Christoph Poschenrieder
Der
Spiegelkasten
Roman
Die Erstausgabe
erschien 2011 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration:
August Macke,
›Spiegelbild im Schaufenster‹, 1913
Foto: Copyright © Archiv für Kunst
und Geschichte, Berlin
Für WarGirl18
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24239 3 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60313 2
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] So viele Tage, Taten, Siege, Demütigungen und Vernichtungen –
und doch kein Sinn.
Ernst Weiß, Das Unverlierbare
Words are very unnecessary…
Depeche Mode, Enjoy the Silence
[7] Eins
[9] 1
Man hat mir geraten, einfach anzufangen, egal womit, nur anfangen, dann würde es schon laufen, bei meiner Vorgeschichte schon gleich. Und das stimmt. Schreiben gefällt mir besser als die endlosen Sitzungen, in denen sie mich zuerst zum Reden bringen wollten. Später kamen sie dann auf diese Idee; einer der Herren im weißen Kittel hat einmal mit »Kreativem Schreiben« zu tun gehabt, propagiert das mit einigem Geschwätz, als gäbe es irgendetwas anderes als kreatives Schreiben. Die ganze Welt ist herbeigeschrieben; darum heißt es: Im Anfang war das Wort. Menschen beginnen eine Sache von Bedeutung nun einmal mit einem Wort, und wenn es »So!« oder »Hau ruck!« ist oder nur ein Seufzer: auch nichts anderes als ein zum Geräusch sublimiertes Wort.
Ich beginne also mit der Pizza, die, wenn ich es recht bedenke, auch wirklich der Anfang von allem war; die Pizza und nicht die Photos, die mein längst verstorbener Großonkel Ismar aus dem Krieg zurückbrachte – diese andere Geschichte, wegen der ich hier gelandet bin.
Ich hatte immer per Telefon bestellt, aber nie die Standards, Kwatrostatschoni mit holzigen Artischockenblättern und Pfefferschoten, die dünnes Essigwasser verspritzten. Oder Pizza fünf, Prosciutto-mit-dem-Sternchen* [* Formvorderschinken]: [10] Fleischreste, gepresst, versalzen, verwässert und verklebt. Ich hatte immer Extrawünsche: echte Moz-za-rel-la (anstelle des Gummikunstkäses), dazu Sardellen, aber ohne Zwiebel … sie verstanden mich nicht. Nicht einmal den Namen des Lokals konnten sie aussprechen: L’Alba Chiara klang wie Lablaklara. Immerhin bekamen sie einen knusprigen Boden zustande, der bei Lieferung noch nicht zu einem feuchten Lappen verschlammt war; deshalb bestellte ich bei ihnen. Und weil sie eines Tages – kurz bevor ich den Laden sattbekam – einen großartigen Pizzabaukasten auf ihrer Internetseite einführten: Man wählte zuerst den großen oder kleinen Durchmesser, dann die Tomatengrundierung, die Käsesorte. Ich schob die Zutaten von kleinen Boxen an den Rändern der Arbeitsfläche, wohin es mir gefiel, in der richtigen Schichtung, denn ich hasste es, den Käse über die Mailänder Salami zu schmieren. Bei L’Alba Chiara sah das irgendeiner auf dem Monitor und baute es flink nach. Der Preis wurde automatisch aufaddiert und von meinem Kreditkartenkonto subtrahiert. Sobald ich sah, dass es gut war, klickte ich auf Ab in den Ofen!. Meine eigene, persönliche Pizza Genesis.
Um diese Zeit herum fing das an. Wenn ich mich recht erinnere. Aber ich habe meine Erinnerung längst gegen das Vorstellungsvermögen eingetauscht, das viel mächtiger und unterhaltsamer, vor allem jederzeit manipulierbar ist.
[11] 2
Am achtzehnten August 1914 fühlte Ismar Manneberg, nachdem er das dunkle, haarige Ding in seiner Handfläche erkannt hatte, zum ersten Mal, wie sich die Tatze des schwarzen Panthers an seinen Hals legte. Vorsichtig und geradezu zärtlich schwebte sie warm und rauh über der Schlagader, aber sie holte nicht aus und hinterließ von den Krallen nur ein leises Kitzeln. Dabei war die Angst, die er spürte, im Vergleich zu allem, was folgen sollte, lächerlich und gering. Dennoch nahm er sich an diesem Nachmittag vor, eine Methode zu finden, um den schwarzen Panther entweder zu zähmen oder zu verjagen. Nur er konnte diesen Panther sehen; in den verlassenen Dörfern und waldigen Hügeln an der westlichen Landesgrenze, die das Regiment seit Tagen durchstreifte, streunten bestenfalls noch ein paar Hauskatzen herum und zurückgelassene Hunde.
