Lektorat: Monika Künzi Schneider
Gestaltung: arsnova, Horw
© 2015 Buchverlag Lokwort, Bern
Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag
ISBN 978-3-906806-03-7
eISBN (ePUB) 978-3-906806-04-4
eISBN (mobi) 978-3-906806-05-1
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
www.lokwort.ch
Eine Beerdigung, die Freude macht
Eine komplizierte Beichte
Portier Franz spielt Madame Daiger
Pfiiffelampenöl
Hansi heisst nun Jean und spart für eine Kuh
Immer wieder dieser Garibaldi
Der Schah von Persien reist mit Harem
Ein Tritt ins Hundehäufchen mit überraschenden Folgen
Weltstadt Marseille oder Dorfbeiz?
Der Premier Garçon wird Kammerdiener
Aus Jean Keusch wird John Koch, und Jules Verne verliert einen Knopf
Jean, Jean und Jean
Madame Bovary
Jeder Blick eine kleine Sünde
Jean glaubt, der Jüngste Tag sei gekommen
Eine Fahrt im Sado bringt überraschende Neuigkeiten
Wie eine Wildsau im Rübenfeld
Mademoiselle Claire versucht über Diderot zu erzählen
Direktor Garnier gleicht ein bisschen Jean
Aus Jean wird Louis. Wem gehört der goldene Ehering?
Louis gelobt zu schweigen
Der Herr Attaché Louis und Hokulani, der Stern am Himmel
Der schüchterne Herr auf dem Eiffelturm
Ein niederländischer Maler, der ein bisschen spinnt
Quod licet Iovi, non licet bovi
«Bon voyage, Louis!»
Schang macht eine Rigi-Reise
Mr Steinway sucht einen Kammerdiener
In New York heisst Louis Leonce
Ein vergessener Schirm verhilft zu Schlüssellochgeschichten
Aus Leonce wird wieder Louis, und ein Weinfässchen spielt Schicksal
Dramatische Ereignisse
Der General im Nachthemd
Louis begegnet einem bekannten deutschen Reiseschriftsteller und einem noch nicht so bekannten britischen Leutnant
Durch die Wüste ins Land des Mahdi
Louis spielt Sancho Pansa
Eine Wallfahrt ins Heilige Land, die nicht so endet, wie sie sollte
Louis nennt sich wieder Jean und wird Bauer
Jean bricht zu neuen Ufern auf
«Finite Patate»
Karten
1919
«Jean Keusch, ruhe in Frieden.» Pfarrer Josef Ignaz Furter spricht in feierlichem Tone und lässt das n in ‹Frieden› nachklingen.
«Amen», zwitschern die schwarz gekleideten Frauen auf der linken Seite, unterstützt vom männlichen Brummeln auf der rechten Seite.
Pfarrer Furter erteilt den Segen und sprengt mit dem Wedel ein letztes Mal schwungvoll Weihwasser auf das schwarzweisse Foto des Verstorbenen. Dieses steht zwischen zwei Kerzen vor der Tumba, einem leeren Sarggerüst unter einer schwarzen Decke. Eine Tumba wird aufgestellt, wenn keine Leiche vorhanden ist. Ein nicht alltäglicher Fall. Das Bild zeigt einen markanten Kopf mit einem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, dessen Spitzen nach oben gebogen sind. Die Haare des Verblichenen sind durch einen Mittelscheitel geteilt, und das linke Ohr steht etwas ab. Der Vatermörder ist frisch gestärkt, aus dem Jacketttäschchen guckt ein gefaltetes Tüchlein.
Es ist der 28. Juni 1919. Der Verstorbene ist im Alter von 65 Jahren in Odessa am Schwarzen Meer ums Leben gekommen, als Nachkriegswirren die russische Stadt erschütterten. Seine Maison Louis, ein Caféhaus mit Pension, sei in Brand geraten. Er habe noch versucht, den Tresor im oberen Stock zu leeren, als der Dachstock über ihm einstürzte. Jetzt wissen wir auch, weshalb seine Leiche fehlt.
Eigentlich hiess der Verstorbene Hans, aber das weiss im Dorf Freienberg kaum mehr einer. Seit seiner ersten Stelle im Welschland hat er sich Jean genannt, von den Dörflern Schang ausgesprochen. Manchmal sagte man ihm auch Hawaii-Schang.
