Das Angstbuch
Woher Ängste kommen und wie man sie bekämpfen kann
Vorwort
Kapitel 1 – DAS RÄTSEL ANGST
Angst ist allgegenwärtig
Unbegründete und absurde Ängste
Der Angst auf der Spur
Kapitel 2 – WELCHEN SINN HAT DIE ANGST?
Gibt es Menschen, die keine Angst haben?
Lust auf Angst
Muss man Angst haben?
Angst ist das Superbenzin für Erfolg
Die Angst des Dagobert Duck
Kapitel 3 – KRANKHAFTE ANGST
Ab wann wird Angst krankhaft?
Angst vor Erdnussbutter – die Einfache Phobie
Falscher Alarm – die Panikstörung
Agoraphobie
Ist wirklich alles untersucht?
Welche Krankheiten könnte man mit der Panikstörung verwechseln?
Generalisierte Angststörung – geboren, um sich Sorgen zu machen
Mehr als Schüchternheit – die Soziale Phobie
Sind Angstpatienten ängstliche Menschen?
Angst vor Krankheiten
Angst vor dem Alleinsein
Angst vor Sex
Angst vor dem Fliegen
Massenpanik
Die kleine Schildkröte
Wer Sorgen hat, hat auch Likör
Die Häufigkeit von Angsterkrankungen
Leiden immer mehr Menschen unter Angst?
Die Zeit heilt die Angst
Ängste bei Kindern
Warum treten Angsterkrankungen bei Frauen häufiger auf?
Kapitel 4 – WOHER KOMMT DIE ANGST?
Die Briefmarkentheorie
Stress und die erlernte Hilflosigkeit
Seelische Belastungen in der frühen Kindheit
Wie entsteht die Angst vor dem Alleinsein?
Als Kind zu heiß gebadet
Besoffene Hühner
Der Coitus interruptus, die Cousine und die rote Couch: die Psychoanalyse
Der kleine Albert und die Ratte: die Lerntheorie
Doppelgänger und Gene
Das Ministerium für absurde Angst
So entsteht absurde Angst
Kapitel 5 – VIER LÖSUNGEN
Was hilft wirklich gegen Ängste?
Kann es die Oma besser?
Lösung 1: Psychotherapie
Lösung 2: Medikamente
Lösung 3: Was man selbst tun kann
Lösung 4: Das Verstreichen der Zeit
Der sechste Sinn und die Wunderdroge
Schlusswort
Wörterbuch der Angst
Test: Leiden Sie unter einer Angsterkrankung?
Dank
Anmerkungen und Literatur
Register
Bildnachweis
Angst vor Terror und Krieg ist in unserer Zeit ein ständiges Thema in den Medien. Doch es sind eher die alltäglichen Ängste, beispielsweise die Angst vor harmlosen Dingen, wie Fahrstühlen, Supermärkten, Kinosälen, Fußgängerzonen, Insekten oder Katzen, aber auch Ängste vor Krankheit, Verletzungen, Tod, Verlusten und die Angst vor dem Alleinsein, die die Menschen krank machen. So krank, dass der Alltag nur noch durch die Angst bestimmt wird, dass manche Menschen in Depressionen verfallen, sich in die Sucht flüchten oder keinen Sinn mehr im Leben finden.
Wie kommt es, dass Menschen von Angst zerfressen werden? War es die böse Stiefmutter oder die überfürsorgliche Mutter, die zu strenge Sauberkeitserziehung oder der autoritäre Vater? Sind Onanie, Coitus interruptus, Gedanken an schmutzigen Sex oder außerehelicher Verkehr die Ursachen? Sind es die falsche Atemtechnik, zu wenig frisches Gemüse, zu wenig Schlaf, zu viel Pizza? Sind Einzelkinder stärker gefährdet? Ist die kleine Schwester schuld, die immer bevorzugt wurde? Fördert unsere schnelllebige Zeit den Stress? Sind die Medien oder das Internet verantwortlich?
Lange Zeit gab es keine schlüssige Erklärung für die Entstehung von Ängsten. In jüngerer Zeit hat sich die Wissenschaft intensiv mit der Entstehung von Ängsten beschäftigt. Unsere heutigen Vorstellungen zu ihren Ursachen haben wenig zu tun mit Theorien, die in den letzten hundert Jahren größte Verbreitung gefunden haben.
In den deutschsprachigen Ländern gibt es, grob geschätzt, 17 Millionen Menschen mit Angsterkrankungen – das bedeutet einen unglaublichen Markt, an dem nicht nur diejenigen verdienen, die nachweislich wirksame Behandlungsmethoden oder Medikamente anbieten, sondern auch Tausende von Gurus, Wunderheilern und Pillendrehern. Sie wollen uns mit Hypnose, Zen-Meditation, Rebirthing-Wochenenden in der Toskana, Traumdeutung, endlosen Gesprächen über unsere Kindheit, Tanztherapie, Akupunktur, Bach-Blüten, Veilchenwurzel oder Rauschpfeffer heilen. Wie kann der Laie aber nun herausfinden, welche der angepriesenen Methoden wirklich helfen und welche nur die Finanzen ihrer Anbieter sanieren sollen?
Zahllose Menschen mit Angst wissen zudem nicht, dass es überhaupt Hilfe für ihr Problem gibt. Oft dauert es sehr lange, bis die Angsterkrankung erkannt wird und bis man eine geeignete Behandlung angeboten bekommt.
Dabei ist es nicht schwierig, eine Angsterkrankung in den Griff zu bekommen. Es ist sogar verblüffend einfach, wenn man nur die richtigen Methoden anwendet. Während all der Jahre, in denen ich in unserer Spezialabteilung für Angsterkrankungen in der Göttinger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitete (und immer noch arbeite), habe ich unzählige Menschen gesehen, die nach einem leidvollen, isolierten, von Angst bestimmten Leben ihre Ruhe, Freiheit und Lebensfreude wiedergewinnen konnten.
Ein spannender Aspekt der Angst ist aber, dass sie nicht nur negative Seiten hat. Sie ist nicht nur quälend, sondern auch der Ursprung der schöpferischen Kraft des Menschen.
Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie etwas über die wirklichen Ursachen der Angst gelernt haben, und Sie werden verstehen, wie leicht es ist, den Weg aus der Angst zu finden.
Dieses Buch ist für drei Arten von Menschen geschrieben worden. Menschen, die unter einer echten Angsterkrankung leiden, können dieses Buch als eine Art Ratgeber verwenden. Menschen, die unter kleinen oder mittleren alltäglichen Ängsten leiden, die noch nicht die Form einer Krankheit angenommen haben, werden nach Lektüre des Buches hoffentlich diese Ängste besser verstehen und meistern können. Und zu guter Letzt ist dieses Buch auch für Menschen geeignet, die völlig frei von jeder Angst sind, aber an einem unterhaltsamen Streifzug durch die Wissenschaft interessiert sind und verstehen wollen, auf welchem Wege in unserem Gehirn Ängste entstehen und wie sie wieder verschwinden können.