Die Angeber und Draufgänger unter seinen Leuten, die sich seit dem Ausrücken auf einem lustigen Schulausflug glaubten, hatten die endlich erlaubten Ungezogenheiten eingefordert, hatten losstürmen wollen, seit Tagen schon, nur immer mit Schwung hinein in Wald und Buschwerk, den Feind wie die Maikäfer aus den Bäumen schütteln und unter schweren Stiefeln und Jubelgeschrei zertreten. Warum schickte sie ihr Leutnant Manneberg nicht auf [12] Streifpatrouillen, warum dieses ängstliche Herumtappen, warum kämpften alle anderen, nur sie nicht? Von Norden und von Süden hörte man doch ständig Gefechtslärm, dort war der Krieg, dort wollten sie hin. Sie flehten den ersten, ihnen bisher verweigerten Schuss geradezu herbei.
Aber Manneberg, bedacht auf Befehl und Gehorsam, hatte immer nur gesagt: »Der fällt früh genug.«
Der erste Schuss: bloß ein Stückchen Metall, das durch die heiße Luft eines Augustnachmittages sirrte, um jemandem das Liebste zu nehmen, den Versorger, den Freund. Es war eine balle D, solides, stumpfrot glänzendes Messing, acht Millimeter im Durchmesser, ein elegantes Ding, das dem Rumpf einer flinken Segeljacht glich. Es kam als ein Hartes, das ein Weiches suchte, um es zu durchdringen, ein Sprödes, um es zu zerbrechen, ein Atmendes, um ihm die Luft zu nehmen.
Als der Schuss fiel, in Mittersheim im deutsch-lothringischen Grenzgebiet, traf er den Infanteristen Kinateder; dort, wo Manneberg ihn hinbefohlen hatte, unter einen Torbogen, um den tastenden Vormarsch durch das menschenleere Städtchen zu sichern. Der Helm des Infanteristen fiel geräuschlos aufs Pflaster. Sekunden später glaubte einer das Aufblitzen eines Zielfernrohres gesehen zu haben, schrie Franktireur! Dann schoss die ganze Mannschaft, in Fenster, durch Türen, über den Kanal, in den Wald, in blinde Gassen, bis sie nichts mehr hatten und bis Mannebergs Befehle, das Feuer verdammt noch mal einzustellen, endlich durchdrangen.
Die Stille kam zurück, die Schatten wurden blau und lang. Die Pflastersteine strahlten die Wärme ab, die sie den [13] Tag über aufgesogen hatten. Jetzt schwiegen die Angeber zwar, aber sie reinigten ihre Waffen und füllten die Munitionstaschen auf, für das nächste Abenteuer. Andere umklammerten noch immer mit kalten Händen die Gewehre. Manneberg ging herum, klopfte auf Schultern, teilte Zigaretten aus, zeigte beste Laune, sprach Mut denen zu, die es nötig zu haben schienen; verwarnte den, der zuerst gefeuert hatte. Manneberg trug Verantwortung für seine paar Leute: nur ein Zug, und nur als Leutnant der Reserve. Doch was hieß schon »nur« – für einen wie ihn war schon dieser niedrigste Offiziersrang Grund zum Stolz gewesen. Und er war in den Übungen ein guter Reserveoffizier gewesen. Da war wohl anzunehmen, dass er ein guter Soldat im Krieg sein würde.
Ein Photograph in Zivil kam atemlos herangelaufen. »Die Division schickt mich die ersten Gefechte zu dokumentieren«, sagte er.
»Das war kein Gefecht«, sagte Manneberg, »nur ein Heckenschütze.«
Der Infanterist Kinateder lehnte sitzend an einer Hauswand, döste mit hängendem Kopf. »Streifschuss«, hatte der Sanitäter nach flüchtigster Untersuchung etwas enttäuscht gesagt, »der wollte dir nur einen neuen Scheitel ziehen.« Der Kinateder hatte es selbst kaum bemerkt, hatte geglaubt, es hätte ihm nur den Helm vom Kopf gefegt, und hatte den herumtastenden Sanitäter kaum geduldet. Er war ein Kriegsfreiwilliger, braungebrannt, vor drei Wochen hatte er noch Heu eingefahren. Er wäre noch nicht eingezogen worden, aber als fünfter oder sechster Sohn eines Bauern gab es nichts zu erben. Knecht unter seinem ältesten Bruder konnte er [14] werden – oder Held sein, Weihnachten wieder daheim sein, mit kühnen Geschichten und Orden an der Uniform.
