Buch
Der New Yorker Evolutionsbiologe Jackson Oz beobachtet schon seit Längerem ein stark verändertes Verhalten von Tieren: Überall auf der Welt häufen sich die Vorfälle, bei denen Menschen gezielt von Tieren getötet werden, und zwar mit einer zuvor nie dagewesenen Aggressivität. Oz sieht darin eine massive Bedrohung für die Menschheit. Erst nimmt ihn kaum jemand mit dieser Theorie ernst – einzig die Umweltforscherin Chloe glaubt ihm. Kann es wirklich sein, dass sich sämtliche Tiere gegen die Menschen verschworen haben? Oz und Chloe müssen alles daran setzen, eine Lösung zu finden. Doch die Entwicklung scheint unaufhaltsam, und bald gibt es keinen Ort mehr, an dem man noch vor den Tieren sicher ist ...
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sowie zu lieferbaren Titeln des Autors
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James Patterson
und Michael Ledwidge
ZOO
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Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Helmut Splinter
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel »Zoo« bei Little, Brown and Company,
Hachette Book Group, New York, NY.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung November 2015
Copyright © der Originalausgabe 2012 by James Patterson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
This edition is published by arrangement
with Little, Brown and Company,
New York, New York, USA. All rights reserved.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
unter Verwendung des CBS-Artworks:
© 2015 by CBS Broadcasting Inc. All rights reserved.
Redaktion: Viola Eigenberz
AG · Herstellung: Str.
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18305-9
www.goldmann-verlag.de
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Für die Archackis
M. L.
Prolog –
Alles passiert im Zoo
EINS
Zoo von Los Angeles
West-Hollywood, Kalifornien
Der Zoo und der Botanische Garten von Los Angeles, die ebenso in dem eintausendsechshundert Hektar großen Griffith Park liegen wie die zwei Golfplätze mit achtzehn Löchern, das Autry National Center und der »Hollywood«-Schriftzug, ähneln eher einer heruntergekommenen Touristenattraktion als einem Naturschutzpark.
Der Zoo, finanziert durch unregelmäßige Zuwendungen der Stadt, gleicht einem verlassenen Jahrmarkt. Die Mülleimer entlang der ausgeblichenen Betonpromenade quellen über, und in der Luft hängt der Gestank der Dunghaufen. Er wabert aus den Käfigen, in denen zerzauste Tiere mit leerem Blick reglos und mit Fliegen übersät in der Hitze der erbarmungslosen Sonne Kaliforniens liegen.
Das Löwengehege nordöstlich des Eingangstors ist von einem mit Schleim überzogenen Graben umgeben. Früher einmal könnte das Gehege eine Nachbildung der Serengeti in Kleinformat gewesen sein. Doch heute, wo es an Pflege, Geld und Personal mangelt, sieht es aus wie das, was es ist: ein von Kunstrasen und Plastikbäumen eingerahmter Betonpferch voll mit Dreck.
Morgens um fünf nach acht ist es in dem scheinbar leeren Gehege bereits heiß. Als einziges Geräusch ist ein leises Rascheln zu hören, während etwas Dunkles, Schlangenähnliches gemächlich durch Büschel aus hohem Kunststoffgras vor- und zurückschwingt. Dann nichts als Reglosigkeit und Stille. Doch plötzlich taucht fünfzehn Meter weiter eine große Gestalt hinter einem Sperrholzfelsen auf.
Mit vorgestrecktem Kopf und funkelnden blassgelben Augen prescht Mosa, die Löwin des Zoos von Los Angeles, mit atemberaubender Geschwindigkeit durch das Gehege in Richtung der Stelle, an der sich etwas bewegte. Doch statt im Gras zu landen, schlägt sie im letzten Moment einen Purzelbaum in der Luft, lässt sich über den Rücken abrollen und dreht sich schließlich auf ihre Pfoten.
Dort im Gras liegt Dominick, Mosas Partner. Er ist älter als sie und das dominante Männchen des Löwenpaars aus Transvaal in Südostafrika. Er schüttelt seine rötliche Mähne und starrt Mosa mit kaltem Blick an. Wie so oft in den letzten Wochen ist er angespannt und wachsam und hat keine Lust zu spielen. Er blinzelt einmal kurz und lässt seinen Schwanz wieder durch die hohen Grashalme zucken.
Mosa sieht ihn an, dann wendet sie den Blick zum Zaun an der Rückseite, zu dem großen Gummiball, den sie kürzlich von einem der Pfleger erhalten haben. Sie senkt den Kopf, um ihre Schnauze in Dominicks Mähne zu stupsen und ihm im Vorbeigehen entschuldigend übers Gesicht zu lecken.
Mosa putzt ihre staubigen Pfoten. Gäbe es einen Hinweis darauf, dass an diesem Morgen unter dem wolkenlos-blauen Himmel Kaliforniens etwas nicht stimmt, liegt es vielleicht nicht an dem, was die Löwen tun, sondern an dem, was sie nicht tun.