Alle Verstorbenen sind in ihrem Leben gute Menschen gewesen. Auch der Jean, wie Pfarrer Furter eben vor den Gläubigen betont hat. Nicht nur ein guter Mensch, sondern auch ein vorbildlicher Christ. Einundzwanzig Heidenkinder, über die ganze Welt verstreut, habe er taufen lassen und grosszügig unterstützt. Aus dem eigenen Sack und notabene auch mit Hilfe der Kirchenopfer, welche seine Vorgänger für den Jean eingezogen hätten: der hochwürdige Alois Michael Schürmann, der hochwürdige Albert Beat Strebel und der hochwürdige Leodegar Melchior Huber.
Man geht zum Gedenktrunk ins Rössli. Ein Gedenktrunk ist etwas Schönes, denn er kostet nichts. Und man darf sich ohne schlechtes Gewissen mitten am Tag beduseln lassen. Most und Bier und Wein und Kafi Träsch gehen auf Kosten des vermögenden Hemdenfabrikanten. Willi Schuh heisst er. Dafür kann er nichts. Er ist ein hagerer Mann um die sechzig. Hager war er schon als jung – man nannte ihn Knebeli – und damit untauglich zum Bauern. Deshalb machte er eine kaufmännische Lehre und arbeitete für die Kleiderindustrie in Florenz, Marseille und London. Mit dreissig Jahren gründete er ein eigenes Unternehmen, fabrizierte zuerst Hosen und wechselte später zu Hemden. Viele Frauen weit herum nähen für ihn in Heimarbeit.
Willi Schuh mischt sich unter die Trauergesellschaft. Lobende Wortfetzen sind zu hören: «… immer so freundlich gewesen zu allen – und all die Heidenkinder, die er für den Himmel gerettet hat, dreissig, nein vierzig? – beinahe ein Heiliger – wenn er in Freienberg war, hat er mir den Garten umgegraben – die Zwetschgen heruntergeholt – für die Fronleichnamsprozession vor der Haustür das Altärchen mit den zwei Kerzen aufgebaut, für ein einziges kleines Schnäpschen – als Bub das dreijährige Dorli aus dem Mühlenbach gerettet ...» Und was der Schang für Abenteuer erlebt habe! Zweimal Schiffbruch erlitten und in China Seeräuber gleich dutzendweise aufgespiesst, und bei einem Erdbeben auf Java habe er sich nur mit knapper Not über eine Leiter retten können. Und all die berühmten Leute, die er kennen gelernt habe: vom Schriftsteller Jules Verne über den Pianofabrikanten Steinway in New York bis zum König von Hawaii.
Nachdem man ein halbes Stündchen über den Verstorbenen gesprochen hat, wechselt man zum Alltag über. Zu den Nachwehen des Landesstreiks, zur Lebensmittelrationierung und zu den traurigen Zeiten der Spanischen Grippe und zum vergangenen Hungerwinter.
Der Umtrunk zieht sich hin. Am zweiten Fenster wird schon gedämpft gelacht. Die ersten Witze sind zu hören, halbwegs anständige zuerst. Gemächlich, aber stetig sinkt das Niveau der Witze, und die Lautstärke des Gelächters steigt an.
Gottlob gibt es vernünftige Kühe, die gemolken werden wollen.
Wieder zu Hause, setzt sich Willi Schuh an den Schreibtisch. Fünf grosse Seiten beschreibt er. Den Brief nimmt er am Montag mit nach Aarau. Weder der Freienberger Posthalter noch jene der gut vernetzten Nachbardörfer brauchen davon zu wissen. So bekommen die Herren auch kein schlechtes Gewissen, weil sie es nicht am Stammtisch unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitererzählen können.
Sechs Tage später. Auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Arles krähen drei Morgenhähne. Sie sind sich ihrer wichtigen Aufgabe bewusst und zeigen es auch und nehmen bereits die ersten Hennen ins Visier. Sonntag hin oder her. Der verstorbene Schang – hier heisst er wieder Jean – dreht sich, nein, nicht im Grabe, sondern im Bett auf die linke Seite und gähnt. Damit hat er bewiesen, dass er nicht gestorben ist. Er ist gewissermassen die fehlende Leiche.