Göttingen, den 1. Juni 2004
Ein ganz normaler Tag in Hessisch Lichtenau. Einzelhandelskauffrau Sybille G. (37) nach einem Einkaufsbummel:
Ich war mit meinen Kindern bei Aldi in der Stadt einkaufen. Da begann von einem Moment zum anderen plötzlich mein Herz zu jagen. Schreckliche Angst aus dem Nichts überfiel mich. Ich keuchte, bekam keine Luft mehr. Da schnürte es mir die Brust zu, als ob jemand einen Gürtel darum immer enger ziehen würde. Todesangst überfiel mich. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich schwitzte und meine Hände zitterten. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Gehirn auflöst und dass ich die Kontrolle über meinen Körper und über meine Gedanken verlieren könnte. Irgendeine unbekannte Gefahr kroch in mir hoch, breitete sich aus und drohte mich zu vernichten. Ich fühlte mich so bedroht, dass ich glaubte, sofort sterben zu müssen. Ich wurde völlig von der Situation überwältigt.
Dies ist die Schilderung einer typischen Panikattacke, wie sie Sybille G. mehrmals im Monat hat.
Flug GH 3463, Singapur – Frankfurt. Das Flugzeug ist gerade auf dem Flughafen Frankfurt gelandet. Ein Mann mit arabischem Aussehen läuft hektisch zu den vorderen Sitzreihen der Maschine. Als eine Stewardess neben dem Notausgang von ihrem Sitz aufsteht, tritt er plötzlich von hinten an sie heran, zieht ihren Kopf an den Haaren nach hinten und hält ihr ein blitzartig hervorgezogenes großes Klappmesser an die Kehle. Der markerschütternde Schrei der jungen Frau gellt durch die Kabine. Die Passagiere sitzen wie angewurzelt da. Keiner wagt es, sich zu bewegen. Der Mann wirkt extrem nervös und verwirrt. Lange steht er bewegungslos mit seiner Geisel da und sagt nichts. Es ist nicht klar, was er mit seiner Aktion bezwecken will.
Durch die Fenster sehen die Passagiere, wie bewaffnete, vermummte Männer in schwarzen Uniformen auf den Tragflächen herumlaufen. Zwei mutige Passagiere in der zweiten Reihe sprechen sich leise ab. Plötzlich springt einer von ihnen hinter den Geiselnehmer, reißt unmittelbar über seinem Kopf das grüne «Exit»-Schild von der Decke ab und schlägt es mit voller Wucht auf den Kopf des Mannes. Anschließend greift der zweite Passagier in das Handgemenge ein. Es gelingt den beiden Männern, den Täter zu überwältigen, ihm das Taschenmesser aus der Hand zu winden und die Stewardess zu befreien. In diesem Moment geht die Tür des gegenüberliegenden Notausgangs auf, und die Männer des Sondereinsatzkommandos kommen hereingestürmt. Sie fesseln den Geiselnehmer mit weißen Plastikbändern.
«Am meisten wunderte mich», so eine Passagierin, die den Vorfall aus nächster Nähe miterlebte, «dass ich die ganze Zeit keine Angst hatte. Obwohl das Geschehen eine halbe Stunde gedauert hatte, bin ich ruhig geblieben. Erst nachdem der Spuk vorüber war, fiel mir auf, dass ich weiche Knie hatte.»
Dieser Vorfall hat sich tatsächlich zugetragen – im Jahre 1991, also lange vor dem 11. September 2001. Die Passagierin, die diesen Vorfall miterlebte und ihn mir erzählte, war eine meiner Patientinnen: Sybille G., die unter jenen Panikattacken litt, die sie in harmlosen Supermärkten befielen. Sybille G. hat eine Angsterkrankung – wie mehrere Millionen andere auch in Deutschland und über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt. Wie kann es aber sein, dass jemand, der aus heiterem Himmel beim Einkaufen unter vernichtenden Panikattacken leidet, in einer echten Gefahrensituation völlig ruhig bleibt? Die Ängste der Menschen geben viele Rätsel auf. Sie zu verstehen ist eine interessante Aufgabe für die Wissenschaft.
Menschen in Israel haben den Terrorismus ständig vor Augen – und damit auch die Angst. Sie ist ein Teil ihres Lebens. Der Terror kann jederzeit zuschlagen: im belebten Straßencafé, im Bus, in der Diskothek oder auf dem Marktplatz. Menschen, die von Terror und Krieg bedroht werden, leben in einem chronischen Alarmzustand. Eine Gefahr lauert, deren Wesen sie nur ungefähr erahnen können und die jederzeit ohne Warnung zuschlagen kann.
Aber auch in den bisher friedlichen Industrieländern ist es aus mit der Ruhe. Die Anschläge der ETA, der IRA, der al-Qaida oder der Hisbollah demonstrieren uns deutlich, dass man sich kaum vor mörderischen Terroranschlägen mit vielen Toten und Verletzten schützen kann. Terroristen nutzen die Ängste der Menschen aus, in der meist trügerischen Hoffnung, ihre Ziele erreichen zu können. Noch schlimmere Anschläge, die bisher nur die Bösewichte in James-Bond-Filmen planten, könnten bald schreckliche Wirklichkeit werden, und es gibt kaum Möglichkeiten, solche Szenarien zu verhindern. Terroristen könnten Tausende von Pilgern auf dem Petersplatz in Rom mit Nervengas angreifen oder die Golden Gate Bridge mit einem sprengstoffbeladenen Lastwagen in die Luft jagen, wahnsinnig gewordene Wissenschaftler könnten tödliche Bakterien verbreiten, Kamikaze-Piloten sich mit ihren Flugzeugen in Atomkraftwerke stürzen, fanatische Selbstmordattentäter könnten sich mit aus Laboren gestohlenen Pockenviren infizieren und sich im Hyde Park unter die Leute mischen, durchgeknallte Diktatoren könnten in Nordkorea gegen ein paar Reissäcke Nuklearwaffen eintauschen und sie auf Frankfurt richten.
Viele Ereignisse und Phänomene, die die Geschicke der Welt beeinflussen, wie Kriege, Terrorismus oder Revolutionen, sind durch die Ängste der Menschen erklärbar.