»Sicher doch, ihr habt einen Verwundeten«, sagte der Photograph und zeigte auf den Kinateder, »das genügt mir.«
Er übernahm jetzt das Kommando: Manneberg solle sich dort neben dem Brunnen hinknien, einen Fuß aufgesetzt, den Kopf des Verwundeten in den Schoß betten und eine Feldflasche an seine Lippen halten, so, als gebe er ihm zu trinken. Mit Hilfe zweier Sanitäter brachte er den Kinateder in die geforderte Pose. Der ließ es passieren, wie eine große, biegsame Puppe. Mit der linken Hand stützte Manneberg den Hinterkopf des Jungen. Er fühlte blutverklebtes Haar. Der Photograph wies ihn mit großen Gesten ein und baute gleichzeitig seinen Apparat auf, dauernd plappernd.
»Fabelhaft! Knöpfen Sie die Jacke etwas auf. Großartige Truppe seid ihr. Das Hosenbein in den Stiefelschaft. Kameradschaft über die Ränge hinweg! Noch eine Locke in die Stirn. Und die Feldflasche höher!«
Er verschwand unter dem Tuch und schob das Stativ herum. Es sah komisch aus, ein Tier mit fünf Beinen. Die Soldaten lachten: »Er versteckt sich. Ganz Zivilist.«
Zwischen Mannebergs Fingern rann eine Flüssigkeit. Er winkte nach einem Sanitäter. Der Photograph warf verärgert sein Tuch auf.
»Bitte Herrn Offizier stillezuhalten, auch den Kopf des jungen Soldaten.«
Kaum hatte Kinateder die Augen geschlossen, wusste Manneberg nicht mehr, welche Farbe sie hatten. Seine Hand zitterte ein wenig, das Wasser tropfte von den Lippen über [15] das Kinn des Jungen in den Kragen, der klare und der rote Fluss vermischten sich ungesehen unter dem Stoff. Er selbst lag hier mit geschlossenen Augen, er sah sich ganz klar, doch da öffnete der Junge die Augen wieder, wenn auch nur halb: braun. – Manneberg hatte grüne Augen.
Der Photograph machte sein Bild, klappte das Stativ zusammen und eilte davon, zur nächsten Heldengeschichte. Die Sanitäter holten endlich den Jungen, der immer träger und schwerer auf Mannebergs Schoß gelastet hatte.
In Mannebergs Handteller blieb etwas zurück. Er zuckte zusammen, als er hinsah, er schüttelte die Hand, als hätte eine haarige Spinne darauf gesessen – und im selben Moment wünschte er, es wäre nur eine Spinne gewesen und nicht das Büschel Haare, das aus einem Fragment Schädeldecke wuchs, so groß wie eine Zweikronenmünze. In der hastigen Bewegung flog das Stückchen Mensch weg.
Er machte zwei, drei Schritte, zuerst in dem absurden Wunsch, das Fragment wieder zu ergreifen und es den Sanitätern nachzutragen, dann um seine Erregung in Bewegung zu erschöpfen. Er tappte vor, zurück, im Kreis, bis der erste Schwung verbraucht, Atem und Puls auf halbwegs normale Frequenzen gefallen waren und er das Gefühl hatte, die stützende Schale seiner Leutnantsuniform schon wieder recht zufriedenstellend und würdig auszufüllen.
Umso überraschender kam der Angriff des Panthers. Er drängte ihn an die nächste Hauswand, zwang ihn in die Hocke und legte ihm die heißen, rauhen Tatzen an den Hals. Er war jetzt auf alles gefasst, das Biest mochte zuschlagen, ihn vernichten. Es brauchte nicht einmal die Krallen auszufahren. Es genügte, dass es da war, ihn packte und auf eine [16] Weise bedrohte, die er in seinem Leben noch nicht gespürt hatte – ein paar Sekunden nur, dann ließ das Biest leise fauchend von ihm ab; ihm blieben ein glühender Kopf und kalte, kribbelnde Finger.
