Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2013
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Lektorat Christof Blome
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ISBN Buchausgabe 978-3-499-62247-2 (1. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-48751-2
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Ichbezogen, karrierefixiert, angepasst und unpolitisch: So sollen wir sein, die Deutschen, die nach 1980 geboren wurden. Verwöhnt von nie dagewesenem Wohlstand und ständig bestätigt von den wohlmeinenden Eltern ist angeblich eine Generation herangewachsen, die von Anfang an darauf getrimmt war, das eigene Leben – oder zumindest den Lebenslauf – zu optimieren. Ideale und Visionen? Fehlanzeige. Vor allem unsere (politische) Elterngeneration, die zu den späten Ausläufern der 68er gehört, wird nicht müde, die Jungen zu triezen: Euch geht es nur um euch selbst, um Geld und ein kleines Häuschen im Grünen. Politik ist euch doch egal! Die Alten wussten in Sachen Politik eh schon immer alles besser: Sie haben, so erzählen sie heute noch stolz, schließlich schon gegen Atomwaffen demonstriert, lange bevor sie überhaupt Eltern waren.
Sie haben in ihrer Jugend noch «an etwas geglaubt». Sie sind für den «Weltfrieden» eingetreten, haben auf Demos Plakate hochgehalten und laut «Ho-Ho-Ho-Chi-Minh» geschrien. Sie haben im Gegensatz zu uns versucht, die Welt besser zu machen, haben in Studentenküchen nächtelang über die richtige Umsetzung des Kommunismus diskutiert, über die Revolutionen in Lateinamerika, den Vietnamkrieg. Sie haben Coca-Cola boykottiert und Fair-Trade-Kaffee gekauft, lange bevor es den auch in lecker gab. Wie einst die Anti-Springer-Transparente tragen sie heute ihr angestaubtes politisches Engagement vor sich her. «Und was macht ihr?», heißt es allzu oft anklagend. «Unbezahlte Praktika.»
Tatsächlich kommen die Kinder dieser engagierten Generation in der Politik nicht wirklich zu Wort – den Eindruck bekommt jedenfalls, wer sich die Führungsspitzen großer deutscher Parteien anschaut. In der SPD gelten schließlich immer noch die inzwischen 43-jährige Andrea Nahles und die fast 40-jährige Manuela Schwesig als erfolgversprechende Nachwuchstalente. Nichts gegen die beiden – aber das ist doch ein Witz!
Die Linke hat sich nun zwar zumindest zur Hälfte an der Spitze ordentlich verjüngt – doch sie hat im Durchschnitt die ältesten Mitglieder aller Parteien. Für viele junge Wähler vor allem im Westen Deutschlands ist diese Partei nach wie vor schwer zu fassen. Sie scheint noch immer ihre DDR-Vergangenheit auszustrahlen, selbst wenn sie jetzt eine von dieser unrühmlichen Geschichte völlig unbelastete Vorsitzende wie Katja Kipping hat.
Die Grünen hingegen tun zwar jugendlicher denn je, mit flotten Kampagnen und flippigen Haarfarben – werden aber schon seit Jahren von Leuten geleitet, die größtenteils stramm auf die 60 zugehen. Sie protestieren zwar immer noch sehr eifrig gegen Bahnhöfe, Flughäfen und alles, was sonst noch so gebaut werden soll – aber vielen Jungen kommt ihre Protesthaltung und ihre Rhetorik tatsächlich vor wie aus dem vergangenen Jahrhundert. Da könnte man gleich seine Eltern wählen.
Und die Union? Was die sogenannten Konservativen uns als ultimative Werte präsentieren, hat mit unserem Leben einfach wenig zu tun. Ihre enge Verbindung zur Kirche irritiert uns, wenn wir überhaupt noch religiös sind, dann hängen die meisten von uns dennoch keinesfalls christlichen Moralvorstellungen an, wie sie zum Beispiel die katholische Kirche propagiert. Familie ist uns wichtig – aber nicht in der traditionellen Form, wie sie von den Konservativen als Fundament der deutschen Gesellschaft propagiert wird. Da nützt es auch wenig, dass Angela Merkel die CDU schon ordentlich entrümpelt hat, sodass sie inzwischen im Vergleich zur Union unter Kohl geradezu progressiv wirkt. Für uns hinkt sie den gesellschaftlichen Entwicklungen immer noch hinterher. Die Ablehnung der Homo-Ehe beispielsweise können wir überhaupt nicht verstehen – gerade in Zeiten, in denen es sogar schwule Außenminister gibt. Wenn das «konservativ» ist: Nein, danke. Ach ja, die deutschen Parteien … Sie kommen kurz vor der Bundestagswahl 2013 reichlich grauhaarig daher.
