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Hubertus Mynarek

Papst Franziskus

Hubertus Mynarek

Papst Franziskus

Die kritische Biografie

Tectum

Hubertus Mynarek

Papst Franziskus. Die kritische Biografie

© Tectum Verlag Marburg, 2015

ISBN: 978-3-8288-6251-7

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3583-2 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildungen: Gestaltung auf Grundlage der Fotografie von Presidência da Republica/Roberto Stuckert Filho, Papst Franziskus bei einem Treffen mit Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, 20. März 2013; https://de.wikipedia.org/wiki/Franziskus_%28Papst%29#/media/File:Francisco_%2820-03-2013%29.jpg sowie Schaf, Öl auf Leinwand von Johann Baptist Hofner; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Johann_Baptist_Hofner_Schaf.jpg

Portrait des Autors: Fotografie©evelinFrerk

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www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen National¬bibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Teil I
Vom Chemielaboranten zum Papst der Weltkirche
Die Bilderbuchkarriere des Jorge Mario Bergoglio

1.Zur Herkunft des Papstes

2.Der junge Jorge Mario Bergoglio als Arbeiter

3.Die Großmutter brachte ihm den katholischen Glauben bei

4.Die Liebesgeschichte mit Amalia Damonte

5.Die Berufung zum katholischen Priester

6.Eintritt in den Eliteorden der Kirche – Geist und Ungeist der Jesuiten – Bergoglios feiner Instinkt der Machtausübung

7.Ausbildung Bergoglios zum »wahren Jesuiten« (Gesamtüberblick)

8.Die jesuitische Zwangsanstalt des Noviziats

9.Aufstieg und Karrierebruch im Leben des Jesuiten Bergoglio

10.Die seltsame Freundschaft von Luxus und Armut oder Der reiche Erzbischof und der arme Jesuit

11.Die unglaubliche Sensation: Ein Jesuit wird Papst

Teil II
Was glaubt der Papst? Die Theologie von Franziskus I.

1.Gott – Christus – Teufel Die Christologie und Satanologie des Papstes

2.Glaube an eine Überirdische Die Mariologie des Papstes

3.Wert des Menschen – Wertlosigkeit des Tieres Die theologische Anthropozentrik und Pädagogik des Papstes

4.Wie der Papst die Kirche sieht Seine Ekklesiologie

Teil III
Was tut der Papst? Was versäumt er?

1.Die Armentheologie des Papstes Franziskus

2.Wo Papst Franziskus versagt – Eine Liste seiner Versäumnisse bei der praktischen Umsetzung seiner Armutstheologie

a) beim kirchlichen Arbeitsrecht

b) bei der Kirchensteuer

c) bei der Frage des freiwilligen Verzichts auf unberechtigte Kompensationszahlungen

d) bei der Notwendigkeit der Beendigung staatskirchlicher Verhältnisse

e) beim Besuch der Armen in Rio de Janeiro

f) bei der effektiven Hilfe für die Flüchtlinge

g) bei der Verwendung leerstehender Kirchen

h) in seiner Haltung zu den Besitzanteilen der Kirche an der Stadt Rom

i) in Bezug auf die vatikanischen Museen

j) in der Frage seines Privatvermögens

k) beim Reichtum des Vatikans

l) beim Protz und Prunk der Bischöfe

m) im Verhältnis der Kirche zur Mafia

Fazit: Existentielle Schizophrenie des Papstes beim Versuch der Verwirklichung einer armen Kirche

3.Der Herr der Sprüche Irritierendes, Ketzerisches, Sensationelles in einigen Aussagen des Papstes

a) „Gott ist nicht katholisch“

b) Die Kirche ist eine „keusche Hure“

c) „Leben Sie und lassen Sie leben!“

d) „Seien Sie großzügig zu sich und zu anderen!“

Kritik: Wen der Papst nicht leben lässt, zu wem er keineswegs großzügig ist:

Zu katholischen Eheleuten, die sich scheiden ließen

Zu den Frauen, die Priesterinnen werden wollen

Zu den Babys, denen in der Taufe der Exorzismus der Teufelsaustreibung zugemutet wird

Zu den noch nicht Geborenen im Mutterleib, die im Todesfall nicht in den Himmel kommen

Zu den von Priestern sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen

e) Erweist der Papst mit seinem Zehn-Punkte-Glücksprogramm die Überflüssigkeit des Christentums?

f) Des Papstes Empfehlung eines „würdevollen Schlagens“ der Kinder durch die Eltern

g) „Wer meine Mutter beleidigt, den erwartet ein Faustschlag“

h) „Jede Religion hat eine Würde, über die man sich nicht lustig machen darf“

i) „Gute Katholiken müssen nicht wie Karnickel sein“

j) „Wenn jemand homosexuell ist und Gott sucht – wer bin ich, über ihn zu richten?“

k) Mahnung des Papstes an die 20 neu ernannten Kardinäle, „maßvoll“ zu feiern – eine Kritik an der Institution des Kardinalats?

l) „Ich bin ein großer Sünder“

m) „Der wie ein Spray in der Luft liegende Pantheismus ist nichts“

Anmerkungen

Buchveröffentlichungen des Autors

VORWORT

Mehr als zwei Jahre sind vergangen, seitdem Jorge Mario Bergoglio den Papstthron bestieg. Seine Fan-Gemeinde ist gewaltig, und sie ist im Großen und Ganzen auch nicht geschrumpft. Andererseits mehren sich die Stimmen derer, die an dem nicht mehr ganz neuen Papst etwas auszusetzen haben. Und diese Stimmen kommen von allen Seiten, aus allen möglichen politischen, weltanschaulichen und konfessionellen Lagern. Interessanterweise stammt immer heftigere Kritik sogar aus des Papstes eigenem Klerus, dessen oberster Dienstherr er doch ist.

Es gibt katholische Priester, sogar einige Bischöfe, Kardinäle und hohe Kurienbeamte, denen der neue Papst zu wenig konservativ und traditionsbewusst, zu reformfreudig oder sogar zu revolutionär ist. Es gibt andere Vertreter desselben Standes, die im Gegensatz dazu behaupten, dass Papst Franziskus noch keinen einzigen Reformvorschlag wirklich in die Tat umgesetzt habe. Gerade dieser Kritik schließen sich viele Laien aus der katholischen Volksbewegung »Wir sind Kirche« an.

Man wundert sich, an welch kleinlichen Dingen sich die konservativen Kritiker reiben. Ein Priester schreibt: „Es gehört sich nicht, dass der Papst sich im weißen Talar zeigt und darunter eine alte abgetragene Hose trägt. Er möchte wohl besser sein als Jesus selbst … aus einer Laune heraus will er diesen oder jeden Ornat nicht tragen, auch keinen Ring … Gottseidank, dass er nicht auf die Idee gekommen ist, in einer Einzimmerwohnung in einem Vorort von Rom zu wohnen“. Der Papst habe „manchen Häftlingen die Füße gewaschen und geküsst. Christus hat seinen Jüngern Füße gewaschen, aber nie geküsst“. Ein anderer konservativer Priester meint, der neue Papst repräsentiere die Kirche nicht würdig genug. „Er trägt weiter jene Schuhe, als wäre er noch ein argentinischer Bischof. Er will sich nicht mehr Papst, sondern Bischof von Rom nennen. Das ist für mich zu wenig“.