Ismar Manneberg war keiner, der in Bildern dachte oder sprach, eher einer, der versuchte, den Dingen alles Zwei- und Mehrdeutige zu nehmen, der ein Grau lieber als entweder Schwarz oder Weiß sah. Doch der Panther hielt ihn die ganze Weile über im Blick, mit Augen hellgelb wie Glühbirnen, so lange, wie Manneberg auf das Werbeplakat starrte, das gegenüber, neben einer Drogerie klebte und versprach:
Purfinol-Fleckentinctur macht sogar Panther weiß.
Das Lachen, zu dem er Anlass und Ansatz durchaus spürte, sprang nicht an; mehr als ein würgendes Räuspern, ein Freimachen der zugepressten Kehle brachte er nicht zustande. Er stand langsam auf, klopfte den Staub aus der Uniform und ging seinen Burschen suchen, den er in einem Hinterhof mit dem Annähen eines Mantelknopfs beschäftigt fand.
»Hier, halten Sie mal die Flasche. Langsam ausgießen.«
Das Blut des Jungen war aus den Rissen und Furchen des Handtellers und der Finger kaum herauszuwaschen, aber nachdem der Bursche fast die ganze Wasserflasche ausgeleert hatte, fühlte sich Manneberg ausreichend gereinigt. Er trocknete die Hände an der Hose und nahm den Zettel entgegen, den ein Melder gerade brachte: ein Befehl zum Vorrücken auf den Feind.
Manneberg tastete gewohnheitsmäßig nach der silbernen Kette, um die Taschenuhr aus der Weste zu ziehen, die Kette über den Mittelfinger gleiten, den Uhrdeckel aufspringen zu [17] lassen – aber er trug die Armbanduhr mit dem dürren roten Sekundenzeiger, diese neumodische, die er nun mit einer Drehung des Unterarms aus dem Ärmel schob. Jeden Morgen, wenn es die Lage erlaubte, brachte ein Läufer die Armbanduhr zum Stab, wo sie mit den Uhren der anderen Offiziere synchronisiert wurde. Diese Prozedur zeigte Manneberg, dass er Teil der großen Maschine war. Das war, in gewisser Weise, erregend und befriedigend; dabei zu sein, in Uniform und Rang.
In Münchens Prachtstraße haben sie Aufstellung genommen, das ganze Bataillon, vorn über den Piken der Helme sieht er das Siegestor. Blumensträußchen stecken in den Mündungen der Gewehre. Dumpf dröhnt Musik, kaum hörbar, denn die Menschen schreien und jubeln in einem fort. Ihr Geschrei ist die Hand im Rücken, die anschiebt, sie will Manneberg hinausdrücken aus der Stadt, sie schiebt ihn durch den Torbogen, die Kolonne wird hindurchgepresst, bis vor die Feldherrenhalle, wo das Ganze rechts schwenkt auf den Obelisken zu, der als turmhoher Peilstab aufragt, das richtet den Zug schnurgerade. Die Sonne brennt heute wie an all den Tagen seit Mobilmachung, etwas stärker noch, so dass die ledernen Gürtel und Riemen ihr Fett ausschwitzen und wie glühende Fassreifen um die Uniform liegen.
Das Geschrei der Menge schwillt an und ab, es besteht aus Hurra und Vivat im Wesentlichen. Man lässt den König und den Kaiser hochleben. Irgendwann fällt Manneberg die hohe Stimmlage in diesem [18] Klanggemisch auf: ein Kreischen eigentlich, das von Kindern und Frauen kommen muss und in dem viel Zorn klirrt, aber nicht, weil man ihnen die Väter, Brüder, Männer, Söhne nimmt, es ist die Wut auf den Feind.
Die Bahnhofshalle ist nicht kühl wie erhofft, die Luft steht still, Lokomotivenrauch drückt herab. Pferde trappeln in den Waggons; man riecht sie auch. Der Oberst spricht vom Podium, mit geballter Faust und Handkante, mit durchgedrücktem Rücken und vorgestrecktem Kinn. Manneberg hört ihn nicht und versteht ihn doch. Kaplane segnen die Mannschaften im Sprühnebel der Weihwasserpinsel, ein Regenbogen schillert ab und an über den geneigten Köpfen. Die Offiziere, in getrennter Abfertigung, sehen einer persönlichen Segnung entgegen, bevor sie sich, nach Rang sortiert, auf die Wagenklassen verteilen.
