Register der Rezepte

Ein Inhaltsverzeichnis mit einer Auflistung der Rezepte unter den jeweiligen Rubriken und Kapiteln findet sich am Anfang dieses Buches. Viel Freude beim Nachkochen von Tante Linas Rezepten!

Allgäuer Eintopf

Apfelschalentee

Auberginen

Blutwurst

Blutwurstklopse

Braune Kugeln

Brennesselauflauf

Brotkuchen

Brotpuffer

Brotsuppe

Cervelatwurst

Champagner-Bier

Eichelblutwurst

Eichel-Knäckebrot

Eichelmehl

Eichelnougat

Eieraufstrich

Eierfrüchte (Auflauf mit)

Eiersalat (falscher)

Eifeler Eintopf

Endiviensalat als Spinat (gekocht)

Euter mit Kräutern (gebacken)

Familienpunsch

Fenchel mit Spaghetti

Forellensuppe (falsche)

Fruchtbonbons

Gänseblumensalat

Gänsefett (falsches)

Gemüseaufstrich

Gemüsegulasch

Gemüsescheiterhaufen

Gemüsesülze

Glühwein

Gnocchi

Graupenflammeri

Graupenpuffer

Grünkohlbratlinge

Grützbratling

Grützrand

Grützwurst

Grützwurst in der Schüssel

Haferflocken (herzhaft)

Haferflockenmakronen

Haferflockenpfannkuchen

Hagebuttensuppe

Hagebuttenbonbons

Harzer Käse (falscher)

Hefeaufstrich

Hirn (falsches)

Hirsekoch

Hirseröllchen

Holunderbeergelee

Auflauf mit Holundersaft

Holundersuppe

Honig (falscher)

Hopfensprossensalat

Husarensalat

Johannisbeerwein

Kalbsherz, gefüllt

Kaninchen, Tokayer Art

Karamelaufstrich

Kartoffelauflauf mit Hering

Kartoffelaufstrich

Kartoffelmehl

Kartoffelmilchbrötchen

Kartoffelnapfkuchen

Kartoffeln (Tipp)

Kartoffeln (saure)

Kartoffelpudding

Kartoffel-Quarkauflauf

Kartoffeltorte

Kartoffelwaffeln

Königsberger Flecke

Kohlrabi-Schnitzel

Kräuterbratlinge

Kräutertunke (kalt)

Krebssuppe (falsche)

Kriegsallerleisuppe

Kriegsstreuselkuchen

Kürbisauflauf

Kürbisbrot

Kürbis (gefüllter)

Kürbisküchle

Kürbis (Marmelade aus)

Kürbisspeise

Kürbissuppe

Kürbis-Zitronat

Lauchpastete

Leberpaste

Leberwurst

Leineweber

Linsenbratlinge

Löwenzahnsalat

Lungenhaschee

Lungenklöße

Maisklöße

Marzipankartoffeln (falsche)

Mehlsuppe, gebräunte

Möhrenmarmelade

Möhrenpuffer

Mohrrüben-Napfkuchen

Nudelkuchen

Ofenschlupfer

Osterbrot

Panhas

Pellkartoffeln mit Tunke

Pfannenback mit Obst

Pfefferminz-Fondants

Pfeffernüsse

Pflastersteine

Pilaw

Pilzbratlinge

Pilzklößchen (Brühe mit)

Pilzkuchen

Pilzpaste

Preßkopf

Printen

Radieschen-Ketchup

Radieschensuppe

Rominterner Jagdgericht

Rotwurst

Rüben, gelbe (Marmelade aus)

Sauerampfer-Koteletts

Sauerampfersuppe

Sauerkrautbratlinge

Sauerkrautnudeln

Schikoree-Suppe

Schnitzel (falsches)

Schroteintopf

Schupfnudeln

Schwalbennester

Schweineschwänze (gebacken)

Sellerie-Bowle

Sellerie-Bratlinge

Semmelkloß (Westfälischer)

Sirupbonbons

Soldatenkappen

Spaghetti mit Fenchel

Spiegeleier (falsche)