Aus Angst, verhungern zu müssen, begannen die Menschen schon früh, gegen andere Menschen zu kämpfen (meist mit dem Erfolg, dass sie danach noch weniger zu essen hatten). Zum Zwecke ihres eigenen Machterhalts schüren Politiker Angst vor anderen Nationen und schicken uns in kriegerische Auseinandersetzungen. Um andere Völker in Angst zu versetzen, werden heute riesige Arsenale atomarer Vernichtungswaffen angesammelt. Schon die Inquisition rechtfertigte ihre Verbrechen mit der Angst vor Ketzern. Die Flucht mancher Menschen in fanatische Religiosität ist oft durch eine allgemeine Lebensangst begründet, die bei denen entsteht, die in Armut, sozialer Ungerechtigkeit oder Unfreiheit leben.
Während in den Medien die Ängste vor Krieg und Gewalt im Vordergrund stehen, so sind es doch die ganz alltäglichen Befürchtungen, die Menschen mehr beschäftigen. Nach einer großen Umfrage der «Apotheken Umschau» zu den Ängsten der Deutschen wurde von mehr als der Hälfte der Befragten am häufigsten die Angst genannt, unheilbar krank zu werden. Es folgten die Furcht, im Alter zum Pflegefall zu werden oder dass dem Lebenspartner oder den Kindern etwas zustößt. Auch die Angst, in wirtschaftliche Not zu geraten, oder dass die Rente im Alter nicht ausreicht, plagt die Menschen.1
Aber auch die positiven Gefühle, die wir anderen Menschen entgegenbringen, sind eng mit Angst verknüpft. Die Emotionen, die uns am meisten beschäftigen, sind die, die mit unserem Verlangen nach Wärme, Geborgenheit, Liebe oder Sex verbunden sind. Und die Angst, diese vertraut gewordenen und angenehmen Gefühle wieder verlieren zu können, ist nicht weit davon entfernt.
Angst ist allgegenwärtig. Sie bestimmt, ob wir verzagte oder mutige, strebsame oder untätige, nachgiebige oder durchsetzungsfähige, liebenswürdige oder streitbare, disziplinierte oder nachlässige, humorvolle oder ernste, fröhliche oder niedergeschlagene, charmante oder unhöfliche, nachdenkliche oder sorglose Menschen werden.
Der Verlauf unseres Lebens ist zum großen Teil durch unsere Ängste bestimmt. Wenn Menschen Spitzensportler, kreative Künstler, ehrgeizige Wissenschaftler, erfolgreiche Geschäftsleute oder mächtige Politiker werden, dann haben die bewussten und unbewussten Ängste einen großen Teil dazu beigetragen.
Ängste vor Krieg, Unglück, Krankheit oder Verlust sind begründete Ängste vor real existierenden Gefahren. Aber es gibt nicht nur die Angst vor echten Gefährdungen, die eine Schutzfunktion hat und uns am Leben erhalten soll, sondern auch die übertriebene, unnötige Angst, die in diesem Buch eine große Rolle spielen wird.
In den letzten Jahren habe ich mich vor allem mit Menschen beschäftigt, die unter tief greifenden Ängsten leiden. Ich baute in der psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen eine «Angstambulanz» auf, in der sich Menschen mit krankhaft übersteigerten Ängsten zur Behandlung melden können. Hier werden sie von Ärzten und Psychologen betreut. Bei dieser Arbeit wird vor allem eines deutlich: Bei Menschen, die unter krankhafter Angst leiden, treten die alltäglichen Sorgen und Befürchtungen im Vergleich zu ihren vernichtenden unrealistischen Ängsten deutlich in den Hintergrund.
Diese Ängste haben letztlich wenig mit den wirklichen Gefahren zu tun, die uns bedrohen: Angela F. leidet mehrmals am Tag unter der Angst, im nächsten Moment zu sterben, obwohl sie körperlich völlig gesund ist. Jeanine D. verlässt in den Sommermonaten das Haus nicht, weil sie befürchtet, eine Wespe könne ihr in den Mund fliegen und sie stechen, sodass sie ersticken muss. Bernhard T. argwöhnt, dass der israelische Geheimdienst Mossad hinter ihm her ist und dass ihn fremde Wesen aus dem All bestrahlen, um seine Gedanken im Internet verbreiten zu können. Jürgen L. wagt es nicht, andere Menschen zu berühren, da er Angst hat, von ihnen ansteckende Krankheiten zu bekommen. Elke S. versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, weil sie Angst vor dem Sterben hat. Karl G. hat keine Zähne mehr im Mund, weil er eine übermächtige Angst vor Zahnärzten hat.
Diese Menschen leiden an krankhaften Ängsten. Sie haben Furcht vor Dingen, vor denen man normalerweise keine Angst haben muss. Wie erklärt man diese rätselhaften Befürchtungen? Brauchen wir solche Ängste? Ergeben sie einen Sinn?
Während wir noch vor einigen Jahrzehnten nur sehr rudimentäre Vorstellungen von der Angst hatten, wissen wir heute einiges mehr über das Zusammenwirken komplexer Mechanismen, die dazu führen, dass wir unter übertriebenen, unrealistischen oder absurden Ängsten leiden können.
Lange war unsere Anschauung über Angst von der Psychoanalyse geprägt. In dem fabelhaften Buch «Grundformen der Angst» stellte beispielsweise der deutsche Psychoanalytiker Fritz Riemann die Theorie auf, dass praktisch jeder Mensch durch eine von vier Formen der Angst charakterisiert werden kann, die er im Laufe der Kindheit erworben hat, die aber auch zum Teil konstitutionell bedingt ist.2 Dabei gibt es keine klare Grenze zwischen krankhafter und «normaler» Angst. Riemann teilt die Menschen in depressive, schizoide (unnahbare), zwanghafte und hysterische Personen ein. Alle guten und schlechten Eigenschaften können aus diesen Grundformen abgeleitet werden. Der Zwanghafte ist pedantisch, unnachgiebig, geizig, zögerlich, phantasielos und eigensinnig, aber auch ordentlich, konsequent, ehrlich und verlässlich. Der hysterische Mensch dagegen ist unberechenbar, unpünktlich, unlogisch, egoistisch und genusssüchtig, aber auch anpassungsfähig, unbekümmert, leidenschaftlich und phantasievoll. Wenn eine dieser Persönlichkeitsstrukturen zu ausgeprägt oder einseitig ist, dann sei es wahrscheinlich, so Riemann, dass sie aufgrund einer frühkindlichen Entwicklungsstörung entstanden ist. Eine zwanghafte Persönlichkeit könne beispielsweise entstehen, wenn die Mutter zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr des Kindes die Sauberkeitserziehung zu streng vollziehe. Die vier Persönlichkeitsformen seien durch die dahinter stehende Angst geprägt – so habe der Schizoide Angst vor Abhängigkeit, der Depressive vor Ungeborgenheit, der Zwanghafte vor Unsicherheit und der Hysterische vor Einschränkung seines Freiheitsdrangs. Nach der Lektüre dieses anschaulich geschriebenen Buches hatte ich es tatsächlich leichter, bestimmte Verhaltensweisen meiner Mitmenschen besser einschätzen und auch mich selbst besser erkennen zu können – ein Effekt, den die wenigsten psychologischen Bücher auslösen. Und doch erfasste dieses Buch das Phänomen Angst nur aus einer vereinfachenden Sichtweise.