Für Löwen ebenso wie für andere soziale Säugetiere spielen Stimmlaute bei der Kommunikation eine wichtige Rolle. Löwen machen Geräusche, wenn sie gegen einen Rivalen kämpfen, sich in einem Revierkampf befinden und um sich bei der Abwehr von anderen Raubtieren abzustimmen.
Mosa und Dominick haben in den letzten zwei Wochen immer weniger mit Lauten kommuniziert. Jetzt schweigen sie.
Beide Löwen riechen den Wärter, noch bevor er hundertfünfzig Meter entfernt am Maschendrahtzaun rüttelt. Als der menschliche Geruch ihre Nasen erreicht, reagieren die Löwen, wie sie es nie zuvor getan haben. Beide erheben sich. Ihre Schwänze werden starr. Sie stellen die Ohren auf, während sich ihr Rückenfell sichtbar sträubt.
Wie Wölfe stimmen sich die Löwen untereinander ab, wenn sie jagen und ihr Opfer in einen Hinterhalt drängen. Jetzt verhalten sich beide Tiere so, als wären sie bereit zum Beutefang.
Dominick verlässt das hohe Gras und betritt die Lichtung. Auch für einen männlichen Löwen ist er riesig – zweihundertfünfzig Kilo, mehr als zwei Meter fünfzig lang, Schulterhöhe eins dreißig. Der König des Dschungels schnüffelt in der Luft und bewegt sich auf den Menschengeruch zu.
ZWEI
Terrence Larson, stellvertretender Leiter der Raubkatzenabteilung, öffnet das äußere Maschendrahttor des Löwengeheges, befestigt es mit einem in eine Öse geschobenen Haken und zieht den roten Futtereimer aus Plastik hinter sich her. Der kräftige städtische Angestellte mittleren Alters, ehemaliger Lichttechniker bei Paramount, schlägt die Fliegen fort, während er das Frühstück für die Löwen hineinhievt, zwölf Kilo Unterschenkelknochen und blutige Fleischstücke.
Larson wirft das Futter über den brusthohen inneren Maschendrahtzaun und zieht sich ein paar Schritte zurück. Das Fleisch liegt auf der anderen Seite in einem glitschigen Haufen. Den geöffneten äußeren Zaun im Rücken, dreht er den Eimer um und setzt sich darauf. Er weiß, eigentlich müsste er hinter dem fest verschlossenen Außenzaun stehen, während er die Löwen beim Fressen beobachtet, doch es ist das Wochenende vom 14. Juli, und alle Vorgesetzten sind im Urlaub. Also was soll’s?
Mit den Löwen morgens, bevor der Zoo seine Pforten öffnet, im Gehege zu sitzen ist für Larson der schönste Moment des Tages. Tommy Rector, dem jungen Leiter der Abteilung Raubkatzen, gefallen eher die kleineren, lebhafteren, liebevolleren Tiere, die Jaguare und Luchse, doch Larson ist seit seinem lebensverändernden Zirkusbesuch im Alter von sieben Jahren in Löwen vernarrt. Es gibt einen Grund, warum dieses Tier ein Symbol für Macht, Gefahr und Mythos ist, überlegt er; einen Grund, dass alle berühmten starken Männer – Samson, Herkules – gegen diese Tiere kämpfen müssen. Ihre Macht, ihre körperliche Anmut und ihre jenseitige Schönheit bezaubern ihn immer noch, auch nach den fünfzehn Jahren, die er hier schon beschäftigt ist. Genauso wie früher, als er noch beim Film arbeitete, erzählt Larson seinen Freunden oft, er könne nicht glauben, dass er für diese Arbeit sogar noch bezahlt wird.
Er zieht eine Schachtel Zigaretten aus seiner Brusttasche. Als er sich eine Zigarette in den Mund steckt und anzündet, meldet sich das Funkgerät, das an der Tasche seiner Cargohose klemmt, mit einem scharfen Piepsen. Er greift danach und versucht zu erraten, um was es gehen könnte, während er über das Funkrauschen hinweg der schrillen Stimme von Al Ronkowski von der Wartungsabteilung lauscht. Al meckert, weil sich jemand auf seinen Parkplatz gestellt hat.
Larson lacht und schnaubt gleichzeitig, schaltet das Funkgerät leiser, stößt zwei Zwillingswolken aus Rauch durch seine Nase und lässt den Blick über das Gras am anderen Ende des dreißig mal sechzig Meter großen Geheges gleiten. Wo, zum Teufel, stecken die Löwen nur? Wenn er das Tor öffnet, wartet Mosa gewöhnlich auf ihn wie eine Hauskatze, die beim Geräusch des elektrischen Dosenöffners angerannt kommt.
Als er das Klatschen hört, schnippt Larson die Zigarette fort und erhebt sich. Panik.
Was? Nein! Der Graben?
Der Wall und die Rampe sollen die Löwen davon abhalten, ins Wasser zu fallen, doch Mosa hat es bereits früher schon mal erwischt. Die Mitarbeiter brauchten zwei Stunden, um die erschrockene Löwin wieder ins Trockene zu locken.