Jean hat eine unbändige Freude am fünfseitigen Brief von Willi Schuh. Er – nicht der Willi, sondern der Brief – liegt auf dem Nachttisch neben einem duftenden Lavendelsträusschen. Jean kennt ihn beinahe auswendig und freut sich diebisch über den Bubenstreich, den er erst vor zehn Tagen mit Willi Schuh zusammen ausgeheckt hat. Als ihm nämlich dieser drüben in der Gaststube der Fleur de Lisse eröffnet hatte, dass er in Freienberg für tot gehalten werde und man auf übermorgen einen Gedenkgottesdienst angesetzt habe, verfielen sie nach dem dritten Glas Wein plötzlich auf die Idee, die Sache laufen zu lassen. Schliesslich habe nicht jeder die Möglichkeit, seine eigene Beerdigung zu erleben.
Jean zündet die Kerze auf dem Nachttisch an, faltet sein Kissen, schiebt es sich wieder unter den Kopf und nimmt den Brief zur Hand. So ein Tod hat auch seine schönen Seiten. Was ist er doch für ein feiner Kerl geworden in den Augen seiner Freienberger! Sogar die Babette habe ihn im Rössli einen braven Mann genannt. Sie, die ihn hinterrücks immer Landräuber geschimpft hatte, weil sein Vater einst einen Markstein versetzt habe. Und die Marie mit dem Fronleichnamsaltärchen und dem Schnäpschen: Sie hat ihn gar nie gefragt, ob er ein zweites möchte, und jeweils flugs die Flasche im Buffetkasten in Sicherheit gebracht. Damit er nicht ein Säufer werde. Ein Christ, wie man ihn weit suchen müsse, sei er auch gewesen. Ausgerechnet der Benedikt soll das mindestens dreimal behauptet haben, mit wachsender Lautstärke. Der Benedikt, der ihn einmal als gottlosen Heiden und Wüstling beschimpft hatte, weil er nicht in die Maiandacht gegangen war und stattdessen der jungen Neuen im Rössli von seinen Abenteuern auf Java erzählt hatte.
Eigentlich nicht zu fassen, wie schnell die Lebensjahrzehnte dahingeflossen sind. Interessante Jahrzehnte, wie sie nur wenigen Menschen beschieden sind. Dabei hatte alles so einfach begonnen, im düsteren Haus mit dem gewaltigen Strohdach, in dem um den tannenen Esstisch mehr Kinder hockten, als es Kühe im Stall gab.
1867
Vor kurzem noch lag Schnee. In wenigen Tagen hat ihn der Föhn weggeputzt. Der Steinbach gurgelt, da und dort zeigen sich Schlüsselblumen. In der Sonne leuchten Weidenkätzchen, um die die ersten Bienen summen. Der Frühling von 1867 ist endlich gekommen.
Freitagnachmittag. Hansli Keusch, gerade erst dreizehn Jahre alt geworden, hockt auf einem Baumstrunk, den Kopf auf die Hände gestützt, und denkt nach. Er ist kein guter Schüler und hütet lieber die drei Kühe auf der Steinmatt, von der aus man in die Berge sehen kann. Und träumt, was wohl dahinter liegt. Italien, das Meer, Afrika. Elefanten, Löwen. Träumen tut er auch in der Schulstube, so dass er nach sechs Jahren mehr schlecht als recht lesen kann. Vom Kirchturm mit dem grossen goldenen Hahn auf der Spitze ertönen vier Schläge. Hanslis Schwester Margrit hüpft das Weglein herauf. Sie löst ihn beim Hüten ab, denn er muss zum Schulmeister.
Lehrer Fridolin Geissmann öffnet die silberne Dose, nimmt mit Daumen und Zeigfinger ein Häufchen Tabak und zieht sich eine Prise in die Nase. «Hansli, du warst mir immer ein lieber Schüler. Aber lesen und schreiben, ja, da haperts gewaltig. Wirst es auch kaum brauchen im Leben.» Er holt sein kariertes Nastuch aus dem Hosensack und schnäuzt sich. «Ich habe mit der Schulpflege gesprochen. Gescheiter wirst du bei mir nicht mehr, und die Schulpflicht hast du erfüllt. Es ist besser, wenn du künftig daheim fleissig zupackst oder dir bei einem Bauern Arbeit suchst. Bist ja kräftig genug. Und für mich bist du von jetzt an nicht mehr der Hansli, sondern der Hansi.»