Seltsamerweise sind es aber oft nicht einmal die alten Parteisoldaten, die den größten Unmut von uns Jungen auf sich ziehen – fast noch schlimmer sind die jungen Politiker, die sich in der ersten Reihe deutscher Parteien finden. Zum Beispiel die oft scherzhaft «Boygroup» genannte Clique um Philipp Rösler, die vor gar nicht allzu langer Zeit Guido Westerwelle aus der FDP-Führung putschte. Mit keinem von denen kann ich mir vorstellen, abends in der Kneipe zu sitzen: zu glatt, zu angepasst, zu FDP. Dass sie jung sind, merkt man allenfalls daran, dass sie weniger Falten im Gesicht haben und weniger routiniert durch die Gegend brüllen als ein Sigmar Gabriel.
Inhaltlich wie optisch sind sie aber doch nur Miniaturausgaben der neoliberalen Karrieristen, die die FDP seit Guido Westerwelle dominieren. Und da, wo sie sich von ihm distanzieren, wollen sie an Liberale anknüpfen, die ein Christian Lindner genauso wie wir alle nur als uralte Männer kennt, so lange ist ihre politische Blüte schon her. Wie albern ist das denn, wenn jemand, der gerade einmal die 30 überschritten hat, von den großen sozial-liberalen Errungenschaften der FDP spricht – obwohl er zu Zeiten der Regierung Schmidt-Genscher noch nicht einmal Zeitung lesen konnte!
Und wie zur Bestätigung kuschten sie dann doch irgendwann und schickten das alte Kampfross Rainer Brüderle als Spitzenkandidaten in den Bundestagswahlkampf. Na, herzlichen Glückwunsch!
Und auch eine unglückliche Personalie wie Kristina Schröder zeigt, dass jung sein alleine nicht reicht, um die Interessen junger Leute zu vertreten. Sie lässt sich von der Männerpartei CSU das Betreuungsgeld aufschwatzen, eine Leistung, die besser in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts gepasst hätte als ins 21. Jahrhundert. Und all jene Familien, die gerade verzweifelt versuchen, Kinder und Job zu vereinbaren, die auf langen Wartelisten für einen Krippenplatz stehen, die ihren Traum von der gleichberechtigten Partnerschaft begraben, sobald das erste Kind kommt, fragen sich: Was soll das? Und: Warum fragt uns eigentlich keiner? Uns betrifft es doch schließlich am meisten! Das heißt: Gefragt wurden wir natürlich schon. Vom Fernsehen, von den Zeitungen. Auf Twitter schrieben wir uns die Finger wund, protestierten und argumentierten, flehten und schimpften. Nur genutzt hat es nichts.
Dazu kommt, dass es ohnehin schwer fällt zu benennen, wofür die einzelnen Parteien eigentlich stehen: Die Gerechtigkeits- und Arbeiterpartei SPD führte Hartz IV ein; die Grünen befürworten inzwischen auch manchmal Kriegseinsätze. Und ausgerechnet die konservativen Spießer von der CDU steigen aus der Atomenergie und der Wehrpflicht aus. Als Wähler dieser Parteien kann man sich nur verarscht fühlen, lediglich die FDP fährt immer noch konsequent den neoliberalen Kurs, der allerdings spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise ziemlich hinfällig ist. Wen wundert es also, dass jemand, der von den Parteien nichts anderes kennt als krasse Kurswechsel, ihnen misstraut?