Genau das fehlt ihm jetzt noch, wo alle seine Vorgesetzten und die Hälfte seiner Kollegen nicht da sind: Rettungsschwimmer für einen zweihundert Kilo schweren, stinkwütenden, triefend nassen Löwen zu spielen.
Einen Käfig ohne Rückendeckung zu betreten ist eindeutig nicht gestattet, doch im Alltag geschieht das ständig. Rasch öffnet er das Gatter und rennt zum Rand des Wassergrabens.
Erleichtert stößt er den Atem aus, als er einen der großen grünen Übungsbälle im Graben hüpfen sieht. Diese dummen Dinger hatte er ganz vergessen. Das war’s also. Mosa hatte den Ball irgendwie von der Rampe gekickt. Oder so ähnlich. Puh.
Larson geht um den Wall herum zurück, bleibt neben dem Graben aber abrupt stehen. Direkt zwischen ihm und dem offenen Tor im inneren Zaun sitzt Dominick, der männliche Löwe – regungslos, nur der Schwanz schwingt gezielt hin und her, die bernsteinfarbenen Augen der Großkatze sind auf Larson gerichtet. Neben ihm liegt sein noch unangetastetes Frühstück.
Larson bekommt einen trockenen Mund, als die riesige Katze einen Schritt auf ihn zu macht und wieder zurückweicht wie ein Boxer, der einen Schlag vortäuscht.
Er geht in Stellung, macht sich Larson so ruhig klar, wie das in einer solchen Situation möglich ist, während er völlig regungslos stehen zu bleiben versucht. Natürlich ist der alte Kater einfach nur überrascht, dass sich Larson mitten in seinem Territorium aufhält. Larson weiß, dass dieser zwanzig Jahre alte mürrische Kerl in der Wildnis schon längst von einem jüngeren Rivalen, der sich die Weibchen aus seinem Rudel unter den Nagel reißen will, getötet worden wäre.
Larson denkt, er sei für den Löwen nur eine Störung. Soll er das Funkgerät benutzen? Er entscheidet sich dagegen. Zumindest für den Moment. Er ist schon öfter mit Dominick im Käfig gewesen. Der alte Kerl will sich nur aufspielen. Mit einer so leichten Beute wird es ihm schnell langweilig werden, und er wird gleich anfangen, sich über sein eigentliches Frühstück herzumachen. Dominick kennt Larson schon seit Jahren, er kennt seinen Geruch, weiß, dass er keine Bedrohung ist.
Und im schlimmsten Fall befindet sich drei Schritte hinter Larson der Graben, und dieser wird ihm Sicherheit bieten. Nass und erniedrigt und vielleicht mit einem gebrochenen Knöchel würden ihn die anderen Wärter herausfischen, doch seine Haut würde immer noch seine Knochen abdecken, und seine Eingeweide wären immer noch dort, wo er sie am liebsten hatte.
»Hey, hey, mein Freund«, flüstert Larson leise wie zu einem Baby, das er beruhigen will. »Deine Mosa finde ich zwar ganz nett, aber sie ist nicht mein Typ.«
Larson spürt die Bewegung links von sich mehr, als dass er sie sieht. Gerade noch rechtzeitig dreht er sich um, als etwas Riesiges, Gelbbraunes aus dem Gras springt, eine Staubwolke vor sich herschiebt, immer größer, immer schneller wird.
Larson ist nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu gehen, bevor Mosa ihn erreicht. Wie einen Prellball rammt sie ihren Kopf gegen seine Brust. Ihm stockt der Atem, während er durch die Luft fliegt und drei Meter weiter rückwärts auf dem Boden landet.
Benommen bleibt er liegen. Sein Herz schlägt so schnell und kräftig, dass er schon glaubt, er wird einen Herzinfarkt erleiden. Der Gedanke verfliegt, als er Mosas tiefes Knurren an seinem Ohr hört.
Er greift nach seinem Funkgerät, doch in dem Moment legt Mosa ihre Pfoten auf seine Schultern und beißt in sein Gesicht. Ihre riesigen Eckzähne bohren sich in seine Augen, während ihre unteren Zähne sein Kinn durchdringen wie Butter.
Wie eine Stoffpuppe wird Larson am Kopf hin- und hergeschüttelt. Als sein Genick bricht, was sich anhört, als würde jemand einen Bleistift zerbrechen, ist dies das letzte Geräusch, das sein Hirn wahrnimmt, bevor er stirbt.
DREI
Mosa brummt und lässt den toten Wärter fallen. Mit der daumenähnlichen Afterkralle ihrer rechten Vorderpfote zieht sie sich ein Stück Fleisch aus den Zähnen. Was von Larsons Armbanduhr noch übrig geblieben ist, fällt in den Dreck, während sie sich Blut vom Maul leckt.
