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Joachim Fest

Nach dem Scheitern der Utopien

Gesammelte Essays zu Politik und Geschichte

Inhaltsverzeichnis

Leitartikel und Kommentare

Die Schuld der Gesellschaft

Anmerkung zu einem modischen Vorwurf

Manie der Reformen

Zur herrschenden Veränderungswut in der Bundesrepublik

Angst als Bildungserlebnis

Die akademische Jugend und der Radikalenerlaß

Eine Erinnerung

Zu den Spielregeln der öffentlichen Auseinandersetzung in Zeiten des Terrorismus

Filbingers Uneinsichtigkeit

Vom Kopfe her

Nach dem Ausscheiden der deutschen Fußballer aus der Weltmeisterschaft in Argentinien

Nachwort zu Holocaust

Eine Fernsehserie wirft Fragen auf

An den Parteien vorbei

Die Begleiterscheinungen des Wahlkampfes Schmidt gegen Strauß

Weltsensation und Weltblamage

Zur Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher

Cargo-Kult

Die Bundesrepublik im Umbruch

Sieg und Niederlage

Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes

Rückblick auf das Berufsboxen

Ein Symbol hat seine Kraft verloren

Tod einer Ideologie

Schweigende Wortführer

Überlegungen am Ende des Jahres 1989

Was für Berlin als Hauptstadt spricht

Auf dem Hochsitz der Moral

Der Krieg am Golf und seine Gegner

Friedrichs letzte Reise

Zu den Aufgeregtheiten über die Umbettung des Preußenkönigs

Das letzte Tabu

Gedanken nach Rostock und Mölln

Die ungeschriebenen Regeln

Zu den Hintergründen der CDU-Spendenaffäre und anderer Skandale

Politische Essays

Schwierigkeiten mit der Kritik

Die demokratische Funktion der Fernsehmagazine

Das Dilemma des studentischen Romantizismus

Gedanke und Tat

Über eine Metapher von Heinrich Heine

Von der Unverlorenheit der deutschen Frage

Eine sechsbändige Geschichte der Deutschen und ihrer Nation weist auf ein altes Dilemma

Der zerstörte Traum

Vom Ende des utopischen Zeitalters

Zwischen Westen und nirgendwo

Über die Wanderungen des deutschen Sonderbewußtseins

Nach dem Scheitern der Utopien

Probleme der offenen Gesellschaft

Historische Porträts und Betrachtungen

Noch einmal: Abschied von der Geschichte

Polemische Überlegungen zur Entfremdung von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit

Pathetiker der Geschichte und Baumeister aus babylonischem Geist

Theodor Mommsens zwei Wege zur Geschichte

Das tragische und wunderbare Schauspiel der Geschichte

Versuch über Jacob Burckhardt

Preußens letzter Untergang

Gedanken über die Dauer einer historischen Episode

«Es gibt hier nichts zu schießen . . .!»

Die Deutschen und die Revolution

Unzeitgemäßer Held seiner Zeit

Winston Churchill

Die geschuldete Erinnerung

Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen. Mit einem Nachwort

Zeitgenosse Hitler

Eine Nachschrift

Anmerkungen und Nachweis der Erstveröffentlichungen

Personenregister

 

 

 

Leitartikel und Kommentare

Die Schuld der Gesellschaft

Anmerkungen zu einem modischen Vorwurf

(20. Mai 1974)

 

 

Zu den Gewißheiten, die sich seit einigen Jahren mit der Kraft des Gemeinplatzes breitmachen, zählt die Vorstellung, daß an den Mißlichkeiten des Daseins, an öffentlichen Übelständen wie an allen Erscheinungsformen individuellen Versagens die Gesellschaft schuld sei. Kein aufgeklärtes Bewußtsein bis hin zu den Fernsehansagerinnen vor dem Besonderen Film, das nicht vor allem darüber aufgeklärt wäre. Im «Spiegel» ist ein Gerichtsreporter seit Jahren dabei, immer neue Schuldumwälzungstheorien zu entwickeln, die Nachtprogramme sowie alle subventionierten Kultstätten des Gemeinplatzes und gewiß doch auch die Rahmenrichtlinien wissen es längst: die Gesellschaft ist an allem schuld.

Unstreitig gibt es zahlreiche Formen öffentlichen Versagens: das Unvermögen beispielsweise, die annähernde Gleichheit der Chancen herzustellen; die vielfach hervortretende Borniertheit des Gesetzgebers oder die Gefügigkeit der Institutionen gegenüber dem Druck mächtiger Interessen. Aber daß dafür (wie für alles andere auch) immer nur die Gesellschaft schuldig zu sprechen sei, ist weniger, wie es zu sein behauptet, Ergebnis neuer sozialtheoretischer Einsichten als vielmehr Ausdruck fortbestehender Blindheit in lediglich modischem Gewand. Im Grunde ist es in jenem rationalen Aufputz, den auch der Aberglaube heute braucht, die alte Spielfigur für ratlos vagabundierende Aggressionen: die «Gesellschaft» hat den Platz eingenommen, den einst Hexen, Jesuiten, Freimaurer oder Juden innehatten.

Auch die Motive für dieses exzessive Anklagebedürfnis sind vertrauter Natur. Die Verdikte stammen, allen anderslautenden Versicherungen entgegen, weniger aus dem Solidaritätsbewußtsein mit den Schwachen und Hilflosen. Vielmehr sind sie weitaus häufiger Ausdruck persönlicher Problemlagen angesichts einer zunehmend anmaßender und ruinöser ins Leben des einzelnen eingreifenden Welt. Dahinter wird, nach Jahren der Verdrängung, wiederum jenes pessimistische Lebensgefühl sichtbar, das, allen linken Erwartungseuphorien zum Trotz, seit über einem halben Jahrhundert die wirkliche Signatur der Epoche bezeichnet: die Ahnung, daß alles ganz falsch gelaufen und mit dem Umschlag der Fortschrittsidee die große Katastrophe unaufhaltbar sei. Das Verdammungsurteil über die Gesellschaft, vage und undefiniert wie der Begriff dabei verwendet wird, ist nicht zuletzt ein Versuch, sich selber eben davon freizustellen; denn indem man der Allgemeinheit Unrecht und Schwäche vorhält, bekundet man jene Verantwortung, die man zugleich damit los wird.

Nichts anderes als diese Fluchtneigung steht, reduziert man es auf den festen Kern, hinter allen gesellschaftlichen Schuldvorwürfen. Sie trägt auch den von den gleichen Anklägern verbreiteten Soupçon gegen den Leistungsgedanken, stützt das Ressentiment gegen den Erfolg und rechnet zu den Ursachen der Aureole, von denen die vielfältigen Formen des Verweigerns umgeben sind. Eine merkwürdige Suggestion geht vom Versagen aus.

Unterstützung kommt diesem Fluchtbedürfnis durch die verbreiteten Theoreme der Linken. Ursprünglich die Sammlungsidee einer sozial unterlegenen, doch siegesgewissen Klasse, wird der Marxismus in seiner modischen Form mehr und mehr zur persönlichen Rechtfertigungsideologie von Unterlegenen, die es bleiben wollen. Allzu viele versorgt er nur noch mit apologetischen Floskeln für die eigene Ohnmacht.

