Leuchte
von Tanja Bruske
Ein historischer Mystery-Krimi aus dem Kinzigtal
Das Buch: Ein Leuchten im Nebel. Ein totes Mädchen im Wald. Eine Marköbler Legende, die es seit Urzeiten gibt.
Lisas Leben wird nach einem Autounfall auf den Kopf gestellt. Plötzlich findet sich die Studentin im Jahr 1792 wieder und wird konfrontiert mit dem Frauenmörder aus dem Kinzigtal, einem geheimnisumwobenen Arzt und einem historisch-verbürgten Marköbler Helden. Das sind die Zutaten eines spannenden Thrillers, der geschickt Geschichte und Fiktion verknüpft und sie mit historischen Figuren würzt.
Die Autorin: Tanja Bruske wuchs in Marköbel (Hessen) auf, verfasste im Grundschulalter erste Geschichten und wollte das Schreiben schon früh zum Beruf machen. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Theater-, Film und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während des Studiums arbeitete sie für Lokalzeitungen, absolvierte Praktika bei Funk und Fernsehen und volontierte schließlich bei der Gelnhäuser Neuen Zeitung, wo sie heute als Redakteurin arbeitet. 2007 erschien ihr erster Roman „Das ewige Lied“ und gewann beim Wettbewerb „Hessens verheißungsvollstes Manuskript“ des Radiosenders FFH, der das Buch auch veröffentlichte. In den Folgejahren veröffentlichte die Autorin einige Theaterstücke. „Leuchte“ ist ihr zweiter Roman.
ISBN 978-3-944124-22-3
Copyright © 2013 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Layout: Olaf Tischer
Titelbild: © Reiner Erdt (www.erdtling.de)
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Kapitel 1: Wildwechsel
Die Glocken der Marienkirche schlugen Mitternacht, als Lisa, das Leinenbündel eng an sich gepresst, über den Obermarkt eilte. Für Mitte Oktober war es recht kühl.
Vor Lisas Mund bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Besorgt blickte sie zum Himmel hinauf und zog ihr Schultertuch fröstelnd über ihrem Jäckchen zusammen. Es würde noch kälter werden – schon jetzt war das Pflaster unter ihren Schuhen schlüpfrig.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Die 20-Jährige fuhr mit einem erschrockenen Aufschrei herum. Vor ihr stand ein junger Mann in der Uniform der französischen Soldaten und grinste sie an. „Herrgott, Christoph, du hast mich zu Tode erschreckt“, fauchte Lisa.
Der Uniformierte lachte: „Ich wusste gar nicht, dass du so ein Angsthase bist. Ich wollte dich nur fragen, ob ich dich bis zum Parkplatz begleiten soll.“
Die beiden schlenderten nebeneinander die steilen Gassen von Gelnhausen hinunter und besprachen die hinter ihnen liegenden Gästeführungen. Beide hatten als Statisten in der selben Gruppe mitgewirkt – einer Stadtführung, bei der die Gäste in die Zeit der französischen Revolutionskriege eingetaucht waren. Doch während Christoph bereits ein ‚richtiger‘ Gästeführer war und lediglich dieses Mal keine Zeit gehabt hatte, um selbst eine Gruppe zu leiten, befand sich Lisa noch in der ‚Ausbildung‘ und besuchte regelmäßig Kurse. Für die Germanistikstudentin war das nicht nur ein angenehmer Ausgleich und ein schönes Hobby, sondern auch eine sinnvolle Ergänzung für ihr Studium, in dem sie sich mit Literatur ab der Frühen Neuzeit befasste.
„Ich kann es nicht leiden, wenn während der Führung die Handys klingeln“, beschwerte sich Lisa. „Ich meine: Können die Leute die blöden Dinger nicht mal für zwei Stunden ausmachen? Wir versuchen hier, die Leute so authentisch wie möglich in die Vergangenheit zu entführen und die nehmen kein bisschen Rücksicht.“
Christoph lachte: „Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Im Kino gibt es schließlich auch immer irgend einen Idioten, der so wichtig ist, dass er sein Telefon unbedingt anlassen muss.“
„Wir machen unsere ja schließlich auch aus“, maulte Lisa.
Christoph schüttelte den Kopf. „Na klar, wenn uns Christine mit eingeschaltetem Handy erwischen würde, wären wir ja selbst bald Vergangenheit.“ Die beiden lachten. Christine, ihre Ausbilderin, war für ihre Liebe zum Detail bekannt. Ihr war es auch zu verdanken, dass die Kostüme der Gästeführer so originalgetreu wie möglich gehalten wurden. Lisa erinnerte sich noch lebhaft daran, wie ihr Kostüm – das einer Magd des 18. Jahrhunderts – entstanden war. Es war dem Gemälde „Das Schokoladenmädchen“ von Etienne Liotard aus dem Jahr 1744 nachempfunden. Das Bildnis eines typischen Dienstmädchens. Zu dem Kostüm gehörten ein Rock, ein Jäckchen und eine Haube aus schwarzblauem Seidentaft. Dazu hatte die Schneiderin für Lisa ein Schultertuch und eine Schürze aus Baumwolle gefertigt. Darunter trug Lisa ein langes Unterkleid aus Baumwolle, Chemise genannt, sowie ein Korsett und einen Unterrock. Das Kostüm war handgenäht worden nach den Techniken des 18. Jahrhunderts. Die Schürze wurde mit Stecknadeln am Oberteil befestigt. Nicht nur Schnitt und Stoff, auch die Farbgebung war genauestens kontrolliert worden. Lisa, die gerade im zweiten Semester war und auch ihre Gästeführer-Ausbildung erst vor wenigen Wochen begonnen hatte, fand es faszinierend, auf diese Weise mehr über die vergangenen Jahrhunderte zu erfahren.
Am Parkplatz am Grimmelshausen-Gymnasium angekommen, gab ihr Christoph einen freundschaftlichen Klaps. „Fahr vorsichtig“, mahnte er, „es soll heute Nacht Nebel und Bodenfrost geben.“ Lisa schauderte in ihrem Kostüm. Normalerweise hätte sie sich in den Räumen der Tourist-Information umgezogen, bevor sie nach Hause gefahren wäre. Doch heute hatte sie beschlossen, keine Zeit zu verschwenden. Sie war müde und musste am nächsten Tag ein Referat halten. Außerdem brauchte sie das Kostüm dafür. Eine alberne Idee ihrer Kommilitonin, das Goethe-Referat in zeitgemäßer Kleidung vorzutragen – aber bei ihrer Professorin würde es vielleicht Eindruck schinden.
„Ich hoffe, dass mich auf dem Weg nach Hause kein Polizist anhält. Der würde doch glatt denken, ich wäre aus der Klappse entsprungen“, prophezeite Lisa düster.
Christoph lachte: „Naja, wo sollten denn zwischen hier und Hammersbach Polizeikontrollen sein? Und selbst wenn, hast du zumindest den Überraschungseffekt auf deiner Seite.“
„Ha, ha, ha“, machte Lisa und schloss ihren roten, uralten Ford Fiesta auf. Das Leinenbündel, in dem ihre Jeans und ihr Pullover eingeschlagen waren, verstaute sie auf dem Rücksitz und rief Christoph ein spöttisches: „Au revoir, mon ami“ zu. Der junge Mann winkte und machte sich auf den Weg Richtung Unterstadt.