Dominick, der bereits satt ist, rennt auf das offene Tor zu. Am Ende des mit Maschendraht gesäumten Durchgangs kommen die beiden an dem winzigen Presskäfig vorbei, in den sie immer gesperrt werden, wenn man sie medizinisch versorgt. Diesen Käfig werden sie nicht vermissen.
Rasch haben sie den Wirtschaftshof des Großkatzengeheges durchquert. Am anderen Ende, neben den Schläuchen, befinden sich ein niedriges Gatter und dahinter der leuchtend weiße Betonweg für die Besucher. Mühelos springen Mosa und Dominick über das Gatter, laufen die leere Promenade entlang bis zum Drehkreuz, von dem sie sich genauso wenig aufhalten lassen, und um den Parkplatz herum zur nächstgelegenen Ansammlung von Eichen- und Walnussbäumen im Griffith Park.
Sie rennen einen mit Gestrüpp und vereinzelten Büschen bewachsenen Hang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Im heißen Wind schnappen sie den Geruch eines Menschen auf, einen Moment später entdecken sie den Ursprung auf einem der Fairways des Golfplatzes – ein attraktiver, junger schwarzer Mann in rotem Hemd und schwarzer Hose, der vor der Arbeit schnell noch neun Löcher spielen möchte. Er ist überrascht, Löwen auf dem Golfplatz zu sehen.
Dominick greift an, rammt den Typen von der Seite und wirft ihn um. Blut spritzt in alle Richtungen, als Dominick ihm mit einem Biss den Hals durchtrennt.
Dominick lässt den Toten los und weicht langsam zurück, als sich von Norden her ein Polizeiwagen nähert. Er riecht, dass sich in dieser lauten, glänzenden Kiste noch weitere Menschen befinden. Er will bleiben und angreifen, doch er weiß, dass diese Kiste voller Menschen aus dem gleichen kalten, schwierigen Material besteht wie sein Käfig.
Die beiden Löwen suchen Deckung zwischen den Bäumen. Oben am Hügel bleibt Dominick einen Moment stehen und blickt auf die Stadt hinunter. Unter ihm breitet sich Los Angeles aus, ein braunes Feld der Menschheit, ein Häusermeer, das im Dunst der aufsteigenden Morgenhitze seltsam flimmert und sich an den Rändern auflöst.
Der Geruch wird stärker, strömt von überallher auf ihn ein. Von den Häusern, den Straßen, den winzigen Autos, die sich über die Highways schlängeln. Die Luft ist voll davon. Doch statt davor wegzulaufen, rennen Dominick und Mosa darauf zu. Sie haben Blut geleckt und wollen noch mehr.
Buch eins –
Der Anfang vom Ende
1Zitternd wachte ich auf.
In einem ersten Panikanfall dachte ich, ich hätte so was wie einen Herzinfarkt. Dann öffnete ich erleichtert die Augen, als ich mich daran erinnerte, dass nicht ich es war, der zitterte. Es war meine Wohnung.
Draußen, hinter den Fenstern im Industriestil neben meinem Bett, hörte sich der Lärm an, als würde ein Regiment aus Riesen in einer Parade rhythmisch mit ihren Gewehrkolben auf Beton klopfen. Doch es waren keine fröhlichen Marines, sondern es war die Hochbahn, die Linie 1 Broadway, die neben meiner Loftwohnung im vierten Stock in Harlem die Toten zum Leben erweckte. Ich hatte mich noch nicht an den Zug gewöhnt.
Ich stöhnte leise und bedeckte mein Gesicht mit einem Kissen. Sinnlos. Nur in New York musste man für das Privileg bezahlen, direkt neben einer Hochbahntrasse zu schlafen.
Doch ich war so pleite, dass ich es mir nicht leisten konnte, mich zu beschweren. Ich setzte mich auf. Ich konnte es mir im Grunde auch nicht leisten zu schlafen. Oder überhaupt an Geld zu denken. Ich hatte alles ausgegeben, was ich hatte, und noch etwas mehr. Mein Dispo war heillos überzogen. Daher befand ich mich im Tunnelblickmodus, um mein ganzes Leben auf das zu konzentrieren, was das Wichtigste war, nämlich eben dieses wieder auf die Reihe zu bekommen, bevor es zu spät sein würde.
Meine Lage war nicht immer so schrecklich gewesen. Noch vor zwei Jahren hatte ich nicht nur in einer vibrationsfreien Wohnung gewohnt, sondern mich auch als Doktorand an der Columbia University auf der Überholspur befunden. Ich war die große Hoffnung der Abteilung Ökologie, Evolution und Umweltbiologie gewesen und den Sternen so nahe, dass ich die Buchverträge, die Cocktailpartys und die gemütlichen Besprechungen an der Universität zum Greifen nahe wähnte.
Doch dann kam es zu einem Ereignis – andere nannten es Fehler –, das mein Leben änderte.
Mir fiel etwas auf. Etwas, das nicht ganz richtig war. Etwas, das ich nicht durchgehen lassen konnte.
So passiert es eben manchmal. Das Leben verläuft wie im Märchen, und dann entdeckt man etwas, das man nicht einordnen kann. Etwas, das jeden Gedanken, jeden Traum, jeden wachen Moment für sich einnimmt.
