SEELENZEIT
Phantasiereisen
und Meditationen
gegen Stress
Klaus W. Vopel
iskopress
ISBN 978-3-89403-695-9
Copyright © iskopress, Salzhausen
Umschlag: Mathias Hütter, Schwäbisch Gmünd
Bibliografische Information der
Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Vorwort
Manchmal, wenn wir uns bedrückt oder gestresst fühlen, genügt etwas ganz Alltägliches – ein freundliches Wort, eine Geste, eine Berührung, ein Duft, ein Anblick, eine Melodie oder eine zufällige Begegnung –, und wir empfinden plötzlich, wie sich unsere Stimmung aufhellt, wie sich ein Gefühl der Zufriedenheit in uns ausbreitet. Wir spüren, dass Geist und Herz angeregt werden, dass unser Körper sich lebendiger fühlt. Irgendwo in unserem Gehirn hat eine biochemische Reaktion stattgefunden, deren Ergebnis ein deutliches Gefühl von Wohlbehagen ist. Auch wir können dazu beitragen, dass es anderen so geht. Unser Lächeln, unsere Stimme, unsere Zuwendung hat die Macht, anderen zu einem kleinen Glück zu verhelfen.
Körper und Geist sind eng miteinander verbunden. Jeder von uns ist ein feines Netzwerk aus vielen Systemen und Sensoren, die zusammenwirken und darüber entscheiden, ob wir uns heiter oder deprimiert fühlen. Wenn der Strom chemischer Informationen nicht gestört wird, kann der Körper im Zustand von Gleichgewicht und Balance arbeiten. Die Botenstoffe können frei fließen, wenn wir Gefühle und Gedanken ausdrücken, statt sie zu blockieren. Diese Vermutung hatten die Körpertherapeuten bereits seit Langem. Heute gibt es dafür experimentelle Beweise. Wenn wir unsere Empfindungen zurückhalten – Trauer, Schmerz, Ärger oder Freude – oder wenn wir unsere Gedanken ausblenden, dann stören wir die Prozesse in unserem Körper und beeinträchtigen damit unser Immunsystem sowie gleichzeitig unsere Fähigkeit, Glück und Optimismus zu empfinden. Glück erleben wir, wenn unser Bewusstsein frei arbeiten kann, wenn wir uns mit anderen Menschen, mit der Natur oder mit der Kunst verbunden fühlen und wenn wir fähig sind, zu lieben und zu staunen.
Manche Menschen meinen, dass sie ihr Leben erst gründlich verändern müssten, um glücklich werden zu können. Doch dazu fehle ihnen die Zeit. Diese Ansicht ist ebenso pessimistisch wie unzutreffend. Wir sind immer in der Lage, etwas Neues auszuprobieren; wir haben immer die Möglichkeit, uns selbst zu akzeptieren, indem wir uns einfach so geben, wie wir uns gerade fühlen: interessiert, ängstlich, sorgenvoll, müde, neugierig, zwanghaft, glücklich, traurig, überrascht, konfus, deprimiert, erwartungsvoll, ärgerlich, liebevoll etc. Manchmal ist unser Leben unsicher, trübe und verwirrend, und wir müssen nicht ständig optimistisch, furchtlos oder entschieden sein. Dennoch sind wir in der Lage zu handeln. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, unsere Alltagsmaske abzulegen. Immer wenn wir uns authentisch ausdrücken, entsteht so etwas wie Harmonie. Wenn wir unseren Zustand akzeptieren, dann löst sich unsere Anspannung auf. Wir sind nicht dazu da, um uns hinter Kostümen und Masken zu verbergen; wir sind hier, um zu leben, um neugierig zu sein, um zu lernen und zu lieben. Auch Kummer und Schmerz haben ihre Würde und gehören in das Geflecht des Lebens. Was zählt, ist unser Empfinden, ist Authentizität. Darum ist es auch völlig in Ordnung, wenn wir Fehler machen, wenn wir unzufrieden oder deprimiert sind. Wesentlich ist unsere Bereitschaft, weiterzugehen, Neues auszuprobieren und herauszufinden, wer wir sind.