Spinatbratlinge

Spritzgebäck mit Haferflocken

Steckrübeneintopf

Teepunsch

Torte, Tante Linas

Tutti-frutti-Leckerle

Vogelmiere (Eintopf aus)

Warmbrunner Gebäck

Weinauflauf

Zitronengrog

Zwiebelknödel

Rainer Horbelt/Sonja Spindler

TANTE LINAS
KRIEGS-
KOCHBUCH

Erlebnisse Kochrezepte Dokumente

Rezepte einer ungewöhnlichen Frau,
in schlechten Zeiten zu überleben

Vitolibro

... der Verlag mit dem Flieger

Wir danken dem Archiv
der Stadt Gelsenkirchen
und dem Kultusministerium
von Nordrhein-Westfalen
für ihre Unterstützung

Ebook Mai 2013

© Vitolibro (Inh. Vito von Eichborn), Malente, September 2012

Umschlagkonzept: Vitolibro
Motiv: Alfred Arthur Sisley (Ausschnitt)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN: 9783869402000

Weiteres finden Sie unter www.Vitolibro.de
... der Verlag mit dem Flieger

Dies ist ein lebendiges Geschichtsbuch, unterhaltsames Geschichtsbuch und benutzbares Kochbuch in einem.

Jenseits jeglichen Anpassertums bewältigt Tante Lina den Kriegsalltag; sie ist eine fabelhafte, positive Überlebensfigur, lebt uns, ganz unheroisch, eine beispielhafte Mitmenschlichkeit vor und behält trotz der finsteren Zeiten den aufrechten Gang.

„Frauen wie Tante Lina hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Sie sind notwendig: Frauen, die auch in gewalttätigen Zeiten voller Zerstörung, Angst, Ausbeutung, Brutalität, in menschenverachtenden Zeiten ihren Weg gehen.“

In sieben Kapiteln, von 1939 bis 45 chronologisch, wird die Lage des Krieges und die damit verbundene Ernährungslage geschildert. Es folgen jeweils die Tante-Lina-Geschichten: wie sie mit ihrer Nazi-Verwandtschaft umgeht, einen Kommunisten versteckt, zum Hamstern aufs Land fährt, schwarz schlachtet, zum Kindergeburtstag und zur Kriegsweihnacht mit Einfallsreichtum Festessen bereitet...

Zahlreiche Fotos und Faksimiles machen den „Alltag der Nation“ anschaulich.

Und über 150 Rezepte liefern Anregungen für phantasievolles Kochen.

Es hat Tante Lina wirklich gegeben. Sie ist keine Erfindung, keine Romanfigur eines mehr oder weniger einfallsreichen Schriftstellers. Allerdings – hätte es sie nicht gegeben, man hätte sie... hätte man sie erfinden müssen?

Nein!

Frauen wie Tante Lina hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Sie sind notwendig: Frauen, die auch in gewalttätigen Zeiten ihren Weg gehen. Widerstand leistend, selbstbewusst und gerissen, klug, aber auch voller Schläue, wenn das notwendig wird, und stark. Eine Kraft, die aus der Trauer kommt. Trauer darüber, was Menschen von Menschen angetan wird.

Tante Lina hat gelebt. Hat – muss ich schreiben, denn Tante Lina ist tot.

Ich weiß noch, wie sie in ihrem Ohrensessel neben einer Jugendstilstanduhr mit Westminster-Sound saß, eine kleine robuste Frau in diesem viel zu großen Sessel, voller Würde lächelnd eine Zigarette nahm, eine selbst gedrehte natürlich, aus einem verbeulten Silberetui.

Ich weiß noch, wie ich sagte:

„Du sollst doch nicht so viel rauchen!“

und den Zeigefinger hob: ein Spiel zwischen uns. Und sie lachte, lachte laut wie immer mit einer kräftigen Stimme, die man dieser zierlichen Person gar nicht zugetraut hätte. Und ihre Antwort war zum soundsovielten Mal:

„Ich bin jetzt zweiundneunzig Jahre alt, und seit siebzig Jahren rauche ich, und vielleicht ist diese Zigarette meine letzte Zigarette, wer weiß das schon.“

Immer noch lächelnd nahm sie ein Streichholz, zündete ihre Zigarette an, machte einen tiefen Zug, und dann verlor sie das Bewusstsein.