Es mag kein Zufall sein, daß dies alles sich gerade in Deutschland auf so ausschweifende Weise bemerkbar macht. Denn vielleicht sind es die Söhne Adolf Eichmanns, die hier ihren Fluchtbedürfnissen nachgehen. Dieser hatte ja, wieder und wieder, behauptet, an der moralischen Katastrophe seines Lebens sei niemand anderes als die Gesellschaft schuld; er sei nur immer deren Reflex gewesen. So, wörtlich, sagt das der linke Schicksalsglaube von heute auch.

Aber das Beispiel der älteren Generation offenbart auch den Rechtfertigungscharakter, der in den sozialen Schuldtheorien so oft einschlägig ist. Schuld ist vorab eine individuelle Kategorie; Leistung, Erfolg oder Versagen sind es auch. Die Umweltbedingungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse können das eine wie das andere erschweren oder begünstigen: sie können den persönlichen Anteil indes nicht verflüchtigen.

Dem Grundsatz nach soll man die Intervention durch die Verhältnisse dort, wo sie irritierend wirkt, dämpfen und dort, wo sie hilfreich ist, fördern; in jedem Fall jedoch dem Dasein des einzelnen so viel an Identität sichern wie möglich. Die These von der gesellschaftlichen Verhaftung des Menschen ist in der frühen Nachkriegszeit lange erörtert und zuletzt im leicht versetzten Zusammenhang mit der Kollektivschuldthese zurückgewiesen worden. Aber die Nation hat kein Gedächtnis, und selbst dreißig Jahre sind zu lang für ihre Erinnerung.

So wird das überwunden Geglaubte unentwegt wiederbelebt: ideologische Bedürfnisse, Illusionen, Formen des Aberglaubens. Wer in den Verdikten gegen den Generaldelinquenten Gesellschaft einen Fortschritt sehen will, sollte ihn nicht auf der Ebene des Bewußtseins suchen; denn der irrationale Ansatz besteht unverändert fort. Allenfalls ließe sich sagen, die «schuldige Gesellschaft» sei nur ein Begriff und – sicherlich doch – anders als Hexen oder Juden bluten Begriffe nicht.

Manie der Reformen

Zur herrschenden Veränderungswut in der Bundesrepublik

(20. Mai 1975)

 

 

Seit Jahren befindet sich die Bundesrepublik in einem umfassenden, fast revolutionsartigen Veränderungsprozeß. Zwar ist der Vorgang gewaltlos, schleichend und von mancherlei abschwächendem Vokabelwerk verdeckt. Leute mit biederen Mienen und unscharfen Begriffen, vom Altbundeskanzler Brandt bis hinab zu den Heerscharen reformeifriger Fachdezernenten, verstellen vielfach den Blick dafür; aber: Das Land wird umgebaut. Ist es falsch, zu sagen, es habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren tiefgreifender verändert als in Generationen zuvor?

Von den ehemals tragenden Schichten und Strukturen hat kaum eine überdauert, Machtpositionen haben sich verlagert, traditionelle Ideologien sich zersetzt, das Gesicht der Städte hat sich ebenso wie das der Menschen verwandelt: Ein Land, das stets so eifersüchtig wie schroff über seine nationale und kulturelle Identität gewacht hat, ist dabei, sich von sich selber zu trennen. Was, trotz aller einebnenden Wirkungen der Weltzivilisation, italienisch oder englisch zu nennen wäre, läßt sich vergleichsweise leicht definieren; wer wüßte noch zu sagen, was deutsch ist?

Gewiß hat der Veränderungswille, der gegen Ende der Ära Adenauer einsetzte und bald die suggestivsten Formeln für den politischen Meinungsstreit abgab, manche positiven Entwicklungen hervorgebracht. Vor allem hat er die charakteristische Enge und Dumpfheit der deutschen Verhältnisse abgebaut, die Aufstiegschancen für die große Mehrheit egalisiert, ein bis dahin ungekanntes Selbstbewußtsein des einzelnen gegenüber den Institutionen geweckt sowie überhaupt einen ausgreifenden Emanzipationsprozeß in Gang gebracht. Doch haben Radikalität und Dauer der Kritik am Bestehenden auch zahlreiche Verheerungen angerichtet. Die Verhältnisse wie die Menschen selber wurden immer aufs neue zu Objekten einer nahezu voraussetzungslosen Experimentierlust; sie sind es noch. Man muß, um dies zu illustrieren, nur vor Augen rufen, was alles an gesellschaftskritisch motivierter Quacksalberei in wenigen Jahren die Schulen und, was schlimmer wiegt, die Kinder heimsuchte: eine Weile antiautoritäre Erziehung, eine Weile Ganzheitsmethode und Mengenlehre, dann eine Weile Rahmenrichtlinien, heute Gesamtschulversuche, morgen eine Weile etwas anderes.

Es hat den Anschein, als fühle sich fast jedermann in diesem Lande, vom Gesetzgeber bis zur Kindergärtnerin, einem hektischen Reformdruck ausgesetzt. Im steten Bedürfnis, den eigenen Neuerungswillen zu beweisen, werden unzureichend durchdachte Programme verabschiedet, die entweder finanziell nicht gedeckt sind und folglich wieder rückgängig gemacht werden müssen wie die Nahverkehrsplanung oder aber von nahezu sämtlichen beteiligten Gruppen abgelehnt werden wie das neue Berufsbildungsgesetz unseres braven Wissenschaftsministers.

Weil niemand zurückstehen will, tauscht dieser die Briefkästen aus, jener die Zwei- und dann die Fünfmarkstücke, dieser die alten Laternen gegen Peitschenmasten, jener die städtische Straßenbahn gegen Busse; hier wird eine Straße gebaut, daneben eine geschlossen. Der Vorzug ist kaum greifbar. Es soll nur alles anders werden.

Was sich da als Reformwille ausgibt, ist vielfach lediglich Unrast, die als Ressentiment gegen das Bestehende in Erscheinung tritt. In Umkehrung der berühmten Hegelschen These gilt das Wirkliche heute als unvernünftig, und das aus keinem anderen Grund, als weil es wirklich ist: modische Wegwerf-Mentalität, bezogen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Zahlreichen Reformideologen geht es denn auch weniger um die Verwirklichung des vernünftigen Neuen als vielmehr um den Bruch mit dem Überkommenen.

Angesichts der beispiellosen und pessimistischen Dynamik, die der zivilisatorische Prozeß entwickelt hat, liegt jedoch die Funktion des aufgeklärten Reformwillens eher darin zu bremsen, als fortzubewegen. Das haben, vor Jahren schon, Teile der studentischen Protestbewegung, trotz aller ihrer Artikulierungsschwäche, schärfer erkannt als so viele zukunftsbewußte Reformer mit ihrem Überschuß an dummem gutem Willen.