Aber in konservativen Köpfen können sich selbst solche Kleinigkeiten zu gewaltigen Aversionen gegen den neuen Papst aufschaukeln. Sogar die Rechtmäßigkeit der Wahl des neuen Papstes wird von manchen konservativen Katholiken angezweifelt. Einer schreibt, dass gegenwärtig zwar noch niemand ausdrücklich daran denke, es säße jetzt auf dem Thron Petri ein falscher Papst. Aber man wisse schließlich, „dass solche Ereignisse stattgefunden haben“ und man müsse „darauf vorbereitet sein, dass sich das wiederholen wird. Sind wir gerade jetzt Zeugen dieser Entwicklung?“ Ein anderer Konservativer hängt weiterhin an seinem Idol Benedikt XVI. und stellt die Vermutung an, dass, wenn der Ratzinger-Papst „zum Abdanken gezwungen worden sein sollte“, Franziskus dann „kein rechtmäßiger Papst wäre“.

Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, behauptet sogar, den Eindruck gewonnen zu haben, „dass die Mehrheit der Bischöfe gesund denkt“ und deshalb gegen Papst Franziskus sei. Der für seine markanten Sprüche bekannte Anführer der polnischen Solidaritätsbewegung, Lech Walesa, steigert sich zu der hypothetischen Prophezeiung, dass es sich in ein paar Monaten erweisen könnte, „dass der Heilige Geist sich geirrt hat“, geirrt, als er die Mehrheit der Kardinäle inspirierte, Bergoglio zum Papst zu machen.

Im Gegensatz dazu hoffen progressivere Kreise in und außerhalb der katholischen Kirche immer noch, dass Papst Franziskus ein richtiger Reformer, sogar ein echter Revolutionär werden könnte. Bestärkt werden sie durch die besonders im angelsächsischen Raum gut ankommende Papst-Biografie von Paul Vallely, dem früheren Korrespondenten von The Times und jetzigen Redakteur von The Independent. Der Untertitel dieser Biografie lautet „Vom Reaktionär zum Revolutionär“, und ihr Autor gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Ansätze zu sammeln, die darauf hinweisen, dass der Papst tatsächlich auf dem Weg zu einem religiösen Revolutionär ist.

Also, die Debatten um den Papst, um seine revolutionäre oder konservative Einstellung verstummen nicht. Dabei wird in all diesen Diskussionen übersehen, dass etwas stattgefunden hat, was man in gewisser Weise tatsächlich als wirkliche Revolution bezeichnen kann. Sie besteht darin, dass zum ersten Mal in der ganzen zweitausendjährigen Geschichte der Kirche die eigenartige, einzigartige und an sich unmögliche Konstellation einer »Personalunion von Papst und Jesuit« Wirklichkeit geworden ist.

Niemals ist ein Jesuit Papst geworden! Es galt als ungeschriebenes, aber heiliges, unantastbares und geradezu selbstverständliches Gesetz, dass er dies auch nie werden sollte und werden durfte. Die höchste Verpflichtung, die sich dieser Orden auferlegt hatte und die ihn über alle anderen Orden der Kirche erhob, war das Gelübde des Dienens, und zwar nicht eines gewöhnlichen und allgemeinen Dienens, sondern des speziellen, absoluten Dienstes gegenüber dem Papst. Jesuiten sollen dienen, nicht herrschen, lautete die Devise. Und sie sollen uneingeschränkt und grenzenlos, auch ohne jegliche moralische Bedenken, dem Papst zu totaler Verfügung stehen.

Angesichts dieser radikalen Verpflichtung zum Dienst am Papst fiel es keinem Jesuiten in der fast 600 Jahre währenden Entwicklungsgeschichte dieses Ordens ein, Papst zu werden oder auch nur werden zu wollen. Das wäre einem Sakrileg, einem unverzeihlichen Tabubruch gleichgekommen.

Und da kommt nun ein Jesuit aus dem fernen Argentinien, der dieses Sakrileg, diesen unerhörten Tabubruch begeht, der diese ganze heilige Ordnung, diese Hierarchie abgestuften und streng auseinandergehaltenen Dienens und Herrschens umstürzt, also im wahrsten Sinne des Wortes re-volviert, re-volutioniert. Der Diener wird zum Herrscher, der Usurpator schwingt sich auf den Papstthron!

Um ein etwas gewagtes Bild aus der Politik zu verwenden: Dieser Umsturz in der vatikanischen Karriereordnung ist an sich etwa so unmöglich, wie wenn sich Heinrich Himmler, Chef der Elitetruppe der SS, die speziell zum unbedingten Schutz des „Führers“ konzipiert war, selber zum Reichskanzler gemacht hätte.

Die Welt, die Medien haben noch nicht begriffen, noch nicht gebührend erfasst, was diese revolutionäre Personalunion von Papst und Jesuit zutiefst bedeutet und welche Folgen sie haben wird. Das vorliegende Buch stellt sich der Aufgabe, Relevanz, Sinn und Konsequenz dieser sensationellen Neuerung in Verständnis und Struktur des Papsttums unter möglichst allen Gesichtspunkten zu beleuchten. Außerdem soll auch die Persönlichkeitsstruktur dieses Papstes ein Thema des vorliegenden Buches sein: seine zwei Naturen, seine originäre Natur und die ihm von seinem Orden in jahrzehntelanger Anstrengung oktroyierte und andressierte Natur. Das Wechselspiel dieser zwei Charaktere, ihre Ambivalenzen und Antagonismen haben auch Auswirkungen auf die bisweilen seltsam anmutenden Auftritte, Verhaltensweisen und Handlungen des Papstes. Dieser Gesamtkomplex seines Agierens und Reagierens als Papst wird uns im vorliegenden Buch ebenfalls beschäftigen.

TEIL I

VOM CHEMIELABORANTEN ZUM PAPST DER WELTKIRCHE

DIE BILDERBUCHKARRIERE
DES JORGE MARIO BERGOGLIO

Natürlich würde er sich gegen das Wort Karriere in dieser Überschrift verwahren. Alle Medien berichten doch von seiner Demut und Bescheidenheit, und man ist auch geneigt, ihm zu glauben, wenn er behauptet, seinen steilen Aufstieg bis zur Besteigung des Papstthrons nicht beabsichtigt zu haben. Andererseits kenne ich auch keinen Papst in der neueren Kirchengeschichte, der seinen Wunsch, nicht Papst werden zu wollen, vorher nicht geäußert hätte und es dann doch wurde, und zwar ohne wirklichen Druck und Zwang seiner Kardinalskollegen. Wer es wirklich nicht will, den zwingt niemand, es zu werden.