Auf ihrem Grab wächst Rosmarin und Thymian, wird Basilikum und Borretsch blühen. Keine Totenblumen stehen da, keine gestutzten Buchsbaumhecken, keine artigen Blautannen.

Das würde zu Tante Lina nicht passen.

Tante Lina war ein lebenslustiger – nein, das ist nicht der richtige Ausdruck, sie war einfach ein lebendiger Mensch. Sie hat geraucht, getrunken (oder besser: gesoffen) und gut gegessen – Zeit ihres Lebens.

Und dass sie tot, so richtig tot ist, kann man eigentlich auch nicht sagen. Dazu ist sie zu gegenwärtig, immer noch. Dazu kursieren über sie in der Familie, der sie nie angehören mochte, in der Stadt, aus der sie nie hatte fortziehen wollen, zu viele Gerüchte, Vermutungen, sogenannte verbürgte Geschichten.

Und man spricht über sie, als lebe sie noch.

Als besuche sie noch wie an jedem Tag das Café auf der Hauptgeschäftsstraße, in dem sie die Rechnungen nur unvollständig zu begleichen pflegte, wenn ihr etwa der Kuchen nicht geschmeckt hatte. Als streite sie sich noch lauthals mit den Marktfrauen herum, wenn die ihre Preisschilder nicht richtig ausgezeichnet hatten. Als stolziere sie noch mit azurblau gefärbtem Haar dem Stadtpark zu, wo sie auf einer Bank mit einigen zweifelhaften Existenzen Skat oder Doppelkopf spielte.

Ja, Tante Lina!

Sie war mehr als nur ein Original. Sie gehörte zum Leben dieser Stadt, und sie ist auch jetzt einfach nicht daraus wegzudenken: ein unbequemer Mensch freilich bei aller Originalität. Voll bösartiger Renitenz, wenn es um Gerechtigkeit zu gehen schien. Eher gehasst als geliebt, aber eben geachtet.

Eine Frau, die, mit blecherner Stimme die „Internationale“ singend, ein Wahllokal betritt, kann in unserer Zeit nicht unbedingt mit der Zustimmung ihrer Mitbürger rechnen.

Eine Frau, die – so wurde zumindest kolportiert – mit Geld aus ihrer Rentennachzahlung es einem jungen Mädchen ermöglichte, nach England zu fahren, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen, kommt leicht in Verruf. Zumal das zu einer Zeit geschah, als der betreffende Paragraph im Strafgesetzbuch noch nicht liberalisiert war.

Es gibt da viele Geschichten, wahre und unwahre, Bilder, Episoden.

Tante Lina im hochmodernen Knautschlackledermantel, bei zwei Stahlkochern untergehakt in den Reihen der Arbeiter auf einer Demonstration zum 1. Mai.

Tante Lina, die, bei einem Warenhausdiebstahl erwischt, vor Gericht einen einstündigen Vortrag über den Eigentumsbegriff hält und freigesprochen wird.

Tante Lina, die im stolzen Alter von 85 Jahren von einem Kuraufenthalt in Begleitung eines gewissen Herrn Edding wiederkommt, mit dem sie fortan zusammenlebt. Zwei Jahre lang. Dann stirbt Herr Edding, allerdings auch schon 73 Jahre alt. Ein Ereignis, das die Gerüchteküche der Stadt natürlich mächtig in Gang bringt. Da gab es Fragen über Fragen. Wo war der Herr Edding denn gestorben? Etwa gar im Bett? Hatte Tante Lina ihn...? In dem Alter? Und so weiter und so weiter.

Es geht auch das Gerücht um, Tante Lina sei gar nicht gestorben, man habe sie als „Scheintote“ begraben.