Bezeichnenderweise führt der sich erstmals verbreitet regende Protest gegen die herrschende Veränderungswut zu unvermuteten Nachbarschaften: neben den Hausbesetzern stehen die Elternverbände aus Hessen oder Nordrhein-Westfalen, die sich gegen den Neuerungswillen der Kulturbürokratie formieren, oder Arbeiter aus dem Ruhrgebiet, die das ärmliche, aber vertraute Wohnviertel gegen die Begriffsgötzen moderner Städtebauer: Licht, Luft und Beton, verteidigen. Gemeinsam ist allen die Bereitschaft, etwas von der vorgeblichen Lebensqualität einer hygienischen Asphaltwelt für ein Stück vertrauter Lebensform zu opfern.

Der Begriff der «Reform» ist unterdessen dabei, zum Schreckwort zu werden; die Sache, die er meint, desgleichen. Wie in den fünfziger Jahren der Slogan gegen alle Experimente die Wähler mobilisierte, so wird man sie, denkbarerweise, bald mit der Devise «Keine Reformen!» gewinnen. Denn nicht das Bestehende muß verändert werden, sondern das Verkehrte. Das ist nur ein Gemeinplatz; aber gleichwohl kompliziert zu denken für alle.

Angst als Bildungserlebnis

Die akademische Jugend und der Radikalenerlaß

(6. Juli 1976)

 

 

Wird von der jungen Generation gesprochen, taucht, zusehends redensartlicher, die Formel vom Hang zur «Anpassung» und «Duckmäuserei» auf. Kanzler und Kanzlerprätendent, zahlreiche Universitätslehrer, vor allem aber die machtvolle Bekümmerungspublizistik dieses Landes registrieren insbesondere innerhalb der akademischen Jugend einen auffallenden Veränderungsprozeß. Vereinzelte Ausnahmen hartnäckiger Restgruppen nicht gerechnet, die noch immer einigen anachronistischen Tumult aufführen, sei der Phase des Aufruhrs, so heißt es, nun die der Angst gefolgt.

Gewiß steckt in dergleichen Feststellungen stets ein Maß an besorgter Übertreibung; aber daß es verbreitete Zustände der Angst gerade an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen gibt, daran kann, bei einigem Wirklichkeitssinn, niemand vorbeigehen.

Insinuiert wird zumeist, daß diese Angst ganz wesentlich aus politischen Motiven herstamme; daß es sich um eine Gesinnungsangst eingeschüchterter Jugendlicher handele, die sich und ihre Überzeugungen nicht mehr zu exponieren wagten.

In der Tat hat die vor allem mit der Überprüfung der Bewerber für den öffentlichen Dienst in Gang gekommene Praxis der Ausforschung erhebliche Verängstigungen wachgerufen. Überwiegend mag es sich dabei durchaus um hysterische Reaktionen handeln, aber auch die Hysterie kann, sofern sie eine hinreichende Zahl ergreift, politisch wirksam werden. Genährt wird sie vor allem davon, daß bei den Überprüfungen vielfach «Erkenntnisse», die nicht justiziabel sind und dem Betroffenen folglich keine Möglichkeit der Rechtfertigung gewähren, gleichwohl zur Beurteilung herangezogen werden. Die daraus folgende Einschüchterung geht an einigen Universitäten, wie unsinnig auch, bereits so weit, daß ideologisch «verfängliche» Promotionsthemen gemieden werden. Nicht selten wird den Bewerbern auch eine jahrelang zurückliegende Zugehörigkeit zu einer anarchistischen Gruppe vorgehalten: Eine Öffentlichkeit, die der Vätergeneration selbst späte politische Irrtümer nur zu bereitwillig verzieh, zeigt jetzt, daß sie selbst angesichts von Jugendeseleien rigoros reagieren kann.

Solche Vorkommnisse sind besorgniserregend, und niemand sollte sich ein Gefühl der Befriedigung darüber leisten, daß es den Studenten, die sich vormals herausnahmen, «am Staat zu rütteln», nun heimgezahlt werde. Wenn Angst, Konformitätsdruck und Denunziationsstimmungen zum Bildungserlebnis einer Generation werden, müssen die Folgen für den Staat ruinös sein.

Doch rührt diese Angst nicht nur von den gelegentlichen Übergriffen des Staatsschutzes her. Zu einem erheblichen Teil ist sie vielmehr in demagogischer Absicht gerade von denen erzeugt, die ihre Verheerungen zugleich beklagen. Man denke an die Gerüchte über ein angeblich in Baden-Württemberg angewendetes System der Negativpunkte, dessen Existenz sogar durch gefälschte Karteikarten bewiesen werden sollte, oder an die Methoden verbaler Verdrehung, die den Anspruch auf rechtliches Gehör in eine illegale Praxis der «Verhöre» umfälschen, sowie überhaupt an die ingeniöse Strategie der Erfindung und publizistischen Durchsetzung widersinniger, gleichwohl verwirrender Schreckvokabeln, deren jüngstes Beispiel «Berufsverbot» lautet. Das alles fördert ebenso die Angst.

Die teils begründeten, teils manipulierten Ängste verbinden sich mit einem erstmals in den akademischen Bereich durchschlagenden ökonomischen Pessimismus. Zu jener wirklichen Bildungskatastrophe, die wir in Abwehr einer vermeintlichen herbeigeführt haben, gehört nicht zuletzt eine weithin verfehlte Bedarfspolitik in den lehrerausbildenden Fächern. Die Reduktion in den Stellenplänen bei wachsendem Überangebot erzeugt einen Konkurrenzdruck, dem viele junge Menschen nicht gewachsen sind und aus dem sie in jene moderne Anspruchshaltung gegenüber dem Staat flüchten, von dem jeder alimentiert zu werden verlangt. Die Nichterfüllung dieses Anspruchs wirkt häufig wie ein Akt des Liebesentzugs, der panische Reaktionen auslöst. In Offenbach verübten unlängst zwei Studienreferendare Selbstmord. «Wir haben alle dieselben Ängste», versicherten ihre Kollegen.

Wer die verschiedenartigen Ursachen der so spürbar verwandelten Psychologie der jungen Generation bedenkt, sollte schließlich nicht übersehen, daß zumindest in der politisch motivierten Angst auch ein Stück vulgärer deutscher Untertanengesinnung zum Vorschein kommt. Allzu häufig bleibt außer acht, daß zur «Duckmäuserei» jedenfalls Duckmäuser nötig sind. Jener Theologiestudent, der sich von den Staatsschutzbehörden drangsaliert fühlte, doch nicht bereit war, dieser Zeitung zu erlauben, seinen Fall mit allen Namensangaben aufzugreifen, ist eben jener Untertan, dessen Heraufkunft er zugleich beklagt. So verhalten sich viele.

