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Alois Brandstetter

Kummer ade!

Roman über einen
humoristischen Kriminalfall

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In der Don-Bosco-Kirche am Bischof-Josef-Köstner-Platz in Klagenfurt hat neulich jemand den sogenannten Kummerkasten samt Inhalt »mitgehen lassen«. Das hat der Kirchenrektor Pater M. am vergangenen Sonntag nach der Messe im Rahmen der Verlautbarungen vor dem Schlußsegen uns, seiner Gemeinde, zur Kenntnis gebracht. Obwohl auf dem Kummerkasten im Vorraum zur eigentlichen Kirche in einer Art Eingangshalle, die man bei mittelalterlichen Kirchen das »Paradies«, auch »Narthex« oder »Galiläa« genannt hat, deutlich lesbar stand: »Bitte kein Geld einwerfen!« und: »Ihre Meinung bitte! Anregungen, Wünsche und Beschwerden«, hat der Dieb, vermutlich ein Analphabet, den sogenannten Kummerkasten mit dem Opferstock verwechselt – und gestohlen – nach der »Beseitigung eines, die Wertsache vor Wegnahme schützenden Hindernisses«, wie die Juristen sagen. Eine illegitime »Besitzergreifung« also! Rauben im juristischen Sinne mußte er die Kiste ja nicht, weil sie unbewacht war und er keinen Wächter oder Custos überwältigen mußte, auch keinen Engel mit einem flammenden Schwert, wie er vor dem Paradies steht … Und einbrechen mußte er in das »Paradies« auch nicht, weil die Don-Bosco-Kirche eines jener katholischen Gotteshäuser ist, die Tag und Nacht frei zugänglich sind, um Besuchern rund um die Uhr zur Besichtigung, vor allem aber für Gebet oder Meditation zur Verfügung zu stehen. Noch fehlt in den meisten Gotteshäusern die Videoüberwachung, weil man vielleicht davon ausgeht: Gott sieht eh alles … Vielleicht hat der Täter oder die Täterin auch Frömmigkeit geheuchelt und vor der Tat ein Gebet gesprochen, um in Wahrheit aber nur zu warten, bis die Gelegenheit günstig, die Luft rein ist und der letzte Besucher die Kirche verlassen hat, um dann zuzuschlagen. Auch Helfer und Hehler sind denkbar, die Schmiere gestanden haben mögen … Nein, zuschlagen mußte der Täter oder die Täterin ja gar nicht, weil die Beschwerdebox nicht besonders verankert – und so eine leichte Beute war. Sie an sich zu bringen, brauchte der Dieb oder die Diebin kein Stemmeisen und keine Brechstange, auch keinen Preßlufthammer, wie er bei dem in Mode gekommenen Herausbrechen von Safes in Banken verwendet wird. Gerade steht in den Zeitungen, daß Einbrecher in eine Raiffeisenkassa in einem oberösterreichischen Ort nicht nur den Safe, sondern irrtümlich die ganze Bank in die Luft gesprengt haben! Ein sogenannter Innenkreuzschraubenzieher hat dem Don-Bosco-Dieb sicher genügt. Er oder sie war sicher auch kein Spezialist oder keine Spezialistin wie jene, die aus den in Granit verschlossenen, eisenbewehrten Opferstöcken in gotischen Kirchen mit Hilfe raffinierter Schlingen oder Leimruten die Scheine oder Münzen aus dem tiefen Inneren fischen und sich so in den Besitz der Kollekte bringen. Am 21. April 2013 hat man in Osttirol zwei Ungarn dingfest gemacht, die Opferstöcke in verschiedenen Kirchen nach diesem Verfahren »geleert« haben – »vom Ameisenbär abgeschaut« – schreiben die Zeitungen. Die Kirche ist reich – und die Kirchenmarder sind einfallsreich. Es wurden ja nicht nur viele Bilder, sondern sogar Paramentenschränke aus Sakristeien, ja schon ganze Beichtstühle aus den Gotteshäusern gestohlen! Die Beichtstühle dienen den Snobs und Neureichen in ihren Luxus-Bungalows oder Chalets dann als Garderoben, in die die feinen Damen und Herren ihre sündteuren Mäntel, Capes und Hüte hängen … Immer wieder werden auf Flohmärkten Kruzifixe zweifelhafter Herkunft aus Pfarrhöfen oder Kirchen oder auch den Heiligen Geist symbolisierende, holzgeschnitzte, bunt bemalte Tauben angeboten, die dann von »gestopften« Leuten um teures Geld erstanden und in modernen Eßzimmern über dem Speisetisch an der Decke angebracht werden. Der Hausherr erheitert seine Gäste mit der Mitteilung, daß die Bauern im Alpenland diese Heiliggeisttauben über dem Jogltisch der Stube scherzhaft »Suppenbrunzer« nennen … Von den Engerln, den vielen Putti, alten oder nachgemachten, die auf allen Flohmärkten herumschwirren, ganz zu schweigen. Viele von ihnen sind einmal in barocken Kirchen auf Lisenen oder Gesimsen, Mauervorsprüngen oder in Nischen zu Füßen von Heiligen gesessen, neben und unter dem heiligen Nepomuk oder Antonius oder Franziskus oder der Muttergottes, wie jene beiden, wie Lausebengel wirkenden Engel zu Füßen der Sixtinischen Madonna von Raffael, ja unter und über »Gnadenstühlen« im Umkreis der Dreifaltigkeit, gelandet aber sind sie schließlich auf dem Umweg über Diebstahl und Flohmarkt oder Antiquitätenhandel über dem Kapitell, dem goldstrotzenden Rahmen eines Rokokospiegels im Vestibül eines Reichen. Manche dieser Engel thronen nun auch zwischen Jagdtrophäen, Hirschgeweihen oder Rehkrickerln, ausgestopften Gemsen oder balzenden Auerhähnen, die auch nicht mehr fliegen können … Die Putti sind flügge geworden … Und abgestürzt. Denn natürlich haben sie durch ihren »Niedergang« aus den theologischen Höhen in die »Wohnlandschaft«, in die Tiefebene der Wohnkultur viel von ihrer himmlischen Würde eingebüßt, die sie etwa auf der Darstellung der neun Engelschöre in der Apsis der Kirche St. Andreas in Thörl ausstrahlen, angeli et arcangeli, Mächte, Gewalten, Cherubim und Seraphinen, Throne und Herrschaften … Es gibt freilich auch Theologen, nicht nur protestantische, die mit Rudolf Karl Bultmann ein »entmythologisiertes Christentum« predigen, die von den Engeln nichts mehr wissen möchten und denen das sogenannte »Engelswerk« eher ein Teufelswerk und ein Greuel ist … Aber mit der alten Theologie haben die Neureichen ohnedies nichts im Sinn.