Oft glauben wir, dass es darauf ankäme, besonders intelligent, weise oder fromm zu sein. Darum vertrauen wir Techniken und Methoden, Propheten und Gurus und hoffen, mit ihrer Hilfe glücklich zu werden. Denn in unserem Kopf haben wir unser gut trainiertes und konditioniertes Ego mit den vielen Stimmen, die uns sagen, was gut und schlecht, schön oder hässlich ist. Doch zum Glück ist da noch unsere Seele; mit ihr verfügen wir über ein Reservoir an Erfahrung und Energie, über ein Gedächtnis, das auch in unserem Körper steckt, und über ein Wissen, von dem wir oft nicht ahnen, dass es vorhanden ist.
Wie können wir dieses Reservoir aktivieren? Wir müssen einfach das machen, was Künstler und Athleten, Musiker und Maler oft tun, nämlich in eine Art Trance gehen, in einen Zustand, in dem wir nicht nachdenken, in dem wir keine Werturteile fällen und uns selbst nicht kritisieren. Unser Körper tut dann, was er für richtig hält, und wir agieren auf der Basis von dem, was wir können, ohne lange darüber nachzudenken. Die Buddhisten nennen diesen Zustand «Beginner’s Mind». Wir vergessen dann unsere gelernten Konzepte und dualistischen Ideen von richtig und falsch. Wir verzichten auf Prognosen und sind bereit, uns überraschen zu lassen. Dafür müssen wir nur wenig, manchmal gar nichts tun.
Diese geistige Haltung kann uns kostbare Freiheiten schenken: die Freiheit von Urteilen, von Dogmen und Regeln, von sprachlichen Traditionen, von Stereotypen, von Interpretationen und Erwartungen. Wir folgen einfach unserer inneren Stimme; wir improvisieren und lassen uns von unserer Neugier motivieren. Es geht uns nicht um Lob, Anerkennung oder Bewunderung. Wir haben es nicht eilig, weil wir kein Ziel definiert haben. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir auf unsere Ideen und Ziele verzichten müssten. Diese begleiten uns weiterhin, doch sie engen uns nicht mehr ein.
Solche ungewohnten Freiheiten bewirken, dass wir Teile von uns entdecken, die uns vorher völlig unbekannt waren. Manchmal haben wir den Eindruck, dass sich eine ganz neue Welt für uns öffnet. Der Verlust an Ego wird ausgeglichen durch einen Zuwachs an Leben.
Einleitung
Wir alle sind heute vielfältigen emotionalen Belastungen ausgesetzt. Dabei spielt die klassische Angst ums Überleben nur noch eine begrenzte Rolle. Eine Reihe ganz neuer Befürchtungen ist dazugekommen, z.B. die Angst vor undurchschaubaren technischen Neuerungen, die Angst vor der Fülle an Informationen, mit denen wir täglich konfrontiert werden, die Angst, dass unsere Fähigkeiten in der Welt der Arbeit nicht mehr gefragt sein könnten. Unser Nervensystem ist für solche Belastungen nicht geschaffen. Außerdem bekommen wir von allen Seiten die Botschaft, dass wir in einer wunderbaren Welt leben und eigentlich gesund und glücklich sein müssten. Daraus entsteht ein Konflikt zwischen unserer persönlichen Gefühlslage, die skeptisch und vielleicht etwas depressiv ist, und dem Ideal, wie wir uns fühlen sollten. Diese Diskrepanz ist eine weitere Quelle von Stress. All das führt dazu, dass unsere inneren Alarmsysteme ständig in Bereitschaft sind.
Wir haben die Fähigkeit, die Schädigung unserer körperlichen und seelischen Systeme durch Stress bis zu einem gewissen Grad zu reparieren bzw. durch Prävention zu verhindern. Die Neurowissenschaften zeigen uns, dass unser Gehirn sich ständig verändert, je nachdem, welche Erfahrungen wir machen. Wir können demnach dafür sorgen, dass unser Organismus sich erholt.
Entspannungsmethoden helfen, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu regenerieren. Wenn wir unsere Widerstandskraft gegen Stress jedoch auf Dauer stärken wollen, müssen wir einen Schritt weitergehen und unsere Gefühle und unser Denken einbeziehen. Die dafür benötigten Skills werden in unserer Kultur nur unzureichend gelehrt. Phantasiereisen, Imaginationen, Trancen, Meditationen und Rituale können uns als «Software» für entsprechende Lernprogramme dienen. Diese Methoden sind besonders wirksam, weil sie Körper und Geist gleichermaßen einbeziehen. Sie verbinden die Intelligenz des Herzens mit der Intelligenz von Körper und Gehirn.