Einer der Stadtoberen, ein eigentlich honoriger Mann, behauptet bis heute, die tote Tante Lina habe ihm zugezwinkert. Er hatte Tante Lina, bevor sie zu Grabe getragen wurde, noch einmal sehen wollen. Wohl, um sich zu überzeugen, letzte Gewissheit zu erlangen, dass es wirklich Tante Lina war, die dort... Nun ja, in der Aufbahrungshalle will er dieses für ihn schreckliche Erlebnis gehabt haben.

Und die Beerdigung erst.

Man stelle sich einen schönen, sonnigen Novembertag vor – so etwas gibt es im Ruhrgebiet äußerst selten -, mit blauem Himmel und angenehmen Temperaturen. An einem solchen Tag wurde Tante Lina beerdigt. Mehrere hundert Menschen folgten ihrem Sarg. Siebenundsiebzig Kränze wie Wagenräder. Selbst der Oberbürgermeister der Stadt hatte es sich nicht nehmen lassen. Und als der nun mit seiner Rede begann und in höchsten Tönen unsere Tante Lina lobte, da erschien über dem Friedhof eine einzelne dunkle Wolke, recht klein eigentlich, und es begann zu regnen. Plötzlich und unerwartet. Kein gewöhnlicher Regen, es schüttete wie aus Kübeln.

Die Trauergesellschaft, spätsommerlich gekleidet und selbstverständlich unbeschirmt, wurde in Sekunden nass bis auf die Haut, flüchtete fluchend über Gräber und Grabsteine.

Tante Lina hatte ihre Trauergäste „besprenzt“ (das war ihr Ausdruck für ein weniger heiliges Geschäft).

Ja, Tante Lina!

Wirklich und wahrhaftig geliebt, aus dem heraus, was man ein „reines Herz“ nennen mag, haben nur wir Kinder die Tante Lina.

Sie hatte immer Zeit für uns. Für uns, aber nur für uns, war ihre Haustür immer offen. Sie konnte zuhören, trösten, uns mit Rat und vor allen Dingen mit Tat beistehen, unsere Sorgen verstehen, wunderbar kochen, mit uns Feste feiern, tolle Geschichten erzählen. Und sie hatte eine Gabe, über die nur wenige Erwachsene verfügen: Sie behandelte uns wie Ihresgleichen, wie gleichwertige Partner, nicht wie Kinder.

So schrullig sie auch manchmal den Erwachsenen erscheinen möchte, uns gegenüber war sie herrlich normal.

Sie wusste viel von dem weiterzugeben, was sie in ihrem Leben an Erfahrungen gesammelt hatte, ohne uns „erziehen“ zu wollen.

„Aus der Vergangenheit kann man lernen, aber seine Erfahrungen muss jeder selbst machen.“

So pflegte sie zu sagen.

Sie versorgte uns mit Selbstgebackenem, mit Büchern und später, als wir älter, „erwachsener“ wurden, auch mal mit Geld, denn:

„--- das ist ja schließlich zum Ausgeben da. Wer spart, hilft den Kapitalisten oder ist selbst einer.“

Ja, Tante Lina!

Als wir nach ihrem Tode begannen, ihren Nachlass zu sichten, fiel mir aus einer alten Holzschatulle in dickes sauber gebundenes Rechenheft entgegen: ein eigentümliches Sammelsurium von ausgeschnittenen und eingeklebten Zeitungsartikeln und Kochrezepten, handschriftlichen Notizen, von Tagebucheintragungen, alten Fotos, Lebensmittelmarken und vielem mehr – alles Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg.. Auf den Umschlag hatte Tante Lina in ihrer steilen Sütterlinschrift meinen Namen geschrieben und: „Mach‘ ein Buch daraus!“

Ja, das war Tante Linas Vermächtnis.

1939

In den Morgenstunden des 1. September 1939 überfielen deutsche Soldaten Polen. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.