Die Londoner «Times» bemerkte unlängst, daß die Angst seit undenklichen Zeiten zum Charakterbild der Deutschen gehöre. Die Gründe dafür, innere wie äußere, sind zahlreich. Woran es vor allem fehlt, ist das Bewußtsein, in einer Gesellschaft des humanen Beistands zu leben. Das macht die Praxis der Extremistenabwehr in ihrer mitunter subalternen Starre ebenso deutlich wie jener Computer, der in der Dortmunder Studienplatzzentrale über Lebensschicksale entscheidet und der wie eine Art Symbol der Gesellschaft ist, in der wir alle leben.

Eine Erinnerung

Zu den Spielregeln der öffentlichen Auseinandersetzung in Zeiten des Terrorismus

(15. Oktober 1977)

 

 

Alle wissen es: ein demokratisches Staatswesen besteht nicht nur aus den Grundsätzen und institutionellen Regeln eines geordneten Zusammenlebens in Freiheit; die Formen des Zusammenlebens selber machen es eigentlich erst aus. Sie sind seit einigen Wochen tief und wie noch nie gestört. Es scheint höchste Zeit, wieder zur Vernunft zurückzukehren, für die einen wie für die anderen.

Eine unduldsame, jede Proportion mißachtende Gereiztheit breitet sich aus. Da werden Listen angelegt, «Aktionen» angedroht und Dokumentationen zusammengeschustert. Leserbriefe, die bei den Redaktionen wohl aller Zeitungen eingehen, wetteifern in Vereinfachungen, Grobheiten und leichtfertigem Gerede.

Nicht weniger unvernünftig verhält sich die Gegenseite. Auch wer den Schriftstellern ein hohes Maß an Empfindlichkeit und rhetorischer Emphase zugute hält, hört ratlos von «Hexenjagden», vom großen «geistfeindlichen Aufräumen». Günter Grass, sonst eher besonnen sich äußernd, findet zwischen den Terminen einer beifallumrauschten Lesetournee rasch mal die Zeit, sich als «Freiwild» zu fühlen, Heinrich Böll sieht sich und seine Familie im Mittelpunkt gezielter polizeilicher Großeinsätze. Vor dem Hintergrund der Frankfurter Buchmesse werden vom Podium herunter Exodusstimmungen verbreitet.

Maßlose Überreaktionen hier wie dort. Jede Unbedachtheit auf der einen provoziert neue, heftigere Anwürfe auf der anderen Seite, und wie unter einem selbstzerstörerischen Zwang treiben sich beide in einen Zustand äußerster Unversöhnlichkeit hinein. Die sich gegenüberstehen, erkennen kaum noch, wie ähnlich sie einander geworden sind: ein jeder das Spiegelbild seines Gegenübers.

Fraglos gehört die Kontroverse, auch die leidenschaftliche und ohne Ängstlichkeit geführte Auseinandersetzung, zu den Lebenselementen demokratischer Gemeinwesen. Die Figur des Gegners hat darin geradezu konstitutiven Rang. Aber von dort bis zu dem kopflosen Geschrei ringsum, den Verdächtigungen und Denunziationen, ist ein weiter, die Qualität der Positionen verändernder Weg: aus politischen Gegnern werden dabei unversehens Feinde, zwischen denen kein Gespräch mehr möglich ist. Die Bereitschaft dazu ist aber die Voraussetzung jeder sinnvollen Kontroverse.

In den ersten Tagen nach der Schleyer-Entführung ist die Gemeinsamkeit der Demokraten lautstark beschworen worden. Sie ist weniger eine Sache inhaltlicher Übereinstimmungen. Vielmehr besteht sie in der Bereitschaft, die Aufrichtigkeit der Sorgen und Befürchtungen auf der Gegenseite ernst zu nehmen.

Die Schriftsteller können sich, in der ganz überwiegenden Mehrheit zu Recht, gegen die schrecklichen Vereinfachungen wehren, sie hätten den Terror ermutigt oder auf unzulässige Weise bagatellisiert. Es ist ihre legitime Funktion, immer wieder aufs neue die übereilten, kompakten Einverständnisse der Gesellschaft kritisch aufzubrechen.

Doch sollte auch begreiflich sein, daß eine wachsende Kritikmüdigkeit viele erfüllt. Unter den anklägerischen Dauergesten, den präzeptoralen Brusttönen, ist vielfach vergessen worden, daß Kritik nicht zuletzt ein Akt der Loyalität ist. Sie bedarf eines normativen Hintergrunds, und noch im schärfsten Angriff muß der Ton der Treue zu der Sache, um die es geht, unüberhörbar sein. Bundespräsident Walter Scheel hat in seiner Tübinger Rede den engen Zusammenhang von Kritik und Wertvorstellung hervorgehoben. In dieser Gesellschaft aber werden die Menschen von frühauf zu einer Art kritischem Bewußtsein an sich angehalten, die Werte haben kaum noch einen Anwalt, und die wenigsten wissen, wofür sie noch einstehen können. Die Aggressionen, die jetzt sichtbar werden, sind auch ein Symptom der Ratlosigkeit.

Zu fragen ist, was hier, gewiß nicht nur von einigen Schriftstellern, versäumt wurde. Die besondere moralisch-politische Kompetenz jedoch, die einige von ihnen immer beansprucht haben, bürdet ihnen naturgemäß auch eine besondere Verantwortung auf. Sie sollten sich ihr nicht mit jenen Gebärden der Wehleidigkeit entziehen, die in diesen Tagen, viel zu oft schon, sichtbar geworden sind.

Die Wortführer auf der anderen Seite müssen einsehen, daß Schriftsteller nicht die Sündenböcke für die Mißgefühle der Gesellschaft sein können. Was immer auch die ganz und gar unerforschten, im Dunkel individueller wie gesellschaftlicher Faktoren sich verlierenden Ursachen der terroristischen Aktivitäten sein mögen: die Rechthaberei wird nichts davon aufklären. Sie versperrt nur die Einsicht, von der alles abhängt.

Sucht man in der gegenwärtigen, mit so viel blinder Emotion geführten Auseinandersetzung den rationalen Kern, so stößt man auf verwandte, wenn auch charakteristisch verschobene Ansätze: in beiden Fällen ist die Geschichte der traumatische Ausgangspunkt aller Reaktionen. Die einen sind beherrscht von der Erinnerung an die liberale Schwäche der Weimarer Republik, die anderen vom Blick auf das Zwangssystem des Dritten Reiches. Beide gehen davon aus, der Lektion der Geschichte die richtigeren Schlüsse entnommen zu haben. Im Affekt jedoch verfehlen die einen wie die anderen sie.

Sollte tatsächlich darüber keine Verständigung mehr möglich sein? Noch haben wir einen freiheitlichen Staat. Aber er wird seine Zeit gehabt haben, wenn die Verachtung der Spielregeln, die gegenseitigen Bezichtigungsexzesse anhalten. Das ist keine Frage des pessimistischen Temperaments, sondern fast schon eine der politischen Physik. Daran sollte man sich, im Blick auf die ganze Geschichte, erinnern.