Die Straßen waren um diese Uhrzeit frei. Lediglich in Gründau traf Lisa auf ein paar Nachtschwärmer. Bei ihrem Weg über den Baumwieserhof Richtung Hüttengesäß war sie allein. Nur der Vollmond begleitete ihre Fahrt – und ein schreckliches Radioprogramm, das einen Charttitel nach dem anderen herunter dudelte. Die Radiomoderatorin schien ebenso davon gelangweilt wie Lisa, zumindest ihrer Stimmlage nach zu urteilen. Lisa hoffte, dass ihre Eltern bereits im Bett waren. Ihre Mutter blieb oft auf, wenn es bei Lisa später wurde, doch die Studentin sah das nicht gerne. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter ihretwegen in Sorge war, vor allem, seit sie in Frankfurt studierte. Vielleicht wäre es besser, zu Hause auszuziehen, aber das konnte sie sich nicht leisten. Außerdem mochte sie ihre kleine Wohnung in dem alten Haus. Es gehörte zwar nicht zu den wunderschönen Fachwerkhäusern im Ortskern von Marköbel, aber es war ebenfalls sehr alt. Ihr Urgroßvater hatte es gebaut.
„Und jetzt ein Hit der 90er Jahre von den Backstreet Boys“, tönte die Radiomoderatorin, als Lisas Auto den Hüttengesäßer Wald erreichte.
„Oh, bitte nicht!“, stöhnte Lisa.
Im Wald war es stockfinster – nur die Scheinwerfer schnitten eine schmale Spur aus Licht in die Dunkelheit und beleuchteten die asphaltierte Straße. Tatsächlich zog nun, wie von Christoph angekündigt, leichter Nebel auf, so dass Lisa auf die Bremse trat und ihre Fahrt verlangsamte.
„Na toll“, knurrte die junge Frau, während die Boygroup zu singen begann. Die eine Hand am Steuer und die Augen auf die Fahrbahn gerichtet, begann Lisa in der Ablage zu wühlen. Irgendwo musste eine alte CD von Depeche Mode herumliegen – alles war besser als diese Radio-Folter. Ihre tastenden Finger fanden allerdings keine CD-Hülle. Genervt sah Lisa zur Beifahrerseite. Die CD lag im Fußraum. Lisa warf noch einen Blick auf die Straße und bückte sich rasch, um die Plastikhülle zu angeln. Ihre Fingerspitzen griffen die CD. Mit einem triumphierenden „Ha!“ richtete sich Lisa wieder auf und sah auf die Straße. Wenige Meter vor ihrem Auto stand im Scheinwerferkegel ein Reh und blinzelte verwundert.
„Oh, Mist!“, schrie Lisa und trat auf die Bremse. Ein schrilles Quietschen tönte durch den nächtlichen Wald, als der Gummi auf dem Straßenbelag abrieb. Lisa bemühte sich, das Lenkrad festzuhalten, doch der kleine Ford geriet ins Schleudern. Die junge Frau schrie, als sich das Auto zu drehen begann und mit dem scheußlichen Geräusch von berstendem Metall und splitterndem Glas gegen den nächsten Baum prallte.
Für einige Minuten war es still, während das Reh gemächlich in den Wald trottete. Dann öffnete sich die Fahrertür des Fiesta und Lisa kletterte aus dem, was von ihrem Auto übrig geblieben war. Sie betrachtete das Wrack. Der rote Fiesta war mit der Beifahrerseite gegen den Baum gestoßen und hatte vermutlich nicht einmal mehr Schrottwert. „Mist!“, wiederholte Lisa aus vollem Herzen und rieb sich bekümmert die Stirn. Wie durch ein Wunder war sie offenbar kaum verletzt – lediglich eine breite Schramme verlief auf ihrer rechten Wange, und ihr Arm war offenbar geprellt, denn er schmerzte höllisch. Vermutlich würde er für einige Tage in Blau- und Grüntönen leuchten. Lisa beugte sich über den Fahrersitz und griff nach ihrer Handtasche. Sie angelte ihr Handy heraus und schaltete es an. Sie überlegte krampfhaft, wie sie ihrer Mutter möglichst schonend beibringen sollte, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllt hatten und ihre Tochter mitten in der Nacht allein im Wald vor den Überresten ihres Autos stand.
„Mama, zuerst die gute Nachricht: Ich lebe noch“, improvisierte sie, während sie auf das Display ihres Mobiltelefons starrte und darauf wartete, dass es die Eingabe ihrer Geheimnummer von ihr forderte. Leider kam stattdessen ein anderes Symbol: Bitte Akku laden. Lisa starrte ihr Handy an, blickte zu ihrem Auto und auf die Straße. Hier würde so schnell niemand vorbeikommen.
„Verdammt, verdammt, Mistmistmist“, murmelte sie. Sie schlug die Autotür zu und wollte gerade das Auto abschließen, als ihr klar wurde, wie unnütz das gewesen wäre. Seufzend warf sie den Autoschlüssel durch die geborstene Windschutzscheibe ins Innere des Wagens und ging Richtung Straße. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als zu laufen.
Lisa musste ein Stückchen den Hang hinauf klettern – das Auto war auf seiner vermutlich letzten Fahrt eine kleine Böschung hinunter gerast. Der Waldboden war trotz der Kälte matschig, begann gerade, an der Oberfläche zu verhärten. Lisa war dankbar für das Mondlicht, das durch die Baumkronen spärlich auf die Straße fiel und den Wald in diffuses, unheimliches Licht tauchte. Zwischen den Bäumen hingen leichte Nebelfetzen und verstärkten den unwirklichen Eindruck. Lisa begann ihren Weg die kurvige Straße hinab. Doch nach wenigen Metern blieb sie stehen. Die Straße machte eine große Kurve nach links und verschwand zwischen den Bäumen. Lisa war diesen Weg nach Hause bereits Hunderte Male gefahren. Ihr wurde bewusst, dass sie zu Fuß noch eine ganze Weile unterwegs sein würde – mindestens eine, wenn nicht zwei Stunden. Ratlos blickte sie ins Dunkel des Waldes. Würde sie, statt der Straße zu folgen, den Weg querfeldein zwischen den Bäumen einschlagen, wäre dies der direkte Weg ins Dorf. Und sie wäre bestimmt schneller. Nach kurzem Zögern betrat Lisa den Waldboden. Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie nicht so schnell wie möglich nach Hause kam.
Die junge Frau kam zunächst gut voran. Der Boden wurde zunehmend härter, die Luft kälter. Lisa setzte, obwohl sie sich etwas albern vorkam, die altertümliche Haube auf, die sie in ihrer Schürze stecken hatte. Normalerweise setzte sie die Kopfbedeckung nach den Führungen so schnell wie möglich ab – nach dem Mieder war die Haube ihrer Ansicht nach eines der schlimmsten Folterinstrumente, die je für Frauen erdacht worden waren –, aber angesichts der Kälte war ihr jedes Mittel recht, um ihre Ohren warm zu halten. Je kälter es wurde, desto dichter wurde auch der Nebel. Bald konnte Lisa keine zwei Meter weit sehen, und sie musste sehr langsam gehen und ihre Arme vorstrecken, um nicht gegen Bäume oder Sträucher zu laufen.