Dieses Buch soll nicht Ursachen und Folgen dieses Krieges untersuchen, soll nicht über die Kriegsereignisse berichten. Doch wird es notwendig sein, bisweilen an Daten zu erinnern, geschichtliche Fakten ins Gedächtnis zurückzurufen, die die Umstände verdeutlichen, unter denen Menschen wie Tante Lina in dieser Zeit Leben mussten. In dem Protokoll einer Besprechung, in der Hitler am 23.5.1939 führende Generale und Offiziere der Wehrmacht über „die Lage und Ziele“ seiner Politik unterrichtete, heißt es:

„Der Lebensraum, der staatl.(ichen) Größe angemessen, ist die Grundlage für jede Macht. Eine Zeit lang kann man Verzicht leisten, dann aber kommt die Lösung der Probleme so oder so. Es bleibt die Wahl zwischen Aufstieg oder Abstieg...

Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung... Lebensmittelversorgung (ist) nur von dort möglich, wo geringe Besiedlung (ist). Neben der Fruchtbarkeit wird die deutsche, gründliche Bewirtschaftung die Überschüsse um ein Mehrfaches steigern. In Europa ist keine andere Möglichkeit zu sehen.“

Der Krieg, der angeblich geführt werden musste, um Deutschlands Lebensmittelversorgung zu sichern, begann am 28. August 1939 mit Lebensmittelrationierungen und der Ausgabe von Lebensmittelmarken, eine Maßnahme, die „wirklich einzig und allein dem Schutz der Interessen aller deutscher Menschen dienen“ sollte.

Von Tante Linas sogenannter Mischpoke und wie Tante Lina sich für den Krieg rüstete, als alle noch an den Frieden glaubten

Es muss an dieser Stelle ein Blick auf die Leute geworfen werden, die Tante Lina auch zu Zeiten des sogenannten „Dritten Reiches“ mit dem hebräischen Wort „Mischpoke“ zu bezeichnen pflegte, auf Tante Linas hochwohllöbliche Verwandtschaft. Und es sei angemerkt, dass dieser Exkurs wenig leicht fällt, da Tante Linas Verwandtschaft unumgänglich auch die meine ist.

Tante Lina entstammte einer durch und durch arischen Familie, was in jenen Tagen – wenn auch nicht für Tante Lina – von einiger Wichtigkeit war. Tante Linas Bruder Bruno hatte beträchtliche Zeit darauf verwendet, eine Ahnentafel der Familie zu erstellen, die bis in das Jahr 1624 zurückging.

Damals war im schönen Franken-Lande ein Vorfahr namens Michael geboren worden, der im Mannesalter dem Beruf des Bauern nachging – ein nahezu idealer Vorfahr: fränkisch und Bauer.

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Bruder Bruno, der Ahnenforscher, Mitglied der NSDAP und zudem strammer SA-Mann war. In seiner braunen Uniform brachte Bruno es immerhin zum Untergruppenführer. Und die Parteimitgliedschaft war für ihn auch schon von Nutzen gewesen: Sie hatten ihm geholfen, seine Stellung als Oberbaurat bei der Stadtverwaltung zu bewahren, als er sich allzu laut in der Öffentlichkeit über die Liebesbeziehungen eines Vorgesetzten ausließ, die er durch das Schlüsselloch von dessen Bürotür zu beobachten Gelegenheit genommen hatte. Was allerdings unserer Stadt einige weitere bauliche Hässlichkeiten und eine Unmenge von Bunkerbauten bescherte, denn Bruno war nicht nur Untergruppenführer, sondern auch Luftschutzberater. In dieser Eigenschaft und wohl auch, weil er eine dichterische Ader in sich verspürte („nicht Architekt allein, auch Dichter“), ließ er in der örtlichen Presse ein Gedicht erscheinen, von ihm selbst verfasst, unter dem Titel „ Der Luftschutzraum“, von dem ich einige Zeilen nicht vorenthalten will:

„Wenn auch die Feindesbomben knallen,

Brandsätze auf die Dächer fallen,

Wenn Gelbkampfstoff und gift‘ge Gase

Vorüberziehn an Deiner Nase,

Dann sitz du still und wohl geborgen

In Deinem Schutzraum ohne Sorgen

Und hörst dabei in aller Ruh‘

Dem tollen Krach und Zauber zu.