Dass deswegen aber gleich eine ganze Generation mit dem Label «unpolitisch» gebrandmarkt wird, ist Quatsch. Denn viele von uns waren in den vergangenen Jahren durchaus politisch aktiv: Manche gingen zu Attac, manche bewarben sich um Jobs bei der UNO, andere arbeiteten für NGOs anstelle von Konzernen oder gründeten Online-Klimaschutz-Initiativen. Wir traten Internet-Petitionen gegen Netzzensur los, bastelten an kreativen Ideen für nachhaltigen Konsum, schrieben kritische Blogs und gingen mit witzigen Flashmobs auf das Establishment los.
Den Alten waren diese jungen Engagierten aber irgendwie viel zu leise. Statt auf die Weltrevolution setzten sie auf Social Entrepreneurship, versuchten die Erkenntnisse der Betriebswirtschaft mit sozialem Engagement zu verbinden, das Beste aus allen bekannten Theorien herauszuholen. Sie reisten zwar nicht gerade in übermäßig großer Zahl zu den Protesten gegen den G8-Gipfel – dafür unterstützten sie per Klick Straßenkinderprojekte in der eigenen Stadt. Das war sehr pragmatisch, sehr undogmatisch, vielleicht ein bisschen bequem, kurz: sehr typisch für meine Generation. Auf der Straße kam unsere Form des Protests lange Zeit kaum an, jedenfalls nicht in jenen Massen, die unsere Eltern beeindruckt hätten. Wir tummelten uns eher im Netz als draußen – und so waren wir für viele 68er, die noch immer von den Studentendemonstrationen ihrer Jugend träumten, faktisch unsichtbar.
Und was ist währenddessen aus den Straßenkämpfern von einst geworden? Sie machten sich in den Machtzentralen der deutschen Politik breit und dachten nach ihrem Marsch durch die Institutionen ganz und gar nicht mehr so revolutionär wie in ihrer Jugend. Stattdessen lernten sie den Komfort von Boss-Anzügen und Mercedes schätzen. Sie stehen spätestens seit der Ära Schröder in dem Verdacht, mehr an Statuserhalt als an sozialer Gerechtigkeit interessiert zu sein. Bei uns Kindern verstärkte diese Wandlung der politischen Elterngeneration das Gefühl, dass Revolutionsaufrufe ohnehin nichts bringen, weil den einen irgendwann die Ideale verloren gehen und die anderen als schrullige Berufsdemonstranten zurückbleiben, die fortan von den ehemaligen Weggefährten verspottet werden. Kein Wunder also, dass wir uns von eben diesen Machtzentralen – den Parteien zum Beispiel – lieber fernhielten.
Tatsächlich passt das alles zu einem Trend, der nicht nur bei jungen Politikinteressierten auszumachen ist: dem Trend zur Einzelaktion anstelle des parteipolitischen Engagements oder gar der festen Bindung an eine Partei. Stuttgart 21, die Proteste gegen den Münchner Flughafen – hier zeigte sich, dass die Leute durchaus bereit sind, auf die Straße zu gehen. Schon war überall von einer neuen, starken Zivilgesellschaft die Rede – manche verhöhnten die Engagierten als «Wutbürger», manche bejubelten das bürgerliche Engagement, das immer einen ganz bestimmten Beigeschmack hatte: Wir zeigen es «denen da oben». Die Systemfrage stellen die wütenden Bürger allerdings kaum, es geht tatsächlich meistens um einzelne Dinge, die stören – das unterscheidet sie dann doch wesentlich von früheren Protestformen.
Junge Aktivisten sind allerdings in den deutschen Bürgerprotesten eher unterrepräsentiert. Zu dieser Erkenntnis kommt Franz Walter, der sich in der BP-Gesellschaftsstudie Die neue Macht der Bürger – Was motiviert die Protestbewegung? mit den verschiedenen Bürgerinitiativen beschäftigt hat. Er spricht von «rüstigen Rentnern», deren Engagement einen großen Vorteil hat: Sie haben Zeit. Ganz anders die Jungen, die sich ja schließlich auf die eine oder andere Art um ihren Lebensunterhalt kümmern müssen: also arbeiten oder zumindest einen Beruf lernen, studieren.
Die Jungen jedenfalls hielten sich bis vor kurzem auch aus der Parteienpolitik weitgehend heraus, probierten stattdessen das Leben in fremden Ländern aus und fühlten sich bald mehr als Weltbürger denn als Deutsche. In den Studentenküchen wurde, so schien es, mit größerer Leichtigkeit über die politische Entwicklung in China, die Autokratien im postsowjetischen Ostblock und die wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien diskutiert als über die politische Situation vor der eigenen Haustür. Die Jungen drohten Deutschland zu verlassen – nicht nur räumlich, sondern auch gedanklich.