Die Psychoanalyse war die Richtung in der Psychologie, die sich als Erste ausführlich mit Ängsten beschäftigte. Sie lieferte ausgefeilte Erklärungen, die in sich stimmig und plausibel wirkten. Aus heutiger Sicht allerdings erscheinen die tiefenpsychologischen Erklärungen zu einseitig, denn sie ignorierten die Erkenntnisse der Genetik, der Biologie, der Biochemie, der Verhaltensforschung und anderer wissenschaftlicher Gebiete. Ängste wurden vorwiegend aus der Lebensgeschichte der Menschen erklärt. Die Einflüsse der Umwelt und der Erziehung wurden überbetont.
Viele dieser Hypothesen gewannen ihren Reiz vor allem dadurch, dass sie spannend, spektakulär, poetisch oder einfach «sexy» waren. Um ihre Wissenschaftlichkeit war es dagegen weniger gut bestellt: Entweder entzogen sich die Theorien einer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit, oder sie stellten sich als unhaltbar heraus, wenn sie überprüft wurden.
Die Behandlung von Ängsten wurde in der Psychoanalyse zudem als schwierig und langwierig angesehen; man gab sich oft genug mit Teilbesserungen zufrieden. Dass sich Ängste durch eine klassische Psychoanalyse grundlegend bessern können, wurde jedoch niemals wissenschaftlich korrekt nachgewiesen.
Inzwischen hat sich in der Angstforschung einiges getan. Auf der ganzen Welt beschäftigen sich Wissenschaftlerteams mit der Untersuchung von Ängsten. Auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, sagen zu können, dass wir die Ursprünge der Angst genau erklären können, so kristallisiert sich heute ein immer deutlicheres Bild heraus, wie Ängste aus einem komplizierten Zusammenspiel vielfältiger Faktoren entstehen. Dabei spielt die Neurobiologie, die sich mit den chemischen und molekularen Vorgängen im Gehirn beschäftigt, eine immer größere Rolle.
In der Folge wurden neue Therapien entwickelt, und ein Arsenal neuer Medikamente steht zur Verfügung, um krankhafte Ängste zu bekämpfen. Und das ist die gute Nachricht: Man muss die Angst nicht hinnehmen, man kann sich dagegen wehren, sich dagegen auflehnen, man kann sie abtrainieren, sich aus eigener Kraft helfen oder sich helfen lassen. Es ist gar nicht so schwierig.
Evel Knievel war ein Draufgänger, ein Mann ohne Angst, wie es schien. Er war Skispringer, Radkappendieb, Minenarbeiter, Entführer, Elchjäger, Versicherungsagent und Bankräuber. Häufig wechselte er seine legalen und illegalen Berufe, bis er schließlich der beste Motorrad-Stuntman der Welt wurde. Er sprang über 50 Autos, 13 Lastwagen und über ein Becken mit hungrigen Haien. Einmal flog er elegant über einen Berglöwen, landete aber danach unglücklich auf einer Kiste mit Klapperschlangen, worauf die Schlangen, aber auch die meisten Zuschauer das Weite suchten.
Er steht im «Guinness Buch der Rekorde» als der Mann, der die meisten Knochen gebrochen hat. Eines Tages wachte er nach einem missglückten Sprung über die Wasserfontänen vor dem Luxus-Casino Caesar’s Palace in Las Vegas aus einem dreißigtägigen Koma auf. Während er noch im Krankenhaus aus der Schnabeltasse trank, beschloss er, einen Sprung zu wagen, der alle seine bisherigen Abenteuer übertrumpfen würde. Er kündigte an, dass er mit einem Motorrad über den Snake River Canyon in Idaho springen wolle. Um die große Entfernung von 400 Metern von einem Rand der Schlucht zum anderen zurückzulegen, wollte Knievel sich mit seinem raketenangetriebenen Motorrad hinüberschießen lassen, um auf der anderen Seite wieder auf den Rädern zu landen. Er sorgte dafür, dass er für den Fall, dass er seinen Sprung überleben sollte, durch Eintrittsgelder und andere Tantiemen sechs Millionen Dollar verdienen würde. Am Tag des großen Ereignisses waren Zehntausende von Menschen gekommen. Presse, Funk und Fernsehen waren versammelt, denn sie alle wollten Evel Knievel sterben sehen. Zwar trauten sie ihm zu, dass er, wie bei seinen früheren Unternehmungen, alles einigermaßen genau planen würde – die Schubkraft der Rakete, die ballistische Flugbahn des Motorrades und den Seitenwind. Aber, so dachten sie auch, die Chance war sehr hoch, dass er sich diesmal verrechnen würde, so wie er sich schon oft verrechnet hatte. Er würde in den Canyon stürzen; oder selbst wenn der Flug bis zur anderen Seite gut ginge, würde er dort kopfüber mit dem Motorrad aufschlagen und sich das Genick brechen.
Zwei vorher zum Test abgeschossene Raketen landeten nicht, wie vorgesehen, auf der anderen Seite der Schlucht, sondern im reißenden Wasser des Snake River. Als der große Moment gekommen war, wurde Evel Knievel mit seinem Motorrad von der Rakete über den Fluss geschleudert. Aber er kam nicht weit. Sein Fallschirm öffnete sich zu früh, und er erreichte nicht das andere Ende der Schlucht, sondern landete sicher neben dem Fluss. Obwohl ihm wegen der starken Beschleunigungskräfte Blut aus den Augen und der Nase lief, fühlten sich die Leute betrogen. Sie sagten, er habe dies alles mit Absicht so berechnet und habe nie wirklich vorgehabt, auf der anderen Seite anzukommen. Sie wollten ihr Eintrittsgeld zurück. Sie hätten es lieber gesehen, wenn er gestorben wäre. Nach dieser Geschichte kam Evel Knievel auf keinen grünen Zweig mehr. Er zeigte seine Kunststückchen nur noch auf zweitrangigen Veranstaltungen.