Denkst Dir dabei vor allen Dingen

Wie weiland Götz von Berlichingen.“

Wer mochte sich wohl solcher Logik entziehen?! Es wurden also Bunker gebaut in der Stadt und Schutzräume. Betonklötze, die sich zum Teil nach dem Krieg nicht sprengen ließen und bis zum heutigen Tag von der Bauwut meines Großvaters künden.

Es soll Pläne geben, streng geheime natürlich, diese Bauten in einem sogenannten „K-Fall“ wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zuzuführen. Es soll auch Listen geben mit Namen von Bürgern dieser Stadt, die dann dort..., aber lassen wir das. Großvater jedenfalls hätte sich gefreut, wenn er das noch hätte erleben dürfen.

Meine Großmutter, Tante Linas Schwägerin, war eine dicke, stille und sehr katholisch-fromme Frau. So still, dass es weiter nichts über sie zu berichten gibt.

Großvater Bruno hatte bereits vor dem ersten Weltkrieg zwei blonde, blauäugige deutsche Kinder gezeugt.

Ottomar, mein Vater, war zu jener Zeit, nach einem abgebrochenen Studium der Ingenieurswissenschaften und da von der Vorsehung mit Gardemaß ausgestattet, Mitglied bei der Elite der Elitetruppen, der „SS-Leibstandarte Adolf Hitler“. Und das war damals schon etwas Besonderes.

Nach dem Krieg verstand er die Welt nicht mehr, wurde Alkoholiker, ließ das „gottgläubig“ in seinem Ausweis tilgen und „konvertierte“ zum evangelischen Glauben. Beruflich strebte er seinem Vater nach und hat diese Stadt mit einigen eigentümlichen Kirchen und Krankenhäusern verschandelt.

Brunhilde, seine Schwester, pflegte sich nach dem Krieg – sie lebte damals in der sowjetisch besetzten Zone – aus begreiflichen Gründen Katja zu nennen. Sie versuchte nicht nur freundschaftlich zu nennende Bande zu Offizieren der Roten Armee zu knüpfen. Allerdings vergeblich: Ihr Russisch war wohl nicht gut genug.

Zeitlebens stand ihr der Sinn nach Höherem. In jener glorreichen Zeit, über die wir hier berichten, war sie mit einem gewissen Gauleiter Reichsstatthalter Dr. Meyer eng befreundet, einem – durfte man Tante Lina glauben – ständig nach Schweiß duftenden Herrn mit Nickelbrille. Später heiratete Brunhilde den Bruder meiner Mutter, von dem sie sich just in dem Moment wieder scheiden ließ, als dieser zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Eine feine Sippschaft!

Kein Wunder also, dass Tante Lina mit diesen ihren Verwandten nichts zu tun haben wollte und es nachdrücklich vermied, ihnen auch nur zu begegnen bis auf die paar Male, da es sich wirklich nicht vermeiden ließ.

Tante Lina selbst war nie verheiratet, was freilich nicht heißen soll, dass sie allein lebte – sehr zum Schrecken ihrer feinen Verwandtschaft.

1939 ging ein langjähriges Verhältnis mit ihrem Freund Walter Kaminski vorübergehend zu Ende. Man sagt, auf Grund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden, als das Bündnis zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geschlossen und bekannt wurde. Walter Kaminski war Kokereimaschinist und, so wurde vermutet, KPD-Genosse, einer der Organisatoren der konspirativen Parteiarbeit im Untergrund.

Diese Beziehung zwischen Walter Kaminski und Tante Lina wurde nach einigen Wochen störrischen Schweigens (auf Seiten von Tante Lina) wieder aufgenommen, aus verschiedenen, auch praktischen Gründen.

Zu erwähnen sind noch einige Randfiguren, die in Tante Linas Leben eine bisweilen nicht unbedeutende Rolle spielten sollten.

Es gab da noch einen zweiten Bruder von Tante Lina namens Otto, der war Abteilungspräsident bei der Reichsbahn. Dann der berühmt-berüchtigte Nazi-Journalist Hanfstengl, ein Freund der Familie und besonders Bruder Bruno zugetan. Und schließlich sei noch Saatmann erwähnt, ein Freund meines Vaters, der zu Besuch kam, so oft sich nur die Gelegenheit dazu ergab, wohl geblendet von Tante Brunhildes Schönheit.