Währenddessen verwässerten die Alten erst fröhlich die soziale Marktwirtschaft in Deutschland, und dann ging auch noch die Idee eines vereinten Europas den Bach runter – plötzlich stritten alle nur noch darüber, wer für wen zahlen müsse und wer auf dem Kontinent dafür die Kontrolle habe. Vom «Weltfrieden» redeten da längst nur noch dümmliche Schönheitsköniginnen, alle anderen hatten längst kapiert: Wenn es um Geld geht, dann hört der Spaß auf.
Es war also höchste Zeit, dass die Jungen endlich aus ihrer Schockstarre aufwachen. Denn wer soll denn bitte die Welt von morgen gestalten, wenn nicht diejenigen, die darin leben werden?
Aber wer ist das überhaupt, die junge Generation, die da jetzt übernehmen soll, wer sind wir?
Eigentlich fand ich sie immer total bescheuert, diese Bücher über irgendeine Generation, die angeblich soundso war – sei es nun die «Generation Porno» («Alle jungen Leute sind verdorben durch Online-Sexvideos»), die weinerliche «Generation Praktikum» (Wer will da schon dazugehören?) oder gar Absonderlichkeiten wie die «Generation Umhängetasche» (was auch immer das heißen mag). Mir schien es schwierig bis unmöglich, Erlebnisse oder Einstellungen, die einzelne Leute betrafen, auf eine ganze Altersgruppe zu übertragen, um eine wie auch immer geartete These zu untermauern.
Vielleicht liegt das auch an den romantischen Geschichten meiner Eltern. Es fiel einfach verdammt leicht, aus ihnen das Lebensgefühl und die Ideale einer ganzen Generation herauszulesen, sodass ich mich als Teenager oft fragte, was ich eigentlich irgendwann mal meinen Kindern über meine Generation erzählen könnte, das ansatzweise so bedeutungsschwer ist wie die Erlebnisse meiner Eltern.
Meine Mutter zum Beispiel erzählt gern die Geschichte von dem Tag, an dem sie erfahren hat, dass sie mit mir schwanger ist. Es war im Frühjahr 1982, die Verhandlungen über den Nato-Doppelbeschluss erreichten gerade ihren Höhepunkt, meine Eltern und ihre Freunde waren natürlich absolut dagegen. Helmut Schmidt war für sie ein Verräter, ein U-Boot der Konservativen, ein Reaktionär. An dem Tag, als meine Mutter den Schwangerschaftstest machte, wollte sie mit einer Freundin auf eine Demo nach Bonn fahren, gegen Raketen, für den Frieden. Schwangerschaftstests waren damals noch furchtbar lahme Teile, die mehrere Stunden brauchten, um ein Ergebnis zu liefern. Und so stellte sie den Test im Bad ab, fuhr nach Bonn, kam abends aufgekratzt nach Hause und erfuhr dann auch noch, dass sie ein Kind bekommen würde.
Hochschwanger verfolgte sie am 1. Oktober im Fernsehen das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. Und obwohl sie ihn eigentlich reaktionär fand, weinte sie zu Hause im Wohnzimmer, als er verlor. Weil es doch traurig und gemein war, wie die FDP ihren Bundeskanzler hängen ließ. Und dann wurde auch noch Helmut Kohl, der Inbegriff all dessen, was meine Eltern schrecklich fanden, Bundeskanzler. Am 11. Oktober wurde ich geboren.
Politik war bei uns die ganze Kohl-Ära lang ein großes Thema. Meine Eltern und ihre Freunde definierten sich über ihr politisches Engagement, wie andere Leute es über ihre Religion, ihre Jobs oder ihre Mitgliedschaft im Golfclub taten. Und für uns war die Beschäftigung mit Politik von Anfang an selbstverständlich. In den achtziger Jahren hörten wir Schallplatten, auf denen Frederik Vahle Protestlieder sang, und demonstrierten mit unseren Eltern gegen Atomkraft. In den neunziger Jahren malten wir Plakate für die Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit. Die Botschaft, die in unseren kleinen Köpfen ankam, war klar: Gemeinsam können wir etwas bewirken, etwas verändern. Und: Politik geht uns alle an.