Klar ist: Stuntmen wie Evel Knievel sind furchtloser als andere Menschen. Trotzdem sind sie nicht lebensmüde. Sie versuchen es zumindest, ihre Stunts so zu drehen, dass sie im schlimmsten Fall mit ein paar gebrochenen Knochen davonkommen. Was sagt Evel Knievel über Angst? «Die meisten Menschen behaupten, ich hätte keine Angst vor meinen Sprüngen gehabt. Das ist Quatsch. Ich brauchte vor jedem Sprung einen Schuss Wild Turkey Whisky. Ich hatte jedes Mal diesen Knoten im Bauch und einen Kloß im Hals. Und ich liebte dieses Gefühl. Angst ist das 98-Oktan-Benzin für den Überlebenserfolg. Du musst wissen, wie du damit umgehst, wie du dich absicherst. Wenn du dein Leben riskieren willst, brauchst du Angst.»
Aber haben Stuntmen, Tieftaucher, Extrembergsteiger, Survivalkünstler, Skysurfer oder Fremdenlegionäre wirklich keine Angst? Kein Mensch ist ohne Angst – die Ängste dieser wagemutigen Menschen liegen woanders. Es stellt sich wirklich die Frage, warum Menschen in eiskalte, nasse Höhlen kriechen, mit Haien schwimmen, mit Klapperschlangen schlafen, den Salto mortale ohne Netz versuchen, auf acht Meter hohen Wellen surfen und sich in einem Fass die Niagarafälle hinunterstürzen. Sie könnten doch stattdessen lieber bei schönem Wetter im lauwarmen Meer planschen oder sich ein eiskaltes Bier genehmigen.
Welche Motivation haben Menschen, sich derart in Gefahr zu begeben?
Der Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner hat als Erster den 8846 Meter hohen Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen bestiegen. Bei allen seinen Unternehmungen war er – trotz der Verwendung einer Hightech-Ausrüstung – in allerhöchster Lebensgefahr. Was trieb ihn dazu, alle Achttausender dieser Erde zu besteigen sowie den Süd- und Nordpol zu überqueren? «Sie haben wenigstens einen sinnvollen Beruf als Arzt», offenbarte er mir in einem persönlichen Gespräch selbstkritisch, «Was ich mache, das ist die Eroberung des Nutzlosen.» Steht bei Messner etwa die Angst im Vordergrund, nicht anerkannt zu werden?
Es gibt aber auch Menschen, die anscheinend überhaupt keine Furcht vor Schmerzen und Tod haben. Warum hatten japanische Kamikaze-Piloten keine Angst, sich mit ihrem Flugzeug in einen feindlichen Zerstörer zu bohren? Was geht in jugendlichen Selbstmordattentätern vor, die sich in Diskotheken zwischen zwanzigjährigen Mädchen und Jungen in die Luft sprengen?
Mohammed Atta, der Terrorist, der als Flugzeugentführer den Anschlag auf das World Trade Center mutmaßlich zu verantworten hatte, fing wegen eines überhöhten Whiskypreises in einer Hotelbar in Los Angeles einen fürchterlichen Streit an. Einen Tag zuvor hatte er bei der Lufthansa ein Miles & More-Vielfliegerkonto eröffnet. Am nächsten Tag kidnappte er ein Flugzeug und steuerte es in einen der Zwillingstürme. Religiöser oder politischer Fanatismus kann das Gehirn so manipulieren, dass die Angst vor dem Sterben ausgeschaltet wird.
Man kann sich auch an reale Angst gewöhnen. Dies ist übrigens auch ein weiterer Unterschied zu den übertriebenen, krankhaften Ängsten, an die man sich nie gewöhnt. Menschen, die in Kriegsgebieten leben, stumpfen nach und nach ab. Meine Mutter berichtete über den Bombenkrieg in Stuttgart: «Wir saßen stundenlang in den Luftschutzbunkern, während die Bomben fielen. Wenn die Flugzeuge eine Pause machten, liefen wir schnell durch die zerstörten Straßen zum Bäcker, um Brötchen zu kaufen. Das Leben musste ja weitergehen.»
Als ich einmal in Tel Aviv über den Dizengoff Boulevard ging, war hier am Vortag in einem Bus eine Bombe explodiert. Der Selbstmordattentäter hatte gewartet, bis ein anderer Bus an seinem vorbeifuhr, sodass beide Busse und einige Straßencafés in die Luft flogen. Bei dem Attentat waren 44 Menschen gestorben. Unzählige Kerzen standen auf der Straße. Unmittelbar neben den zerstörten Cafés hatten die Besitzer der benachbarten Restaurants die Trümmer wieder weggeräumt. Leute saßen in der Sonne, tranken Bier und Kaffee und aßen Lammspieße und Falafel. Ich fragte eine Israelin, warum die Leute hier so scheinbar teilnahmslos zwischen den Trümmern saßen und aßen. Sie sagte: «Das ist genau die Art, wie wir Israelis damit umgehen. Wir tun so, als sei nichts passiert. Wir gehen sofort zu unserem normalen Alltag über. Sonst würde uns die Angst auffressen; das Leben wäre nicht auszuhalten.»
Angstgefühle können aber auch mit Lust verbunden sein. Im Zirkus sehen wir es am liebsten, wenn die Hochseilartisten ohne Netz arbeiten. An einem normalen Wochentag haben wir im Fernsehen die Auswahl zwischen mindestens acht verschiedenen Psychothrillern, Action- oder Gruselfilmen. Es werden weit mehr Kriminalfilme gedreht als Komödien. Offensichtlich fühlen wir uns wohl, wenn wir im Fernsehen sehen, wie Menschen ermordet oder bedroht werden.
In Filmen ist die Angst um die Darsteller natürlich nur virtuell. Aber auch echtes Unglück scheint die Menschen zu faszinieren, sonst würde man mit Zeitungen und Nachrichtensendungen kein Geld verdienen. Live-Übertragungen aus dem Krieg haben die höchsten Einschaltquoten und können die Finanzen der Nachrichtenkanäle innerhalb weniger Wochen sanieren.
Und es macht unzweifelhaft Laune, wenn man sich selbst in Gefahr begibt. Bungee Jumping scheint höchste Glücksgefühle auszulösen. In den Vergnügungsparks in Las Vegas gibt es die brutalsten Fahrgeschäfte der Welt, die stets regen Zuspruch finden. Allerdings bitte schön mit der Garantie, dass nichts passieren kann. Auch wenn ab und zu einmal ein Wagen der Raupenbahn auf dem Jahrmarkt aus den Schienen springt, wissen wir doch, dass uns eigentlich in diesen Fahrgeschäften nicht wirklich etwas zustoßen kann. Und so sind sie angelegt: Trotz maximaler TÜV-Sicherheit hinterlassen sie bei uns das Gefühl, dass wir uns in allerhöchster Gefahr befinden und uns nicht dagegen wehren können. Es scheint so zu sein, dass wir uns durch diese virtuellen Gefahren von den wirklichen Gefahren ablenken wollen, die uns bedrohen.