„Na, wunderbar“, zischte Lisa und stieß einen deftigen Fluch aus. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie nicht auf der Straße geblieben war. In dem dichten Nebel war sie viel langsamer, als sie es auf dem Asphalt gewesen wäre. Doch nach einer Weile begann der Nebel, sich zu lichten. Lisa seufzte erleichtert und schritt schneller voran. Sie war sicher, immer geradeaus gelaufen zu sein, also musste sie bald wieder auf die Straße treffen. Lisa hielt jedoch vergeblich Ausschau nach einem asphaltierten Streifen. Sie verlangsamte ihre Schritte und blickte sich um. Konnte nicht genau sagen, woran es lag, doch irgendwie erschien ihr der Wald verändert. Düsterer und wilder.
Lisa schalt sich selbst einen Narren: „Dumme Pute, hast du Angst vor der Dunkelheit?“ Doch als die Straße verschwunden blieb, bekam es Lisa mit der Angst zu tun. Sie lief schneller und begann, in ihrer aufsteigenden Panik über Wurzeln und herabgefallene Äste zu stolpern. Plötzlich wurde es dunkel. Lisa keuchte angsterfüllt auf, bevor ihr bewusst wurde, dass eine Wolke den Mond verdeckte – zumindest konnte sie den Vollmond nicht mehr sehen. Sie blieb stehen. Verzweifelt sah sie sich um, blinzelte in die Dunkelheit. Plötzlich schimmerte ein Licht durch die Bäume – ein fahler Schein, der mal heller, mal dunkler zu werden schien. Scheinwerfer, dachte Lisa. Erleichterung überkam sie. Dort musste die Straße sein. Sie ging langsam weiter. Doch das Licht irritierte sie. Mal flackerte es auf, mal schien es zu verlöschen. Einmal dachte Lisa, sie hätte sich das Licht nur eingebildet, doch dann leuchtete es erneut in einiger Entfernung vor ihr auf.
Unbeholfen machte Lisa einen weiteren Schritt nach vorne. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach, und mit einem entsetzten Aufschrei stürzte sie.
Sie fiel nicht sehr tief – offenbar war sie über den Rand eines Abhangs getreten –, schlug auf abschüssigem Boden auf und begann, hilflos weiter zu rutschen und zu rollen. Verzweifelt versuchte sie, irgendwo Halt zu finden, doch ihre Hände ertasteten nur vorbeifliegendes Gras und Erde. Abrupt endete Lisas Sturz, als sie hart auf aufschlug. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. Keuchend vor Schmerz blieb sie auf der Seite liegen.
Genau in diesem Moment riss die Wolkendecke auf und bleicher Sternenschein erhellte den Wald. Lisa starrte in die blicklosen Augen einer Leiche.
Gebannt sah Lisa in das schöne tote Gesicht. Es war eine junge Frau, die nur wenige Zentimeter vor ihr auf dem Waldboden lag, zusammengekrümmt auf der Seite – beinahe wie ein bizarres Spiegelbild von Lisa. Die Frau war auch im Tode sehr hübsch, wie Lisa seltsam distanziert bemerkte. Ebenholzschwarze Haare flossen lang über ihre Wangen und bedeckten wie ein Schleier den Waldboden. Die blutroten Lippen waren leicht geöffnet. Die haselnussbraunen Augen, in deren Weiß kleine rote Punkte glänzten, waren von dichten Wimpern umkränzt. Auf ihrem Gesicht lag ein fast erstaunter Ausdruck, als wäre der Tod eine Überraschung für sie gewesen. Ihre porzellanweiße Haut war makellos – bis auf die blau-roten Male, die sich fast überdeutlich am weißen Hals der Toten abzeichneten.
Erst jetzt begann Lisa zu schreien. Sie sprang auf die Füße, trotz des üblen Stechens in ihren Rippen. Mit aufsteigender Verwirrung fragte sie sich, warum die Tote ebenfalls ein historisches Kostüm trug – eine blaue Robe à la Polonaise, wie sie im späten 18. Jahrhundert modern gewesen war. Das körpernah geschnittene Oberteil war aufgerissen, so dass die bleichen Brüste der Frau bloß lagen. Rock, Unterrock und Chemise waren hochgeschoben.
Lisa blickte sich wild um – war der Mörder etwa noch in der Nähe?
In diesem Moment zog sich die Wolkendecke wieder zusammen – Lisa konnte den Mond noch immer nicht ausmachen – und eine dunkle Gestalt trat hinter einem der Bäume hervor. Lisa erstarrte.
Lautlos bewegte sich die Gestalt im unheimlichen Zwielicht auf Lisa zu. Es war ein Mann. Etwa zwei Köpfe größer und von breiter Statur. Plötzlich packte er blitzschnell mit einer Hand Lisas linkes Handgelenk, zog sie zu sich heran und umfasste mit der anderen Hand ihre Kehle. Lisa keuchte erschrocken auf. Sie begann, mit ihrer freien Hand auf seine Brust einzuschlagen. Das Hemd des Fremden zerriss mit einem hässlichen Geräusch, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Sehen konnte sie sein Gesicht noch immer nicht, denn der wolkenverhangene Himmel sorgte dafür, dass die Nacht so schwarz wie die Hölle blieb. Der Angreifer packte fester zu, drückte Lisa mit dem Rücken gegen einen Felsbrocken und presste sie mit seinem Körpergewicht dagegen. Er war ihr so nah, dass sie seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht spüren, mit der Hand die Haare auf seiner Brust fühlen und eine seltsame Geschwulst – eine Narbe? – an seinem Rippenbogen ertasten konnte. Nun nahm er beide Hände, um ihr die Kehle zuzudrücken. Lisa röchelte vor Schmerzen. Rote Nebel stiegen vor ihren Augen auf. Instinktiv handelte sie so, wie sie es vor Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte: Sie tastete nach dem Gesicht des Mannes, suchte seine verwundbaren Stellen – seine Augen. Sie rammte ihre Fingerspitzen hinein. Um ihm ernsthaft Schaden zuzufügen, fehlte ihr die Kraft, aber der Mann brüllte überrascht und schmerzerfüllt auf und ließ sie los. Lisa japste nach Luft, riss ihr Knie in die Höhe und traf den Angreifer zwischen den Beinen. Er gab gurgelnde Geräusche von sich und ging zu Boden.
Lisa rannte los, doch nach zwei Schritten stolperte sie in der Finsternis über die Leiche und stürzte zu Boden. „Shit“, fluchte sie und rappelte sich wieder auf. Lisa konnte in der Finsternis noch immer nicht besonders gut sehen, doch zumindest erkannte sie vage die Umrisse der Bäume und Sträucher – und den des Mannes, der sich langsam vom Boden erhob. Lisa schrie erschrocken auf und rannte erneut los. Diesmal konnte sie zwar Hindernissen ausweichen, doch ihr Kleid verfing sich im Unterholz, und außerdem hatte sie sich bei ihrem Sturz ihren Knöchel verstaucht. Bei jedem Schritt schoss ihr ein stechender Schmerz durch das Gelenk. Jedoch reichte das Geräusch des keuchenden Atems ihres Verfolgers aus, um sie zum Weiterrennen zu motivieren. Offensichtlich hatte er auch Probleme, voranzukommen – sonst hätte er Lisa vermutlich längst eingeholt.