Hansi freut sich über die gewonnene Freiheit. Die Aussicht, nie mehr den langen Tag über in der stickigen Luft der Schulstube hocken zu müssen, ist verlockend. Dankbar drückt er Lehrer Geissmann die Hand, nachdem er einen flüchtigen Blick ins Zeugnis geworfen hat. Die einzige gute Note ist die Betragensnote.
Hansi pfeift fröhlich vor sich hin, klemmt mit seinen nackten Zehen einen Stein fest und schleudert ihn beim Krämer über den Gartenhag. In der Kirchgasse kommt ihm Pfarrer Huber entgegen. Ein verständiger und gemütlicher Herr und ein gut genährter. «So, bist beim Lehrer gewesen? Wir haben in der Schulpflege über dich gesprochen. Es wird für dich wohl das Beste sein. Und jetzt, wie gehts weiter? Bleibst zu Hause und hilfst auf dem Hof?»
«Glaub schon. Muss zuerst mit Mutter und Vater darüber reden.»
«In der Ziegelhütte in Scheiwil suchen sie junge Leute zum Ziegelabstreichen. Könntest einen hübschen Batzen zusätzlich verdienen zum abendlichen Strohflechten. Täte euch gut, ihr, mit euren sieben Kindern.»
«In Scheiwil? Das würde mir schon gefallen.» Scheiwil liegt den Bergen zu. Für Hansi tönt das fast wie ein Schritt in die grosse Welt hinaus.
«So sags mal zu Hause. Und» – Pfarrer Huber blickt ihm fest in die Augen – «von jetzt an lässt du Doktors Max in Ruhe, verstanden? Du bist kein Schüler mehr.»
«Er soll mich aber auch nicht mehr auslachen, nur weil wir im Sommer keine Schuhe vermögen. Da haben wir ihn halt geheilandet.»
Pfarrer Huber schmunzelt verstohlen. Er kennt den Brauch. Man zieht jemandem eine Bohnenstange durch die Jackenärmel, worauf der arme Kerl mit ausgestreckten Armen weitergehen muss, bis ihn eine barmherzige Seele erlöst. «Kommst morgen beichten, und dann beginnst du am Montag ein neues Leben.»
Das mit dem Beichten ist diesmal nicht so einfach. Hansi überlegt hin und her. Nicht das Heilanden ist das Problem, sondern das Heubödelen respektive der Heustock und Nachbars Meieli. Das will er nicht in die Sache hineinziehen. Aber alles verschweigen geht auch nicht, denn Sünden gegen das sechste Gebot sind Todsünden. Verstösse gegen das achte Gebot, das Lügen, sind weniger schlimm. Hansi entscheidet sich für den Kompromiss. Er sei zwar im Heustock gewesen, aber eigentlich nur, um dem Mädchen aus Luzern, das bei Doktors auf Besuch gewesen sei, die jungen Katzen zu zeigen. Und da hätten sie noch ein bisschen gespielt.
Pfarrer Huber kennt das Leben auf dem Lande und ist ein verständnisvoller Seelsorger. «So, so, aus Luzern? Hmm? Im Übrigen, ist es nicht ein bisschen früh im Jahr für junge Katzen?»
1867
«Die Batzen aus der Ziegelhütte können wir gut gebrauchen», sagt Vater Emil. «Und schon morgen kannst du anfangen? Schön, mach uns keine Schande.» Die Familie sitzt beim Nachtessen am klobigen Tisch. In der Mitte steht eine grosse Pfanne mit dampfenden Kartoffeln. Mutter Rosa stellt eine Schüssel mit Kraut und Rüben daneben. Grossmutter Barbara und Onkel Jakob helfen beim Schälen und legen die heissen Kartoffeln in die Vertiefungen im Tisch, die als Teller dienen. Sieben Kinder hocken hungrig da wie junge Vögel im Nest mit aufgesperrten Schnäbeln. Sie zu füttern, ist nicht immer einfach. Gott sei Dank bringt das Strohflechten, an dem sich abends die ganze Familie beteiligt, noch etwas ein. Sieben- und Elfhalmiges flechten sie. Für ein zwölf Ellen langes Stück zahlt ihnen der Händler fünfzehn Rappen.
