Ulrike Ladnar
Wiener Vorfrühling
Historischer Kriminalroman
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Porträt der Johanna Staude«
von Gustav Klimt 1917-1918;
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gustav_Klimt_054.jpg
ISBN 978-3-8392-4210-0
Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.
(Hugo von Hofmannsthal: Vorfrühling)
Das kleine Mädchen schob mit mütterlichem Stolz einen Puppenwagen durch den Raum. Sophia Sachtl kannte den schlichten hölzernen Puppenwagen ganz genau, und sie wusste, dass es fast unmöglich war, ihn geradeaus zu schieben, da das linke Vorderrädchen einst gebrochen war, als sie ihn mit ähnlichem Eifer wie das kleine Mädchen heute von der Küche aus über die drei breiten Steinstufen in den Garten hinausschaffen wollte, um dort ein schönes Picknick zu veranstalten. Damals war ihre Puppe herausgefallen, und die Köchin, die den Unfall beobachtet hatte, hatte ihr mit einem bunten Küchentuch, das sie unter das kalte Wasser gehalten hatte, einen Umschlag gemacht, was die heftig schluchzende Sophia zunächst getröstet hatte. Doch der Anblick des zerbrochenen Rades ihres Puppenwagens und der Kissen, die ins Gras gefallen und dabei schmutzig geworden waren, hatte sie erneut zum Weinen gebracht. Nicht einmal ihr Vater, der im Salettl1 über seinen Akten saß und auf ihr Weinen hin sofort zu ihr geeilt war, konnte sie trösten. Am nächsten Tag kam er mit einem neuen Wagen von der Arbeit nach Hause, einem riesigen, eleganten Wagen mit metallenen Rädern und seidenen Kissen in verschiedenen Pastellfarben. Doch auch der vermochte Sophia nicht von ihrem Kummer zu befreien, sodass ihr Vater sich daran machte, das Rädchen wieder funktionsfähig zu machen, indem er quer darüber ein schmales Holzstäbchen nagelte. Das gelang ihm leider nur unvollkommen, aber Sophia dachte bis heute voller Rührung an diese Episode zurück. Sie hatte ihren Vater nur selten etwas mit den Händen tun sehen, deswegen hielt sie ihn immer für etwas ungeschickter als die anderen Männer in ihrem Hause, den Diener oder den Kutscher zum Beispiel. Das wusste sie inzwischen besser.
Dass auch das kleine Mädchen dem bescheidenen Korbwagen mit den Holzrädchen und den bunten Kissen den Vorrang vor der herrschaftlichen Equipage gab, die Sophia ebenfalls für das Spielzimmer der von ihr mitbetreuten wohltätigen Einrichtung Frauenrat beigesteuert hatte, brachte sie in heiterer Stimmung zurück in die Gegenwart, in der ein kleines Missgeschick unmittelbar bevorstand.
Sie stand auf, um dem Mädchen, das den Wagen zu ihr in die Ecke lenken wollte, auf dem Weg zu helfen, den es um den großen Tisch und die daran sitzenden und spielenden Kinder herum und dann geradeaus zu ihr zu meistern galt. Doch ihre Hilfe kam zu spät, der Wagen fiel um, das Rädchen brach, und eine große, in eine weiße Decke gewickelte Babypuppe kullerte heraus und schlug mit einem dumpfen Hall auf den Boden.
Diese Puppe hatte Sophia noch nie gesehen. Sie ging zu der kleinen Puppenmutter, die in heftiges Weinen ausgebrochen war, und strich ihr mit der rechten Hand tröstend über den Kopf, während sie mit der linken nach der Hand der Puppe auf dem Boden griff. Die fühlte sich aber so glatt und kalt an, dass sie unwillkürlich zurückschreckte und die Puppenhand wieder losließ. Dann wollte sie die Puppe erneut aufnehmen, diesmal mit beiden Händen, und sie hob sie hoch und wiegte sie wie ein Baby auf den Armen. Dabei summte sie ein kleines Schlaflied, das zumindest bewirkte, dass das kleine Mädchen sein Weinen einstellte. Sophia erklärte ihm, dass sie das Puppenkind jetzt zum Arzt bringen müsse, woraufhin das Mädchen sich getröstet trollte.
Jetzt erst betrachtete Sophia genauer, was sie da auf dem Arm trug.
1 Salettl: kleines offenes Gartenhaus