Zumindest war das bei mir so. In der einen Minute war ich dabei, zu akademischer Größe aufzusteigen, und in der nächsten kämpfte ich mit etwas, an das zu denken ich nicht aufhören konnte, etwas, das sich nicht abschütteln ließ, und wenn die Welt um mich herum in tausend Stücke zerbräche.
Ich weiß, wie durchgeknallt das klingt. Intellektuell vielversprechend zu sein plus Besessenheit plus Geringschätzung für herkömmlichen Erfolg ergibt für gewöhnlich ein ziemlich böses Ende. Das galt für Ted Kaczynski, den sogenannten Unabomber, genauso wie für Chris McCandless, den Aussteiger aus Into the Wild, der in seinem »Magic Bus« stirbt.
Doch ich war weder durchgeknallt noch ein Mystiker, der versuchte, eine eigene tiefe Verbindung zu einer höheren Realität herzustellen. Ich war einfach nur ein Evolutionsbiologe, der herausgefunden hatte, dass der Himmel einstürzte. Wobei es gar nicht der Himmel war, der einstürzte, es war viel schlimmer. Das biologische Leben stürzte ein. Das Tierleben. Etwas sehr, sehr Seltsames, sehr, sehr Schlimmes passierte, und meine Stimme war die einzige, die in der Wildnis davon verkündete.
Aber bevor ich zu weit vorgreife, mein Name ist Oz. Mit Vornamen heiße ich Jackson, aber der wird bei einem solchen Nachnamen nicht verwendet. Leider ist mein Vater ebenfalls unter dem Namen Oz bekannt, ebenso wie meine Mutter, meine drei Schwestern, meine Onkel und alle meine Cousins väterlicherseits. Was bei Familienfeiern verwirrend ist, aber das spielt jetzt keine Rolle.
Was hier und jetzt und überall eine Rolle spielte, war hingegen das globale Problem, das zu lösen ich mir vorgenommen hatte.
Es klingt hochtrabend, ich weiß: Ich glaubte recht zu haben, hoffte aber zum ersten Mal in meinem Leben ganz ehrlich, dass ich unrecht hätte. Es vollzog sich ein planetarischer Paradigmenwechsel, der die globale Erwärmung wie einen Sonntagsspaziergang im Park aussehen lassen würde.
2Ich sprang aus dem Bett. Ich trug eine verkrumpelte graue Schlafanzughose, die mir die Air France kürzlich auf einem Flug nach Paris geschenkt hatte. Rasiert, geduscht und mit geputzten Zähnen schlüpfte ich wieder zurück in diese französische Schlafanzughose. Von zu Hause aus zu arbeiten hat seine Vorteile. Ja, gut, »arbeiten« hieße, dass ich Geld verdiente. Das hier war eine spezielle Art von Arbeit. Egal. Mein Schlafanzug war wirklich bequem.
Als ich aus dem Schlafzimmer kam, schnappte ich mir einen anderen kostbaren Besitz vom Türknauf – meine feuerwehrrote Wollmütze, die ich mir kurz zuvor auf einer Reise nach Alaska geleistet hatte. Mit meiner Denkkappe auf dem Kopf ging ich auf den Boden und absolvierte meine täglichen hundert Liegestützen, eine Gewohnheit, die ich mir auf einer anderen Spritztour angewöhnt hatte, meiner vierjährigen Dienstzeit bei der Armee, bevor ich aufs College ging.
Nach Ableistung meiner Turnübungen wechselte ich in mein Büro. Dort schaltete ich zuerst die Steckerleiste, dann die Fernseher ein, die ich über eine Metallwerkbank in der Mitte des gewerblich anmutenden Raumes verbunden hatte. Insgesamt waren acht Fernseher angeschlossen. Einige hatten hübsche neue Flachbildschirme, doch die meisten waren Schrottteile, die ich mir nach der Umstellung auf Digitalfernsehen aus Müllcontainern geangelt hatte. Auf der Rückseite verband sie ein gordischer Knoten aus Drähten mit Kabelboxen und Satellitenempfängern sowie Laptops und Computerservern, die ich mit der Hilfe eines meiner Elektronikkumpel zum weltgrößten, schrottigsten digitalen Videorekorder umgewandelt hatte.
Während ich wartete, bis alle Geräte hochgefahren waren, öffnete ich mein erstes Energiegetränk des Tages. Ein weiterer Zug der Linie 1 trieb meinen Herzschlag gemeinsam mit einer Staubwolke von der Fensterbank in die Höhe. Ihr könnt mich ruhig verrückt nennen – ihr wärt nicht die Ersten –, doch nach dem anfänglichen Schock gefiel mir die vom öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung gestellte Tonspur irgendwie. Ich weiß nicht, warum, aber seit ich ein kleines Kind war und bis zu meinem Schulabschluss, neigte mein ADS-geplagtes Hirn dazu, auf vollen Touren zu laufen, wenn es von ohrenbetäubendem Lärm umgeben war. Ganz altmodisch, AC/DC, das war mein Fall. Metallica, Motörhead, alle Lautstärkeregler auf volle Pulle gedreht.