«Wenn ich kein steifes Bein hätte, würde ich mit dir in die Ziegelei kommen.» Onkel Jakob ist Söldner gewesen beim König von Neapel. Mit dem Säbel in der Hand habe er jeweils gewütet wie eine Wildsau im Rübenfeld. Bei einem Angriff Garibaldis hat er einen Schuss durchs Bein abgekriegt und lebt seither von einer kleinen Rente. «Ausserdem muss man als junger Mann in die Welt hinaus. Deshalb bin ich einst auch nach Neapel marschiert …»
«Wärest du daheim geblieben, hättest du heute ganze Scheichen und keinen Reissmatthias», bemerkt Vater Emil trocken.
«Daran ist nur der Garibaldi schuld. Vierteilen könnte ich den Kerl mit blossen Händen, diesen gottverd …»
«Jessesgottumpfatter, versündige dich nicht, Bub», mahnt Grossmutter Barbara und hebt warnend den mageren Finger. «Überhaupt ist Krieg etwas Schlimmes. Nur Blut, Schweiss und Tränen.» Ihre Gotte war aus Stans und hatte ihr oft von den Schreckenstagen in Nidwalden erzählt, als die Franzosen 1798 das kleine Ländchen überfielen und die Dörfer anzündeten und elternlose Kinder Hungers starben.
«… maledetta faccia di culo», murmelt Jakob vor sich hin und reibt sich das schmerzende Bein. Italienisch versteht die Grossmutter nicht.
Die Vögel pfeifen lustig, als Hansi in aller Herrgottsfrühe mit nackten Füssen in die Ziegelei nach Scheiwil trabt. Die ganze kleine Welt mit Bach und Weiden und Haseln und taunassem Gras scheint sich mit ihm zu freuen. Weit hinten heben sich Glärnisch und Tödi und Scherhorn vor dem Morgenrot ab wie ein gewaltiger Scherenschnitt.
Hansi muss die geschmeidige Mischung aus Ton und Lehm in die hölzernen Formkasten füllen und sauber abstreichen. Er stellt sich geschickt an, hat die Abläufe bald im Griff. Ist die Masse trocken, kann man die Ziegel herausziehen. Einfüllen, abstreichen, einfüllen, abstreichen. Die Tage sind lang. Die Kleider werden schmutzig und die Hände schwielig. Und abends hilft er noch zu Hause im Stall und nachher im trüben Licht des Kienspans beim Strohflechten, bis die Augen brennen. Einige Wochen vergehen. Zwar bringt er jeweils am Samstag stolz die verdienten Batzen nach Hause, aber irgendwie ist er unzufrieden. Das Ziegelabstreichen ist eine eintönige Arbeit.
Wie ein Heiliger vom Himmel kommt da eines Tages der Geschirrhändler Müller mit Ross und Wagen in die Ziegelei gefahren. ‹Becklifuerme› nennt man ihn. Hansi muss das Pferd füttern und tränken. Er tut das geschickt, wie der Becklifuerme zufrieden feststellt. Dieser kommt weit im Land herum. Bis nach Lenzburg und sogar Aarau. Fast sechstausend Leute wohnten in der Kantonshauptstadt an der Aare, weiss Müller zu erzählen. Grosse Hotels habe es dort, mit gewaltigen Stallungen und Gästen, die französisch sprächen. Und für willige Burschen, wie Hansi einer sei, gebe es immer auch Arbeit und manch schönes Trinkgeld, wenn man freundlich die Kappe lüpfe.
Hansi überlegt nicht lange. Und als er verspricht, einen guten Teil seines Verdienstes nach Hause zu schicken, sind auch Vater und Mutter einverstanden. So setzt er sich an einem Julitag neben Müller auf den Bock des Leiterwagens, auf dem in Stroh gebettet rote Milchkrüge und braune Becken liegen. Gemächlich zieht der magere Schimmel das Gefährt, die Glöcklein am Geschirr bimmeln, die Wagenreifen knirschen auf den ungepflasterten Strassen. Im Städtchen Lenzburg machen sie Halt. Müller nimmt aus der Kiste unter dem Bocksitz Brot und Käse hervor. Dazu trinken sie Most aus einer bauchigen, mit Stroh gepolsterten Flasche. Was für eine gewaltige Burg auf dem Hügel!