Filbingers Uneinsichtigkeit

(26. Mai 1978)

 

 

Zu den fatalen, das politische Leben dieses Staates belastenden Erscheinungen gehört die Figur des nachgeholten Widerstands gegen das Dritte Reich. Während Angehörige der älteren Generation ihre gelegentlichen Unmutsempfindungen aus jener Zeit vielfach zu einsamen Verschwörerrollen hocherinnern, suchen andere, die durch Alter oder Zufall vor jeder Bewährungsprobe bewahrt blieben, im häufig moralisierend getönten Rundumprotest zu beweisen, daß sie die Lehren der Geschichte erfaßt haben.

Es ist schwierig für jeden, die Arroganz des verschont Gebliebenen zu vermeiden. Nicht wenige Einlassungen zu der Auseinandersetzung, die um den Ministerpräsidenten Filbinger und dessen Mitwirkung an dem Todesurteil gegen den Matrosen Gröger, wenige Wochen vor dem Ende des Krieges, entbrannt ist, machen das deutlich.

Wer ein Beispiel will, denke an den Vorwurf, Filbinger hätte sich dem Auftrag, die Anklage zu übernehmen und auf die Höchststrafe zu plädieren, mühelos entziehen können. Der Einwand liegt aber nahe, daß er sich damit jeder Möglichkeit zur Verhinderung oder Milderung von Unrechtsakten begeben hätte. Immerhin kann er glaubhaft machen, in einigen anderen Fällen erfolgreich interveniert zu haben. Im ganzen war er denn wohl auch nicht der «furchtbare Jurist», den Hochhuth in ihm erkennen will; es gibt erschreckendere Beispiele. Aber er war korrekt, von Ordnungsängsten beherrscht und, wie viele seines Berufes zu jener Zeit, arm an humaner Phantasie.

Die eigentlichen Irritationen beginnen später. Ehrgeiz und Opportunitätserwägungen haben Filbinger dazu gebracht, sich zunehmend als aktiver Widerstandskämpfer aufzuführen. Nur mit Beschämung kann man angesichts der jetzt bekanntgewordenen Osloer Vorgänge vom Frühjahr 1945 nachlesen, was er 1960 am Grabe dreier Bürger von Brettheim über das «himmelschreiende Unrecht» geäußert hat, das jenen zugefügt worden sei; denn einer von ihnen hatte etwa zu der gleichen Zeit, da Gröger exekutiert wurde, die sinnlose Verteidigung des Dorfes verhindern, die anderen beiden hatten das daraufhin ergangene Todesurteil nicht unterzeichnen wollen. Anstößig wirkt jetzt auch Filbingers Rede vom 20. Juli 1974, in der er die Verschwörer gegen Hitler rhetorisch feierte. Bei alledem kein Wort persönlicher Betroffenheit. Statt dessen beispielsweise: «Der menschliche Wein in ihnen ist rein gekeltert worden.» Nicht nur das Empfinden für moralischen Takt erscheint hier verletzt. Filbinger hat auch sichtlich nicht bedacht, daß er sich mit der Stilisierung zum Widerstandskämpfer selbst das Argument entzog.

Denn der Vorwurf liegt eigentlich weniger darin, daß er so kurz vor dem Ende des Krieges ein Todesurteil zu erwirken hatte und vollstrecken ließ, wiewohl man fragen mag, ob nicht etwas weniger beflissener Erledigungswahn dem Verurteilten das Leben hätte retten können. Doch die Verblendungsmechanismen nahmen ja mit dem näherrückenden Untergang keineswegs ab. Angst und Ungewißheit steigerten die Blindheit vielfach noch, und man würde dies alles sicherlich auch dem Marinestabsrichter Filbinger zugute halten. Die Behauptung aber, zum Widerstand gehört zu haben, enthält zugleich den Verzicht auf jene Nachsicht, die dem politisch-moralischen Irrtum, sofern er nur Irrtum bleibt, durchweg zusteht. Filbinger gibt vor, sich die moralischen Maßstäbe auch damals bewahrt zu haben. Folglich muß er auch sein Verhalten daran messen lassen. Als Mann des Widerstandes aber hätte er nicht handeln dürfen, wie er gehandelt hat.

Im Saarländischen Rundfunk hat Filbinger sich unlängst zur Frage der Schuld erklärt. Aber er hat es auf eine Weise getan, die Epplers Wort vom «pathologisch guten Gewissen» nachträglich erst rechtfertigt. Ins Theologische ausweichend, hat er sein eigenes Verhalten einem sehr allgemeinen, in Schicksalsnebeln verschwimmenden Schuldbegriff unterworfen: «Wir alle sind an allem für alles schuldig.»

Wiederum kein Wort betroffener Einsicht. Statt dessen der Versuch, alles denkbare Verschulden, das stets an die einzelne Person gebunden ist, in einer universalen Komplizenschaft aufzulösen. Hannah Arendt hat in kleinem Kreis erzählt, wie sie kurz nach dem Krieg, erstmals wieder in Deutschland, von einer einfachen Frau, die über Jahre hin einer jüdischen Mitbürgerin beigestanden hatte, das weinend vorgebrachte Eingeständnis gehört habe, am unerträglichsten sei das Gefühl, schuldig geworden zu sein. Damals, so bemerkte sie, sei ihr aufgegangen, daß die Kollektivschuld-These nichts anderes als die grandiose Vertuschungschance für die wahrhaft Schuldigen sei.

Zweifellos sind viele der gegen Filbinger erhobenen Vorwürfe von politischen Nebenmotiven bestimmt. Ressentiments gegen den Anwalt von Gesetz und Ordnung spielen hinein. Aber wiederum ist es nur ein anderer Ausdruck der Uneinsichtigkeit, wenn er hinter den Angriffen lediglich ein Komplott von Linksextremisten wittert. Viel eher steht ein extremer Moralismus dahinter.

Das hat seinen guten Grund. Man mag über den Schriftsteller Rolf Hochhuth denken, wie man will. Doch steckt in seinem eifernden Rigorismus auch ein Gefühl dafür, daß die Demokratie ein höheres Maß an moralischer Irritabilität besitzt als jede andere Staatsform. Darauf gründet ganz wesentlich ihre Legitimität. Jedermann kann denn auch ein Versagen, das strafrechtlich irrelevant ist, mit sich selber abmachen. Ein Ministerpräsident kann es nicht.

Vom Kopfe her

Nach dem Ausscheiden der deutschen Fußballer aus der Weltmeisterschaft in Argentinien

(26. Juni 1978)

 

 

Das klägliche Abschneiden der deutschen Fußballer in Argentinien ist gewiß nicht die Katastrophe, die manche darin erkennen. Wer schon das Endspiel oder gar neuerlich den Titel winken sah, sollte nach all dem überheblichen Getue der vergangenen Wochen Trost in so billigen wie vernünftigen Formeln finden, daß der Sport eben doch nur eine schöne Nebensache ist, daß das Risiko der Niederlage dazugehört und deren gelassene Hinnahme geradezu die Moral sportlicher Auseinandersetzungen ausmacht.