Ich runzelte die Stirn, als ich auf die Bildschirme sah und mich erinnerte, wie sich mein Vater, ein Lieutenant der New Yorker Feuerwehr, einmal die Abendnachrichten angesehen hatte. Nach vier Einsätzen in der Bronx war er nach Hause gekommen, hatte sich vor dem Fernseher in einen Sessel fallen lassen und in einer Werbepause, nach einem oder zwei Bieren, gesagt: »Oz, mein Junge, manchmal denke ich, unsere Welt ist nichts anderes als ein Zoo.«
Vor mir füllten Tiere die Bildschirme. Viele Tiere. Und alle benahmen sich sehr schlecht.
Vermutlich wussten Väter immer alles, denn genau das passierte gerade: Die Welt wurde zu einem Zoo, wenn auch einem ohne Käfige.
3Ich setzte mich in meinen auf einem Garagenflohmarkt erstandenen Ledersessel, nahm einen Schreibblock vom Stapel neuer Blöcke auf dem Tisch rechts von mir, wählte einen Kugelschreiber und notierte das Datum.
An Bildschirm Nummer vier drehte ich die Lautstärke auf.
»Ein vermisster zweiundsiebzig Jahre alter Jäger und sein einundfünfzig Jahre alter Sohn wurden gestern tot aufgefunden«, meldete eine Korrespondentin vom regionalen Fernsehsender in Plattsburgh im Staat New York, eine gut aussehende Brünette in rotem Mantel. Sie hielt das Mikrofon wie ein Weinglas. »Die Männer wurden offenbar von Schwarzbären getötet, während sie in der Nähe von Lake Placid der illegalen Jagd nachgingen.«
Das Bild wechselte zu einem jungen Bundesbeamten auf einer Pressekonferenz. Bürstenschnitt, schlaksig. Junge vom Land, verlegen vor der Kamera.
»Nein, es gab keine Möglichkeit, sie zu retten«, erklärte der Polizist. Er blies die harten Konsonanten direkt ins Mikrofon. »Beide Männer waren schon eine Weile tot und ihre Leichen angefressen. Für uns stellt sich immer noch die Frage, wie das passieren konnte. Die Waffen beider Männer waren geladen und schussbereit.«
Er beendete seinen Bericht mit der Behauptung, Vater und Sohn seien bekannte Wilddiebe gewesen, die sich einer gesetzeswidrigen Jagdmethode bedient hätten, bei der Hunde dem Jäger das Hochwild vor die Flinte treiben.
»Und jetzt zurück zu dir, Brett«, sagte die Brünette.
»Das ist nicht gut, Brett«, sagte ich, als ich Fernseher vier stumm stellte und Nummer acht aufdrehte. Blink, blink, blink machten die grünen Balken auf dem Bildschirm.
Ein Nachrichtenprogramm von NDTV, eine englischsprachige Version von CNN aus Indien, wurde gestartet.
»Gestern wurde ein Elefantentreiber aus Kerala getötet, während er Elefanten trainierte«, sagte der Sprecher mittleren Alters. Mit seinem Schnurrbart und der Bollywood-Haartolle erinnerte er irgendwie an Clark Gable. »Ich muss Sie vorweg warnen, dass der Filmbeitrag, den wir Ihnen jetzt zeigen werden, grausame Bilder enthält.«
Und das war kein Witz. Eine Elefantenkuh, die auf einem Dorfplatz an einen Pflock gebunden war, stampfte einen Mann in Grund und Boden. Dann wickelte sie ihren Rüssel um das Bein des Mannes und warf ihn in die Luft.
Der Sprecher erklärte, der Angriff habe sich ereignet, als die Mutterkuh während eines Trainingsrituals, dem sogenannten phajaan, von ihrem Jungen getrennt worden war.
Ich hatte davon gehört. Phajaan, auch bekannt als Foltertraining, wird vor allem in den ländlichen Gegenden Indiens angewandt. Ein Babyelefant wird von seiner Mutter getrennt und in einen Käfig gesperrt, damit die Dorfbewohner es mit heißen Eisen und mit Nägeln gespickten Stöcken schlagen können. Dieses brutale Vorgehen endet erst, wenn der kleine Elefant gestattet, dass man auf ihm reitet, oder wenn er stirbt.
»Vermutlich war Mama mit dem Programm nicht einverstanden«, sagte ich zu dem sterbenden Elefantentrainer auf dem Bildschirm.
Doch die Krönung war die Nachricht auf Bildschirm zwei von Fox News. Das Barbiepüppchen dort informierte mich darüber, dass zwei Löwen aus dem Zoo von Los Angeles nicht nur ihren Wärter getötet hatten und geflohen waren, sondern auch einen Mann auf dem benachbarten Golfplatz auf dem Gewissen hatten. Auf dem Bildschirm sperrten sechs Polizisten mit M16-Gewehren einen mit Palmen gesäumten Straßenzug ab, hinter ihnen trieben sich Mitarbeiter des Ordnungsamtes in weißen Overalls herum.