Im Titel dieses Buches, «Seelenzeit», sind zwei Aufforderungen enthalten: Wenn du deinen Stress auflösen willst, musst du dir Zeit nehmen, und: Nimm dir Zeit für deine Seele, d.h. für alles, was dich weise und glücklich machen kann.
Wenn Sie mit diesem Band arbeiten, werden Sie immer wieder feststellen, dass es dabei um «sanfte» Methoden geht. Hier wird dem Stress nicht der Krieg erklärt und es geht nicht darum, besser oder erfolgreicher zu werden als andere. Vielmehr geht es um eine freundliche Einstellung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass Stress auch eine natürliche Reaktion darauf ist, wenn wir unser Ego zu stark in den Mittelpunkt stellen, andere übertreffen wollen, wenn wir uns selbst und anderen nicht vergeben können. Wir alle sind äußerst verletzlich, dies sollten wir berücksichtigen.
Wahrscheinlich sind Ihnen diese Überlegungen vertraut, sonst hätten Sie nicht zu diesem Buch gegriffen. Derartige Gedanken entsprechen jedoch nicht dem Mainstream unserer Kultur. Deshalb ist es durchaus angebracht, wenn wir unser friedliches, sanftes Credo wie ein Mantra häufig wiederholen.
Ich fasse noch einmal meine Ausgangsposition zusammen, die ich «therapeutisch-philosophische Strategie für eine menschenfreundliche Stressprophylaxe» nennen möchte:
Es ist hilfreich, wenn wir den Ernst unserer Lage nicht verleugnen und uns eingestehen, wie schlecht wir uns manchmal fühlen, außer Atem, deprimiert und am Rande unserer Reserven.
Wir sollten uns unsere psychischen Schwächen nicht vorwerfen. Niemand hat Schuld, wenn er sich in einer Gesellschaft, in der ein krasser Konkurrenzkampf herrscht, manchmal schlecht oder schwach fühlt. Jeder hat jedoch die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten zu ändern und für seine mentale und psychische Gesundheit zu sorgen.
Unsere klassische Reaktion auf Schwierigkeiten (Zähne zusammenbeißen, härter arbeiten, energischer kämpfen etc.) hilft uns nicht weiter. Es kommt darauf an, dass wir eine neue Art von Besonnenheit entwickeln, dass wir uns beobachten, unsere Umgebung studieren und neue Ansprüche an unser Urteilsvermögen stellen.
Wir müssen unsere eigenen Abwehrmechanismen erkennen, mit allen Rationalisierungen, blinden Flecken und Verzerrungen.
Unsere Gefühle sind ein wichtiges Barometer. Damit sie diese Funktion erfüllen können, ist es notwendig, dass wir sie differenziert wahrnehmen und darauf verzichten, sie naiv auszuagieren.
Wir benötigen ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Willenskraft, um weise Entscheidungen zu treffen.
Diese emotionalen Skills und Charakterstärken können wir leichter entwickeln, wenn wir immer wieder Freude erleben, Erfüllung und Glück. Wir brauchen Zeit für uns allein, Zeit zum Spielen, Zeit für unsere Seele, Zeit für gute Beziehungen und Zeit für unseren Körper. Außerdem ist es gut, wenn wir unseren Optimismus pflegen sowie die Fähigkeit zum Träumen, weil zu viel Skepsis mutlos macht.
Eine neue Einstellung zum Leben
Wenn wir dem unvermeidlichen Stress tatsächlich ein Schnippchen schlagen wollen, dann werden wir nicht darum herumkommen, unsere Lebenseinstellung zu verändern. Die Standardhaltung, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind, hat uns nahegelegt, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, einen Charakter zu kultivieren, unser Potenzial auszubauen, uns dem Wettbewerb zu stellen und möglichst besser zu sein als andere. Wir haben gelernt, unser Ego zu pflegen und Prestige und Kontrolle für wichtig zu halten. Zwangsläufig leiden unsere Beziehungen unter dieser ichbetonten Lebenseinstellung. Außerdem geht ein großer Teil unserer Energie durch Verteidigungs- und Kontrollanstrengungen verloren.
