen. Obenauf lag Fabians Lieblingspullover. Serena drückte ihn an sich. Er roch noch immer nach Fabian. Schnell legte sie ihn zur Seite. Sie hatte keine Zeit für Sentimentalitäten. Als Nächstes kam ein zerfleddertes Taschenbuch zum Vorschein. Dantes Göttliche Komödie. Serena konnte Dante nichts abgewinnen, aber Fabian hatte es geliebt, ihr aus seinen Werken vorzulesen.
Nach und nach leerte sie den gesamten Schachtelinhalt auf dem Bett aus, ohne wirklich etwas zu finden, das ihr weiterhalf. Da fiel ihr Blick auf Fabians abgegriffenes Adressbuch. Sie schlug das Büchlein auf und blätterte es sorgfältig durch. Fabian hatte eine Weile in Toronto studiert und auch in einigen Städten in den USA gearbeitet. Sein Anruf eben war aus Nordamerika gekommen. Vielleicht hatte er bei einem Freund von der Uni oder einem ehemaligen Arbeitskollegen Zuflucht gesucht.
Serena sah die aufgelisteten Telefonnummern daraufhin durch. Aber weder für Kanada noch für die Staaten gab es viele Eintragungen. Sie war bereits bei »S« angelangt und gerade dabei, aufzugeben, als sie plötzlich hellhörig wurde: Shane Storm Hawk, Gleichen, Alberta, Canada.
Shane Storm Hawk. Shane Storm Hawk. Den Namen hatte Fabian oft erwähnt. Aber wer war er doch gleich? Fabian hatte so viele Bekannte. Dann fiel es Serena ein: Shane Storm Hawk war der Blackfoot-Indianer, mit dem Fabian in Toronto studiert und mit dem er vor einigen Jahren für eine Weile in Denver zusammengearbeitet hatte. Fabian hatte immer in den höchsten Tönen von ihm gesprochen. Vielleicht konnte er ihr weiterhelfen.
Serena lief zurück ins Wohnzimmer, das Adressbuch in der Hand. Entschlossen griff sie zum Telefon und wählte die Nummer. Es läutete viermal, aber niemand nahm ab. Dann meldete sich der Anrufbeantworter. Serena hinterließ eine kurze Nachricht.
Es gab noch eine andere Eintragung für Storm Hawk, eine Handynummer. Kurzerhand rief Serena auch dort an. Wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter, und wieder blieb Serena nichts weiter übrig, als um baldigen Rückruf zu bitten.
Enttäuscht setzte sie sich aufs Sofa. Doch gleich darauf fuhr sie entgeistert auf: »Natürlich! Was für ein Dummerchen ich doch bin«, schalt sie sich selbst. Sie hatte die Zeitverschiebung vergessen. In Amerika war es noch mitten in der Nacht. Gut, dass sie niemanden aufgeweckt hatte. Sie würde sich einfach noch ein paar Stunden gedulden müssen.
»Damn it!«, fluchte Newman und knallte sein Handy auf den kleinen Tisch im Laderaum des VW-Transporters. »Unsere Leute waren nicht schnell genug. Eckehard ist ihnen entwischt! Das ist jetzt das zweite Mal!«
»Sollen wir ihm nach Halifax folgen, Chef?«, wollte Berger wissen.
»Natürlich nicht, du Dummkopf. Bis wir dort sind, ist der Kerl schon wer weiß wohin verschwunden.«
»Was schlägst du vor, Chef?«, fragte Berger vorsichtig.
»Was schlägst du vor, Chef?«, äffte Newman nach. »Habt ihr kein Gehirn? Die Schwester ist unsere einzige Chance. Bleib in der Leitung. Vielleicht meldet sich Eckehard noch einmal per Telefon oder E-Mail bei ihr. Schumann, du behältst ihre Wohnung im Auge. Sag sofort Bescheid, wenn sich etwas tut.«
Dennis Newman ließ sich auf einen der Stühle fallen und starrte wütend vor sich hin. Wie hatte man ihm nur solche hirnlosen Mitarbeiter und einen derart idiotischen Job zuweisen können? Um einem entflohenen Mönch und seiner kleinen Schwester nachzustellen, war er wirklich völlig überqualifiziert.
Newman arbeitete für Global Industries, eine Sicherheitsfirma, die ihren Hauptsitz in Frankfurt hatte. Er besaß sowohl die deutsche als auch die amerikanische Staatsangehörigkeit, und er sprach das amerikanische Englisch akzentfrei. Obwohl er erst Anfang dreißig war, hatte er bereits mehrere Jahre als Verbindungsoffizier für BND und CIA gearbeitet. Überall auf der Welt hatte er geheime Aufträge durchgeführt, zuletzt in Irak und Afghanistan.
Vor einem Jahr hatte er genug davon gehabt, jeden Tag seinen Hals für andere Leute zu riskieren, und war bei Global Industries eingestiegen. Bisher waren seine Aufträge in Ordnung gewesen. Gutes Geld und geringes Risiko. Aber dies? Man brauchte keinen Mann mit Newmans Ausbildung, um einem Mönch hinterherzuspionieren. Umso mehr regte es Newman auf, dass ebendieser Mönch es nun schon zum zweiten Mal geschafft hatte, ihn an der Nase herumzuführen. Zuerst war Eckehard in Italien spurlos verschwunden, obwohl Newmans Männer ihn rund um die Uhr bewacht hatten. Newmans Vorgesetzter hatte ihn daher angewiesen, Eckehards Schwester zu observieren. Tagelang war nichts passiert. Heute endlich hatte Eckehard den Fehler begangen, sich telefonisch bei ihr zu melden. Berger und Schumann hatten den Anruf zurückverfolgt. Eckehard hielt sich im Hafen von Halifax auf. Newman hatte weitreichende Verbindungen, und Global Industries hatte überall auf der Welt Handlanger. Das öffentliche Telefon, von dem aus Eckehard angerufen hatte, war innerhalb von wenigen Minuten umstellt gewesen. Aber Eckehard war ihnen ein weiteres Mal durch die Finger geschlüpft.
»Chef, unser Verbindungsmann in Halifax hat gerade durchgegeben, dass Eckehard unter dem Namen Dimitri Csaba auf einem brasilianischen Frachter von Rotterdam aus nach Halifax gekommen ist«, riss Berger Newman aus seinen Gedanken.
»Und? Haben sie ihn aufgespürt?«
»Nein«, gab Berger zurück. »Unter diesem Namen ist niemand durch die Passkontrolle gegangen. Eckehard muss entweder auf ein anderes Schiff umgestiegen oder unter einem völlig anderen Namen nach Kanada eingereist sein.«
»Unser kleiner Mönch ist schlauer, als ich angenommen habe«, murmelte Newman aufgebracht und drehte seine schwarze Sonnenbrille unruhig in der Hand. »Aber wir werden sehen, wer am Ende der Schlauere von uns beiden ist.«