Weiter ist Hansi in seinem jungen Leben noch nie gereist. Die Fahrt geht an den Fünf Linden vorbei. Der Becklifuerme zeigt mit der Peitsche hin zu den mächtigen Bäumen. «Hier wurde einst der Matter geköpft. Ist schon einige Jahre her.»
«1854 war das», sagt Hansi stolz und blickt gwunderig zur Richtstätte hinüber. «Da bin ich nämlich auf die Welt gekommen.» Sein Vater hat ihm oft von dieser letzten Hinrichtung im Kanton Aargau erzählt. Er war damals mit vielen andern zu Fuss nach Lenzburg marschiert, um sich das Spektakel anzusehen.
Am späten Vormittag fahren sie in Aarau ein. Vor dem Hotel Löwen zieht Müller die Zügel. «So, Hansi, jetzt musst du selber für dich sorgen. Frag mal den Hotelier, ob er für dich Arbeit hat. Als ich das letzte Mal hier war, hat er einen Schuhputzer gesucht.»
Mit frischer Stimme und Selbstvertrauen meldet er sich. «Mit dem Müller bist du gekommen, junger Mann?» Der Hotelier mustert Hansi von unten bis oben. «Mit Pferden kannst du auch umgehen, sagst du? Ich wills mit dir probieren. Lass dir vom Portier Franz eine Schürze geben und eine Mütze. Geh aber zuerst in die Küche. Wirst hungrig sein nach der langen Fahrerei.»
Am Nachmittag sieht man Hansi mit einer grünen Schürze beim Teppichklopfen und Stiefelputzen. «Schuhwichse nehmen und nur drauf spucken, wenn es niemand sieht!», mahnt Franz.
Zum Nachtessen gibt es Schweinsbraten. Fleisch an einem gewöhnlichen Werktag! Nicht bloss Kartoffelsuppe, in der drei Tage hintereinander das gleiche Söischnörrli mitgekocht wurde, damit sie ein bisschen nach Fleisch schmeckt. Und lustig geht es in der Gesindestube zu. Portier Franz ahmt talentiert die Gäste nach. Den nervösen Herrn Bodmer aus Zürich mit dem goldenen Zwicker, der ihm ständig von der Nase zu rutschen droht, und mit dem Bürkli in der Hand, dem Kursbuch mit den Fahrtenplänen der Eisenbahnen und Dampfschiffe: «’tami, chume z spaat, chume z spaat!» Oder die dicke Madame Daiger aus Basel, die in der eigenen Kutsche durch die Schweiz reist. Mit hoher Stimme versucht sich Franz im Basler Dialekt: «Nom de Dieu, mi Häärz esch e bitz faible. Kenne Se meer hälfe ufs Kütschle stiige?» Er lacht dröhnend. «Und wenn du sie hinaufgestemmt hast, gibt sie dir statt ein Trinkgeld ein beinhartes Basler Läckerli aus ihrem Täschli, das nach Franzbranntwein riecht.»
Todmüde und etwas durcheinander und auch mit ein bisschen Heimweh steigt Hansi abends mit der flackernden Kerze in der Linken in die Dachkammer hinauf. Eine eigene Kerze, für die die Gäste pro Tag siebzig Rappen zahlen müssen. Zum ersten Mal schläft er auswärts und erst noch in einem richtigen Bett mit Matratze statt auf einem Laubsack. Ein ganzes Bett für ihn allein! Etwas verloren kommt er sich darin vor. Zu Hause in Freienberg mussten sich alle vier Buben ein einziges Bett teilen. Drei schliefen der Länge nach, der vierte quer an der Fussete, und jede Woche wurde die Schlafordnung gewechselt. Im Winter war dies sogar angenehm: Man konnte sich so in der ungeheizten, eisig kalten Kammer etwas warm geben.