Ein besonderer Fall, ein »Casus eximius« nach Juristenlatein, also ein besonderer Kriminalfall ist der Diebstahl, die »Wegnahme« von wertvollen Krippenfiguren aus den Kirchenkrippen. Manche gotischen oder barocken Weihnachtskrippen sind schon arg dezimiert, was das »Publikum« und auch die Hirten betrifft, die zum Stall von Bethlehem eilen und anbetend um die Heilige Familie stehen oder knien. Und oft bemerkt der Mesner erst nach dem Herunterholen der Krippe vom Speicher beim Aufstellen der Figuren Mitte Dezember, daß wieder ein Hirte oder auch ein Stück Weidevieh von der über dem Stall von Bethlehem angebauten Alm der alpenländischen Krippe verschwunden ist. Die Hirten haben sich aber nicht »davongemacht«, weil sie der Botschaft des Engels mißtraut hätten, sie wurden vielmehr »davongemacht«, vermutlich von der »italienischen Kunstmafia«, wie später in der Zeitung steht. Die Kunstdiebe begnügen sich aber nicht mit den Randfiguren des Geschehens, sie sind längst auch ins Zentrum, in den Stall selbst eingedrungen. Was sozusagen auch kein Kunststück ist bei dem desolaten Zustand des Gebäudes und dem völligen Mangel an Security … Auch Ochs und Esel, die dem Propheten Jesaia entsprechend in der Krippe nicht fehlen dürfen, sind mancherorts bereits abgängig. Fehlen »unentschuldigt«.