1.Zur Herkunft des Papstes

Aber tatsächlich scheint im Leben des Knaben Jorge Mario zunächst nichts auf diese Karriere hinzudeuten. Er kommt am 17. Dezember 1936 als Sohn eines aus Italien eingewanderten José Mario Francisco Bergoglio und dessen Ehefrau Maria Sivori zur Welt. Auch sie hatte ihre Wurzeln in Italien: Mutter Piemonteserin; Vater Argentinier, dessen Eltern aus Genua kamen.

Die Familie ist – entgegen manchen Medienberichten – auch nicht eigentlich aus Gründen der Armut nach Argentinien ausgewandert. Man hatte Hab und Gut in Italien verkauft, weil Argentinien damals – es ist das Jahr 1929 – mit noch größeren Aufstiegsmöglichkeiten, „unerschöpflichen Arbeitsquellen“, „besseren Löhnen“ und „großer sozialer Durchlässigkeit“ lockte. Außerdem waren die Brüder des Großvaters väterlicherseits schon seit 1922 in Argentinien und besaßen dort eine Pflasterfirma in der Stadt Paraná mit einem „Bergoglio-Palast“, der nach den Worten des späteren Papstes „vier Stockwerke hatte und als erstes Haus in der Stadt einen Aufzug besaß“. In jeder Etage dieses Palastes habe ein Bruder gewohnt.1

2.Der junge Jorge Mario Bergoglio als Arbeiter

Der Vater Jorge Marios war als Buchhalter tätig. „Wir schwammen“, so Franziskus in seiner Rückschau, „nicht im Überfluss, hatten auch kein Auto …, aber es fehlte uns an nichts“. Trotzdem hatte sein gestrenger Vater mit seiner rigorosen Arbeitsmoral kein Verständnis für die notwendige Freizeit seines 13-jährigen Sohnes. „Also da du jetzt in die Sekundarstufe kommst, ist es an der Zeit, dass du auch zu arbeiten anfängst. Für die Ferien werde ich dir eine Arbeit besorgen.“2

Der Sohn fügte sich nolens volens. Im Rahmen der Familienstruktur der Bergoglios mit dem Vater als unangezweifelter erster Autoritätsperson wäre jeglicher Widerstand gegen dessen Pläne ohnehin zwecklos gewesen. Also verdingte sich Jorge im Putzdienst einer Strumpfhosenfabrik, in der sein Vater als Buchhalter fungierte. Zwei Jahre lang tätigte er Reinigungsarbeiten, dann stieg er auf. Er durfte nunmehr wenigstens einige Verwaltungsaufgaben übernehmen. Ein Jahr später bekam er eine Stelle als Chemielaborant.

Es war eine Schufterei, die man dem jungen Burschen da zumutete: Täglich von sieben Uhr bis dreizehn Uhr Arbeit, dann eine knappe Stunde Mittagspause und danach bis 20 Uhr in der Schule, einer Berufsschule, die auf Nahrungsmittelchemie spezialisiert war. 1956 erhält er nach Beendigung seiner Schulzeit das Diplom als Chemietechniker.

Wie gesagt, Rebellion wegen dieser schweren Arbeitsjahre in seiner Jugend war beim späteren Papst nie ein Thema. Dafür umso mehr das Dreigestirn Arbeit, Gehorsam, Disziplin, das ja auch in den Regeln des Jesuitenordens eine so große Rolle spielt, weshalb Jorge Mario sich diesem auch recht früh zuwandte.

Rückblickend sagt er: „Ich danke meinem Vater, dass er mich arbeiten geschickt hat. Die Arbeit war eines der Dinge, die mir am meisten gut getan haben, und besonders im Labor habe ich das Gute und das Schlechte jeder menschlichen Tätigkeit kennengelernt. … Die Einwandererfamilien duldeten keine faulen Kinder, sie brachten sie ans Arbeiten… Meine Vorgesetzte war eine außergewöhnliche Frau, eine Sympathisantin der Kommunisten; sie wurde später unter der Militärdiktatur getötet“. Sie und das kommunistische Blättchen Propositos „halfen mir in meiner politischen Meinungsbildung. Aber Kommunist bin ich nie gewesen“. Und diese Frau habe ihn auch „definitiv gelehrt, was eine ernsthafte Arbeit ausmacht. Ich verdanke dieser großen Frau wirklich viel“.3

3.Die Großmutter brachte ihm den katholischen Glauben bei

Auch der katholische Glaube spielte im Leben des Jorge Mario von Anfang an eine große Rolle. Seine Großmutter Rosa brachte ihm diesen bei. Sie habe ihn „Beten gelehrt“, ihm „Heiligengeschichten erzählt“ und ihm damit „eine Ressource für das ganze Leben geliefert“.4 In der Tat ist bis auf den heutigen Tag eine etwas kindliche Naivität in der Glaubenslehre und Predigt dieses Mannes nicht zu übersehen.

Warum war es die Großmutter, die ihm sein erstes Glaubensgerüst so nachhaltig verpasste? Nun, er war „mitten in die Familie seiner Großeltern hineinversetzt“ worden, wurde am meisten von deren Gepflogenheiten „geprägt“, weil er schon mit dreizehn Monaten von seiner Mutter, die wieder schwanger war, der Großmutter Rosa zur Erziehung übergeben worden war. „Die Großeltern wohnten in der Nähe, und um meiner Mutter zu helfen, kam meine Oma morgens, um mich abzuholen. Sie nahm mich mit zu sich und brachte mich abends wieder zurück“.5

4.Die Liebesgeschichte mit Amalia Damonte

Auch die Liebesgeschichte seiner frühen Jahre, mit der der Papst in den Gesprächen mit Journalisten ein wenig kokettiert, wirft ein gewisses Licht auf seine Autoritätshörigkeit, seine unreflektierte Gehorsamsbereitschaft. Er liebte das Mädchen Amalia Damonte aus der Nachbarschaft, das ebenso wie er das Kind von Einwanderern aus dem Piemont war. Es habe, sagt die heute noch Lebende, eine „große Vertrautheit“ zwischen ihnen gegeben, ihr habe gefallen, dass „er immer zum Scherzen aufgelegt, aber dabei galant war“. Bald verbrachten sie „jeden Nachmittag zusammen“. Einmal habe er zu ihr gesagt: „Wenn du mich nicht heiratest, werde ich Priester!“6