Wenn wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen wollen, dann helfen uns die folgenden drei Axiome:
1. Sei aufmerksam
Was ist damit gemeint? Aufmerksamkeit ist ein zentraler Begriff in allen Meditationsmethoden und in der buddhistisch inspirierten Philosophie und Psychologie. Aufmerksamkeit bedeutet eine Pause für das Gehirn. Viele Übungen in dem vorliegenden Buch verfolgen dieses Ziel. Besonders die Kapitel 1 und 2 enthalten ein breites Spektrum von Übungen zur Stressreduzierung durch vertiefte Aufmerksamkeit.
Wir sollten diese Übungen in unseren Gruppen mit lockerer Hand präsentieren, ohne den Anspruch, den «richtigen» Weg zu einem «neuen Bewusstsein» zu kennen. Perfektionismus würde neuen Druck erzeugen. Es gibt viele Möglichkeiten, aufmerksam zu werden, und jeder von uns muss seinen individuellen Stil finden. Am besten ist es, wenn wir mit bescheidenen Erwartungen beginnen. Manchmal werden wir eine Aufmerksamkeitsübung finden, die uns besonders inspiriert und beglückt, in den meisten Fällen jedoch werden solche Übungen uns zumindest kleine Erleichterungen, mehr Energie und innere Ruhe verschaffen, wie zahlreiche medizinische und neurologische Untersuchungen belegen.
2. Übe dich in der Kunst der Intimität
Hier brauchen wir besonders viel Aufmerksamkeit und Geduld. Unsere Beziehungen sind kostbar und seelische Intimität brauchen wir genauso, wie frische Luft zum Atmen. Intimität bedeutet immer auch Konflikt. Wenn ich mit mir allein bin, kann ich mich sehr viel leichter um Harmonie bemühen, aber schon in einer Paarbeziehung stoßen zwei Seelen zusammen und erzeugen manchmal Kooperation und Anregung, manchmal Spannung und Kampf. Wir möchten geliebt werden, aber wir möchten uns nicht anbinden oder bevormunden lassen. Wir möchten unseren Partner respektieren, aber wir möchten auch unseren Willen durchsetzen. Wir wünschen uns Treue, aber wir lieben auch die Freiheit. Aus solchen Widersprüchen sind wir geschaffen. Es gibt jedoch eine Reihe von Skills und Haltungen, die uns helfen, unsere Beziehungen zu vertiefen und Fehler zu korrigieren:
Zeige deine Liebe und sprich darüber. – Es ist ein ganz entscheidender Schritt, wenn wir unser Herz öffnen und in unserem Verhalten und in unseren Worten zum Ausdruck bringen, dass wir an unseren Liebsten interessiert sind, ihr Wohlergehen im Auge haben und ihnen gern nahe sind.
Drücke Wertschätzung und Dankbarkeit aus. – Jeder von uns freut sich, wenn seine Anstrengungen beachtet werden und wenn das, was er für uns tut, gewürdigt wird. Dankbarkeit erzeugt eine freundliche und anregende Atmosphäre.
Zeige dein Mitgefühl. – Die Bedeutung des Mitgefühls ist in letzter Zeit in der therapeutischen Literatur immer wieder hervorgehoben worden. Mitgefühl kann ein Gegengewicht zu unseren narzisstischen Tendenzen sein, zu unserer Angst, zu kurz zu kommen. Es geht in erster Linie darum zu verstehen. Besonders in Konflikten kommt es darauf an, genau hinzuhören, um die Interessen, Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Verletzungen des anderen zu erfassen. Jede Auseinandersetzung wird erleichtert, wenn wir gemeinsam versuchen, eine Schwierigkeit zu lösen. Außerdem sollten wir uns darüber klar sein, dass Gefühle ansteckend sind. Das gilt für Ärger und Angst genauso wie für Zufriedenheit und Optimismus. Wenn wir selbst in einer ruhigen, zuversichtlichen Stimmung sind, können wir Konflikte schneller lösen.
Sprich über deine Träume und Pläne. – Dazu gehören auch alle Phantasien und Hoffnungen, die vielleicht nie realisiert werden können; dennoch ist es wichtig darüber zu sprechen, damit wir besser verstanden werden können.
3. Kontrolliere die Auswirkungen von Stress
Alles, was wir erleben, bewahren wir in unserem Gedächtnis auf. Aber unser Gehirn ist mehr als ein Speicher, es wird auch durch jede neue Erfahrung verändert. Wir sollten in unserem Kopf daher nicht nur Anstrengendes, Aufregendes, Schmerzliches und Gefährliches aufbewahren, sondern auch möglichst viele positive Erlebnisse. Auf diese Weise können wir unser Gehirn auffrischen und in einem gewissen Umfang eine Schädigung durch Stress sogar reparieren.