Ein gottloses Gesindel ist unterwegs, sagt der Herr Pfarrer. Jetzt können wir nur hoffen, sagt er zum Mesner, daß wir am 6. Jänner noch alle drei der Heiligen Drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar, zusammenbringen und aufstellen können und daß nicht etwa nur noch zwei aus dem Morgenland ankommen … In dieser mißlichen Situation setzt nun wahrlich am 18. Dezember 2012 eine Agenturmeldung aus Griechenland der ganzen Misere die Krone auf: »Unbekannte haben das Jesuskind aus einer Krippe auf einem zentralen Platz in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki gestohlen. Wer hinter der Tat steckt, ist unklar. Man vermutet eine »autonome atheistische Gruppierung«. Im vorigen Jahr war die Krippe angezündet worden. Hier ist also der mögliche Feind des Weihnachtsfestes und des Christentums beim Namen genannt. Nicht die Kunstmafia, sondern der Atheismus hat zugeschlagen … Zyniker behaupten, nicht das Christentum und die Kirchen würden Weihnachten verteidigen und retten, sondern »der Markt« und der Kapitalismus … Denn die reichen Kaufleute, die jedes Jahr auf Umsatzrekorde im Weihnachtsgeschäft hoffen, haben möglicherweise doch noch eine blasse Vorstellung davon, daß der ganze Segen mit der Geburt eines merkwürdigen Kindes etwas zu tun hat, wenn sie auch mit »Menschensohn« oder gar »Gottessohn« nichts im Sinn haben. Sie werden sich Weihnachten aus Geschäftsgründen nicht nehmen lassen, darauf können sie nicht verzichten. Wenn wir also Glück haben und für den Tag der Heiligen Drei Könige die drei Weisen aus dem Morgenland und vor der Krippe die traditionelle Sammelbüchse für die Spenden für die Mission aufstellen können, dann hoffen wir, daß uns das Glück weiter hold und auch diese Büchse mit den Almosen erhalten bleibt. In meiner Heimatgemeinde in Oberösterreich saß über dieser Spendenbüchse ein schwarzes Kind oder ein »Negerlein«, wie wir damals in aller Unschuld sagten, das nach jedem Einwurf dankend nickte. Der Pfarrer sprach, für uns Bauernkinder unverständlich, vom »Mohren«. Auch er ist verschwunden. Einige sagen: Leider!, andere: Gott sei Dank! Hat ihn ein Rassist entfernt? Angeblich wird von den Krippendieben gerade auch der schwarze König am liebsten mitgehen gelassen. Dabei ist gar nicht gesichert, wer von den dreien der Schwarze, also der Vertreter Afrikas sein soll, Kaspar, Melchior oder Balthasar. Über die Gründe darf wie über den Kummerkastendiebstahl gerätselt werden.

Besonders beliebt bei den Krippendieben ist eine Figur der alpenländischen Krippe, die man den Vaterlaßmichauchmitgehn nennt. Dabei handelt es sich um eine Doppelfigur, um einen Mann, an dessen Rockzipfel sich ein bettelnder Sohn hängt, der also den Vater anfleht und bittet, auch zum Stall von Bethlehem mitgehen zu dürfen … In vielen Krippen fehlt heute der Vaterlaßmichauchmitgehn, weil ihn ein Dieb mitgehen hat lassen … Ich habe mich natürlich nie an öffentlichem oder an Kirchengut vergriffen, gebe aber zu, daß ein schön geschnitzter Vaterlaßmichauchmitgehn für mich eine gewisse Versuchung darstellen könnte, weil ich in ihm auch eine wiederkehrende Situation meiner Kindheit abgebildet sehe: Wie oft habe ich den Vater angebettelt, mich dorthin oder dahin mitzunehmen, zum Turmkreuzstecken in Schönau bei Bad Schallerbach oder auf den Besuch der Innviertler Verwandten in Tumeltsham bei Ried. Ein Vaterlaßmichauchmitgehn würde zu mir, der ich den Gedanken vom »Patripompos«, dem Vater also, der einen nach dem Tod erwartet und als Seelenführer an der Hand nimmt, besonders würdig und tief empfinde, vielleicht sogar besser passen als jene Statue, die seit dem Mai letzten Jahres vor mir auf dem Schreibtisch steht, der sogenannte »Vitus Mostdipf« nämlich, das Redaktionsoriginal der Oberösterreichischen Nachrichten, der mir »humoris causa« verliehen wurde. Fühle mich seiner gar nicht ganz würdig, weil nicht lustig genug …