»Die Löwen wurden zuletzt in La Brea in der Nähe von Beverly Hills gesichtet«, säuselte Megyn Kelly, ihren leeren Blick auf den Teleprompter gerichtet.
Ich warf meinen Kugelschreiber weg. Ich war sauer, total. Meine Haut juckte, mein Herz raste wie ein Presslufthammer. Pennten denn alle um mich herum? Waren sie hypnotisiert? Standen sie unter Drogen? Waren sie alle völlig zugedröhnt?
Ich griff wieder zu meinem Kugelschreiber und kritzelte mit aller Kraft drei Buchstaben auf den Block, sodass das Papier zerriss.
M T K !!!!
Dann warf ich den Block quer durchs Zimmer.
»Wann werdet ihr endlich zuhören?«, rief ich meiner Medienwand zu.
Es war Zeit, mir noch mehr Koffein zuzuführen.
4Ich saß ein paar Minuten lang vornübergebeugt in therapeutischer Haltung zur Wutverarbeitung auf meinem Stuhl. Vor meinem Fenster raste ein Zug vom Zentrum in den Außenbezirk, der nächste kam aus der anderen Richtung. Dann ging ich quer durchs Zimmer, hob meinen Block auf und machte mich wieder an die Arbeit.
MTK – Mensch-Tier-Konflikt. Das war die Theorie, an der ich arbeitete.
Grob gesagt, ging ich davon aus, dass sich das Verhalten der Tiere weltweit änderte. Allerdings nicht zum Guten. Ganz und gar nicht. Auf allen Kontinenten zeigte eine Spezies nach der anderen plötzlich hyperaggressives Verhalten einer ganz bestimmten Gattung gegenüber.
Der Feind waren wir. Du und ich. Die Menschen.
Die Fakten waren nicht zu leugnen. Von Rumänien bis Kolumbien, von den Pyrenäen bis zu den Rocky Mountains, von St. Louis bis Sri Lanka nahmen die Angriffe von Tieren auf Menschen exponentiell zu – durch wilde Leoparden, Bären, Wölfe, Wildschweine, durch alle möglichen Tiere, die man sich vorstellen konnte. Die Anzahl der weltweiten Angriffe von Wildtieren hatte sich in den vergangenen vier Jahren im Vergleich zu den vorangegangenen fünfzig verdoppelt. Nur um es deutlich zu machen, wiederhole ich: verdoppelt.
Es waren nicht nur wilde Tiere. In Australien hatten die Angriffe durch Katzen und Hunde um zwanzig Prozent zugenommen. In Peking waren es vierunddreißig Prozent. In Großbritannien mussten im Jahr zuvor fast viertausend Menschen wegen Hundebissen ärztlich behandelt werden.
Aus Gründen, die ich noch nicht festmachen konnte, war eine Art gemeinsame, speziesübergreifende Reaktion gegen den Homo sapiens im Gange. Oder, anders ausgedrückt, irgendetwas trieb die Tiere an durchzudrehen, und die verbleibende Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, war knapper als der Vorrat an Plastikzauberstäben auf einem Harry-Potter-Symposion.
Ich weiß, wie das klingt – nach einem Walt-Disney-Film. Unterschiedliche Spezies nichtmenschlicher Lebewesen arbeiten in einer Art geheimen Absprache gegen die Menschheit. Das ist absurd. Krank. Unmöglich. Auch ich hatte zunächst an einen seltsamen Zufall geglaubt. Als handelte es sich nur um eine Reihe völlig zusammenhangloser, isolierter Vorfälle. Ich hatte angefangen, das Phänomen auf meinem ironischen Blog Mensch gegen Natur zu verfolgen, und meine Kollegen hielten es zuerst nur für einen Streich.
Doch mir verging das Lachen, als ich begann, mir die Beweise näher anzusehen. Die Natur führte tatsächlich Krieg gegen den Menschen. Und unsere Seite bemerkte es nicht.
Der Ausdruck »zwischen dem Teufel und dem tiefen Meer« ist der Seefahrt entlehnt. Der Teufel ist das, was die alten Segler den Spalt zwischen zwei schwer zu erreichenden Planken an einem Schiff nannten. Um sie abzudichten, musste einer der Seeleute von einem über das Wasser gehaltenen Steg herabgelassen werden. Fiel er ins Meer, bedeutete dies seinen sicheren Tod. Wurde der Spalt zwischen den Planken nicht abgedichtet, bestand die Gefahr, dass das Schiff sank. In jedem Fall war die Situation gefährlich. In jedem Fall steckte man in einem Dilemma.
In genau dieser Situation befand ich mich jetzt – in einem Dilemma, in einer Situation zwischen schlimm und noch schlimmer.
Sollte ich falschliegen, war ich verrückt. Sollte ich recht haben, war die Welt dem Untergang geweiht.