Gewiß haben die unbefriedigenden Resultate der deutschen Mannschaft mit einem sportlichen Leistungsrückgang zu tun, der sich gerade nach Jahren großer Erfolge regelmäßig einstellt. Der deutsche Fußball, der zu Beginn der siebziger Jahre nahezu vergleichslos an der Spitze stand, ist nur noch ein Schatten von einst. Wer sich des durchaus ingeniösen Zugs erinnert, der ihn auszeichnete, konnte nur mit Kopfschütteln die einfallslose, ängstliche Kickerei der Spieler während dieses Turniers verfolgen. Nicht die schwachen Ergebnisse, sondern die Umstände ihres Zustandekommens waren so blamabel. Die Frage ist, ob sich dahinter nicht mehr verbirgt als die zeitweilige Formschwäche einer ehedem großen Mannschaft. Ihr Rang war stets von einigen eigenwilligen Spielern wie Beckenbauer, Netzer, Overath oder Breitner geprägt, die sich unter dem milden Regiment des vielbelächelten DFB-Präsidenten Hermann Gösmann und seines Trainers Helmut Schön, allen gelegentlichen Reibereien zum Trotz, im ganzen ungehindert entfalten konnten. «Spielt, wie ihr wollt, ihr werdet es schon richtig machen», gab Schön einmal einigen Spielern als Ratschlag mit.

Das ist inzwischen anders geworden. Mit Hermann Neuberger hat ein Mann die Führung des DFB übernommen, dessen Ehrgeiz und Dynamik nicht nur von den Interessen des Fußball-Bundes, sondern ebensosehr vom persönlichen Machthunger gelenkt sind. Mit hemdsärmeliger Robustheit hat er den Verband seinem autoritären Stil unterworfen, ein ambitiöser Provinzkönig, dessen Gängelungsgelüst den Spielern noch vorschreibt, welche Socken oder Pullover sie außerhalb des Spielfelds zu tragen haben. Unvergessen ist, wie er 1974, nach dem Gewinn des Weltpokals, den Frauen der deutschen Spieler beim Festbankett die Tür weisen ließ, während er selber und sein Funktionärstroß mit dem ganzen persönlichen Anhang zu Tische saßen. Man wird gewiß nicht jedes Wort des in Dauerfehde mit dem DFB verstrickten Paul Breitner auf die Goldwaage legen dürfen; aber zutreffend und jetzt auch von anderen Spielern belegt ist seine Bemerkung: «Ich erkannte bald ein System, das mir nicht erlaubte, zu denken, was ich wollte, zu sagen, was ich dachte, und zu handeln wie ein selbständiger Mensch.»

Bezeichnenderweise hat Neuberger denn auch alle Spieler, die sich seiner derben Potentatenallüre nicht fügten, aus der Mannschaft verdrängt. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß in Argentinien lediglich die halbe deutsche Vertretung aufgeboten war. Ihr Spiel war nur der Ausdruck ihres Mangels an Persönlichkeiten. Man kann den selbstbewußten, eigenwilligen Spieler nicht unentwegt verpönen, ihn gleichzeitig aber, in kritischen Situationen, auf dem Spielfeld fordern.

Überbaut ist das System der Entmündigung, das Neuberger im deutschen Fußball eingeführt hat, von einer Ideologie der «verschworenen Gemeinschaft», der «elf anständigen Jungens» und manch anderem altbackenen Phrasengut aus Turnvaterzeiten. Die Tatsache, daß Franz Beckenbauer oder Ulrich Stielike nicht in das deutsche Aufgebot berufen wurden, hat nicht zuletzt mit dem Vorwurf zu tun, daß sie um gemeinen Mammons willen ins Ausland gingen; ein Element deutsch-nationaler Empörung über so viel vaterlands- und sportvergessene Geldschneiderei blieb in allen Weigerungen, sie zu nominieren, unüberhörbar. Unterdessen bestreitet Hermann Neuberger selber seinen Lebensunterhalt auch über den Sport, wenngleich (als Direktor bei der Saarland-Toto- und Lotto-GmbH) im eigenen Lande. Ideologie ist hier wirklich, was die Traktatliteratur darin sieht: das falsche Bewußtsein der dummen Kerls, erzeugt und verbreitet zum Zwecke von Herrschaft.

Autoritär geführt, ein Relikt aus obrigkeitlichen Verhältnissen: so existiert der DFB, trotz seines Millionenanhangs, merkwürdig abseits dieser Gesellschaft und vielfach auch im Widerspruch zu ihren Normen und Vorstellungen; der Skandal einer Verbandsgerichtsbarkeit, die sich weitgehend frei weiß von den Grundsätzen einer ordentlichen Rechtsprechung, ist nur der auffälligste Ausdruck dafür. Es paßt ins Bild dieser Welt von vorgestern, daß die DFB-Funktionäre einem Mann wie Hans-Ulrich Rudel den Zutritt zum Mannschaftslager in Ascochinga erlaubten, einem ehemaligen Spieler wie Günter Netzer dagegen nicht.

Die Weltmeisterschaft ist vorüber. Lange nicht hat eine deutsche Mannschaft in diesem Wettbewerb eine so schlechte Figur gemacht. Daher fällt es auch schwer, in der eigentlich viel zu späten Niederlage gegen Österreich ein Unglück zu sehen; sie könnte sogar eine Chance sein. Die Konsequenzen, die Hermann Neuberger jetzt fordert, betreffen vor allem ihn selbst. Denn nicht nur der deutsche Fußball ist, nach Art und Anlage, rückständig; seine Funktionäre sind es weit mehr. Die Misere des einen spiegelt nur die Misere der anderen. Der Fisch, sagt der Volksmund, stinkt vom Kopfe her.

Nachwort zu Holocaust

Eine Fernsehserie wirft Fragen auf

(29. Januar 1979)

 

 

Niemand wird umhinkönnen, die vier Abende, an denen die Serie «Holocaust» ausgestrahlt wurde, ein bedeutendes Fernsehereignis zu nennen. Die hohe Zuschauerbeteiligung, die Anrufe sowie die ungezählten Briefe, die selbst über die nur mittelbar beteiligten Zeitungsredaktionen hereinbrachen und von Empörung bis zu erschütterter Selbstanklage reichten, setzten alle diejenigen ins Unrecht, die der Öffentlichkeit seit Jahren nur Gleichgültigkeit und Überdruß gegenüber der Vergangenheit bescheinigt hatten.

Unbestreitbar bleibt dabei, was über die Trivialität des Films gesagt worden ist. Der rüde Kolportagezuschnitt, der, von Eichmann bis Babi Yar, jeden populär gewordenen Namen oder Begriff des Völkermords ins Spiel bringt; der Verzicht auf Vorgeschichte und Hintergründe des Geschehens, der die Nazis wie eine Mörder-GmbH aus dem Nichts auftauchen und agieren läßt; das Sentimentale, vordergründig Effektvolle, routiniert Abgeschmeckte des Films, in dem das Grauenhafte unterhaltsam wird: das alles hat manchen kritischen Beobachter nicht ohne Gründe bemerken lassen, hier würden die Toten jener Jahre gleichsam noch einmal gemordet.