Das mag ganz ernst gemeint gewesen sein, vielleicht war’s aber auch nur so dahergesagt. Sie interpretiert es im Gespräch mit den Journalisten jedenfalls nicht weiter. Aber man sieht an dieser Stelle, wie Weltgeschichte von einem einzigen Satz abhängen kann. Hätte Jorge Mario Bergoglio seine Amalia geheiratet, gäbe es heute keinen Papst Franziskus. Aber letzten Endes lag die Entscheidung darüber auch gar nicht in den Händen von Amalia und Jorge Mario, sondern in denen der Autorität ihrer Eltern, der sie sich widerstandslos und ohne zu zögern unterwarfen. „Unsere Familien waren mit unserer Freundschaft nicht einverstanden“, sagt Amalia rückblickend, vor allem ihre Familie sei dagegen gewesen. „Meinem Vater fiel auf, dass da etwas war zwischen Jorge und mir. Damit war er nicht zufrieden, weil er fand, dass wir noch zu klein waren. Er hat ihm verboten, mir den Hof zu machen und Jorge hörte sofort auf“. Wie gesagt: Widerstand gegen den Vater? Absolut zwecklos innerhalb der Vorstellungswelt der beiden jungen Menschen! „Absolut nicht. Wir sind mit traditionellen Werten aufgewachsen. Italiani onesti e laburatori, ehrliche und arbeitsame Italiener … Wenn der Babbo“, der Vater, „etwas sagte, dann war das so und basta“.7

Die Sache zwischen Amalia und Jorge wäre – hypothetisch gesprochen – nochmals anders gelaufen, wenn sie sich dem Heiratsverbot ihrer Eltern widersetzt hätten und die Kirche genau zu diesem Zeitpunkt das in jeder Epoche von mehr oder weniger Priestern bekämpfte Zölibatsgesetz aufgehoben hätte. Dann hätten die beiden doch heiraten können und Jorge Mario trotzdem amtierender Priester werden oder bleiben können. Vielleicht wäre er sogar als erster verheirateter Priester Papst geworden. Die Journalisten Francesca Ambrogetti und Sergio Rubin tangieren diesen Gedanken ein wenig und fragen ihn, wie er heute über den Zölibat des Klerus denkt. Seine Antwort: „Zum gegenwärtigen Augenblick halte ich es weiterhin mit einer Aussage von Benedikt XVI.: dass der Zölibat bleiben wird. Und ich bin auch persönlich überzeugt davon“.8

Priester, die für die Aufrechterhaltung des kirchlichen Zölibatsgesetzes sind, helfen sich bei Kritik gegen dieses Gesetz oft mit flapsig-schnoddrigen Bemerkungen, ohne sich ernsthaft um echte Argumente zu bemühen. Zu meinem Erstaunen begibt sich auch der Papst auf dieses Niveau. Er habe einmal einen Priester sagen gehört, dass „die Abschaffung des Zölibats ihm nicht nur erlauben würde, eine Frau zu haben, sondern dass er sich damit auch eine Schwiegermutter einhandeln würde…“.9

Wie gesagt, verächtliche Bemerkungen über die Ehe sind nicht auf den niederen Klerus beschränkt, auch hohe kirchliche Würdenträger begeben sich immer wieder mal durchaus auf diese Ebene. Bei einem Treffen des seinerzeitigen Erzbischofs von Wien, Kardinal König, mit Unternehmern stellte ihm einer von ihnen die Frage, ob denn das Zölibatsgesetz für Priester nicht einmal abgeschafft werde. Ohne sich auf eine erschöpfende Argumentation für das von ihm befürwortete Gesetz einzulassen, erklärte der Kardinal ganz salopp: „Ach, wissen Sie, ich will Ihnen da lieber mit der Schilderung einer wahren Begebenheit antworten. Ich denke da z. B. an den anglikanischen Bischof von Chichester, den der Papst zum II. Vatikanischen Konzil als einen Vertreter der Ökumene mit Gaststatus eingeladen hatte. Nun stellen Sie sich das mal vor: Dieser Bischof war eine überaus ansehnliche Erscheinung: hochgewachsen, schlank, sportlich, eine faszinierende Persönlichkeit. Neben ihm seine Frau: klein, dick, unansehnlich. Was meinen Sie wohl, was dieser Bischof antworten würde, wenn er nochmals entscheiden könnte, ob er diese Frau heiraten möchte?“

Betretenes Schweigen im Saal selbst bei jenen, die vorher noch den Worten des Kardinals andächtig-ehrfürchtig zugehört hatten.10

Übrigens: Amalia Damonte hat ihrem Jorge Mario nicht allzu lange nachgetrauert. Sie wurde Buchhalterin, heiratete, und nach dem Tod ihres ersten Gatten heiratete sie ein zweites Mal. „Der neue Papst brauchte übrigens nicht zu befürchten, dass seine alte Flamme auf einmal bei seiner Amtseinführung auf dem Petersplatz auftauchen könnte: ‚Ich war in meinem Leben noch nie in Italien, da werde ich jetzt in meinem Alter auch nicht mehr hinfahren‘ “.11

So glimpflich kommen Kirchenfürsten wegen ihrer Geliebten nicht immer davon und um einen Skandal herum. Einer der letzten drehte sich um Henry Koudry, Erzbischof von Chicago. Der fühlte sich auch der Kurie und dem Papst Johannes Paul II. gegenüber in seiner Machtfülle und wegen seiner Finanzspenden an den Vatikan derart stark, dass er seine Geliebte zu seiner feierlichen Kardinalserhebung ostentativ und provokativ mit nach Rom brachte, womit er den Papst und seinen ganzen päpstlichen Hof düpierte, ja schockierte. Denn für diesen gilt das ungeschriebene, aber stets gültige kirchliche Gesetz: „Si non caste, caute“ (wenn schon nicht keusch, dann wenigstens vorsichtig).12

Aber ein solches „Gesetz“ hat Jorge Mario Bergoglio nach seinem Erlebnis der Berufung zum katholischen Priestertum allem Anschein nach niemals für sich in Anspruch nehmen müssen. Er bezeichnet das „Doppelleben“ eines Pfarrers, der in einer Beziehung mit einer Frau lebt, als „Betrug“. Ethisch sei ein Verhalten nur dann, wenn „Prinzipien und das faktische Verhalten nicht auseinanderklaffen.“13

5.Die Berufung zum katholischen Priester

Auf welche Weise wird jemand Priester? Muss am Beginn des Weges zum Priestertum ein besonderes Ereignis, ein Berufungserlebnis stehen? Dann hätte insbesondere die katholische Kirche noch viel weniger Priesteramtskandidaten, als sie sie gegenwärtig hat.

Nein, es genügt an sich die Bekundung des eigenen Willens, ein Leben im Dienst Gottes, Christi und der Kirche führen zu wollen, um ins Priesterseminar aufgenommen zu werden.14 Erwähnte ein Kandidat evtl. ein besonderes Berufungserlebnis, dann bekäme er bei so manchem Regens, Subregens oder Spiritual eines Priesterseminars vielleicht sogar Schwierigkeiten, weil diese Kirchenfunktionäre mit Erlebnis oft sofort Mystik assoziieren. Man weiß ja schließlich, wie viele Mystiker zugleich Ketzer waren, weil sie auf der Basis ihrer inneren Erfahrungen die Autorität der Kirche in Glaubens- und Moralfragen nicht mehr so ganz ernstnahmen.