Der griechische Kriminalfall, ein wahrer und wirklicher Sündenfall, ein häßliches Kidnapping, erinnert unmittelbar an jene rührende Geschichte der Catharina Bachem-Tonger, »Das verschwundene Jesuskind«, die sich als Volksschullektüre, ähnlich wie früher zu unserer Zeit Peter Roseggers »Als ich Christtagsfreude holen ging«, heute zur vorweihnachtlichen Lieblingsgeschichte zum Vorlesen in den Volksschulen entwickelt hat. Die Unterschiede sind aber evident und beträchtlich … In der griechischen Realität haben also tatsächlich aggressive militante »autonome« Atheisten das Christkind entfernt (liquidiert?), um die Christen zu ärgern und zu kränken, in Bachem-Tongers fiktiver Geschichte hat ein fünfjähriger Bub aus Dankbarkeit, weil er »vom Christkind« einen Tretroller bekommen hat, den ihm die Mutter »wegen des Preises nicht kaufen hätte können«, das Jesulein aus der Krippe genommen und mit ihm auf dem Roller drei Ehrenrunden um die Kirche gedreht und das Kind, vom detektivischen Pfarrer im Beichtstuhl und dem Mesner (deutsch »Küster«) hinter einer Säule beobachtet, schließlich zurückgebracht und vorsichtig und behutsam in die Krippe zurückgelegt. Vielleicht bringt ja auch der Kummerkastendieb den Kasten wieder zurück, wenn er entweder seinen Irrtum, daß es nicht der Opferstock ist, oder seine Schuld und seinen Fehler einsieht …

Das Vorbild aller Kummerkästen ist die sogenannte »Bocca di Leone«, die es an vielen Bauten in Venedig gibt, am Dogenpalast, aber auch an Kirchen wie der Santa Maria della Visitazione, »Maria Heimsuchung«, und der Chiesa di San Martino. Diese Löwenköpfe mit dem offenen Maul, in das man seine »Wortmeldungen« werfen konnte, die dann im Inneren von der Obrigkeit in »Empfang genommen« wurden und die für die Betroffenen, denunzierte Mitbürger, zu den ärgsten und schlimmsten Unannehmlichkeiten, ja zu einem Todesurteil führen konnten, hätte natürlich niemand so einfach stehlen können wie den Kummerkasten in der Don-Bosco-Kirche … Es heißt, daß in Venedig nur in Ausnahmefällen anonymen Anzeigen nachgegangen wurde. Solche Ausnahmen waren etwa Angaben über Gemeingefährdung, Pestverdacht, Landfriedensbruch, Reraub, das ist Beraubung eines Toten, vor allem Aneignung der Rüstung eines toten Ritters, Gotteslästerung, Hexerei, also sehr, sehr häufig … Von dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain heißt es, er sei ein »Venedig-Hasser« gewesen und gerade die Institution der Löwenmäuler hätte er als einen Beweis für die Verkommenheit und die Verruchtheit der Dogenherrschaft der Republik Venedig betrachtet.

Venedig, die Stadt der Seufzerbrücke, des Ponte dei Sospiri, zwischen der Rückseite des Dogenpalastes und dem Gerichtsgebäude und Gefängnis, Prigione nuove, über den Rio di Palazzo. Diesen schweren Gang durch oder über die eingehauste Brücke mußte bekanntlich oder vermutlich auch Giaccomo Casanova gehen. Jedenfalls wurde er, vermutlich mittels einer Bocca di Leone, durch eine von ihm Betrogene oder Verschmähte, »angegeben« und »angezeigt«. Es wurde ihm ja nicht nur viel Natürliches nachgesagt, sondern auch Widernatürliches angedichtet. Die Behörde hatte ihn freilich schon seit langem wegen seines Lebenswandels, den er ja auch zu Papier gebracht hat, »aufgeschrieben« … Die Seufzer auf der Seufzerbrücke kamen aus der Brust von Delinquenten und Verzweifelten, aber auch aus der Brust von Verliebten und Liebenden aus Liebeskummer und Enttäuschung über Verrat und Untreue und Betrug, die oft ihren Weg durch die Bocche di Leone, die allenthalben errichteten Kummerkästen, genommen hatten.