Saatmann war in den letzten Kriegstagen stellvertretender SS-Kommandeur von Prag gewesen, der – leider, muss man wohl sagen? - einem tschechischen Erschießungskommando entkommen konnte. Nach dem Krieg wurde er Mitbegründer einer rechtsradikalen Partei und war einer der führenden Männer in der OdeSSA.

Im Frühjahr 1939 – dieser Zeitpunkt kann als sicher angenommen werden – begann Tante Lina mit einem Mal wieder die Bande zu ihrer Verwandtschaft und deren Bekannten zu pflegen: Ihre Besuche bei Bruder Bruno häuften sich, ihr Interesse an politischen Gesprächen wuchs, ja, man berichtet, dass sie eine sehr aufmerksame Zuhörerin gewesen sei. Ein Umstand, der allgemein Verwunderung auslöste, der Bruder Bruno gar zu der Ansicht gelangen ließ, seine Schwester sei (nun endlich!) von den „politischen Tatsachen“ und der Größe Deutschlands und der Überlegenheit des deutschen Menschen zu überzeugen. Und so machte er selbst sich in jenen Tagen auf den Weg zum örtlichen NSDAP-Büro, um einen Aufnahmeantrag für die Partei zu besorgen, den er seiner Schwester in günstiger Stunde zu überreichen gedachte mit einer bereits vorbereiteten kleinen feierlichen Ansprache. Aber dazu kam es nicht.

Genau so plötzlich, wie die vermehrte Besuchstätigkeit begonnen hatte, hörte sie auch wieder auf. Tante Lina machte sich rar, schob tausenderlei Gründe vor und ließ eine ratlose Verwandtschaft sich in Vermutungen ergehen.

Dafür begann sie mit einer regen handwerklichen Tätigkeit in Haus und Garten, was wiederum von ihrer Nachbarschaft mit einigem Misstrauen beäugt und zur Kenntnis genommen wurde.

Tante Lina hatte von ihrer Großmutter ein Zweifamilienhaus geerbt, von dessen Mieteinnahmen sie einen Teil ihres Lebensunterhaltes bestreiten musste. In der Parterre-Wohnung lebte sie selbst, die Mansarde bewohnte Walter Kaminski, und der erste Stock war an eine Familie Varenholt vermietet.

Vor dem Haus war ein schmaler Vorgarten, der auf beiden Seiten um das Haus herum hinten in einen großen Garten überging. Dort standen ein paar Obstbäume auf gepflegtem Rasen, Ziersträucher und herrliche Blumenrabatten waren angelegt: Tante Lina vollbrachte wahre Wunder in der Gestaltung ihres Gartens, und man merkte an jeder Ecke, wie viel Freude ihr das auch machte. Im Sommer gab sie Feste dort für ihre Freunde oder auch für die Nachbarskinder. Und eine Einladung bei Tante Lina, das wusste jeder, war immer ein besonderes Vergnügen.

Als sie nun anging, diesen Garten, den sie so sehr liebte, von vorne bin hinten umzugraben, konnte das niemand verstehen. Die Blumenbeete verschwanden, der Rasen wurde abgetragen. Statt dessen wurden Möhren angepflanzt, Salat, Kartoffeln, Kohl, Zuckerrüben und einige den Nachbarn unbekannte Gemüsesorten. Die Ziersträucher ersetzte Tante Lina durch Stachelbeer-, Johannisbeer- und Himbeersträucher. Mit Hilfe von Walter Kaminski wurde ein Hühnerstall gebaut, sehr zum Ärger der Nachbarschaft, die nun jeden Morgen vom Krähen des Hahns geweckt wurde, den Tante Lina natürlich nicht zu kaufen vergessen hatte.

Auf der Rückseite des Hauses, wo eine überdeckte Veranda war, entstanden unter Kaminskis Anleitung einige Kaninchenställe.

Tante Linas Kräutergarten wurde um das Dreifache vergrößert und mit einigen „Sträuchern“ komplettiert, von denen Tante Lina behauptete, es seien Tabakpflanzen.