Jorge Mario Bergoglio hatte zwar tatsächlich ein Berufungserlebnis, aber dieses war so kirchenkonform, dass es bei den Oberen nicht die geringsten Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit auslösen konnte. Es war der 21. September 1953. Jorge Mario Bergoglio war ein Jugendlicher im Alter von 17 Jahren, der sich gar nicht wesentlich von seinen Altersgenossen unterschied. Mit einigen von ihnen wollte er an diesem Tag den jedes Jahr begangenen „Tag des Studenten“ feiern. Aber, anders als seine Kameraden, schob er noch, bevor er sie traf, den Besuch einer Kirche dazwischen. Er war ja praktizierender Katholik, aber bis dahin wie so viele ein Gewohnheitskatholik: Man geht zur Kirche, man glaubt, was der Priester von der Kanzel spricht, man empfängt die Sakramente, nimmt teil an Prozessionen, weil das eben auch die anderen in der näheren Umgebung so tun. Tiefere Gedanken darüber macht man sich nicht.

Aber an diesem Tag, bei diesem Besuch seiner Pfarrkirche war alles anders. Wie oft war er in dieser Kirche schon zur Beichte gegangen, hatte seine Sünden oder das, was er dafür hielt, vor dem Beichtvater heruntergeleiert, ohne dass er dabei besondere Gefühlsregungen verspürt hätte. Aber am heutigen Tag fühlte er sich magisch zu einem Beichtstuhl hingezogen, in dem ein Priester saß, den er gar nicht kannte, der ihm aber besonders vergeistigt erschien, spiritueller als die Beichtväter, die er kannte und bei denen er bisher seinen Sündenbekenntnisse abgelegt hatte.

Diese jetzige Beichte wurde sein Berufungserlebnis! Sie rüttelte ihn auf, zeigte ihm seinen katholischen Glauben in einem neuen Licht, machte ihm bewusst, dass er zum Priester berufen war. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach beschreibt es der inzwischen zum Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal und Primas der argentinischen Kirche aufgestiegene Jorge Mario folgendermaßen: „In dieser Beichte ist mir etwas Seltsames passiert. Ich weiß nicht, was es war, aber es hat mein Leben verändert. Ich würde sagen: Es hat mich getroffen, als ich offen und ungeschützt war. Es war die Überraschung, das maßlose Erstaunen über eine wirkliche Begegnung. Ich merkte, dass ich erwartet wurde. Das ist die religiöse Erfahrung: Das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich erwartet. Von diesem Zeitpunkt an ist es Gott, der einen mit einer Ausschließlichkeit umwirbt, wie es sie nur in der ersten Liebe gibt. Man sucht Ihn, aber Er sucht dich zuerst. Man möchte Ihn finden, aber Er findet uns zuerst“.15

Von da an lebte der junge Mann anders. Aus war es mit den „weltlichen“ Vergnügungen. „…die Gruppe von Freunden, mit denen ich ausging zum Tanzen“, musste nun ohne ihn auskommen. Das Fest zum „Tag des Studenten“ besuchte er auch nicht mehr. „Von jenem Moment an wurde Gott für mich derjenige, der uns zuvorkommt“.16

Dennoch trat Jorge Mario nach seinem Berufungserlebnis nicht gleich ins Priesterseminar ein. Es dauerte sogar noch drei bis vier Jahre, ehe er diesen Schritt vollzog. In dieser Zwischenzeit absolvierte er das Gymnasium und ging weiterhin seiner Tätigkeit als Chemielaborant nach. Aber auch eine schwere Krankheit, die er durchmachte, ließ ihn in dieser Zeit noch reifer werden und baute weitere Fassaden und Oberflächenschichten seiner Psyche ab. Eine schwere Lungenentzündung stieß ihn fast bis an die Pforten des Todes. Die obere Hälfte der rechten Lunge amputierte man ihm, drei Zysten hatten die Ärzte darin gefunden, und der Zustand des von hohem Fieber Geschüttelten wollte sich nicht bessern. Jorge Mario war verzweifelt.

Seine Mutter und andere besorgte Besucher vermochten ihn nicht zu trösten. Erst eine Nonne, Schwester Dolores, die ihn zur Erstkommunion vorbereitet hatte und ihn besuchte, schaffte das kleine „Wunder“: „Sie sagte mir etwas, das sich mir tief eingeprägt hat und mir großen Frieden gab: ‚Jetzt folgst du Jesus nach‘ “.17

So wurde der bis heute an einer Lungeninsuffizienz leidende Jorge Mario durch die Krankheit zu seiner sehr individuell geprägten Erkenntnis des tieferen Sinnes jeglichen Leids geführt. Es ist bezeichnend für seine Sicht desselben, aber auch überhaupt für seinen Blick auf das Ganze des Lebens und alle seine Details, dass er nach seinem Berufungserlebnis alles nur noch »christozentrisch« werten konnte. „Das Leid stellt keine Tugend in sich dar, aber die Art und Weise, wie man es annimmt, kann durchaus tugendhaft sein. Unsere Berufung ist die Fülle und das Glück. Und auf der Suche danach stellt das Leid eine Grenze dar. Deswegen versteht man den Sinn des Leidens erst ganz durch das Leiden Gottes in Christus“.18

Auf die Problematik dieses letzten Satzes soll erst im Kapitel „Was glaubt der Papst?“ näher eingegangen werden. Hier sei aber ohne Kommentar zunächst nur das radikal Christozentrische seiner Sicht aller Dinge und Begebenheiten hervorgehoben. Ohne Christus gibt es für ihn überhaupt keinen Sinn. Er fragt sich, „was geschehen würde, wenn Gott nicht in Jesus Christus Mensch geworden wäre, das heißt wenn Gott nicht gekommen wäre, um dem Leben einen Sinn zu geben“: Daher bestehe der Schlüssel zu Sinn und Glück des Menschen allein „darin, das Kreuz als Keim der Auferstehung zu verstehen. Jeglicher Versuch, das Leiden zu erleichtern, wird nur Teilergebnisse zur Folge haben, wenn er nicht in der Transzendenz sein Fundament hat. Es ist ein Geschenk, das Leid zu verstehen und es ganz anzunehmen.“ 19

Dem „verweltlichten“ Menschen von heute wird diese christologische Engführung des Leidens nicht sonderlich behagen. Für Jorge Mario Bergoglio aber war sie ein Grund mehr, seine Berufung zum Priester als gottgewirkt zu glauben. Er sah jetzt, in der Zeit zwischen seinem Beichtstuhlerlebnis und seinem ja erst ein paar Jahre später erfolgten Eintritt ins Priesterseminar, noch klarer, dass „die geistliche Berufung ein Ruf Gottes an ein Herz ist, das auf Ihn wartet, bewusst oder unbewusst. Mich hat immer eine Lesung aus dem Stundenbuch beeindruckt, in der die Rede davon ist, dass Jesus Matthäus in einer Haltung anschaute, die in der Übersetzung ungefähr als ‚durch Erbarmen auserwählend‘ umschrieben werden könnte. Das war genau die Weise, wie ich mich während dieser Beichte von Gott angeschaut fühlte… ‚Durch Erbarmen auserwählend‘, das war mein Wahlspruch zu meiner Bischofsweihe, und es ist einer der Schlüssel zu meiner religiösen Erfahrung: Der Dienst der Barmherzigkeit und die Erwählung von Menschen aufgrund eines Angebots. Eines Angebots, das salopp so zusammengefasst werden könnte: ‚Schau mal, du bist geliebt als du selbst, du bist erwählt, und das Einzige, was von dir verlangt wird, ist, dass du dich lieben lässt‘. Das ist das Angebot, das ich erhalten habe“.20