Manneberg wird unwohl, denn neben dem Geistlichen im violetten Ornat steht, einen halben Schritt zurück, ein schlicht gekleideter Herr, der selten eine Hand zu schütteln findet. Der Regimentsschreiber späht entlang der Reihe und spricht dem Herrn ins Ohr. Der Rabbiner tritt vor, zieht Manneberg an seine Brust und spricht den Kiddusch. In diesem Moment glaubt Manneberg, die ganze Kompanie, das ganze Bataillon sähe zu. Er fühlt sich herausgenommen aus dem Ganzen, gesondert von den anderen – als wäre das nicht das eigentliche und ersehnte Ziel dieser ganzen Angelegenheit gewesen: eins zu sein und aufzugehen in allem; mit allem, was man Patriotismus nennt oder Vaterlandsliebe oder Pflicht oder die Überzeugung, dass der Feind [19] zu schlagen ist, wenn er von den Vorgesetzten ausgemacht ist; nach den Regeln der in vielen Übungen verfeinerten Kunst. Da haben sie debattiert, sich heißgeredet und gemutmaßt, manche sogar gehofft, dass es bald wieder gegen die Franzosen ginge, wo die Zeit doch reif, ach, überreif sei, die Umklammerung zu sprengen, den anderen zuvorzukommen.
Sein Offizierspatent hat Ismar Manneberg in Friedenszeiten als Fahrkarte in die bessere Gesellschaft benutzt. Jetzt, im Krieg, wird der Zuschlag fällig.
Er ging voran, in aufrechter Haltung, die Pistole in der Hand. Sein Zug, gerade noch ein dichter Haufen am Brückenkopf, dehnte sich wie ein Gummiband, als sie im Gänsemarsch über den Kanalsteg schlichen. Auf ein Wort von ihm wäre das Gummiband augenblicklich zusammengeschnurrt, um sie alle zurückzuholen, zwischen die Häuser, auf das wärmende Pflaster, in die Sicherheit.
Der Damm entlang des Kanals bot Deckung nur von einer Seite, von der anderen mussten sie aussehen wie Pappkameraden vor dem Kugelfang. Links erstreckten sich Wiesen, dazwischen Holzzäune, Bewässerungsgräben, verstreute Apfelbäume. Manneberg erwartete jeden Moment den zweiten Schuss; doch der kam ganz anders als erwartet.
Der Gegner schüttete einen Kübel heißes Metall über sie aus; so plötzlich, so massiv, dass es keine Richtung zu haben schien. Der ganze Zug fiel flach ins Gras, gleichzeitig, als hätte ihnen eine Sense die Beine weggehauen. Manneberg zwang sich, den Kopf zu heben, weniger um zu sehen, als um zu hören. WoWoherWievieleWohin? Er musste handeln – [20] selbst wenn das im Moment nicht viel mehr bedeuten konnte, als Befehle hinauszubrüllen, das Offensichtliche anzuordnen. Die Leute krochen auf jeden Gegenstand zu, der Deckung versprach: einen Baumstamm, einen Brunnentrog, einen Leiterwagen, eine Kuhle im Gelände. Blätter fielen, Äpfel fielen. Kugeln schlugen eine Armlänge von Mannebergs Gesicht ein, verspritzten Erde, Steinchen und Splitter. Etwas weiter vorne war irgendein Bauwerk, er sah ein Geländer und einen Treppenabgang.
»In Schützenlinie vorrücken, Deckung suchen, Feuer erwidern, weitersagen!«, rief er dem Soldaten zu, der ein paar Meter rechts von ihm lag und wie ein Kind die Arme über den Kopf verschränkt gegen seine Ohren presste. Dann rannte er los, so schnell, wie er lange nicht gerannt war, nicht seit diesen Spielen –
Lauf nur, Manneberg, lauf!, schreit einer, ich krieg dich ja doch!
Er ist barfuß. Seine nackten Beine sind staubbedeckt. Seine Fußsohlen brennen. Das schwarze Basaltpflaster ist heiß, heiß. Er muss hinüber, in den Schatten, in den kühlen Sand am Flussufer. Die anderen sitzen in den Hauseingängen, der Kleine von Hausnummer sieben in der Kastanie, und sie haben freies Schussfeld. Hakenschlagen oder schnurstracks? Er rennt direkt. Das glühende Pflaster beschleunigt wie ein Treibsatz: Rakete Manneberg zündet. Er fliegt. Niemand kann ihn treffen, nicht ihn.