Viele Menschen begeben sich aber absichtlich in tatsächliche, wenn auch berechenbare Gefahrensituationen. Motorbootrennen, Fallschirmspringen von einem Hochhaus, Surfen in sechs Meter hohen Wellen oder Eisklettern – das Spiel mit der Angst findet immer wieder Liebhaber. Warum das so ist: Die Überwindung von Ängsten ist immer mit Genuss verbunden. Winston Churchill formulierte treffend: «Nichts im Leben löst ein größeres Hochgefühl aus, als beschossen und nicht getroffen zu werden.»
Angst sichert das Überleben – diese Erfahrung mussten Aquarienfische machen, die unfreiwillig an einer Untersuchung in Kanada teilnahmen. Die Guppys wurden 60 Stunden mit einem Raubfisch, dem Gemeinen Schwarzbarsch, konfrontiert. Fische, die den Barsch mieden wie die Pest, hatten eine Überlebensrate von 40 Prozent. Von den mittelgradig Ängstlichen, die sich ab und zu einmal dem Raubfisch näherten, um ihn näher zu betrachten, überlebten nur noch 15 Prozent. Die Furchtlosen allerdings, die ausgiebig die Nähe des Killerbarsches suchten, hatten eine Überlebensrate von exakt null Prozent.3
Auch für Menschen gilt, dass Angst das Überleben garantiert. Ein bisschen Angst muss jeder haben – diese allgemeine Weisheit trifft zu. Wer vorsichtig Auto fährt, die Türen gut abschließt oder sich auf Prüfungen aus Angst vor dem Versagen lange vorbereitet, hat durchaus Vorteile im Leben.
Wenn jemand aber krankhafte Angst hat, so hat diese Angst keine Schutzfunktion mehr. Bei Angsterkrankungen oder Phobien handelt es sich nicht um Ängste, die durch wirklich bestehende Gefahren begründbar sind. Phobische Ängste sind unrealistisch oder übertrieben und folgen nicht den Gesetzen der Logik. Die häufigste Phobie in Deutschland ist beispielsweise die Spinnenphobie – obwohl es in Deutschland nicht eine einzige Spinnenart gibt, die gefährlich ist oder zumindest unangenehm stechen oder beißen könnte. Viele Patienten mit einer Panikstörung haben Angst, Fahrstuhl zu fahren, obwohl Lifte zu den sichersten Transportmitteln gehören.
Menschen mit Angststörungen sind jedoch nicht grundsätzlich ängstlich. Sie haben vor tatsächlich gefährlichen Dingen nicht unbedingt mehr Angst als andere Menschen. Scheinbar sind im Gehirn die Instanzen für reale und unbegründete Ängste getrennt. Dies erklärt, warum meine Patientin Sybille G. bei der Geiselnahme weniger Angst hatte als in einem Supermarkt. Angstpatienten können durchaus in der Lage sein, mit Fallschirmen abzuspringen, mit Motorrädern zu fahren, mit Ultraleichtfliegern zu fliegen, der Fremdenlegion beizutreten, in der Innenstadt von Johannesburg spazieren zu gehen oder einen japanischen Fugufisch zu essen. Vor harmlosen Dingen haben sie dagegen große Angst. Die Furcht, die sie vor einem Theaterbesuch in Köln, vor einer Straßenbahnfahrt in Wien oder vor einem Einkaufsbummel in der Bahnhofsstraße von Zürich empfinden, hat überhaupt keine Schutzfunktion und ist scheinbar völlig überflüssig und irrational.
Während jeder zustimmen würde, dass die Angst vor tatsächlichen Gefahren notwendig und zweckmäßig ist, sollte man meinen, dass die unbegründete phobische Angst nur eine lästige Plage ist und keinen höheren Sinn hat. Man muss allerdings kein Philosoph sein – nur ein nachdenklicher Mensch –, um zu dem Schluss zu kommen, dass nichts in dieser Welt überflüssig ist, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint – nicht die Wespen, die Brennnesseln, die Löcher in der Hosentasche oder Akne vulgaris. Und auch nicht diese Art der Angst.
In meiner Arbeit mit Menschen, die Ängste haben, interessieren mich nicht nur die negativen Folgen der Angst, sondern auch ihre positiven, faszinierenden Seiten. Angst ist nicht nur ein Hemmnis, sondern auch eine Herausforderung, eine Chance. «Die Angst lähmt nicht nur», so der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, «sondern enthält die unendliche Möglichkeit des Könnens, die den Motor menschlicher Entwicklung bildet.»4 Angst kann die treibende Kraft sein, die uns zu schöpferischem Handeln anregt, zu herausragenden Leistungen anstachelt und unsere Phantasie und Kreativität steigert. Fast alle Eigenarten der Menschen – die schlechten und die guten – sind wie gesagt durch ihre Ängste erklärbar.
Menschen, die unter vielen kleinen Ängsten leiden, wünschen sich oft, so normal und furchtlos zu sein wie «Durchschnittsleute». So normal wie der Mann im Bauamt, der mit stoischer Ruhe Bauanträge durchblättert. Normal wie der behäbige Taxifahrer, der über Radfahrer schimpft und im Radio deutsche Schlager hört, normal wie der Krankenpfleger, der Kaffee trinkt und Zeitung liest, während der Intensivpatient nebenan röchelt. Normal wie der 120-Kilogramm-Stemmer im Fitnessstudio, dumm, stark und wasserdicht und frei von sämtlichen Ängsten. Wie schön wäre es, jeden Tag so sorgenfrei zu beginnen!
Wenn Sie auch zu den Menschen gehören, die sich über alles Gedanken machen, ständig ängstlich sind, sich über jede Kleinigkeit aufregen und immer leicht aus der Ruhe zu bringen sind: Trösten Sie sich. Ängstlichkeit und Sensibilität haben auch ihr Gutes. Leute, die völlig unneurotisch sind, sind oft komplett langweilig. Die Neurotiker dagegen – auch wenn sie nicht gerade glücklicher sind – erzählen die spannenderen Geschichten, sie sehen interessanter aus, haben mehr Phantasie, führen ein aufregenderes Leben und faszinieren andere Menschen durch ihren Esprit. Wenn wir Menschen attraktiv finden, dann sind es oft solche Charaktere, die gerade nicht «normal» oder «durchschnittlich» sind. Was uns an Popstars, Hollywood-Schauspielern und Politikern fasziniert, sind oft nicht allein ihre künstlerischen oder beruflichen Fähigkeiten, sondern auch ihr außergewöhnlicher Lebensstil und ihre exaltierten, neurotischen Verhaltensweisen.