Genau wie der Ratzinger-Papst in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ immer wieder betont hatte, dass Liebe nicht möglich sei, wenn uns Gott nicht schon vorher geliebt hätte, erklärt auch der später zum Papst gewordene Jorge Mario: „Darin besteht also die Liebe, dass uns Gott zuerst geliebt hat. Jede religiöse Erfahrung, die nicht diese Portion Verwunderung, die Erfahrung der Überraschung, des Überwältigenden in der Liebe, in der Barmherzigkeit in sich birgt, ist kalt, sie bindet uns nicht ganz ein. Es wäre eine distanzierte Erfahrung, die uns nicht auf die transzendente Ebene führt“. Allerdings, „heutzutage ist es schwierig, diese Transzendenz zu leben …“21

6.Eintritt in den Eliteorden der Kirche – Geist und Ungeist der Jesuiten – Bergoglios feiner Instinkt der Machtausübung

Irgendwie schicksalhaft – ein Papstfan würde sagen: von der Vorsehung vorherbestimmt und gewollt – war auch Jorge Mario Bergoglios Eintritt in den Jesuitenorden. Trat er doch 1956 als Zwanzigjähriger nicht gleich in ihn ein, sondern zunächst in das Priesterseminar der Erzdiözese Buenos Aires. Da er darin immerhin etwa zwei Jahre verbrachte, musste er sich dabei ja etwas gedacht, d. h. vorgehabt haben, Welt- und nicht Ordenspriester zu werden. Aber dann, zwei Jahre später, stand sein Entschluss fest: Ich werde kein Diözesanpriester, sondern Ordensmann, ich trete der Societas Jesu, der Gesellschaft Jesu bei!

Folgendermaßen beschreibt er selbst seine Motivation, den Jesuiten beizutreten: „Nachdem ich zuerst im erzbischöflichen Priesterseminar von Buenos Aires war, bin ich - angezogen von der fortschrittlichen Kraft der Gesellschaft Jesu für die Kirche – dort eingetreten. Wir würden in militärischer Sprache sagen: weil diese Kraft sich im Gehorsam und in der Disziplin entfaltete. Dazu kommt, dass dieser Orden auf die Mission hin orientiert ist. Mit der Zeit kam in mir nämlich der Wunsch auf, nach Japan in die Mission zu gehen, wo die Jesuiten seit alters her ein wichtiges Apostolat ausüben.“22

Ein wenig anders formuliert der Papstbiograf Stefan von Kempis Bergoglios Motiv, zu den Jesuiten überzuwechseln: „… ich trat bei den Jesuiten ein, weil sie eine avantgardistische Kraft der Kirche waren, weil man in der Gesellschaft Jesu eine militärische Sprache benutzte, weil ein Klima des Gehorsams und der Disziplin herrschte“.23

»Gehorsam und Disziplin« in diesen eben zitierten beiden Aussagen des Papstes – sie beweisen, wie wir das in weiteren Passagen dieses Buches noch häufiger sehen werden, dass Güte, Liebe und Menschenfreundlichkeit dieses Menschen nicht so spontan sind, wie sie von großen Teilen der Medien stets dargestellt werden, sondern vielmehr den Prinzipien der Disziplin und des Gehorsams gegenüber der Kirche untergeordnet bleiben, den Rahmen dieser Prinzipien nie überschreiten. Bergoglio, diese ganz und gar in das Eigentum der Kirche und des Jesuitenordens übergegangene Individualität eines Menschen, verfolgt in seiner ansonsten wohl ehrlich gemeinten Liebe zu den Menschen aber immer auch das strategische Ziel, sie durch die Zeichen seiner Liebe für die Kirche zu gewinnen bzw. zurückzugewinnen. Schließlich hat er – anders als europäische Kirchenfürsten – vor Augen, dass der katholischen Kirche Südamerikas die Gläubigen massenweise davon- und zu den evangelischen Pfingstkirchen überlaufen. Und diese überhäufen die Überläufer, die meist arm sind, mit Wohltaten aller Art.

Wie äußert sich doch diesbezüglich sogar ein dezidiert katholisches Blatt, das dazu noch im katholischsten Verlag Deutschlands erscheint? „Mit seinen in der Öffentlichkeit als authentisch und erfrischend bewerteten Auftritten hat er die Menschen und die Medien für sich eingenommen. Im Medien- und Informationszeitalter eine nicht zu unterschätzende Machtbasis … Franziskus hat sehr wohl einen feinen Instinkt der Machtausübung. Er kennt die Regeln der Diplomatie, aber auch wie man sie als ‚Waffen‘ für den eigenen Bedarf manchmal überraschend anders anwenden kann“.24

Genau das! Einen „feinen Instinkt der Machtausübung“ und den Besitz der „Waffen der Diplomatie“ hat auch der Jesuitenorden in seiner gesamten Geschichte bewiesen, und deswegen sind auch dieser Orden und der Bergoglio-Papst ein Herz und eine Seele. Da haben sich zwei getroffen, die adäquat zueinander passen und die absolut die gleichen Ziele verfolgen. Nicht ohne gewichtigen Grund lautet auch der Haupttitel des Buches, das seine aufschlussreichen Gespräche über sein Leben und seinen Weg mit den Journalisten Ambrogetti und Rubin enthält, in der argentinischen Erstausgabe El Jesuita. Durch und durch, bis in die tiefsten Tiefen und letzten Winkel seines Seins fühlt sich Jorge Mario Bergoglio als Jesuit und treuester Sohn seines Ordensgründers Ignatius von Loyola. Nochmals O-Ton Bergoglio: „An der Gesellschaft Jesu haben mich drei Dinge berührt: Der Sendungscharakter, die Gemeinschaft, die Disziplin“ (so Papst Franziskus im Interview mit Antonio Spadaro am 19. August 2013).