Da, ein feuchter Klatsch hinter dem linken Ohr. Er fühlt, sieht auf die Finger: schwarze Körner in einem [21] schleimigen Gelee – Stachelbeere. Das nimmt Tempo. Jetzt doch ein Haken. Und verdammt – Schrot auf die Hemdbrust: drei rote Flecken: Johannisbeere. An der Schulter tut es weh, Mirabelle, oder unreife Pflaume. Aber sie hatten doch abgemacht, aus dem Steinobst die Kerne zu entfernen! Das muss der tückische Max gewesen sein, dem brenne ich eine Ladung Kieselgrütze auf, denkt er, wenn ich drüben bin. Er nimmt die Uferbefestigung in einem Satz, fliegt in den weichen Sand, rollt herum, robbt zurück an die Mauer, nimmt die zwei, drei verbliebenen Johannisbeeren aus der hohlen linken Hand, gibt ein paar Steinchen dazu und spannt das Gummi der Zwille auf maximale Länge.
Patsch. Rote Stachelbeere im Nacken.
Fangschuss. Du bist tot in Runde zwei, Ismar, sagt der tückische Max ohne Triumph in der Stimme und fällt neben ihm in den Sand. Er erledigt seine Gegner meistens von hinten, weil er das Anschleichen beherrscht wie kein anderer. Das ist ärgerlich, aber nicht gegen die Regeln. Sie spielen Krieg, nicht Ritterturnier.
Bah, sagt Ismar und wischt die schleimige Frucht weg, diesmal wollte ich doch Leutnant werden.
Du kannst nicht Offizier werden, sagt Max, zögert und sagt dann doch: Du kannst überhaupt nie Offizier werden.
Doch, das ist unser Spiel, sagt Ismar, das kannst du nicht allein bestimmen.
Die anderen Buben kommen. Sie lassen sich mit dem Hintern voraus schwer in den Sand plumpsen und schauen, wer die tiefste Kuhle gemacht hat. Das ist das [22] einzige Spiel, bei dem der dicke Dietrich gewinnt, im Abdruck seines Hinterns kann sich der Kleinste unter ihnen zum Schlafen zusammenrollen. Sein Hemd, sein Hals, Arme und Beine sind bunt von Flecken. Den dicken Dietrich kann jeder treffen. Deshalb lassen sie ihn ja mitspielen.
Ich schwöre, sagt Max, das sagt auch mein Onkel, der bei den Dragonern. Euch nehmen sie nicht unter die Offiziere.
Wen, uns?, fragt Ismar.
Na, solche wie euch, Juden.
Ismar stopft die Johannisbeeren, die er noch in der Faust hält, in den Mund, mit Sand und Kieseln. Er schluckt alles, ohne zu kauen, und rennt.
Du kriegst mich nicht, mich kriegst du nicht –
– hörte er sich rufen, als er die Treppe hinunterstürzte. Ein-, zweimal atmete er durch, dann kroch er die Stufen wieder hinauf. Er musste Übersicht erlangen und behalten, er war der Leutnant hier, dem tückischen Max zum Trotz, trotz allem.
Keine zehn Meter von ihm lag ein Infanterist auf dem Bauch und hielt sich an einem Grasbüschel fest, bis er es herausgerissen hatte und nach einem anderen tastete – wohl der Dichtl, der brave Kerl, der schleppen konnte für zwei, weswegen man ihm gerne auflud wie einem Packesel. Der Dichtl Jakob aus Gatzerreuth bei Ilzrettenbach nahe Schnürring in Niederbayern lag da, in einer Obstwiese bei Mittersheim in Lothringen, zwischen wurmigen Äpfeln und faulen Pflaumen, und rings um ihn wuchs ein Zäunchen schwarzbrauner Fontänen aus der Erde.
[23] Für den dicken Dietrich ist der Krieg am Abend nicht zu Ende. In der ganzen Siedlung hört man seine Mutter auf gut Schlesisch kreischen – Nur her, mein Junge, ich hab die Nudelkulle schon parat! Alle Fenster stehen offen, sonst ist es still, bis auf die Schreie der Schwalben. Später kommt der Vater aus dem Wirtshaus: Dann hallt das Schnalzen, das ein Ledergürtel auf nackter Haut verursacht, durch die Gassen.