Und dennoch neigt man am Ende dazu, das Unternehmen zu bejahen. Denn es hat für viele das, was damals geschah, einprägsamer denn je zur Anschauung gebracht und das von Zahlenkolonnen, Dokumenten sowie komplizierten Analysen zugedeckte Grauen, die Verzweiflung und das Sterben von Millionen, am Beispiel einiger weniger Menschen nachfühlbar gemacht. Zwar trifft es zu, daß zahlreiche Sendungen des deutschen Fernsehens dem Schrecklichen jener Zeit schon weit anspruchsvoller, weit glaubwürdiger gerecht wurden und auch, wie beispielsweise der Fernsehfilm «Ein Tag», nicht weniger Zuschauer fanden. Die Tatsache aber, daß «Holocaust» im Ausland produziert wurde, der wirkungsvoll inszenierte Begleitlärm und nicht zuletzt die vorausgegangene Kontroverse, die sich an den vielen Fragwürdigkeiten des Films entzündete, sicherten ihm eine weitaus größere Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen. Alexander Mitscherlich sprach wohl zu Recht davon, daß «Holocaust» einen Durchbruch bewirkt habe.

Gewiß wird manchem unbehaglich zumute sein, zumal im Gedanken an die Mittel, die diesen Durchbruch zustande brachten. Zu fragen ist aber, ob nicht die Trivialität des Films dessen große Resonanz erst ermöglicht hat, ob also die tausend Peinlichkeiten nicht gerade seine Stärke sind. Hat jener Neunzehnjährige mit der Behauptung recht, die Serie beweise nur, daß man der Mörderei des NS-Regimes allenfalls auf die Weise eines Paul Celan sowie durch sachlich interpretierende Dokumentationen beikommen könne? Oder ist der anderen Auffassung zu folgen, daß vor dem absolut Entsetzlichen aller höhere Kunstanspruch suspendiert sei, wenn nur die Erinnerung an die Opfer nicht ausgelöscht werde? Gibt es eine Banalität des Gutgemeinten, vor der die Kritik zu verstummen hat? Die Anwälte von «Holocaust» verweisen auf das beispiellose Echo des Films und sehen darin schon eine Wirkung. Aber hat Wirkung, die zu humanerem Verhalten führt, nicht immer auch mit künstlerischem Rang zu tun? Können schlechte Filme, Bücher oder Stücke bessere Menschen machen? Solche Überlegungen rühren an Grundfragen unseres ästhetischen Verständnisses.

Richtig ist sicherlich, daß die spontane Welle des Mitgefühls, die «Holocaust» hervorgerufen hat, für sich genommen wenig bedeutet. «Man müßte eigentlich heulen», äußerte der für die Sendung zuständige Redakteur in einer der Anschlußdiskussionen; aber Kenntnisse erwerben und denken müßte man eigentlich auch. Die bloße Emotion bewirkt sowenig wie das bloße Wissen. Erst aus der Verbindung beider kann jene gefestigte Einsicht kommen, die unseren geschichtlich begründeten Pessimismus verringern würde.

Zu den Fragen, die dieser Film aufgeworfen hat, zählt am Ende aber auch, ob und wie das derzeitige Verlangen nach Erkenntnis befriedigt werden kann. Wer die im ganzen kläglichen Diskussionen verfolgt hat: die ängstliche Gesprächsführung, die Schaustellungen kundiger Selbstzufriedenheit, wo mit hochtrabenden Gemeinplätzen Fragen abgefertigt und betroffene Anrufer allein gelassen wurden, wer die in wechselnden Zusammensetzungen immer neu offenbarte Unfähigkeit zum Dialog beobachtete, wird wenig Hoffnung haben dürfen. Die Entfremdung zwischen Fachleuten und Öffentlichkeit ist selten so entmutigend sichtbar geworden. Das von Historikern und Publizisten seit Jahren beklagte Desinteresse der Öffentlichkeit an der Vergangenheit entpuppte sich hier als das, was es in Wahrheit ist: das Desinteresse von Historikern und Publizisten an der Öffentlichkeit. Es war wie ein Offenbarungseid.

Im ganzen ist «Holocaust» nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Chance. Sie gilt noch für einige Zeit, und vielleicht läßt sie sich nutzen. Die offenkundigen Mängel des Films könnten diese Chance sogar erhöhen. Denn gerade sie machen deutlich, was viele der nach Erklärung verlangenden Fragen erkennen ließen: daß Mitgefühl rasch, Erkenntnis dagegen mühevoll zu gewinnen ist. Und daß man sich nicht nur dem Schrecklichen aussetzen muß, sondern dem Schwierigen auch.

An den Parteien vorbei

Die Begleiterscheinungen des Wahlkampfes Schmidt gegen Strauß

(1. September 1980)

 

 

So schleppend lustlos ist noch selten ein Wahlkampf in Gang gekommen. Es scheint, als zögerten die Politiker, in die Auseinandersetzung einzutreten. Das gilt vorab für Franz Josef Strauß, dem die Umstände nahezu alles zugespielt haben, was er und sein Anhang sich erhofft hatten. Es gilt aber auch für die Gegenseite.

Infolgedessen produziert der Wahlkampf bislang nur seine Begleiterscheinungen. Die zunehmende Anrufung der Schiedskommission ist ja nicht ein Indiz für die Leidenschaft des Meinungsstreits, sondern für das Ausweichen davor: mehr als ein paar skandalisierende, die Kommissionsverhandlung instrumental einbeziehende Herabwürdigungen sind bisher kaum zu verzeichnen.

Das legitime, angesichts der Gegnerschaft Schmidt – Strauß noch gesteigerte Bedürfnis nach Kontroverse hat sich unterdessen, an den Parteien vorbei, Befriedigung verschafft. Ersatzkämpfer, mitsamt einem Heer randalierender Hilfstruppen, haben sich der Szenerie bemächtigt: unpolitische, leicht mobilisierbare Gruppen, die sich auf eigene Faust den Spektakel schaffen, den der Phoney-Wahlkampf vermissen läßt. Dazu zählen Initiativen wie «Rock gegen rechts», «Freiheit statt Strauß», aber auch eine Vielzahl von Pamphleten. Sie malen düstere Horizonte, lassen Monstren auftreten, beschwören Katastrophen: Deutschland ist bekanntlich immer im Herbst, wenn gewählt wird.

Für solche Dramatisierungen leistete bislang der Rekurs auf die Nazizeit unschätzbare Dienste. Zu vermuten ist aber, daß Querelen, wie sie mit so viel bebend falscher Entrüstung an der Vergangenheit von Carstens oder Strauß, von Helmut Schmidt oder Heinz Oskar Vetter entfacht wurden, bald keine Rolle mehr spielen werden. Das Dritte Reich wird dann für diejenigen, die sich als seine entschiedensten Gegner empfinden, seine letzte billige Schuldigkeit getan haben.