Strengste Disziplin und unbedingter Gehorsam waren bereits für den Ordensgründer Ignatius von Loyola (1491 – 1556) die wichtigsten Mittel und absolut notwendigen Voraussetzungen für die Erreichung seines höchsten und einzigen Zieles: die Missionierung und Bekehrung der gesamten Menschheit, ihre Unterordnung unter den Gottmenschen Jesus Christus und dessen Stellvertreter auf Erden, den Papst. Schier unglaublich, was Ignatius und die von ihm gegründete Gesellschaft Jesu an Anstrengungen, Opfern, Engagement und Strapazen, an Unsummen moralischer, aber auch unmoralischer Handlungsweisen, Methoden, Taktiken und Strategien für die Erreichung dieses Zieles aufgebracht haben. „Noch war keine solche Gesellschaft in der Weltgeschichte anzutreffen gewesen. Mit größerer Sicherheit des Erfolgs hatte selbst der alte römische Senat nicht Pläne zur Welteroberung entworfen. Mit größerem Verstand war an die Ausführung einer größeren Idee noch nicht gedacht worden. Ewig wird diese Gesellschaft ein Muster aller Gesellschaften sein, die eine organische Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen“, schrieb der Romantiker Novalis in seiner idealisierenden Schwärmerei.25

Die Mitglieder des Jesuitenordens taten buchstäblich alles, um der Missionsdevise des Apostels Paulus, allen alles zu werden, zu entsprechen. Sie traten als Lehrer und Diplomaten am chinesischen Kaiserhof auf, drangen bis zum japanischen Kaiser vor, wurden hinduistische Brahmanen und Yogis, chinesische Mandarine, studierten den Talmud und die verwickelten jüdisch-orthodoxen Speziallehren derart gründlich, dass Rabbiner sie einluden, in ihren Synagogen vor der ganzen Gemeinde die heiligen Bücher zu erklären, selbst Moslems sahen in einem sich ganz an sie anpassenden, vor ihnen in ihrem Geist predigenden Jesuitenpater einen neuen Propheten bzw. den wieder auf die Erde gekommenen Johannes den Täufer. Den von den spanischen Conquistadoren gejagten, verfolgten, misshandelten, gemordeten Indianern Südamerikas errichteten sie einen Gottesstaat, in dem diese geschundenen armen „Wilden“ endlich Ruhe vor ihren Peinigern hatten.

Wie kein anderer Orden der römisch-katholischen Kirche sind die Jesuiten aus der Stille der Klöster bzw. ihrer geistlichen Häuser in die Welt hinausgegangen, immer mit der übergeordneten Hauptabsicht, Menschen für Gott, Christus, Papst und Kirche zu gewinnen. Als Soldaten und Offiziere der „Kompanie Jesu“ zum Zweck seiner Weltherrschaft verschafften sie sich Zugang „in die Kabinette der Herrscher und Minister, in die Parlamente und Universitäten, in die Audienzsäle asiatischer Despoten, an die Lagerfeuer der Rothäute, auf die Sternwarten, in die physikalischen und psychologischen Institute, auf die Szene des Theaters, auf die Gelehrtenkongresse und politischen Rednertribünen; sie suchten alles, was Menschen denken und empfinden können, dem Glauben unterzuordnen, und so haben sie für die Bestätigung ihrer Religiosität die ganze große lärmende Welt mit ihrer Fülle von Interessen und Zielen in Anspruch genommen. Sie haben gefordert, als Weltleute mit den Weltleuten, als Gelehrte mit den Gelehrten, als Künstler mit den Künstlern, als Politiker mit den Politikern zu gelten und in allen diesen Wirkungskreisen als ebenbürtig angesehen zu werden“.26

In der Anwendung der Mittel für diesen allem anderen übergeordneten Zweck der Weltherrschaft von Christus und Kirche waren sie nicht zimperlich. Cum grano salis lässt sich sagen, dass ihnen kein Mittel zu teuer, keins zu gemein war, wenn es galt, dieses höchste Ziel zu realisieren. Ein vorrangiges, besonders wirksames Mittel war die Beichte. Sie verschafften sich das Image, die intelligentesten Ordenspriester und intimsten Seelenkenner zu sein. Ergo sahen die Vornehmsten, Reichsten und Mächtigsten in Kirche und Gesellschaft es als eine Ehre an, einen Jesuiten als Beichtvater zu haben. Kaiser und Könige, Fürsten und Adlige der höheren Stufen, Politiker, Unternehmer, Heerführer, oft auch deren Frauen und Konkubinen knieten vor ihnen und bekannten rückhaltlos ihre Missetaten und sündigen Phantasien. Und mit all ihrer Schläue nutzten die Beichtväter die in den „heiligen“ Bußsakramenten gewonnenen Informationen für ihre Zwecke, ja sogar für die Lenkung ganzer Staaten und Kontinente in ihrem Sinn. Auch Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle, selbst der Papst holten sich oft Jesuiten als Beichtväter. Dementsprechend wuchs deren Einfluss in Bistümern und am päpstlichen Hof, in der gesamten Kirche.

Die Päpste glaubten, sich ihnen restlos anvertrauen zu können, weil ja die Jesuiten alle anderen Orden und Kongregationen damit übertrumpft hatten, dass sie als einzige zu den drei üblichen Mönchsgelübden der Armut, Keuschheit und des nicht spezifizierten Gehorsams gegenüber allen Oberen noch das spezielle Gelübde der absoluten Unterwerfung unter den Papst, was dieser auch immer beschließe, hinzufügten. Das musste selbst den Päpsten in besonderem Maße imponiert haben, denn sie überhäuften sie mit zahlreichen Beweisen ihrer Gunst.

Kein Biograf bzw. Kritiker von Papst Franziskus kann genau wissen, in welchem Umfang dieser die negative Seite des Jesuitenordens kannte, als er ihm beitrat. Diese Seite kann im vorliegenden Buch aber nicht ganz ausgeblendet werden, weil sie zum ambivalenten Charakter dieser Gesellschaft konstitutiv und strukturell gehört und weil der Bergoglio-Papst eben weitgehend ein Geschöpf dieses Ordens ist. Ignoranz, Unkenntnis wesentlicher Tatbestände ist stets ein schwaches Argument für die Überzeugung, sich für etwas nicht verantwortlich fühlen zu müssen.

Bergoglio hat viel über das Leben des Ordensgründers Ignatius von Loyola gelesen. Sollte ihm da total entgangen sein, dass Ignatius seinen Jüngern rät, den Charakter der Herrschenden, Mächtigen, Einflussreichen genau zu studieren, sich der auf diese Weise gefundenen Interessenrichtung ihres Wesens geschmeidig anzupassen, sie durch Schmeicheleien sogar noch zu stärken, dabei aber auch stets „die Heiterkeit des Antlitzes und die größte Freundlichkeit der Rede“ einzuhalten? Zumindest in letzterem ist ja der – mit einigen Ausnahmen, die wir noch sehen werden – stets liebenswürdig daherkommende Papst Franziskus ein echter Befolger der Weisungen seines Ordensgründers.

Sollte Bergoglio auch von jener doppelzüngigen Strategie seines Meisters nie etwas erfahren haben, die darin bestand, bei wichtiger Korrespondenz in jedem Einzelfall jeweils zwei Briefe zu schreiben, einen »Hauptbrief« mit erbaulich-unverfänglichem, jederzeit publizierbarem Inhalt, und einen »Nebenbrief« mit absolut geheim zu haltenden Bestimmungen, Hinweisen, Anweisungen, Herabsetzungen usw.?