Der Körper ist ein Spiegel unseres Lebensgefühls, das oft dem Aprilwetter gleicht, es ist veränderlich mit einer Mischung aus Sonne, Regen und Wind. Unser Körper reagiert nicht nur auf die vielen externen Veränderungen, denen wir ausgesetzt sind, sondern ebenso auf die Fülle von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen, die in uns entstehen. In vielen Situationen gestatten wir uns nicht, unsere Gefühle auszudrücken, vielleicht bemerken wir sie noch nicht einmal. Unser Körper ist in einem Alarmzustand, aber die Erregung kann nicht ausgedrückt werden. Der normale Zyklus der Gefühle ist unterbrochen, und so bleiben Kummer, Angst oder Ärger als Muskelspannung im Körper. Unterdrückte Gefühle können unsere Gesundheit und Vitalität in hohem Maße beeinträchtigen. Sie können zu starkem Stress führen bis hin zu Erschöpfung, Depression und Hoffnungslosigkeit. Dies ist kein Plädoyer für den ungehemmten Ausdruck von Ärger, Zorn oder Wut. Es gibt einen Ausweg aus dieser Situation: Wir können unsere Gefühle mit freundlicher Aufmerksamkeit registrieren und dann Wege suchen, sie auf möglichst humane und sichere Weise auszudrücken. So verwandeln wir unvermeidbaren Stress in eine Botschaft, die verbindet.
Seele, Stress und Lebenskraft
Sie finden in den Kapiteleinleitungen und vor jeder Übung kurze Hinweise zum Verfahren, zum psychologischen Hintergrund und zur Strategie, die ich damit verfolge. Ich orientiere mich an Methoden und Konzepten, die ich ganz persönlich schätze und für Erfolg versprechend halte. Vieles wird Ihnen vertraut vorkommen:
1. Wenn wir spirituell wachsen wollen, müssen wir auch unsere Vitalität, Lebenskraft und Energie stärken.
2. Qualität und Volumen unserer individuellen Energie hängen stark davon ab, wie wir die Welt um uns herum interpretieren. Natürlich spielt auch das genetische «Geschenk», die Disposition, die wir von unseren Eltern mitbekommen haben, eine bedeutende Rolle.
3. Wir sind psychologisch auf Stress und Krankheiten eingestellt. Insofern handelt es sich dabei um eine sich selbst erfüllende Prophezeihung. Es ist für jeden Menschen wichtig, die individuellen Ursachen von Stress und Krankheiten klar und deutlich zu erkennen.
4. Alte Einflüsse und unvermeidbare problematische Erfahrungen erzeugen in uns emotionale und spirituelle Lasten, die sich im Laufe der Zeit in physische und emotionale Krankheiten und sogar in negative Lebenssituationen verwandeln können. Unser eigenes risikoreiches und unkluges Verhalten trägt zu diesen Lasten bei.
5. Gesundheit ist ein Prozess. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir krank oder gesund wären. Unsere Vitalität verändert sich wie Ebbe und Flut. Sie steigt und fällt. Wenn allerdings eine individuelle Marke unterschritten wird, dann werden wir krank.
6. Es kann lange dauern, bis sich eine Krankheit manifestiert. Besonders heimtückisch ist chronischer Stress. Die durch ihn verursachten Schäden können jahrelang unbemerkt bleiben. Dann können sie überraschend als Burn-out oder als Krankheit zutage treten.
7. In einem gewissen Ausmaß können wir Stress und Krankheiten gegensteuern, indem wir unser Leben harmonisch und ausgeglichen gestalten und schädliche Verhaltensmuster und Emotionen aufgeben.
8. Wir genießen die Errungenschaften der Naturwissenschaft und des technischen Fortschritts. Aber unterhalb der Alltagsvernunft gibt es ein spirituelles Bewusstsein. Die jedem Menschen angeborene Spiritualität kann Harmonie, Sinn und zwischenmenschliche Solidarität stiften. Doch die Spannungen zwischen Oberfläche und Untergrund können auch Chaos und Leid provozieren.
9. Jeder Mensch ist mit einem spirituellen Potenzial ausgestattet und mit dem Bedürfnis, seine Spiritualiät zu praktizieren. Der Sinn jeder spirituellen Praxis ist es, dass wir uns am Leben, das uns gegeben ist, freuen.