Wen wundert es also, dass ich den Zusammenhalt, die gemeinsamen Ziele und Ideale, die ich aus den Geschichten meiner Eltern heraushörte, in meiner Generation schmerzlich vermisste? Dass ich mich wie viele andere auch gemeint und verstanden gefühlt habe, als Tocotronic «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein» sangen? Dass ich, als ich jünger war, erst Punk sein und zwei Jahre später auf einmal mit schrecklich hässlichen Buffalo-Schuhen an den Füßen zur Loveparade fahren wollte?
Vielleicht ist diese vage Sehnsucht sogar der Grund, warum ein Generationenkonflikt im eigentlichen Sinne jahrelang nicht in Sicht war – ich beneidete meine Eltern um ihre gefühlte Zugehörigkeit zu einer Bewegung.
Dabei sind meine Eltern nicht einmal 68er im Wortsinn, genauso wenig wie die meisten anderen Leute, die Kinder in meinem Alter haben. Denn diejenigen, die 1968 tatsächlich Studenten waren, sind im Schnitt zu alt, um unsere Eltern zu sein. Meine Eltern zum Beispiel waren 1968 erst 14 und 15 Jahre alt. Dennoch würde ich sie dazu zählen, weil sie früh mit der politischen Kultur der 68er in Kontakt kamen, mein Vater sich schon als Schüler lange Haare wachsen ließ und mit seinen Kumpels Protestaktionen in der Schule organisierte. Weil meine Mutter mit Anfang 20 ihren langweiligen Bank-Job schmiss und gemeinsam mit meinem Vater und seinen langhaarigen Freunden aus der Kleinstadt nach München floh. Und weil sie dort im Prinzip genau das taten, was auch schon die «echten» 68er getan hatten: diskutieren, protestieren, politisieren.
Die Geschichten, die sie von damals erzählen, ähneln haargenau jenen, die heute in jeder Doku über die 68er zu bewundern sind. Wie zum Beispiel eine Freundin meiner Eltern ebenfalls ihre Stelle als Arzthelferin aufgab, ihren schnieken Disko-Freund sitzen ließ und meinen Eltern und ihrer Clique folgte, in München an der Abendschule das Abitur nachmachte, während mein Vater sie mit Texten von Marx und Engels versorgte, die sie gewissenhaft durchackerte und die Stellen, die sie nicht verstand, mit Textmarker anstrich.
Deswegen habe ich mich immer ganz selbstverständlich als 68er-Kind bezeichnet. Ich fand es überhaupt nicht absonderlich, wenn auf Partys meiner Eltern irgendjemand die Internationale anstimmte. Die deutsche Nationalhymne ist mir hingegen bis heute fremd.
Doch meine persönlichen Erfahrungen lassen sich nicht auf die Masse meiner Altersgenossen übertragen. Die meisten Eltern meiner Schulfreunde hatten überhaupt nichts mit Protest und Widerstand zu tun – selbst wenn sie um 1968 herum jung waren. Dieser Eindruck lässt sich auch statistisch nachvollziehen, wenn man das Etikett «Studentenbewegung» ernst nimmt und weiß, dass damals weit weniger Leute studiert haben als heute. Man muss kein Soziologe sein, um sich ausrechnen zu können, dass der Großteil der jungen Deutschen 1968 eher mit Arbeiten beschäftigt war als mit Demonstrieren.
So sagte etwa der bekannte Protestforscher Dieter Rucht einmal im Interview mit der Zeit: «Der Protest der 68er war zwar heftig und spektakulär. Aber in der Summe haben sich damals vermutlich weniger Studenten beteiligt als bei späteren Protesten.» Dennoch dominiert diese zahlenmäßig kleine Gruppe die Geschichtsbücher, Film-Dokus, Leitartikel und alles, was sonst noch Relevantes zur Bonner Republik erscheint – was wiederum dafür spricht, dass der Generationenbegriff Sinn ergibt, selbst wenn er niemals die gesamte Bandbreite an unterschiedlichen Menschen einer Altersklasse erwischt.