Aber schon beim nächsten Kriegsspiel ist der dicke Dietrich zur Stelle, schnaufend, schwitzend, und er bettelt, mitmachen zu dürfen. Dann schießen sie wieder auf ihn, bis er als buntgescheckter Harlekin nach Hause geht, seiner zweifachen Tracht Prügel entgegen, die er schweigend übersteht, denn er weiß, dass die anderen, die schon in den Betten liegen, alles hören.
»Laufen Sie doch, zu dem Baum dort«, schrie Manneberg, »lauf, es sind nur ein paar Schritte, da hast du Deckung. Renn, renn!«
Der Dichtl guckte mit halb geschlossenen Augen und ohne irgendeinen lesbaren Gesichtsausdruck, nicht einmal besonders ängstlich, in Mannebergs Richtung. Dann lief er los, stampfend und schwerfällig, auf den Solitär zwischen den Obstbäumen zu, der tief ausladende Äste trug; der da wie ein alter, arthritischer Mann wartete, der die Arme hängen ließ, die Handflächen nach oben gedreht, die langen, knotigen Finger aufgefächert und gekrümmt; ein unheimlich lockendes Willkommen bot er dar.
Sei’s drum, dachte Manneberg und verwarf die Warnung, die sich aus diesem Bild ergab – es war der einladend [24] aufgebrochene Stamm, der sich öffnete wie der Mantel einer Madonna della carità und Schutz vor fliegenden Kugeln versprach. Aber der Dichtl stolperte, sein taumelnder Leib fand keine Aufnahme in der Baumhöhle, sondern in den gespreizten Fingern, die ihn unter den Achseln ergriffen und umklammerten, das Gewehr fiel, es ging nicht vor, nicht zurück, er hing in der Luft, nur die Stiefelspitzen tappten noch leichthin auf den Erdboden, der ganze schwere Soldat federte im Griff des Baumes, die Arme nutzlos ausgebreitet, zwei Flügel, die nicht trugen.
Manneberg teilte sich, die eine Hälfte brüllte dem Meldegänger zu, er solle verdammt noch mal die Artillerie, die verdammte Artillerie auf den Waldrand leiten, die andere Hälfte seines erkennenden Seins heftete sich auf einen Anblick, der schwarz auf weiß, gut auf böse und falsch auf richtig wendete. Eine Sekunde lang kniff er die Augen zu. Aber das Bild wollte hinein, es bohrte sich ein Loch in den Kasten seiner Seele, kehrte sich um, den Gesetzen der Optik folgend, und erneuerte sich kopfüber auf der gegenüberliegenden Seite des Kastens, auf einer Mattscheibe, wo es der Verstand abholte und eilfertig korrigierend wieder auf die Füße stellte und Mannebergs staunender Anschauung übergab:
Der Dichtl hing zuckend im Gabelgriff des bösen Baumes und strampelte mit den Beinen. Eines der Maschinengewehre, die vom Waldrand her arbeiteten, hatte ihn gefunden und wollte den Mann gar nicht mehr hergeben, wo es doch eigentlich in großzügigem Schwenken über das Schussfeld grasen sollte, aber dort fand es keine Nahrung, da, wo alle tief in ihre Deckung geschmiegt lagen – bis auf den einen, den Infanteristen Dichtl, der einmal der Gehilfe eines [25] Schmieds gewesen war, zu dessen Zufriedenheit er tagein, tagaus den Blasebalg getreten hatte, wozu das Gewicht seines Leibes und die Trägheit seiner Seele durchaus dienlich gewesen waren. Diese Letztere war dem Leib vermutlich schon entflohen, als die Astgabel hochschnellte, die den Oberkörper fasste, jetzt um das Gewicht eines halben Rumpfes, der umgeschnallten Patronentaschen und zweier Beine in genagelten Lederstiefeln erleichtert.
Endlich heulten die Granaten heran. Ihre Detonationen löschten das Gewehrfeuer der Franzosen. Sie rissen Bäume heraus und wühlten die Wiese auf. Die Feldartillerie schoss Schnellfeuer, alle zehn Sekunden, aus vierundzwanzig Rohren; und einige davon zu kurz: auf die eigenen Leute, die ungläubig und entsetzt nach oben schauten. Der Baum, der den Rest des Infanteristen umklammerte, hob sich aus der Erde, flog auf und streckte seine abgerissenen Wurzeln in den Himmel, ruhte kopfüber zitternd auf den Fingern seiner Äste, federnd wie ein Turner, der wieder auf die Füße kommen will. Dann stürzte er um.