Jeder, der Gelegenheit hatte, Tante Linas Tun zu beobachten, tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn, und es hieß in der Stadt, Tante Lina sei nun endgültig verrückt geworden. Und jeder lachte, als bekannt wurde, Tante Lina hätte gesagt, in Kürze wäre mit einem Krieg zu rechnen.

Bruder Bruno, von „höchster Stelle“ auf die Äußerungen seiner Schwester hingewiesen, leugnete auf einer örtlichen Parteiversammlung sogar „jede verwandtschaftliche Beziehung mit dieser Person, eine zufällige Namensgleichheit, nichts anderes...“, obwohl es jeder der Anwesenden besser wusste. Aber wer hätte einen Untergruppenführer wohl in jenen Tagen widersprochen?

Nachdenklich wurde man erst, als Varenholt, Tante Linas Mieter, und mit ihm viele andere zu einer, wie es hieß, „Reserveübung“ eingezogen wurden, als die Artikel in den Zeitungen immer hitziger, die Kommentare im Rundfunk immer unverblümter wurden.

Aber selbst nach Kriegsbeginn – Tante Lina hatte ihre erste Ernte eingebracht und war mit Vorbereitungen für das folgende Jahr beschäftigt – wollte niemand auf sie hören. Alle sagten: „Der Krieg ist doch bald zu Ende...“ oder „Das dauert höchstens ein paar Wochen“ und „Auch wenn es Nazis sind, einen Weltkrieg kann doch niemand ernsthaft wollen...“

„Wir alle stehen heute mit unseren Pflichten

und Aufgaben in der Verantwortung für Volk

und Staat. Auch die deutsche Hausfrau muss

um die Lage ihres Volkes wissen. Sie muss

wissen, welche Mittel unserem Volk in dieser

schweren Zeit zur Verfügung stehen und wie

sie diese Mittel aufs Beste ausnutzen und

auswerten kann für eine gesunde Ernährung

und gesunde Volkswirtschaft. Dann lebt sie

einen Nationalsozialismus der Tat, der ihren

kleinen Lebensbereich hineinstellt in unser

großes gemeinsames Aufbauwerk: Deutschland.“

(aus Reden der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink)

Am Kochtopf wird der Krieg gewonnen

Genau wie der Krieg waren dessen Folgeerscheinungen von den Kriegstreibern seit langem vorausberechnet. Die Ausgabe von Lebensmittelmarken, die Rationierung bestimmter Bedarfsgüter war Monate vor Kriegsbeginn geplant worden. Die „Verbrauchslenkung in Kriegszeiten“ sollte eine vom „gegnerischen und neutralen Ausland möglichst unabhängige Ernährungsweise“ gewährleisten.

Man musste damit rechnen, im Kriegsfall (immer vorausgesetzt, es war ein Krieg geplant, der sich weltweit ausdehnen würde) von überseeischen Einfuhren gänzlich, von Einfuhren aus Ländern des Kontinents zumindest teilweise abgeschnitten zu werden.

Für Lebensmitteleinfuhren sollten auch keine kostbaren Devisen ausgegeben werden müssen. Devisen wurden nahezu ausschließlich gebraucht, um den Bedarf an sogenannten „kriegswichtigen Gütern“ zu decken. Die nationalsozialistische Kriegskonjunkturforschung (so etwa gab es!) stellte damals folgende Prognose:

„Es können (an Lebensmitteln) im Inland gedeckt werden: Brotgetreide, Kartoffeln, Zucker, Trinkmilch, Weiß-, Rot- und Wirsingkohl, Mohrrüben, Steckrüben. Fleisch nur zum Teil mit Hilfe ausländischer Futtermittel; noch stärker ist der Zuschussbedarf bei Molkereierzeugnissen, Eiern und vollends bei Fetten. Deshalb ist es notwendig, mehr denn je einer fett- und fleischarmen Nahrung den Vorzug zu geben, also pflanzliche Erzeugnisse, wie Kartoffeln, Gemüse und Zucker gegenüber den tierischen Erzeugnissen zu bevorzugen.“