Das ist genau der Knackpunkt: Politisch geprägt haben die 68er fast die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ganz egal, wie niedrig ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung zahlenmäßig war. Bis heute ergibt sich das Spannungsfeld der politischen Lager – das eher wirtschaftsfreundliche Schwarz-Gelb auf der einen Seite, das eher auf den Prinzipien Gerechtigkeit und staatliche Fürsorge basierende Rot-Grün auf der anderen – aus dem Konflikt zwischen der 68er-Bewegung und ihren Gegnern. Auch wenn sich das heute nicht mehr so leicht in ein einfaches Rechts-links-Schema pressen lässt – die alte Konfliktlinie ist noch da, sie wurde jahrzehntelang von der Generation der 68er und ihren Nachzüglern aufrechterhalten. Und so sind sie auch für die junge Generation immer noch der entscheidende Bezugspunkt, wenn es um den politischen Diskurs geht. Nicht zwangsweise, weil sie unsere Eltern sind, sondern weil sie unser gesamtes Leben politisch geprägt haben – sei es nun weil sie, wie bei mir, ihre Kinder aktiv in die Politik eingebunden haben oder einfach nur, weil sie auch allen anderen zeigten, dass Demonstrationen und politisches Engagement ein legitimes Mittel im politischen Diskurs sind.
Aber nicht nur in Bezug auf die 68er, auch übertragen auf meine Altersklasse stellt sich zunächst die Frage, inwieweit der Generationenbegriff überhaupt Sinn ergibt. Habe ich, das akademisch gebildete Kleinstadt-Mädchen, nicht mehr mit meinen Eltern gemeinsam als – um mal voll in die Klischee-Kiste zu greifen – mit einem gleichaltrigen Neuköllner ohne Schulabschluss und Berufsausbildung? Was verbindet die 30-jährige Alleinerziehende mit Teilzeitjob mit dem 30-jährigen Unternehmensberater? Sind wir nicht alle total unterschiedlich?
Ich denke, auch losgelöst von den 68ern als Bezugspunkt haben wir Jungen einiges gemeinsam, sind eben doch eine Generation: Zwar kommen wir alle aus unterschiedlichen Orten, Familien, haben unterschiedliche Lebensläufe. Aber dennoch sind wir von ähnlichen (welt-)politischen Ereignissen geprägt: Wir wuchsen auf, als Helmut Kohl noch Kanzler war, erlebten in unserer Kindheit die Wiedervereinigung, den 11. September, dann die Wirtschaftskrise. Und so mussten und müssen wir, die wir so unterschiedlich sind, eben auf ein und dieselben Ereignisse reagieren. Wir alle leben in einer Welt, die mehr und mehr zusammenwächst. Wir sind die Kinder der Globalisierung, so abgedroschen das auch klingen mag. Inzwischen kann ich mir auch ganz gut vorstellen, was ich meinen Kindern mal über meine Generation erzählen werde: Dass wir uns in einer vernetzten Welt bewegten, während unsere Eltern noch in Landesgrenzen dachten. Und dass wir alle Umwälzungen, die damit verbunden waren – globalisierter Arbeitsmarkt, Flexibilität, Fremdsprachenkenntnisse –, voll abbekamen, während unsere Eltern noch von der Bonner Republik träumten.
Klar, auch das betrifft nicht alle von uns im selben Ausmaß. Während wir jungen Akademiker uns noch relativ ordentlich auf diese veränderten Bedingungen einstellen, gibt es auch viele Junge in Deutschland, die nicht mit Spanischlernen und Wegziehen auf den Verlust ihres Arbeitsplatzes reagieren können. Diese Leute kommen bei all dem Gerede über Generationen relativ selten zu Wort, und in der Politik kommen sie gleich gar nicht vor. Den Gebildeten gelingt es hingegen ziemlich gut, auf sich und ihre Anliegen aufmerksam zu machen.