10. Wir haben das Potenzial, glücklich zu sein. Das gelingt am besten, wenn wir uns gestatten, im Jetzt zu leben und uns selbst und alles, was geschieht, zu akzeptieren.
11. Innere Weisheit und ein ausgedehntes Bewusstsein sind die Fundamente von Glück und Spiritualität.
12. Die Menschheit steht heute an einem Wendepunkt. Wir haben nur dann eine Chance zu überleben, wenn wir einander die Hände reichen und der Erde mit Demut begegnen.
Wenn es uns gelingt, diese Grundsätze zu beachten, dann sind wir gut gegen die negativen Folgen von Stress geschützt. Die Phantasiereisen, Meditationen und Trancen dieses Bandes können als kleiner, praktischer «Lehrgang» dazu dienen.
Warum Glück so wichtig ist
Es wäre nicht weise, wenn wir dem Stress den Kampf ansagen wollten. Das würde den Druck verstärken, denn jede Form von Aggression versetzt unseren gesamten Organismus in Alarm. Es hätte auch wenig Aussicht auf Erfolg, wenn wir unsere Stressreaktionen ein für allemal eliminieren wollten. Stress gehört zu unseren Überlebensreflexen; er ist daher resistent gegen jeden Versuch, ihn auszulöschen. Eine vernünftige Strategie versucht es mit Freundlichkeit. Unser Organismus ist immer dann stressfrei, wenn unsere Instinkte uns sagen, dass wir in Sicherheit sind. Und dieses Signal kann uns am überzeugendsten unsere Spiritualität geben. Sie ermöglicht uns die existenzielle Haltung der Akzeptanz, auf der drei wichtige Charakterstärken basieren: Flexibilität, Geduld und Humor. Diese drei Stärken sind die Basis für ein gutes Leben und für eine hohe Vitalität.
Der Begriff der Akzeptanz spielt in der buddhistischen Philosophie eine große Rolle, aber auch in der christlichen Mystik. Hier hat ihn zuletzt Reinhold Niebuhr in eine klassische Form gebracht:
Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Akzeptanz bedeutet weder im Buddhismus noch in der christlichen Tradition, dass wir darauf verzichten, verantwortlich zu handeln oder gegen Missstände vorzugehen. Akzeptanz bedeutet, dass wir erfreuliche und unerfreuliche Aspekte der Wirklichkeit in gleicher Weise zur Kenntnis nehmen und uns nicht über Dinge beklagen, auf die wir keinen Einfluss haben. Es liegt auf der Hand, dass diese Haltung große Ruhe und Sicherheit mit sich bringt. In den Meditationen und Phantasiereisen dieses Bandes geht es häufig um diese spirituelle Haltung, die mit unserer westlichen Erfolgsideologie nicht leicht zu vereinbaren ist.
Darüber hinaus möchte ich noch zwei wichtige Haltungen erwähnen, die für innere Ausgeglichenheit und Harmonie sorgen können, nämlich Mitgefühl und Großzügigkeit. Mitgefühl kann Menschen aufrichten, die sich unterlegen oder verletzt fühlen. Mitgefühl ist das Fundament von Frieden und Gerechtigkeit. Großzügigkeit macht uns weise und bereit zu geben bzw. anzunehmen.
In gewisser Weise bilden diese drei spirituellen Stärken das Fundament einer lebensfreundlichen Zivilisation. Aber sie sind zusammen auch die beste Garantie für individuelles Glück. Und Glück ist zu allen Zeiten der beste Schutz gegen Stress gewesen. Glück gibt uns Vitalität und Gesundheit. Es liegt auf der Hand, dass es hier leicht zu Missverständnissen kommt. Glück bedeutet nicht die Abwesenheit von Leid, eher die Fähigkeit, Leid zu integrieren. Glück ist auch kein Zustand, der eintritt, wenn genügend Serotonin unser Gehirn beruhigt. Glücklich zu werden ist unsere wichtigste Lebensaufgabe.
Glück hat auch eine starke soziale Komponente, denn Glück ist ansteckend. Wer mit Glück gesegnet ist, trägt dazu bei, dass andere ebenfalls Glück empfinden können.
Wir haben schon gesagt, dass Glück ansteckend ist. Das Gleiche gilt auch für Unglück. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wenn auch nur ein Mensch weint, kann das ganze Dorf nicht schlafen.