Es ist nicht verwunderlich, dass viele Prominente Ängste haben – oder besser gesagt, dass ängstliche Menschen prominent geworden sind. Der Engländer Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, bekam mit 28 Jahren unerklärliche Anfälle mit Herzklopfen, Luftnot (air fatigues), Zittern, Weinen, Todesangst, Magen-Darm-Beschwerden, Benommenheit (head swimming) und Entfremdungserlebnissen (treading on air and vision). Er hatte große Angst vor Menschenmengen, Festen, Reisen und vor dem Alleinsein. Heute würde man seine Krankheit als Panikstörung etikettieren.5
Robert Falcon Scott hätte niemand als ängstlich bezeichnet. Er leitete im Jahre 1912 eine Expedition zum Südpol. Am Ziel angekommen, musste er feststellen, dass der Norweger Amundsen dort schon vor ihm gezeltet hatte. Auf dem Rückweg starben Scott und alle Teilnehmer seiner Expedition an Hunger – elf Meilen vor dem nächsten Nahrungsmittellager. Der Arzt Edward Wilson, der Scott auf seinen Reisen begleitete und mit ihm bei diesem Abenteuer starb, hatte über seinen Freund geschrieben: «Als er noch zu Hause war, fand er den sozialen Umgang so schwierig, dass er seinem Tagebuch anvertraute, dass er vor Festen Beruhigungsmittel einnahm, und einer seiner Biographen schrieb, dass es für ihn erheblich mehr Mut erforderte, vor einer Zuhörerschaft zu reden, als eine Gletscherspalte zu überqueren.»6
Auch andere Prominente litten oder leiden unter Angsterkrankungen. Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe, Bertolt Brecht, Samuel Beckett oder Franz Kafka hatten ein Problem mit der Angst. Der italienische Komponist Antonio Vivaldi wurde von Panikattacken geplagt. Die Sängerin Barbra Streisand litt unter einer solch schweren Sozialen Phobie, dass sie zwanzig Jahre lang nicht mehr öffentlich auftrat, nachdem sie einmal bei einem Konzert im Central Park in New York ein paar Wörter eines Songs vergessen hatte. Der Schauspieler Sir Lawrence Olivier litt über fünf Jahre lang unter einer ausgeprägten Sozialen Phobie. Er befürchtete ebenfalls, bei Aufführungen den Text zu vergessen. Der Autor John Steinbeck war derart von starken sozialen Ängsten befallen, dass er zum Alkoholiker wurde und sich einmal zwei Jahre lang in eine einsame Berghütte zurückzog. Der deutsche Komiker Heinz Erhardt trug beim Auftritt immer eine Brille mit Fensterglas, durch die er nur verschwommen sehen konnte – mit Absicht, denn er hatte ein solches Lampenfieber, dass er die Blicke der Zuschauer nicht ertragen konnte. Die eindrücklichsten künstlerischen Darstellungen der Angst stammen von dem norwegischen Maler Edvard Munch, der allerdings nicht nur unter Ängsten, sondern auch unter Depressionen, Psychosen und Alkoholabhängigkeit litt.
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, soll Panikattacken und andere Ängste gehabt haben.7 Sein Psychoanalytiker-Kollege Alfred Adler hatte schon in jungen Jahren eine so ausgeprägte Angst vor dem Tod, dass er beschloss, Arzt zu werden, um sich im Notfall selbst kurieren zu können – was ihm auch nichts nützte, denn er brach eines Tages mit 67 Jahren nach einem Herzanfall tot auf der Straße zusammen.
Treten Angsterkrankungen bei talentierten Schriftstellern, Sängern, Schauspielern, Buchautoren oder Komponisten gehäuft auf? Beim Studium der Biographien prominenter Künstler fällt immer wieder auf, dass neben anderen psychischen Problemen auch häufig über ihre Angstsymptome berichtet wird.
Ist es so, dass ein Leben als Prominenter anfälliger für Ängste macht? Nein. Eher scheint es umgekehrt zu sein: Ängstliche Leute werden schneller prominent. Dass berühmte Künstler oft unter Angst leiden, könnte einen bestimmten Grund haben. Angst ist der Motor, der perfektionistische Menschen zu Höchstleistungen anspornt. Nehmen wir einmal an, Sie wollen ein berühmter Saxophonist werden. Sie haben ein bisschen Talent. Talent allein reicht aber nicht, denn talentierte Saxophonisten gibt es in großer Zahl. Wie kann man sich gegen diese Konkurrenz durchsetzen? Man muss üben. Zwei Stunden am Tag reichen nicht. Andere junge und talentierte Saxophonisten üben fünf Stunden am Tag. Also müssen Sie zehn Stunden blasen. Dazu müssten Sie Ihren Beruf aufgeben. Sie müssten von Ihrem Heimatort Esens-Bensersiel nach München ziehen. Sie müssten alle bisherigen Beziehungen abbrechen und nur noch für die Musik leben. So unglaublich es klingen mag: Das geht nur, wenn man Angst hat.
Warum Angst? Angst gibt uns die unendliche Energie, die für Spitzenleistungen erforderlich ist. Berühmte Musiker haben oft Angst zu versagen. Sie können es nicht ertragen, nicht die Besten zu sein. Bei anderen Leuten gut anzukommen mindert ihre Angst; Kritik verstärkt dagegen ihre Angst. Also üben sie mehr und denken sich phantasievolle, kreative Musik aus, um besser zu sein als der Rest. Angst vor dem Versagen, vor dem Abgewertetwerden, vor der Mittelmäßigkeit treibt die Menschen auch dazu, anerkannte Schauspieler, Schriftsteller, Maler, Sportler, Politiker oder Wissenschaftler zu werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden der amerikanische Psychologe Robert M. Yerkes und sein Student John D. Dodson heraus, dass ein Zuviel an Angst bestimmte Leistungen verschlechtert, während mittelgradige Angst die Menschen zu Bestleistungen antreiben kann. Wenn man zum Beispiel ein Examen ablegen oder einen Vortrag halten muss, kann ein mittlerer Angstlevel nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz zum besten Ergebnis führen.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum Menschen mit Angst die besseren Künstler werden: Wer häufig unter Angst leidet, kann diese Emotionen bekämpfen, indem er bis zur Erschöpfung Musik komponiert, Kunstwerke malt oder Bücher schreibt. Daher sind kreative Menschen, die unter Ängsten leiden, oft gefühlvoller, emotionaler und leidenschaftlicher als andere. Sie schaffen es, ihre tiefen Gefühle, die aus der Angst geboren sind, in ihre Musik und in ihre Bilder zu übertragen, sodass sich ihre Emotionen auf den Hörer oder Betrachter übertragen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass das Publikum Menschen liebt, die neurotisch und ängstlich sind.