Hansi teilt die Kammer mit dem Portier Franz. Dieser merkt, wie Hansi zu Mute ist, und muntert ihn auf. «Hast es gut gemacht heute, Hansi, fast wie ein ausgewachsener Unterpolier. Und morgen musst mir helfen, zwei Stühle zu flicken, die die Dicke aus Basel ruiniert hat. Herrgott, hat die einen Hintern. Jede Backe ein Zentner! ‹Nom de Dieu, mi Häärz esch e bitz faible. Kenne Se meer hälfe ufs Kütschle stiige?› Schlaf gut!»
1867 – 1868
Die städtischen Hähne krähen ebenso früh wie jene zu Hause. Hansi freut sich auf den neuen Tag. Keine Spur mehr von Heimweh. Nach dem Waschen feuchtet er sich die Haare an. Kühn zieht er mit dem Kamm einen Scheitel in der Mitte wie der Portier Franz. Er sammelt die Schuhe und Stiefel in den Gängen ein und schreibt die Anzahl und die Zimmernummern auf eine Schiefertafel. Er, der in der Schule keinen Wert auf Schreiben und Lesen gelegt hat. Das Versäumte will er möglichst schnell nachholen. Man ruft zum Frühstück. Butter, Käse, Aufschnitt, echten Kaffee statt Zichorienaufguss. Das müssten die zu Hause sehen.
Um neun Uhr reist Madame Daiger ab. Ihr Kutscher ist mit dem Wagen vorgefahren. Hansi trägt die Koffer herbei, den Schirm der steifen Mütze keck nach oben geschoben. Madame Daiger wackelt heran und legt die linke Hand auf Hansis Schulter. «Nom de Dieu, mi Häärz esch e bitz faible. Kenne Se meer hälfe ufs Kütschle stiige?»
Hansi beisst sich fast die Zunge ab, um nicht laut aufzulachen. Mit einem verschmitzten Dankeschön nimmt er das Basler Läckerli entgegen und riecht verstohlen daran. Ja, ganz deutlich, Franzbranntwein.
Flink erledigt Hansi seine Arbeiten. Schuhe putzen, Teppiche klopfen, Böden fegen, Pfannen schrubben. Zwischendurch hilft er dem Stallknecht Sebastian in der grossen Scheune, der bald merkt, wie gut der neue Gehilfe mit Pferden umgehen kann. Ein- und ausspannen, tränken, füttern, striegeln, das Geschirr mit Kernseife putzen, die Lampengläser reinigen.
Am Sonntag besucht er die Messe, die die Katholiken mangels eigener in der reformierten Kirche feiern dürfen. Reformierte und Katholiken sind sich sonst im Aargau nicht eben grün. Hansi denkt schmunzelnd an den Bachbodenbauern, der immer am Karfreitag Gülle auf die Wiesen neben der Villa Lindenbaum ausbringt, in der Reformierte aus dem Seetal wohnen.
Eines Tages sitzt er zum ersten Mal in seinem Leben in einer Eisenbahn. Er muss einen Weinhändler nach Olten begleiten, der viel Gepäck bei sich hat. Hansi ist begeistert. Zuerst durch einen endlos langen Tunnel und dann mit wahnsinniger Geschwindigkeit, dass die Gläser der Petrollampen klirren, an Häusern und Fabriken und Wiesen vorbei. Das ist etwas anderes als auf dem Leiterwagen des Geschirrhändlers Müller durch die Landschaft tampen. Den Geruch des Steinkohlerauches und des mit Öl vermischten heissen Dampfes wird er sein Lebtag nie vergessen. Am Ende gibts erst noch zwei Batzen Trinkgeld. Und diese riechen nicht nach Franzbranntwein.
Abends versammeln sich im Löwen die Honoratioren am Stammtisch. Meist gewichtige Männer mit schweren Uhrketten über dem Bauch. Sie flössen Hansi Respekt ein. Er merkt sich die Namen. Portier Franz hat ihm dazu geraten. Zwei davon sind ihm bereits vertraut: jener des Giessereibesitzers Rüetschi, der die Glocken für die neue Kirche in Freienberg gegossen hat, und jener des Regierungsrats Augustin Keller. Zu Hause heisst man ihn den Klostermetzger, weil er 1841 die Klöster aufgehoben hat. Hansi begegnet ihm mit einer Mischung aus Respekt und Hass. Sein Vater hat oft gesagt, dem würde er am liebsten mit dem Gertel den Grind abhauen, und Onkel Jakob will ihn zusammen mit dem Garibaldi vierteilen, weil er die Mönche im grössten Hudelwetter und Schneegestöber aus dem Kloster treiben liess.