Orientierungslos rannte Lisa weiter und meinte erkennen zu können, dass sich in einiger Entfernung die Bäume lichteten. Endlich, dachte sie. Außerhalb des Waldes konnte sie den Angreifer vielleicht abhängen. Auf der Straße. Und sie schaffte es bis zum Dorf. Oder es kam ein Autofahrer vorbei.
Lisa mobilisierte ihre Kraftreserven und hielt auf den Waldrand zu. Sie durchbrach das Unterholz und fand sich auf freiem Feld wieder. Sie hielt kurz an, um sich zu orientieren. Keine Straße. Keine Lichter. Keine Häuser.
„Verfluchter Mist“, stöhnte die junge Frau und sah sich hastig um. Nichts zu sehen von ihrem Verfolger,, aber Lisa hörte die krachenden Geräusche, mit denen er sich durch das Gehölz kämpfte. Auf gut Glück schlug sie den Weg einen Hügel hinauf ein und rannte, so schnell sie konnte. Angesichts ihres angeschlagenen Zustandes nicht sehr schnell.
Wo zum Teufel bin ich?, dachte sie, während sie durch eine Landschaft hetzte, die ihr unbekannt war. Dabei kannte sie die Gegend rund um Marköbel durch ihre Spaziergänge mit ihrem Hund eigentlich ganz gut. Ob sie auf der Hüttengesäßer Seite herausgekommen war? Sie blickte sich um. Immer noch keine Spur von ihrem Verfolger. Rasch verbarg sich Lisa hinter einem nahen Gebüsch und nutzte die Gelegenheit, um zu Atem zu kommen. Sie hoffte, dass der Mistkerl ihre Spur verloren hatte. Sie musste so schnell wie möglich die Polizei benachrichtigen, aber zunächst musste sie herausfinden, wo sie war. Noch nie hatte sie sich derartig verirrt. Vorsichtig richtete sie sich auf und warf einen Blick Richtung Wald. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, auch wenn der Vollmond verschwunden blieb. Die Landschaft lag bleich im Sternenlicht da. Niemand war zu sehen. Lisa rang immer noch nach Atem und stand auf. Da wurde sie von hinten gepackt und grob herum gerissen. Lisa schrie auf: Der Fremde hatte sie eingeholt und sich von hinten an sie herangeschlichen. Blindlings stieß sie mit ihrem Kopf zu und traf den Kiefer des Mannes. Er stöhnte und ließ sie los.
Lisas Kopf dröhnte ebenfalls, doch sie stieß den Kerl von sich. Spürte, wie ihre Fingernägel über die bloße Haut seiner Brust schrammten und nutzte den Moment, um erneut zu flüchten: Sie rannte bergab. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach. Etwa vier Meter stürzte sie in die Tiefe, schlug auf matschigen Grund auf. Verwirrt sah sie sich um: Sie befand sich in einem offenbar künstlich angelegten Schacht. Die Wände bestanden aus Erde, aber sie reichten senkrecht in die Höhe. Als Lisas Blicke nach oben wanderten, sah sie die Gestalt ihres Angreifers, eine schwarze Silhouette vor dem Sternenhimmel.
Sie sah noch, dass der Mann begann, das Loch, in das sie gestürzt war, abzudecken. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Kapitel 2: Fremd
Als Lisa erwachte, tat ihr jeder einzelne Knochen im Leib weh. Zumindest war ihr warm, und sie lag in einem weichen Bett. Es duftete nach gestärktem Leinen. Mit großer Anstrengung gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf leicht zur Seite gedreht, und sie blickte direkt auf eine weiß getünchte Wand. Am Rande ihres Blickfeldes nahm sie einen hellen Lichtfleck war – vermutlich ein Fenster. Erschöpft schloss Lisa wieder ihre Augen. Die Erinnerungen regten sich träge am Rande ihres Bewusstseins. Das Reh. Der Autounfall. Ja, vermutlich lag sie im Krankenhaus. Ihr Auto. Entsetzt riss Lisa die Augen auf und fuhr in die Höhe, nur um gleich darauf stöhnend vor Schmerzen wieder zurück zu sinken. Die ruckartige Bewegung hatte ihrem Kopf überhaupt nicht gut getan.
„Mein Vater bringt mich um“, stöhnte die Studentin, als sie an den Schrotthaufen dachte, der ihr Auto gewesen war. Sie vernahm hastige Schritte, die sich ihrem Bett näherten, und öffnete erneut die Augen. Vorsichtig drehte sie den Kopf und bemerkte, dass sie in einem kleinen Raum mit Holzdecke untergebracht war. Der helle Lichtfleck entpuppte sich tatsächlich als Fenster – das einzige des Raumes. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür, durch die ein junger Mann kam. Er trug braune Stoffhosen und ein weißes Rüschenhemd. Lisas Kopfschmerzen waren nicht so stark, als dass sie nicht bemerkt hätte, dass er mit seinen kinnlangen blonden Haaren und den leuchtend blauen Augen, die sie besorgt anblickten, verdammt gut aussah.
„Wenn das ein Krankenhaus ist, dann ein sehr sonderbares“, murmelte Lisa, als der junge Mann an das Bett heran trat und sich über sie beugte. Er fasste ihr an die Stirn und hob vorsichtig mit dem Daumen ihr linkes Lid an, um ihr ins Auge zu sehen. Lisa roch den für Männer etwas ungewöhnlichen Duft von Kernseife. Einem Model-Typ wie diesem Kerl hätte sie eher „Sumatra Rain“ oder „Old Spice“ zugetraut. Lisa schob ihren offensichtlich gestörten Geruchssinn dem Unfall zu.
Als das potenzielle Calvin-Klein-Modell begann, mit fachmännischen Griffen ihren Kopf abzutasten, biss Lisa sich vor Schmerz auf die Unterlippe.
„Shit“, entfuhr es ihr.
Der Blonde hob die Augenbrauen. „Seid Ihr Engländerin?“, fragte er. Seine Stimme war dunkel und volltönend.
Lisa konnte nur mit einem verwirrten, ganz und gar hessischen „Hä?“ reagieren.
„Do you speak english?“, fragte der Blonde, offensichtlich etwas ungeduldig.
„Yes, and I speak german, too“, sagte Lisa und kam sich unheimlich cool dabei vor. Der Mann allerdings schien nun seinerseits verwirrt zu sein. Scheinbar war ihre schlagfertige Antwort nicht ganz so witzig, wie es sich Lisa erhofft hatte.
„Äh, ich spreche deutsch“, sagte sie. Der Mann nickte zufrieden und schob die Bettdecke zurück. Wahrscheinlich wollte er sie weiter untersuchen. Im Raum war es jedoch ungewöhnlich kalt, und so streckte Lisa reflexartig die Hände aus, um die Decke wieder hochzuziehen.
Der Fremde schien ihre Geste jedoch falsch zu verstehen. „Ihr braucht keine Angst zu haben, ich bin Arzt“, sagte er beruhigend und zog mit festem Griff erneut die Decke fort.