Wenn Künstler Drogen nehmen oder Alkoholiker werden, wird oft behauptet, dass dies eine Folge ihres Umgangs sei, weil eben «in der Szene» viel getrunken, gekifft und gefixt wird. Oder dass sie mit dem Erfolg nicht fertig geworden sind. Das trifft aber nicht den Kern der Sache. Liest man beispielsweise die Biographien von Musikern, so hatten diese ihre seelischen Probleme oft schon, bevor sie überhaupt die erste Schallplatte besungen hatten. Viele dieser Menschen hatten sich bereits mit Drogen betäubt, bevor sie in die Musikerszene gekommen waren. Es gibt einen gemeinsamen Grund, warum man Musiker und zugleich drogenabhängig wird: Angst. Die Angst hat viele berühmte Musiker dazu getrieben, die besten Gitarristen, Sänger, Pianisten oder Schlagzeuger zu werden. Die Angst trieb aber auch diese Menschen dazu, Alkohol oder Drogen zu nehmen. Jimi Hendrix, Elvis Presley, Janis Joplin sind Beispiele dafür. Alle drei starben an einer Mischung von zu viel Drogen, Pillen und Alkohol. Nicht, weil sie Selbstmord begehen wollten, sondern weil sie versucht hatten, möglichst viele Drogen auf einmal zu nehmen, um ihre Ängste zu bekämpfen. Wer an der Spitze steht, hat Angst, wieder abzusteigen, ins Mittelmaß abzudriften.
Angst kann Menschen auch im Sport zu Höchstleistungen führen. Berichte über das Privatleben von Sportlern zeigen, dass sie häufig unter ausgeprägten Ängsten leiden. Warum nehmen Eiskunstläufer, Radfahrer oder Zehnkämpfer unglaubliche Strapazen auf sich, um an die Medaillen zu kommen? Warum riskieren sie ihre Gesundheit mit Dopingmitteln? Weil sie von übermäßigem Ehrgeiz, aber auch von Versagensängsten gesteuert sind.
Eine weitere Gruppe von Prominenten, die häufig unter Ängsten leidet, sind mächtige Politiker. Julius Caesar und Napoleon hatten eine schwere Katzenphobie. Der amerikanische Präsident Abraham Lincoln litt unter Agoraphobie und der Angst, krank oder verrückt zu werden. Aber das sind nur Begleiterscheinungen ihrer tief verwurzelten Angst, nicht der anerkannteste Staatsmann ihrer Zeit zu sein. Mit Künstlern und Sportlern haben die Politiker den übersteigerten Ehrgeiz gemein, der letztlich dafür sorgt, dass sie alle anderen Mitbewerber im knallharten Politikgeschäft überflügeln können. Die unglaubliche Entschlossenheit, Ausdauer, Tatkraft und Beharrlichkeit, die es erfordert, ein erfolgreicher Machtpolitiker zu werden, kann nur durch eine dahinter stehende Angst erklärt werden. Ängste unter Politikern, so berichten Psychiater mit einer Praxis in der unmittelbaren Nähe eines Parlaments, seien erschreckend häufig.
Auch finanziell erfolgreiche Menschen sind vielleicht deshalb reich geworden, weil sie unter verborgenen Ängsten leiden. Wenn ein Milliardär in eine Nervenkrise gerät, nachdem er gemerkt hat, dass er für eine Flasche Ketchup 20 Cent zu viel zahlte, dann steckt oft die tief greifende Angst dahinter, etwas zu verlieren, was man einmal besessen hat.
Zu den Urängsten aller Lebewesen gehört die Angst vor dem Verhungern. Wenn jemand allerdings wegen eines immensen Vermögens weit vom Verhungern entfernt ist und trotzdem bei geringen finanziellen Verlusten in panische Angst gerät, dann hat sich bei ihm diese Urangst so verselbständigt, dass ihm eine sachliche Einschätzung seiner Situation nicht mehr möglich ist. So ist auch leicht erklärlich, warum Menschen, die sehr reich sind, oft extrem geizig sind, während ein armer indonesischer Bauer ein Jahresgehalt für die Hochzeit seiner Tochter ausgibt. Die lautesten Klagen über den allgemeinen Niedergang der Wirtschaft kommen meist von denjenigen, die dadurch am wenigsten Einbußen erleiden müssen. Menschen, die sich emporgearbeitet und ein Vermögen angehäuft haben, können oft nicht verstehen, wie sorglos ihre Töchter und Söhne mit dem Geld umgehen. In Wirklichkeit haben diese Kinder, die in Reichtum aufgewachsen sind, vielleicht nur ein realistischeres Verhältnis zum Geld als ihr Vater.
Wohlhabend wird man nicht durch «eigener Hände Arbeit», sondern durch geschicktes Organisieren, besessene Beschäftigung mit Gewinnoptimierungsstrategien und unermüdliches Nachdenken über neue Einnahmequellen – oft aber auch durch Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Menschen. Die hierfür erforderliche Energie wird aus Angst erschaffen. Man kann es auf eine einfache Formel bringen: Diese Menschen sind reich geworden, weil sie Angst haben. Sie betreiben Angstabbau durch unermüdliches Geldscheffeln. «Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt», sagen solche Menschen gelegentlich. Daher können sie meist auch nicht mit dem Anhäufen von Geld aufhören, bevor sie feststellen, dass das letzte Hemd keine Taschen hat.
Diese Angst entsteht nicht unbedingt nur bei Menschen, die als Kinder in bitterer Armut gelebt haben. Wie auch bei anderen Ängsten ist es nicht notwendig, eine schlechte Erfahrung gemacht zu haben, um eine derartige Angst zu erwerben.
Auch der Typ, der «Workaholic» genannt wird, der, wie das Wort sagt, suchtartig der Arbeit verfallen ist, ist in Wirklichkeit von Angst getrieben. Es geht diesen Menschen nicht immer nur darum, viel Geld zu verdienen oder bestimmte berufliche Ziele zu erreichen – die Tätigkeit an sich ist das Ziel. Workaholics werden immer dann nervös, wenn sie durch äußere Umstände von der Arbeit abgehalten werden, sei es durch einen Gipsarm oder – ganz furchtbar – durch einen Urlaub. Der entstehende Leerlauf zwingt sie nachzudenken, über sich, über das Leben – und das macht ihnen Angst. Und die können sie nur dadurch abbauen, indem sie sich wieder in Arbeit stürzen.
So sind viele Verhaltensweisen von Menschen durch Angst erklärbar. Angst ist ein Teil von uns, und wenn wir sie nicht hätten, würde unser Leben banal verlaufen. Angst ist die Würze in der Suppe des Lebens.
Bei manchen Menschen sind die Ängste allerdings so stark, dass sie sie nicht mehr allein bewältigen können.