Doch zur Zeit ist die Vergangenheit noch gegenwärtig. Sie ist es sogar in einem weit umfassenderen Sinne, als diejenigen, die ihre Rückstände aus alten Dossiers und aktuellen Redetexten unermüdlich herauswittern, offenbar selber wissen.

Es geht dabei nicht um vereinzelte Mißgriffe, sondern um die verbreitet durchschimmernde Neigung, die Welt in schwarze und weiße, prinzipiell gute und prinzipiell verworfene Lager aufzuspalten. Sie entspringt einer Mentalität, die demokratiefremder, im Grunde totalitärer Herkunft ist und, wenn auch vielen unbewußt, zu den authentischen Hinterlassenschaften der Nazizeit zählt. Dieses rabiate Manichäertum ist gerade die Verneinung dessen, was es vielfach zu verteidigen vorgibt: der Demokratie, deren Farbe eben nicht Schwarz oder Weiß ist, sondern Grau wie aller Kompromiß.

Zur Hinterlassenschaft der Hitlerzeit gehört auch, im politischen Gegner den Feind zu sehen. Wenn Argumente zur Sache ausbleiben, beherrschen Verteufelungsstrategien das Feld. Das Fatale an all den Rattenvergleichen und anderem ist weniger das Kraftwort selber als die hervortretende Tendenz, im Gegner nicht den Vertreter eines anderen, sondern des bösen Prinzips an sich zu sehen.

Der Tatbestand läßt sich zurückverfolgen bis in die Zeit der Auseinandersetzung über Brandts Ostpolitik. Damals machte sich erstmals die Neigung bemerkbar, statt des besseren Arguments die bessere Gesinnung hervorzukehren und die politische Entscheidung zu einer Frage auch von Anstand und Charakter zu machen. War dies angesichts von Schuld und millionenfachen Verbrechen verständlich, so war es weit problematischer im Rahmen der Brandtschen Reformpolitik, deren Kritiker vielfach so fassungslos angestarrt wurden wie jemand, der sich außerhalb des Gesittungszusammenhangs stellte. Höhepunkt all dessen war der Wahlkampf 1972, als Willy Brandt unter großem, von ihm selber unnachahmlich vorgegebenem Orgelton zum Wortführer weniger einer «richtigen» als einer moralisch überlegenen Position emporstilisiert wurde.

An diesem Kontrastschema kranken die Verhältnisse bis heute. Kaum ein Meinungsstreit, der nicht im allgemeinen Moralisieren die Schar der Gutgesinnten gegen den finsteren Haufen der Böswilligen führte. Es geht nicht um konkrete Streitfragen, sondern immer gleich um Definitives, mindestens um die Zukunft der Republik, ganz ob alle Tage Harmaggedon sei. Helmut Schmidt ist vielen, nicht zuletzt seiner eigenen Parteigänger so fragwürdig, weil er jene «radikaldemokratische» Emphase vermissen läßt, an die sich der Sinn fürs Extreme anschließen kann, ein Mann der praktischen Mitte nur, ein «Macher», wie der törichte, inzwischen freilich auch von der CSU übernommene Vorwurf lautet.

Aber noch ist da Franz Josef Strauß. Derzeit genügt er zweifellos den Exzeßerwartungen derer, die in der Politik ein Feld der grellen Gegensätze sehen: in der Tat ein «Wunschgegner». Doch was wird nach ihm sein? Wenn er den sich ausbreitenden Dämonisierungstendenzen keinen Vorschub mehr leistet? Wenn gleichzeitig auch der Rückgriff auf die Hitlerjahre sein denunziatorisches Pathos verliert? Die unterdessen geweckten Bedürfnisse nach pseudodramatischer Aufladung der Politik, nach Aggression und prinzipieller Verdammung werden sich neue Feindfiguren suchen müssen. Sie werden sie auch ausfindig machen. Vorsorglich hat schon ein Verlag ein Schwarzbuch über Ernst Albrecht herausgebracht. Aber wer kann sich Gutes davon versprechen? Für die Besorgnisse, die Franz Josef Strauß vielen einflößt, lassen sich zweifellos Gründe nennen; doch für die Besorgnisse, die seine lärmendsten Gegner wecken, auch.

Weltsensation und Weltblamage

Zur Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher

(9. Mai 1983)

 

 

Schneller als erwartet hat die Affäre der Hitler-Tagebücher ihre Aufklärung gefunden. Ganze drei Tage nur haben das Bundeskriminalamt, das Bundesarchiv und die Bundesanstalt für Materialprüfung benötigt, um die Fälschung kriminologisch und dem Inhalt nach zu belegen. Noch wenige Tage zuvor hatte «Stern»-Herausgeber Henri Nannen behauptet, alles, was zur Verifizierung der Tagebücher habe getan werden können, sei geschehen. Und in der Ausgabe des Blattes vom vergangenen Donnerstag hatte dessen Chefredakteur Peter Koch unter dem ganz und gar nicht doppelsinnig gemeinten Titel «Die Fälscher» einen reichlich groben Rundumschlag getan und diejenigen Historiker, die Bedenken vorgebracht und zur Skepsis gemahnt hatten, als «Internationale der Neider und Fälscher» attackiert. Gerühmt dagegen hatte er noch einmal die Sorgfalt, die der «Stern» selber beachtet habe. Und jetzt: drei Tage nur, und die Fälschung, plump, wie sie war, hat sich erwiesen: das «grotesk oberflächliche» Machwerk eines in seinem «intellektuellen Vermögen beschränkten» Kopisten, wie der Leiter des Bundesarchivs versicherte.

An alledem wird noch auf lange Zeit vieles schwer begreiflich bleiben. Nimmt man zusammen, was die beteiligten Redakteure des «Stern» bei diesem Streich geleitet haben mag: der versessene Ehrgeiz, sich mit einer Sensation hervorzutun, das Konkurrenzmotiv, die geradezu verblendete Geheimniskrämerei und der Blick auf die Auflage, so bleibt doch das Maß an Dilettantismus und Leichtfertigkeit erstaunlich, mit dem erprobte, in ihrem Metier erfahrene Journalisten hier zu Werke gegangen sind.

Damit ist vorab nicht einmal die kriminaltechnische Behandlung des Fundes gemeint, mit der man offenbar so nachlässig verfuhr, daß zunächst behauptet wurde, man habe die verwendete Tinte analysiert, während sich bald darauf schon herausstellte, daß dies versäumt worden war; desgleichen hatte die Prüfung des Papiers, der Einbände und Siegel, der Ausstattung sowie des verwendeten Leims nicht oder nur unter den zweifelhaftesten Umständen stattgefunden. Vielmehr waren auch die bekannten Schreibhemmnisse Hitlers, für die es psychologische wie gesundheitliche Gründe gab, gänzlich unberücksichtigt geblieben. Am 29. März 1942 beispielsweise hatte er im Führerhauptquartier vor seiner abendlichen Gesprächsrunde geäußert, er habe noch vor dem Kriege, geängstigt von dem Gedanken, an Krebs erkrankt zu sein, «auf einem amtlichen Briefbogen handschriftlich

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