Man kann über den oder die Täter von Don Bosco nur mutmaßen. Und vielleicht muß man auch hier sagen, wie es bei aller Kriminalitätsberichterstattung heute üblich geworden ist: Es gilt die Unschuldsvermutung … Dort, wo die Unschuldsvermutung gilt, gilt freilich auch immer die Schuldvermutung … Der, der dies oder das getan oder »begangen« hat, kann nicht ganz unschuldig sein. Vielleicht gibt es »mildernde Umstände«. Aber wie sollen die aussehen? Auch gilt, was der Kärntner Autor Peter Turrini aus Maria Saal gesagt hat: Die Sünde muß wieder benannt werden! Hat der Dieb des kirchlichen Kummerkastens überhaupt eine »Sünde« begangen? Wir leben ja nicht mehr im Mittelalter, wo Kirchenraub genauso verwerflich galt wie Landfriedensbruch. Es gibt Delikte, die »beherrschen« und kennen wir gar nicht mehr … Ich jedenfalls wüßte nicht, wie ich den Landfrieden brechen sollte … Und Mühlen, die den Menschen im Mittelalter ähnlich wie Kirchen als besonders heilig galten, sodaß der Diebstahl des »Mühleisens«, des »Zugangsschlüssels«, um das Werk in Gang zu setzen, härter als Vatermord bestraft wurde, gibt es heute auch nicht mehr. Die Technik und mit ihr ihre Sabotage hat sich gewandelt. Angesichts einer großen Mühle wie der Vonwiller-Mühle in Wien käme heute wohl niemand auf die Analogie zum Stephansdom. Obwohl die Silos der Lagerhäuser und der wenigen nach dem Mühlensterben übriggebliebenen Mühlen die Kirchtürme allenthalben überragen. Vieles hat sich geändert. So werden heute ja auch kaum noch Brunnen vergiftet … Das durch Waschmittel vergiftete Nutzwasser fließt in die Kläranlage. Die großen Wasserverunreiniger sind die Waschmittelfabrikanten. Eigentlich müßte auf den Persil-Schachteln und Omo-Trommeln stehen: Wäschewaschen kann ihre Gesundheit gefährden! Oder wie ich an der »Tränke« eines Zeltplatzes in Italien, einem Trinkwasserbrunnen, groß auf Deutsch plakatiert sah: WASCHEWÄSCHEN FERBOTEN!

Solange man also lediglich eine Tat wie den Kummerkastenraub und nur einen unbekannten Täter hat, muß man sich notgedrungen über die Motive klarwerden, die den mutmaßlichen Täter zu dieser Tat gebracht und verführt haben könnten. Der Weg führt vom Diebsgut zum Dieb … Vermuten könnte man auch, daß der »Beseitiger« des Kummerkastens der Don-Bosco-Kirche sogar gewußt hat, was er hier abmontiert und aus Enttäuschung darüber, daß er selbst schon einmal einen Zettel mit einer Beschwerde in die Urne geworfen und nichts erreicht hat – etwa die Beseitigung des Pflichtzölibats –, zum Vandalen wurde und sozusagen einen »Sacco di Roma« inszenierte. Vielleicht war der Zerstörer auch einer von den von der Hierarchie benachteiligten geschiedenen Wiederverheirateten. Mag sein, daß es sich beim Täter weniger um einen Dieb als um einen Dissidenten handelt. Um ein klerikales Mißbrauchsopfer, das nicht auf das Geld des Wiedergutmachungsfonds warten, sondern sich durch »Mißbrauch« des Opferstocks schadlos halten wollte? Oder war der Räuber ganz im Gegenteil ein Konservativer (wie ich), ein Harmoniesüchtiger, dem weniger die Institution der Kirche als die schon zur Manie und zur Institution gewordene Kirchenkritik auf den Geist geht? War er unzufrieden mit der grassierenden Unzufriedenheit an Vater Staat und Mutter Kirche, die die Leserbriefseiten der Zeitungen und die Kummerkästen überfüllt? Ich war es, bitte, damit wir uns verstehen, nicht! Die Harmoniesucht ist eine Sucht, und von Süchtigen weiß man, daß sie sich auf jede, auch auf verbotene Weise »Stoff« besorgen. Hat ein Harmoniesüchtiger sich Stoff besorgen wollen, um den Kummerkasten schließlich zu »entsorgen«? Mußte der kirchliche Kummerkasten deshalb daran glauben?