Dahinter steckt ein bekanntes Phänomen: Fakt ist, dass das politische Engagement nicht gleichmäßig über alle gesellschaftlichen Schichten verteilt ist. Aktiv und somit letzten Endes auch prägend ist bis heute eine bestimmte Bevölkerungsgruppe – diejenigen, die Zeit haben, sich zu engagieren, die Informationen aufspüren und verarbeiten können und die selbstbewusst sind, Forderungen vorzutragen. 1968 waren das eben «die Studenten», kritisch denkende Leute wie meine Eltern. Und heute sind das auch nicht die Leute, die nach neun oder zehn Jahren Schule mühsam einen Ausbildungsplatz suchen müssen und dann für den Rest des Lebens arbeiten. Sondern meist Leute wie meine Freunde und ich, die den Luxus eines Universitätsstudiums samt Auslandsaufenthalt genießen durften oder dürfen, die in den großen Zeitungen und Magazinen der Nation über ihren Job, ihre politischen Präferenzen und ihre Nöte schreiben. Sie sind es, die Online-Initiativen gründen und erfolgreiche Internet-Petitionen starten.
Das gilt übrigens nicht nur für die jungen Engagierten. In den zahlreichen prominenten Protestbewegungen der vergangenen Monate von Stuttgart 21 bis hin zu «Wir wollen lernen» sind fast nur Gebildete aktiv. Die Politikwissenschaftlerin Johanna Klatt schreibt dazu in ihrem Aufsatz «Die Macht der Zivilgesellschaft und ihre ungleiche Verteilung»: «Es erscheint zunächst einmal gewinnbringend für die Demokratie und ihre politische Kultur zu sein, wenn sich der (oder die) Citoyen engagiert», um dann festzustellen, «dass unkonventionelle Beteiligungsformen wie Unterschriftensammlungen, Bürgerinitiativen, kritischer Konsum oder Online-Protest in der Regel noch ungleicher verteilt sind als etwa die Teilnahme an Wahlen».
Bei den Berufspolitikern ist es ähnlich. Fast alle einflussreichen Politiker in Deutschland gehören dem Bildungsbürgertum an. Wir haben keinen einzigen Minister ohne Universitätsabschluss, viele von ihnen haben sogar einen Doktortitel. Als der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck abtrat, stellten viele Kommentatoren mit leichtem Bedauern fest, dass damit der letzte verbliebene Ministerpräsident ohne Abitur sein Amt abgab.
In der hervorragenden dänischen Politikserie Borgen – Gefährliche Seilschaften, deren Hauptperson eine fiktive Ministerpräsidentin namens Birgitte Nyborg ist, lässt Autor Adam Price die dänische Arbeiterpartei, die eine Koalition mit Nyborgs Moderaten eingeht, eine ähnliche Entwicklung durchmachen. Deren Vorsitzender Björn Marrot hat es noch vom Stahlarbeiter zum Außenminister gebracht. Doch Medien und Parteifreunde sticheln gegen ihn, der wegen seiner Unkenntnis diplomatischer Etikette von einem Fettnäpfchen ins nächste tappt. Als Marrot schließlich nach einer Kampagne aus seiner eigenen Partei zurücktreten muss, zeigt er der Regierungschefin ein Tattoo, das er sich in seiner Zeit als Schweißerlehrling hat stechen lassen: «Hätte damals einer gesagt, ich werde einmal Dänemarks Außenminister, ich hätte ihn ausgelacht.» Doch er und seine Leute hätten sich inzwischen «totgesiegt» – die Arbeiter von einst lebten längst in gemütlichen Einfamilienhäusern anstelle von Apartments mit Klos im Hinterhof und überließen den Akademikern die Politik. «Wer hätte geahnt, dass ich mal der letzte Arbeiter in der Arbeiterpartei bin.» Den Parteivorsitz übernimmt ein wohlerzogener Karrierist mit sichtbar bildungsbürgerlichem Hintergrund, der der Arbeiterpartei fortan ein neues «frisches» Image verpasst, das so gar nicht mehr nach Fabrik und Bergbau riecht.
Im realen Deutschland bietet sich ein ähnliches Bild, beileibe nicht nur in der SPD: Satte 90 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben einen Hochschulabschluss, so viele wie nie zuvor. Also bestimmen selbst in Parteien, die sich durchaus als Anwälte des kleinen Mannes verstehen – wie etwa SPD und Linke – fast nur Leute, die den Status des kleinen Mannes längst hinter sich gelassen haben, wo es langgeht. Bildungsbürger halt.