Lisa wehrte sich nicht mehr: „Schon klar.“
Sehr gesprächig war der Onkel Doktor nicht. Er untersuchte sie gewissenhaft und gründlich, und zu Lisas Leidwesen auch nicht unbedingt zartfühlend, so dass ihr manchmal ein Schmerzenslaut entfuhr. Während der Untersuchung schwieg er, und Lisa war zu erschöpft, um das Wort an ihn zu richten. Als der Arzt – Lisa fragte sich, an welcher Uni man das Medizinstudium bereits mit Mitte 20 abgeschlossen haben konnte – mit seiner Untersuchung fertig war, glaubte Lisa, mehr Schmerzen zu haben, als zuvor.
„Ihr habt Glück gehabt“, sagte der Blonde zu ihr und zog sich einen Schemel heran, der neben dem Bett gestanden hatte.
„Hab ich das?“, fragte Lisa mit schwacher Stimme und versuchte, durch heftiges Blinzeln die roten Schmerzschlieren vor ihren Augen zu vertreiben.
„Oh ja“, sagte der Fremde, zog eine Taschenuhr aus seiner Hosentasche und ergriff ihr linkes Handgelenk, um ihren Puls zu messen, „ein Sturz aus dieser Höhe ist nicht ungefährlich.“
Lisa sah ihn verständnislos an. Von welchem Sturz redete der Kerl? Plötzlich prasselten die Erinnerungen auf sie ein: der Wald, der Fremde, der Sturz!
„Die Leiche“, keuchte Lisa und widerstand dem Drang, in einer Panikattacke aus dem Bett zu springen. Wahrscheinlich hätte sie sich sofort übergeben und zwar auf die Schuhe des blonden Germanys-next-male-Topmodel-Kandidaten.
Er blickte sie groß an: „Eine Leiche, sagt Ihr?“
Plötzlich ging Lisa die altertümliche Anredeform, die sie bislang gar nicht richtig registriert hatte, fürchterlich auf die Nerven. Manchmal benutzten Witzbolde, die sie in ihrem Kostüm antrafen, die „ihr“ und „euch“-Floskel. Doch ihr war gar nicht zum Spaßen zumute. Nur weil dieser Kerl, der sich hier als Arzt aufspielte und wahrscheinlich gerade einmal Student im praktischen Jahr war, mitbekommen hatte, dass sie, als sie eingeliefert wurde, ein historisches Kostüm trug und sie deswegen nicht ernst nahm, lief da draußen ein Mörder frei herum. „Ja, eine Leiche. Fragen Sie mal Ihre Kollegen aus der Pathologie, die können Ihnen sagen, was das ist“, fauchte Lisa aufgeregt und setzte sich vorsichtig auf. „Wir müssen die Polizei rufen, die Kripo verständigen, der Typ läuft frei herum! Der wollte mich auch kalt machen!“
Der Fremde hatte seine Verblüffung offensichtlich überwunden und stand auf, um Lisa energisch ins Kissen zurück zu drücken. „Beruhigt euch! Offensichtlich habt Ihr beim Sturz in den ausgetrockneten Brunnen einen Schlag auf den Kopf abbekommen. Ihr könnt wirklich von Glück sagen, dass Schneider den Judenborn kontrolliert hat, weil er auf der Suche nach einem jungen Schaf war…“
„Ich will mich aber nicht beruhigen, gottverdammter Mist“, brüllte Lisa.
Auf ihre Worte folgte Stille, während der Fremde sie ungläubig anstarrte. „Ähm“, sagte er dann und ließ ihre Schultern los. „Ganz ruhig. Ich werde so tun, als ob ich nichts gehört habe. Und wenn Ihr Glück habt, hat euch auch sonst niemand gehört. Im Zweifelsfall werde ich einfach sagen, dass Ihr im Fieber sprecht. Ich glaube, damit würde ich nicht einmal lügen.“
Lisa holte tief Luft. Sie zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen: „Ich bin ganz klar bei Sinnen. Da draußen im Wald liegt eine Frau. Eine tote Frau. Und ich bin ihrem Mörder begegnet. Ich weiß nicht…“ Lisa verstummte. Wie lange mochte sie bewusstlos gewesen sein? Vielleicht waren schon mehrere Tage vergangen und der Mörder war längst über alle Berge? Selbst wenn nur einige Stunden vergangen waren – am nahe gelegenen Verkehrsknotenpunkt Frankfurt am Main konnte sich der Typ in ein Flugzeug setzen und sich einfach nach Hawaii verdrücken, wenn es sein musste.
„Welches Datum haben wir?“, wollte Lisa wissen. Der Abend ihres Unfalls war der 15. Oktober gewesen. Der junge Arzt blickte seine Patientin skeptisch an und sagte: „Seid Ihr sicher, dass es euch…“
„Es geht mir fantastisch“, beteuerte Lisa. „Ich will nur wissen, welches Datum wir haben.“
Der Blonde zuckte die Achseln und sagte: „Lange habt Ihr mit Sicherheit nicht in dem Brunnen gelegen. Bei diesen Temperaturen wärt Ihr sicher erfroren. Aber zu eurer Beruhigung: Wir schreiben den 16. Oktober 1792.“
Lisa atmete auf: „Der 16., gut, dann habe ich nur ein paar Stunden dort gelegen. Wir müssen…“ Lisa stockte. Sie war sich nicht ganz sicher, aber irgendwas war seltsam. Es war wie eine von diesen Wortreihen in Intelligenztests, bei denen man sagen musste, welches Wort nicht in die Reihe passte. Zum Beispiel: Messer, Löffel, Gabel, Tasse. Was war an seinen Worten die Tasse?
Lisa musterte den Fremden nochmals genauer. Dieses Rüschenhemd … und die Taschenuhr. Langsam streifte sie die Bettdecke ab und achtete nicht auf die Proteste des Fremden. Vorsichtig stand sie auf und ging zum Fenster. Sie kniff die Augen zusammen, denn das Tageslicht blendete sie. Langsam beugte sie sich vor, um einen Blick durch die seltsam dicken und stumpfen Glasscheiben zu werfen. Es schien um die Mittagszeit zu sein, denn die Sonne stand hoch am Himmel. Auf der rechten Seite sah sie die vertraute Silhouette des Marköbeler Untertores. Doch das war auch alles, was ihr vertraut war. Die Straße vor dem Haus war grob gepflastert, der Boden an den Seiten lehmig. Auf der Straße herrschte reges Treiben: ein Pferdefuhrwerk kam gerade durch das Untertor ins Dorf, an der gegenüberliegenden Straßenecke spielten Kinder in einfacher Kleidung fangen. Zwei Frauen, beide in altertümlicher Kleidung und mit großen Weidenkörben in den Armen, hielten ein Schwätzchen, während eines der Kinder versuchte, unauffällig aus dem Korb der einen Frau einen Apfel zu stibitzen. Was Lisa dort draußen sah, war ganz und gar nicht das Bild, das sie erwartet hatte.
Langsam wandte sich Lisa um. Der gut aussehende Arzt musterte sie besorgt, als sie heiser fragte: „1792?“ Er nickte. Lisa schluckte. „Dann möchte ich mich korrigieren. Es geht mir offenbar ganz und gar nicht gut.“ Mit diesen Worten fiel Lisa erneut in eine gnädige Ohnmacht.
Aus der Ferne hörte Lisa Stimmen. Ein Mann und eine Frau. Offenbar stritten sie sich. Während Lisa aus ihrer Ohnmacht erwachte, versuchte sie, den Sinn des Gesprächs zu begreifen, doch erst, als ihr Geist die letzte Barriere zwischen Schlafen und Wachen durchdrang, wurden die Worte sinnvoll.