Loyola hatte auch keinerlei Skrupel, faktisch sein Knie vor Baal, dem mythischen Gottsymbol des Reichtums und der Macht, zu beugen, wenn es nach seinem Dafürhalten der Kirche von Nutzen sein konnte. „… der Gebrauch menschlicher Mittel und die Verwertung irdischer Protektion für gute und gottgefällige Zwecke“ sei aber, so Ignatius schönfärberisch, in Wirklichkeit gar kein Baalsdienst. „Im Gegenteil, wer es verwirkt, sich solcher Mittel zu bedienen und auch dieses von Gott verliehene Talent zu verwerfen, etwa weil er dies für einen ‚üblen Sauerteig‘ und eine schlimme Mischung irdischer Mittel mit der Gnade hält, der hat offenbar nicht gut gelernt, alles auf das eine große Ziel, auf die Verherrlichung Gottes hinzulenken“.27

Viele Prinzipien, Devisen, Leitsätze gehen vielleicht gar nicht bis auf den Ordensstifter zurück, aber sie werden dem „Weisheitsrepertoire“ der Jesuiten zugeschrieben. Es ist fast unmöglich, dass Jorge Mario Bergoglio von ihnen nie etwas gehört haben sollte, z. B. von der in den jesuitischen Lehrbüchern der Moral doch empfohlenen restrictio mentalis, also der Taktik der halben, eingeschränkten Wahrheit: man lügt nicht eigentlich, man sagt nur nicht die ganze Wahrheit. Oder: Man steckt moralische Bedenken weg, wenn die Aussicht auf ein glückliches Ende einer Affäre besteht, weil der Sieger sich meistens nicht mehr zu rechtfertigen brauche. Sein Erfolg zähle bei den Menschen mehr als alles andere.

Der Jesuitenpater G. Sanchez stellt in seiner Moraltheologie („opus morum“, Lib. I, cap.9 n.13, S. 26) die Regel auf: „So oft Worte ihrer Bedeutung nach zweideutig sind oder verschiedene Sinne zulassen, ist es keine Lüge, selbige in dem Sinne zu gebrauchen, den der Sprechende mit ihnen verbinden will; obschon die Zuhörenden und der, dem man schwört, selbige in einem anderen Sinne nehmen – ja, ob auch der Sprechende von keiner gerechten Sache geleitet werde“. Über die verschiedenen Arten erlaubter Lügen sagt dieser Jesuit: „Ja, es ist dies von großem Nutzen, um vieles verdecken zu können, was verdeckt werden muss, aber ohne Lüge nicht verdeckt werden könnte, wenn nicht diese Art und Weise gestattet wäre … Man hat aber gerechte Ursache, sich solcher Zweideutigkeiten zu bedienen, so oft dies notwendig und nützlich ist, um das Heil des Körpers, die Ehre und das Vermögen zu schützen: oder zur Übung irgend einer anderen Tugend“ (ebd. S. 15).

Sogar die Tötung unter gewissen Umständen erlaubt dieser jesuitische Moraltheologe: „Es ist erlaubt, denjenigen zu töten, von dem man gewiss weiß, dass er sofort einem nach dem Leben stellt, so dass eine Frau z. B., wenn sie weiß, dass sie in der Nacht von ihrem Manne getötet wird, und nicht entfliehen kann, jenem zuvorkommen darf“. Dieses blutige Handwerk kann allerdings auch ein anderer für einen erledigen, „wenn dies die christliche Liebe anrät“ (der Moraltheologe Busenbaum S.J., Meditationes Theologicae, mor. L.III. Tract. IV.D.V.).

Zahlreiche prägnante und markante Leitsätze für seine Ordensbrüder hat auch der berühmt-berüchtigte Jesuitenpater Balthasar Gracian, Rektor des Kollegs der Gesellschaft in Tarragona, in seinem „Handorakel“ angeführt. Man solle die Daumenschraube eines jeden zu finden wissen; nichts kategorisch abschlagen, damit die Abhängigkeit des Bittstellers erhalten bleibe; niemandem Gelegenheit geben, einem ganz auf den Grund zu kommen; nicht nach festen Grundsätzen leben, sondern opportunistisch, nach den Umständen; die menschlichen Mittel anwenden, wie wenn es keine göttlichen, und die göttlichen, wie wenn es keine menschlichen gäbe; das eigene zu erreichende Ziel so darstellen, als ob es sich um einen Freundschaftsdienst für einen Fremden handle, um das Bestmögliche für sich selbst herauszuschlagen.28

Diese und ähnliche Ratschläge des Ignatius von Loyola, der Generäle des Ordens im Verlauf seiner Geschichte seit dem 16. Jahrhundert und der unzähligen Exerzitien- und Novizenmeister der Jesuiten brachten ihnen eine Unmenge von mehr oder weniger gerechten, mehr oder weniger ungerechten Vorwürfen ein. Am häufigsten warf man ihnen Heuchelei, Scheinheiligkeit, Kriecherei vor den Mächtigen dieser Erde und Intriganz vor. Gleich danach aber ertönte auch immer wieder der Vorwurf der zwielichtigen Moral, der durch die Jesuiten, ihre Lehren und Praktiken, verursachten Sittenverderbnis. Selbst der große Mathematiker und tiefreligiöse Blaise Pascal behauptete, nichts sei „lax und ungerecht genug“, als dass es „die Jesuiten nicht mit dem Pinsel ihrer vagen und schrankenlosen Morallehre als fromm, anständig und heilig hinzustellen wüssten“. Der große englische Denker und Moralist Thomas Carlyle nannte Loyolas Lehren „das verhängnisvollste Evangelium aller Zeiten“, und der prominenteste der liberalen evangelischen Theologen im wilhelminischen Kaiserreich, Adolf von Harnack, unterstellte ihnen als Hauptzweck ihrer gesamten Tätigkeit, „das Schimpflichste als verzeihlich darzustellen und den ruchlosesten Verbrechern einen Weg zu zeigen, auf welchem sie noch immer den Frieden der Kirche erlangen können“.29

Das Buch Macht und Geheimnis der Jesuiten, das wahrscheinlich die meisten Anklagen gegen die Moral und Wirkungsgeschichte der Jesuiten enthält, habe ich per Zufall schon mit dreizehn Jahren in die Hände bekommen. Ich las es wie einen hochinteressanten Roman, aber als frommer katholischer Jüngling sagte ich mir: „Das kann doch nicht stimmen!“ Hatte ich doch nur eine geringe Vergleichsmöglichkeit, nämlich die drei oder vier Jesuiten, die Jahr für Jahr in meiner Heimatkirche St. Laurentius in Groß Strehlitz Exerzitien abhielten, beeindruckende Prediger und imponierende Persönlichkeiten waren und viel tieferen Eindruck auf mich machten als die Geistlichen meiner Pfarrkirche. Dieser Eindruck bewirkte also in ganz besonderer Weise, dass ich den Ausführungen des besagten Buches keinen Glauben schenkte.

Ich nehme an, dass auch Jorge Mario Bergoglio vor seinem Eintritt in den Jesuitenorden so manches Negative über diesen gelesen hatte, aber letztendlich als guter Katholik ebenfalls stets zu dem Schluss kam, dass das alles von den Feinden der Kirche erfundenes übles Zeug sein müsse.