Hin und wieder übernachten Gäste, die französisch sprechen. Hansi bewundert den Portier Franz, der mit ihnen über das Wetter und die teuren Zeiten oder sogar von der Weltausstellung in Paris in ihrer Sprache parliert, als ob es Schweizerdeutsch wäre. Sind es Franzosen, verabschiedet er sie jeweils mit «Vive l’Empereur!» Das lässt bei den meisten das Herz schmelzen und das Trinkgeld wachsen. «Sag einfach ‹Pfiiffelampenöl!›», lehrt der Meister den Schüler. «Das tönt ähnlich.»
«Ja, das kenne ich. Bei uns zu Hause hat das der Moosbauer Karli auch schon gesagt.»
«So? Nur musst du aufpassen, dass es der Oberst Zimmerli, der Grosse, der gestern am runden Tisch hockte, nicht hört. Der hat als junger Leutnant den Moskaufeldzug Napoleons mitgemacht und überlebt. Mit Näppis Familie hat er noch einen ganzen Hühnerstall zu rupfen. Und die Zahlen musst du können und das Bongschuuren, das Grüezi-Sagen.»
Hansi lernt schnell und hat bald einmal einige nützliche französische Wörter und Wendungen im Kopf. Schon nach einigen Wochen wird er zum Unterpolier befördert. Statt zwei Franken in der Woche nebst Kost und Logis erhält er nun vier und meistens noch so viel an Trinkgeldern. Der Hotelier schenkt ihm neue Schuhe und ein Paar Hosen. «Leg sie nachts unter die Matratze, dann hast du immer schöne Bügelfalten», rät Franz.
Anfang Oktober bittet er um zwei Tage Urlaub und fährt mit dem Geschirrhändler Müller nach Hause. Er kauft ihm gleich noch ein Dutzend Teller ab. Das mit den Vertiefungen im Esstisch dünkt Hansi plötzlich unappetitlich. Das Dorf staunt über die Verwandlung des Burschen. Der Barfussgänger von einst trägt schwarze Schuhe, und sein früher wildes Haar ist brav gescheitelt. Den grössten Teil seiner Einnahmen übergibt er dem Vater. Das Geld kommt diesem gelegen. Er will vom Schreiner zwei einfache Betten machen lassen: ein zusätzliches für die drei Buben und eines für die drei Mädchen.
Es wird Winter, Frühling, wieder Sommer. Eine Familie aus Neuchâtel namens Borel ist auf Besuch in Aarau und übernachtet im Löwen. Frau Borel findet Gefallen an der drolligen Art, wie der junge Unterpolier französisch radebrecht. Und Hansi gefällt die hübsche Tochter Michèle ausnehmend. Aber er getraut sich doch nicht, sie wie Nachbars Meieli einzuladen, um sich die jungen Katzen in der Scheune anzusehen. Jedenfalls hält er von jetzt an Neuchâtel für den schönsten Ort der Welt.
Als die Gäste abreisen und Hansi die Mütze lüpft und mit frischer Stimme sagt: «Au revoir, Madame!», meint Frau Borel, er spreche ja schon wie ein halber Welscher. Da fasst sich Hansi ein Herz und gesteht, dass er gerne in der Westschweiz arbeiten würde, um dann wie ein ganzer Welscher sprechen zu können. Frau Borel schmunzelt, blickt ihn an und sagt, das liesse sich eventuell machen. Sie kenne einen Hotelier.
Drei Wochen später erhält Hansi einen Brief. Den ersten in seinem Leben: «Monsieur Hans Keusch, Hôtel Löwen, Aarau». Er kann eine Stelle als Piccolo, als Kellnerlehrling, im Hôtel du Lac antreten. Zwanzig Zentimeter grösser fühlt er sich.
Im Herbst 1868 verabschiedet sich Hansi. Der Löwenwirt schreibt ihm ein schönes Zeugnis und drückt ihm noch einen Extrabatzen in die Hand. «Machs gut und zeig dich wieder einmal bei mir, wenn du mehr kannst als ‹Pfiiffelampenöl›!»