„…wäre ich dankbar, wenn Ihr euch nicht einmischen würdet“, sagte die männliche Stimme, die Lisa vage bekannt vorkam.
Die Frauenstimme antwortete unfreundlich und mit unverkennbar hessisch gefärbtem Zungenschlag: „So ein Blödsinn. Ihr habt ja gesehen, was es gebracht hat, euer Zeug da. Das arme Ding ist einfach zusammengeklappt. Ich habe ja gleich gesagt, Ihr sollt Wadenwickel mit Kamille machen, das hilft immer.“
„Bei einem Sturz aus vier Metern Höhe?“, fragte der Mann ironisch.
Das Geräusch, das er als Antwort erhielt, war eindeutig abschätzig. „Sturz, Fieber, Leibschmerzen – meine Mutter hat gesagt, das hilft bei allem. Und uns hat es immer geholfen, Herr Doktor. Schließlich mussten wir hier bisher ohne eure Hilfe zurechtkommen.“
Der Mann seufzte: „Ich will der Kamille ja gar nicht ihre heilenden Kräfte absprechen, aber bei allem wirkt sie nun wirklich nicht. Vielleicht würde allerdings ein Klistier die nervösen Zustände des Mädchens lindern…?“
Lisa hielt dies für den geeigneten Augenblick, um offiziell aufzuwachen – ehe der Mann seine Pläne mit dem Klistier in die Tat umsetzen konnte. Sie schlug die Augen auf und sah den ihr bekannten Blonden an der Tür zu ihrer Kammer stehen. Vor ihm hatte sich eine kleine, grauhaarige Frau aufgebaut. Sie trug einen leinenen Rock, ein braunes Mieder sowie ein helles Kopftuch. Auf der Nase hatte sie einen Mehlfleck, und ihre Augen funkelten kampfeslustig.
„Ähm“, machte Lisa, um die beiden auf sich aufmerksam zu machen und von ihren Heilungsmethoden abzulenken. Die Frau stürmte an ihr Bett: „Ei, sag einmal, Mädchen, was machst denn du für Sachen? Wie kommst du denn in unseren Judenborn?“
Der junge Blonde holte tief Luft, sagte dann aber ruhig: „Dorothea, bitte lasst meine Patientin in Ruhe. Ihr könnt eure Neugier später befriedigen, wenn Ihr ihr Essen bringt. Nun geht bitte und berichtet dem Schultheiß, was ich euch gesagt habe. Er soll die Junge Mannschaft ausschicken.“
Dorothea warf Lisa einen mitleidigen, dem Blonden einen giftigen Blick zu und marschierte aus der Tür: ein General, der zwar eine Schlacht, nicht jedoch den Krieg verloren hat.
Der Blonde sah ihr kopfschüttelnd nach und trat dann zu Lisa ans Bett. „Ihr müsst meine Vermieterin entschuldigen. Sie ist eine herzensgute Frau, aber leider sehr neugierig. Geht es euch wieder besser?“
Lisa dachte kurz nach. Sie hatte in den vergangenen Stunden einen Autounfall gehabt, war über eine Leiche gestolpert, fast erwürgt worden, in einen Brunnen gestürzt und im Jahr 1792 wieder aufgewacht. „Es geht mir den Umständen entsprechend gut“, sagte sie so würdevoll wie möglich.
Der Fremde runzelte die Stirn: „Ihr habt eine sehr merkwürdige Art, euch auszudrücken. Ihr klingt nicht so, wie die Bauern hier auf dem Dorf.“
„Du…“ setzte Lisa an, verbesserte sich jedoch rasch: „Ihr auch nicht.“
Der Fremde lächelte amüsiert: „Natürlich nicht. Ich lebe erst seit einigen Monaten hier. Bislang gab es hier im Dorf keinen Arzt, wie Ihr vielleicht an dem etwas einfältigen Verhalten der Dörfler merken werdet.“ Er machte einen kleinen Diener: „Ich habe mich euch noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jonas Faust.“
„Angenehm“, murmelte Lisa.
Der Arzt hob die Augenbrauen: „Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Lisa … ich meine, Elisabeth Schmidt“, stotterte die Studentin.
Jonas Faust nickte ihr zu: „Zu eurem Zustand…“
„Bitte, erinnert Ihr euch, was ich euch erzählt habe? Die tote Frau?“, unterbrach ihn Lisa.
Der junge Mann zögerte, nickte dann: „Ich habe Dorothea los geschickt. Schultheiß Mörschel und die Junge Mannschaft kümmern sich darum.“
„Die wer?“
„Das sind die jungen, wehrfähigen Männer des Ortes. Ihr seid in der Nähe des Eichenwäldchens im unteren Wald gefunden worden. Dort beginnen sie mit der Suche. Ihr könnt ohnehin nichts tun, also ruht euch aus. Dorothea wird euch später eine Suppe bringen.“
Faust neigte den Kopf und ging hinaus. Lisa, allein gelassen mit ihren Gedanken, starrte ihm nach. 1792. Wie war sie hier her gekommen? Was war dort draußen im Wald nur passiert? Und vor allem: Wie sollte sie wieder nach Hause kommen?
Später brachte ihr Dorothea eine dünne Gemüsesuppe. Lisa löffelte sie dankbar, wich aber den Fragen der neugierigen Frau aus. Als Dorothea enttäuscht mit der leeren Terrine wieder gegangen war, lehnte sich Lisa zurück und versuchte, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Dabei wurde sie jedoch unterbrochen: Von der Straße drang Lärm herein. Lisa erhob sich mühsam aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Sonne stand schon tief; es mochte später Nachmittag sein. Eine Gruppe von etwa 20 jungen Männern kam durch das Untertor herein. Drei von ihnen trugen auf einer Bahre eine in helle Tücher gewickelte Gestalt. Zwischen den Tüchern schimmerten ebenholzschwarze Haarsträhnen. Zahlreiche Dorfbewohner standen am Straßenrand und beobachteten den unheimlichen Einzug. Sie tuschelten. Furcht blitzte in ihren Augen auf. Lisa bemerkte eine weitere Gestalt, die ein Stück hinter den anderen ging und in einen dunklen Mantel gehüllt war. Der Mann hob den Kopf und blickte zu ihrem Fenster hinauf. Lisa erkannte Jonas Faust. Er sah sie mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an.
Lisa wandte sich schaudernd ab und legte sich wieder ins Bett. Die Junge Mannschaft hatte also die Leiche gefunden. Was mochte nun geschehen? Während sie noch darüber nachgrübelte, schlief sie ein.
Sie erwachte, weil sie jemand unsanft an der Schulter rüttelte. Es war Faust. „Es tut mir leid, ich hätte euch lieber schlafen lassen, aber die hohen Herren möchten euch unbedingt sofort sprechen.“
„Welche hohen Herren?“, murmelte Lisa schlaftrunken und rieb sich die Augen.