Diesseits des langsam auf die untergehende Sonne zu kriechenden, golden angestrahlten Walls aus Hitze, Dreck, Pulverdampf und Eisen lief Manneberg über die Wiese und sammelte seine Leute, um den fliehenden Franzosen nachzusetzen, sobald der Artilleriebeschuss endete. Vier Mann blieben stumm, vier waren hörbar, unüberhörbar. Die Sanitäter öffneten erstmals in vollem Ernst ihre Taschen, hantierten hastig und ratlos mit Mullbinden, Ampullen, Kompressen – lächerliches Zeug, so unangemessen für die monströsen Wunden und Verrenkungen, den herausgebrüllten Schmerz [26] sowieso: Lieber hätte sich Manneberg die ganze Verbandswatte in die Ohren gestopft und die Verbände um die Augen geschlungen; auch, um sich den Anblick der Franzosen zu ersparen, die hier und dort im zerrupften Gestrüpp und Holz lagen und grâce, grâce sagten oder leise um Wasser baten. Er gab jetzt scharfe, klare Befehle aus, um die Prahler und die Grobiane davon abzuhalten, im raschen Vorgehen mit dem Bajonett zu vollenden, was die Granaten begonnen hatten, oder sich die Andenken vom ersten, richtigen Gefecht zu holen, auf die sie ein Anrecht zu haben glaubten.
Ein verwundeter Offizier der Franzosen allerdings, der unseren Leuten in den Rücken schoss, wurde niedergemacht – so schrieb es Manneberg später, während ein Gewitter niederging, in den Gefechtsbericht. Rechtsanwalt Manneberg hatte noch am ersten Mobilmachungstag die Statuten der Haager Landkriegsordnung aufgefrischt. Als er im Klassenzimmer einer requirierten Schule saß, der Regen aufs Dach drosch und draußen, zwischen warmen Pfützen, Dampf vom Pflaster aufstieg, war er sicher: Der Befehl, auf den Offizier zu schießen, war durch diese Ordnung gedeckt, die ihn, Manneberg, den korrekt uniformierten Leutnant der königlich bayerischen Armee, der seine Waffe offen trug, zu solch einem Befehl berechtigte. Dennoch strich er das Wort niedergemacht, das ihm unnötig roh erschien, und probierte ausgeschaltet und niedergestreckt und unschädlich gemacht und neutralisiert und eliminiert und terminiert. Wie weit die drei Letzteren die Sache doch von einem abrücken, dachte er und schrieb: erschossen, und das war das richtige Wort an der richtigen Stelle.
[27] In der Nacht besuchte ihn der schwarze Panther ein zweites Mal. Es musste wohl so gewesen sein, denn er entdeckte morgens eine fadendünne Blessur vom Adamsapfel bis unters Ohr, die eigentlich nicht von der Klinge stammen konnte (soweit er sich an die wie immer streng methodisch verrichtete Rasur erinnerte). Er betrachtete sich lange im Spiegel, suchte weitere, fand keine Spuren.
Wie war es möglich, in einem Krieg zu überleben, unversehrt zu bleiben? Bei der Platzpatronenknallerei der Reserveübungen redete davon keiner. Gab es einen Plan, konnte man es wollen oder wünschen oder herbeibeten? Man brauchte Glück, ganz sicher und ganz viel davon. Auch der Infanterist Kinateder hatte Glück gehabt (zehn Zentimeter, und die Kugel hätte seinen Schädel gesprengt) – oder doch Pech, weil Manneberg ihn auf diesen Posten befohlen hatte? Ganz bestimmt hatte Glück mit Raum und Zeit zu tun, und über diese Koordinaten bestimmten nun andere; er für den Kinateder und der Kompaniechef für Manneberg und so weiter, bis zum Kaiser, jenem, der keine Parteien mehr, nur noch Deutsche kannte und sie alle hierher befohlen hatte.
Aber es musste kleinste Winkel und kürzeste Augenblicke geben, wo das Glück war: Diese Orte zur richtigen Zeit mit allen Sinnen zu erspüren und zu nutzen, das nahm er sich vor, mehr nicht. Und auf einen sauberen, schönen Schuss hoffen. Nur nicht wie der glücklose Dichtl sterben – mit Wucht kamen die Bilder zurück, trieben ihn weg vom Spiegel, der ihm das schmerzverzerrte Gesicht des Leutnants der Reserve Manneberg zeigte; er wollte den stolzen, allen Situationen gewachsenen Offizier sehen. Um sich [28]