Ja, eine solche Tat wirft eine Menge Fragen auf. Wenn die Box auch kein Geld enthielt, so doch möglicherweise eine Menge brisanten Stoffs, der doch nur für den Adressaten, den Kirchenrektor Pater M. oder vielleicht auch für den Pfarrgemeinderat, bestimmt war, und so oder so dem Datenschutz unterliegt. Hatte der Dieb auf Geld gehofft, so läßt sich sein Zorn lebhaft vorstellen, als er Briefe lesen mußte, in denen stand, daß sich dieses oder jenes Pfarrmitglied nicht als Lektor für die Paulusbriefe oder ein Kapitel aus der Apostelgeschichte eigne, weil es, wie eben der Lehrer X, im Konkubinat als öffentlicher Sünder lebe. Das hat ihn sicher nicht interessiert und er wird gotterbärmlich geflucht haben … Und auch daß die Lautsprecheranlage der Kirche dröhnt und ein Schwerhöriger schreibt, er verstehe von der Predigt kein Wort, wird ihm nichts bedeutet haben. Kummerkästen sind immer auch Mobbing- und Stalking-Einrichtungen, in denen enttäuschte Menschen ihren Frust und ihre Aggression unter dem Siegel der Verschwiegenheit und anonym abladen und »entsorgen«. Hier wird verleumdet, vernadert, gedroht auf Teufel komm raus. Mehr getadelt als gelobt. War der Dieb, wie zu vermuten, ein Analphabet, dann konnte er mit dem Inhalt der Box in doppelter Hinsicht nichts anfangen, weil er die Texte nicht lesen konnte. Pech gehabt. Dumm gelaufen! Oder war er ein Ausländer und des Deutschen und auch der zweiten Kärntner Landessprache, des Slowenischen, nicht mächtig? Die Box war freilich nur in Deutsch beschriftet. Für die Vorteile des Schreiben- und Lesenlernens macht derzeit die Volkshochschule im ORF Werbung, weil es bekanntlich nicht wenige primäre und sekundäre Analphabeten gibt, die keinen zusammenhängenden Text entziffern und verstehen können. Bei einem solchen Kurs müßte sich der Dieb also dann einschreiben, damit er in Zukunft nicht Opferstöcke mit Kummerkästen verwechselt. Und Gebrauchsanweisungen gebrauchen, sprich lesen kann. Die Caritas organisiert auch Lesekurse für Asylanten.

Exemplum docet, heißt es, Beispiele sind lehrreich. Und ein solches Beispiel muß ich hier einfügen, ohne den Kriminalfall aus den Augen zu verlieren. Der Nachbar meines kleinen Hauses in Pichl bei Wels, auch ein Kleinhäusler oder Keuschler wie ich einer war, erzählte mir einmal seine Lebensgeschichte. Er hatte als schon recht alter Mann und Witwer die Nachbarin geheiratet, eine ungefähr 60jährige, tüchtige Frau mit einem (unehelichen) Kind. Er war recht stolz, bauernstolz gewissermaßen, auf seine Rechen- und Schreibkenntnisse. Auf die führte er es zurück, daß ihn seine Mitbürger und Nachbarn in der Kriegszeit, der »Nazizeit«, zum Bürgermeister von Kimpling gemacht hatten. »Do han i gsegn, an Vorteil, Brandschdeda, hast schon, wannst lesen und schreim konnst«, sagte er zu mir. Er war ein Bauer, wie ihn Ludwig Thoma in seinen großartigen Bauernromanen »Andreas Vöst« oder »Der Wittiber« beschreibt und in realistischen Dialogen überzeugend sprechen läßt …

Firmus