Der junge Arzt fühlte ihren Puls und sagte: „Schultheiß Mörschel, Bürgermeister Gaul und die Schöffen Rau, Gärtner und Lehrer Kranig. Sie haben Fragen wegen der Leiche.“
Lisa schluckte und fragte: „Wie hieß das Mädchen?“
Jonas Faust sah sie kurz an und sagte, während er einen Kerzenhalter auf dem Tischchen neben dem Bett entzündete: „Katharina Katz. Sie war die Tochter des Juden Amschel Katz. Nun richtet euch ein bisschen, die Herren treffen gleich ein.“ Faust verließ den Raum, um den Gästen entgegen zu eilen. Lisa setzte sich auf, strich ihre Haare glatt und fragte sich, was sie denn „richten“ sollte. Schließlich stopfte sie die Decke etwas fester um sich fest. Dann hörte sie Schritte im Flur und polternde Männerstimmen. Die Tür flog auf, und fünf Männer nebst Faust betraten den Raum. Der Arzt hielt sich im Hintergrund, denn die Kammer war mit den Besuchern bereits prall gefüllt. Ein gut aussehender, dunkelhaariger Mann in den 40ern trat ans Bett und sagte: „Fräulein Schmidt, entschuldigt die späte Störung, aber wir müssen umgehend eure Aussage hören. Mein Name ist Johannes Mörschel, ich bin der Schultheiß des Ortes.“
Lisa starrte ihn an. Johannes Mörschel. Oktober 1792. Sie wusste, wer dieser Mann war. Jeder, der sich mit der Marköbler Geschichte befasst hatte, wusste es. Er war der tapfere Schultheiß, der die Franzosen von der Toren Marköbels vertrieben hatte. Der Marköbler Held, sozusagen. In wenigen Wochen, vielleicht sogar Tagen, würde dieser Mann ein Stück Lokalgeschichte schreiben.
Lisa schluckte und sagte: „Guten Tag.“
Mörschel wies auf einen seiner Begleiter, einen stämmigen, grobschlächtigen Mann mit braunen Haaren: „Das ist der Bürgermeister, Schorsch Gaul. Dort die beiden Schöffen Karl Rau und Philipp Gärtner.“ Er zeigte auf zwei weitere Begleiter, einen kleinen, dicken Blonden und einen hochgewachsenen Rothaarigen. Zum Schluss deutete er auf einen schlaksigen, grauhaarigen Mann mit Brille. „Und das ist unser Lehrer, Heinrich Jacob Kranig. Er wird eure Aussage protokollieren.“
Lisa nickte den Männern zu. Kranig rückte den Schemel an den Nachttisch, positionierte darauf ein Blatt Papier, holte ein Tintenfass und eine Feder aus der Westentasche und machte sich zum Schreiben bereit.
„Seid Ihr bald fertig?“, herrschte Gaul den Lehrer an, weil es ihm offenbar nicht schnell genug ging. Kranig zuckte zusammen, und auf dem weißen Papier erschien ein unschöner Tintenfleck.
„Na, na, Schorsch, nur die Ruhe“, sagte Mörschel begütigend, klopfte Kranig auf die Schulter und wandte sich an Lisa: „Wiederholt für das Protokoll bitte noch einmal euren Namen.“ Lisa tat, wie ihr geheißen. Mörschel nickte zufrieden: „Nun schildert uns bitte, wer Ihr seid und woher Ihr kommt.“ Lisa zögerte und blickte zuerst Mörschel, dann Faust an, der wie unbeteiligt am Türrahmen lehnte.
„Ich … weiß nicht so recht … es ist alles so verschwommen…“ begann sie.
Gaul fuhr dazwischen: „Was meint Ihr damit?“ Lisa sah ihn hilflos an.
Jonas Faust schaltete sich ein: „Meine Patientin hat einige sehr aufwühlende Erlebnisse hinter sich. Da kann es durchaus sein, dass das Gedächtnis nicht so arbeitet wie gewöhnlich. Nach und nach wird ihr sicher wieder alles einfallen.“ Die Männer schienen unzufrieden zu sein. Mörschel warf dem Arzt einen missbilligenden Blick zu: „Nun, offenbar wart Ihr wie ein besseres Dienstmädchen gekleidet…“
Lisa griff den Faden dankbar auf und bemühte sich um eine möglichst schlichte Ausdrucksweise: „Jawohl, Herr Schultheiß, ich bin Dienstmädchen. Meine Herrschaft war in Gelnhausen, doch ich habe meine Anstellung verloren, weil … weil … weil die Herrschaften verzogen sind … nach Wetzlar…“
Die Männer hörten ihr nun aufmerksam zu, und Lisa spann ihre Geschichte weiter: „Ich wollte nicht so weit weg gehen, hatte vor, mir eine neue Stelle zu suchen. Eine Bekannte sagte mir, dass eine reiche Familie in Hanau ein Dienstmädchen sucht, und so machte ich mich auf den Weg. Ich kam über Hüttengesäß hierher, weil ich … äh … eine Freundin besuchte, die dort in Dienst steht…“
„Wie lautet der Name dieser Freundin?“, wollte Gaul misstrauisch wissen.
„Äh … Johanna …, aber sie arbeitet nicht mehr in Hüttengesäß. Als ich ankam, sagte man mir, dass sie weggegangen ist. Also lief ich weiter nach Marköbel. Durch den Wald.“
„Warum habt Ihr nicht in Hüttengesäß übernachtet? Im Gasthof ‚Zum Löwen‘ waren doch sicher Zimmer frei?“, fragte Gaul lauernd.
Lisa witterte eine Falle und war froh, dass sie schon häufig Gast in dem traditionsreichen Hüttengesäßer Restaurant gewesen war und deswegen wusste, dass es 1792 schon existiert hat. „Ihr meint wohl das Gasthaus ‚Zur Krone‘“, stellte sie richtig. „Dort habe ich gefragt, aber eine Magd sagte mir, der Wirt Zinkhan habe nichts mehr frei. Außerdem dachte ich nicht, dass es so weit ist bis Marköbel, und die Dämmerung hat mich überrascht. Und in der Dunkelheit habe ich mich wohl im Wald verirrt“, schloss Lisa, erleichtert über ihre, ihrer Meinung nach, grandios erdachte Geschichte. Mörschel rieb sich das Kinn: „Hm … fahrt fort!“
Lisa schilderte, wie sie durch den dunklen Wald gestolpert und schließlich auf die Leiche gestoßen war. Dann berichtete sie vom Auftauchen des Fremden, der sie angriffen hatte, und von ihrer Flucht, die mit dem Sturz in den Brunnen geendet hatte.
Nun begannen Schultheiß, Schöffen und Bürgermeister, Fragen zu stellen. „War viel Blut auf dem Boden?“, wollte Gaul wissen.
Lisa sah ihn verständnislos an: „Blut? Nein, gar kein Blut.“
Gaul sah die anderen triumphierend an: „Da seht ihr es. Kein Blut. Ich sage es doch: Es waren die Juden selbst. Eines von ihren seltsamen Ritualen, wie bei den armen Viechern, in denen auch kein Tropfen Blut mehr zu finden ist.“
Die Schöffen murmelten beifällig, aber Jonas Faust, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, mischte sich wütend ein: „Hört auf, so einen Unsinn daherzureden, Mann! Ich habe mir das Mädchen angesehen. Natürlich konnte kein Blut zu sehen sein, schließlich ist das arme Ding erwürgt worden. Hört endlich auf, gegen die Juden zu hetzen, wir wissen, dass Ihr keine mehr im Dorf haben wollt.“
Es herrschte betroffene Stille im Zimmer. Die Schöffen scharrten mit ihren Füßen und starrten vor sich auf den Boden, Gaul und Jonas Faust fixierten sich mit wütenden Blicken.
Mörschel sagte schließlich ruhig: „Wir haben förmlich Beschwerde gegen die Aufnahme von weiteren Schutzjuden eingelegt. Damit sollte dieses Thema erledigt sein. Das heißt nicht, dass wir gegen die Juden, die hier im Judeneck leben, hetzen wollen. Schorsch, wenn Faust sagt, dass das Mädchen erwürgt wurde, wird das schon stimmen.“ Die beiden Kontrahenten knurrten, und der Arzt ging zurück zu seinem Platz an der Tür.
Mörschel befragte Lisa eingehend nach allen Details der zurückliegenden Nacht. Lisa antwortete, so gut sie konnte. Doch es war seltsam: Um die Gestalt ihres Angreifers hatte sich so etwas wie ein Schleier gelegt, so dass sie lediglich sagen konnte, dass es ein kräftiger Mann gewesen war. An mehr erinnerte sie sich nicht.
Nach einer Ewigkeit – Kranig hatte den fünften Bogen Papier mit seiner kleinen Handschrift vollgekritzelt – räusperte sich Mörschel: „Ich denke, das genügt. Fräulein Schmidt wird zunächst im Dorf bleiben, bis sich alles geklärt hat. Ihr gesundheitlicher Zustand erlaubt weiteres Reisen ohnehin nicht, zumal sie“ – der harte Blick seiner Augen traf Lisa – „nicht mehr weiß, wie die Familie hieß, bei der sie sich vorstellen wollte.“ Mörschel wandte sich an den Arzt. „Faust, Ihr habt doch ohnehin wegen einer Magd bei mir angefragt. Nehmt doch Fräulein Schmidt, wenn es ihr wieder besser geht.“ Faust nickte mit versteinertem Gesicht. Die Männer brachen unter lauten Gesprächen auf.
Mörschel reichte Lisa die Hand: „Ich wünsche euch gute Besserung. Bürgermeister Gaul wird ein Auge auf euch haben.“ Lisa lächelte gezwungen. Ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war?
Nachdem die Männer gegangen waren, wollte sich Lisa wieder zum Schlafen hinlegen, doch Jonas Faust kam ins Zimmer gestürmt, schloss die Tür hinter sich und eilte zum Fenster. Er sah prüfend hinaus in die Dunkelheit, eher er sich auf den Hocker am Bett setzte und sie vorwurfsvoll, beinahe anklagend anblickte: „Wenn ich euch schon am Hals habe, dann will ich die Wahrheit wissen.“
„Welche Wahr…“, begann Lisa, wurde jedoch von Faust rüde unterbrochen: „Stellt euch nicht dümmer, als Ihr seid. Ein Dienstmädchen – pah! Ich habe in dieser Gegend noch nie ein Dienstmädchen getroffen, das sich so gebildet ausdrückt. Und schon gar keines, das Englisch spricht. Und kommt mir nicht mit eurem Gedächtnis. Das funktioniert offenbar nur dann schlecht, wenn es euch in den Kram passt.“
Lisa starrte ihn an. Sie dachte daran, ihm einfach eine wilde Geschichte aufzutischen, überlegte es sich aber anders. Sie brauchte dringend einen Verbündeten. Jemand, der ihr helfen würde, herauszufinden, was hier vorging. Und offenbar war Jonas Faust ein gebildeter Mann. „Ihr habt recht. Ich bin kein Dienstmädchen“, begann sie. Faust rückte näher und beugte sich nahe zu ihr, so dass sie eine dünne Kette mit einem silbernen Kreuz als Anhänger bemerkte, die er um den Hals trug: „Seid Ihr eine englische Spionin?“
„Was?“ Lisa musste lachen. „Nein. Die Wahrheit ist um einiges seltsamer.“ Faust sah sie fragend an. Lisa holte tief Luft: „Ich komme aus einer anderen Zeit.“ Sie erntete einen verständnislosen Blick. „Ich lebe im 21. Jahrhundert. Ich hatte einen Unfall. Und plötzlich war ich hier…“
Oh, oh, der Ausdruck, mit dem der Arzt sie ansah, war nicht gut. Er schien zu überlegen, ob sie endgültig den Verstand verloren hatte oder ob sie ihn einfach nur dreist belog. Lisa überlegte fieberhaft. Wie konnte sie es ihm beweisen? In der Geschichte von Mark Twain, in der ein Zeitreisender an König Artus Hof landete, sagte der Yankee einfach eine Sonnenfinsternis voraus. Nun, mit so etwas konnte sie nicht dienen. Aber sie hatte ein anderes As im Ärmel. „Hört mir zu“, sagte sie hastig, „Die Franzosen, die gerade über das Land herfallen, werden auch in diese Gegend kommen und siegen. General Custine wird Mainz einnehmen, genau am 21. Oktober, und am nächsten Tag stehen seine Truppen vor Frankfurt…“
Faust erhob sich und sah sie enttäuscht an: „Nun gut. Ihr habt eure Geheimnisse, und ich habe meine. Belassen wir es dabei.“
Während er hinausging, rief ihm Lisa nach: „Denkt daran: Mainz fällt am 21. Oktober. Ohne Widerstand.“ Dann fiel die Tür ins Schloss.
Kapitel 3: Maddekadoffel
Am nächsten Morgen erwachte Lisa von dem Lärm vor dem Fenster ihrer kleinen Kammer: lautes Rumpeln und wütendes Geschrei von Männern. Neugierig streifte sie die Bettdecke ab und erhob sich, um ans Fenster zu gehen. Ein Fuhrwerk, beladen mit großen Fässern, hatte offenbar das Untertor passieren wollen. Eine entgegenkommende Kutsche hatte sich der Durchfahrt jedoch so weit genähert, dass der Händler, der das Fuhrwerk lenkte, anscheinend Schwierigkeiten mit dem Rangieren bekommen hatte. Die Pferde der Kutsche wieherten nervös und tänzelten in ihrem Geschirr auf der Stelle; die beide Ochsen, die das Fuhrwerk zogen, waren nicht minder unruhig und scharrten mit den Hufen. Die beiden Männer brüllten sich Flüche entgegen, die Lisa trotz der dicken Glasscheiben deutlich verstehen konnte. Der Händler forderte den Kutscher auf, den Weg freizugeben, dieser weigerte sich jedoch.
Schnell hatte sich eine Menschentraube um die beiden Streithähne gebildet. Die Zuschauer beobachteten das Schauspiel halb belustigt, halb beunruhigt. Lisa bemerkte die erschrockenen Blicke, die mancher Beobachter der Kutsche zu warf. Schließlich öffnete sich die Tür der Kutsche, und die Umstehenden wichen hastig eine Schritt zurück. Aus der Kutsche stieg eine junge Frau, vielleicht etwas jünger als Lisa. Sie war prächtig gekleidet. Lisa bewunderte den weich fallenden Rock aus Seidentaft mit goldenen Satinstreifen und Armrüschen. Das Oberteil lag eng an und war über der Brust mit zwei Spitzen geschlossen. Lisa erkannte darin eine