Ich hatte mein Bestes getan, um die Menschen wachzurütteln, aber erfolglos. Ich hatte alle meine Kreditkarten und die meiner mitfühlenden Verwandten geschröpft, hatte mit allen gesprochen, die bereit waren, mir zuzuhören. Meine Reise nach Paris hatte der Teilnahme an einer Tierschutzkonferenz gedient, in die ich mich hineingeschmuggelt hatte, um mir Gehör zu verschaffen. Ich hatte meine Botschaft erst zur Hälfte verkündet, als ich ausgelacht und der Bühne verwiesen worden war.
Nein, niemand kam zu mir an Bord. Die intellektuelle Intoleranz gegenüber Menschen, die gerne rote Holzfällermützen aufsetzen und verknitterte Schlafanzüge anziehen, ist wirklich schockierend.
Die Sache mit dem Zoo von Los Angeles war die Krönung. Im Bericht hieß es, die Löwen seien in Gefangenschaft geboren worden. Warum sollten zwei Zoolöwen eines Tages beschließen, Menschen zu töten und in einer Stadt zu randalieren? Warum gab es zweihundert Fernsehsender, und keiner berichtete darüber? Das ergab keinen Sinn. Zoolöwen laufen nicht einfach Amok. Dazu haben sie einfach keinen Grund. Bis jetzt.
Ich drückte die Kurzwahltaste für einen Anruf bei meiner Presseagentin, um an Fox heranzukommen. Wie üblich meldete sich sofort der Anrufbeantworter. Selbst sie hielt mich für durchgeknallt, und ich bezahlte sie. Das war kein gutes Zeichen.
Nachdem ich meine letzte Bitte an sie aufgesprochen hatte, beschloss ich, das Einzige zu tun, das mir einfiel. Ich stöpselte mir meinen iPod ins Ohr und dröhnte mich mit Motörhead voll, um meine dringend benötigten mentalen Säfte ins Fließen zu bringen. Hilf mir, Lemmy. Ich kippte noch etwas von meinem Energiegetränk und versuchte nachzudenken, während ich mir die unlustigsten Nachrichten der Welt ansah.
Ich setzte mich auf, als Attila mir die Ohrstöpsel herausriss.
»Hey, Attila.« Mein Mitbewohner streckte seine Hand aus, die ich abklatschte. »Schau dir den Wahnsinn an. Immer wenn ich denke, die Sache beruhigt sich wieder, verdoppelt sich die Aktivität. Sarah ruft nicht zurück. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, weißt du?«
»Hiiig! Hiiig! Hiiig!«, antwortete Attila.
Dann heulte er ein paarmal keuchend auf, kletterte auf meinen Schoß, gab mir einen nassen Kuss und umarmte mich mit seinen haarigen Armen.
Attila ist übrigens ein Schimpanse.
5Ich wusste, dass Attila Angst vor den Fernsehgeräten hatte, daher nahm ich ihn an die Hand – sie war ledrig und überraschend weich wie ein Handschuh – und führte ihn in die Küche. Attila: fünf Jahre alt, ein Meter zwanzig groß, fünfzig Kilo Schimpansengewicht.
Zum Frühstück gab ich ihm eine Mango, einen Stapel mit fruchtgefüllten Keksen (für die er sich zum Affen machen konnte) und die übrig gebliebene Hälfte eines Truthahn-Sandwichs. Der heutige Nachtisch bestand aus Apfelsauce vermischt mit zermahlenen Vitamin- und Sertralin-Tabletten.
Ihr habt richtig verstanden, Sertralin.
Auch Affen brauchen glückselig machende Pillen in unserer verrückten Welt. Oder vielleicht nur diejenigen, die in New York City leben.
Ich putzte Attila die Zähne und brachte ihn zurück in sein Zimmer. Auf dem mit Zeitungspapier ausgelegten Boden lagen Attilas Spielsachen verstreut: ein Sandkasten, eine Spielzeugkiste mit Bällen und Puppen, ein Lufthockeytisch und eine alte Basketball-Wurfmaschine. Mit den beiden Letzteren spielte eher ich als er. Doch die Wii gehörte eindeutig ihm. Beim Bowling schlug er mich jedes Mal.
Von der Tür aus beobachtete ich ihn eine Weile beim Spielen. Ich hatte den Zugang zu seinem Zimmer mit einem stabilen Gitter aus Stahldraht abgesichert, doch je älter er wurde, desto klarer war, dass er in absehbarer Zeit einen Weg nach draußen finden würde. Bald würde ich ein anderes Zuhause für ihn suchen müssen. Attilas Lieblingsspielzeug war derzeit eine American-Girl-Doll, die ich ihm kurz zuvor gekauft hatte. Sie hatte Zöpfe und trug ein Baumwollkleid, sah sehr nach Unsere kleine Farm aus. Attila schaukelte die große blonde Puppe in seinen Armen und küsste sie. Dann brachte er sie zu mir und hielt sie hoch, damit auch ich sie küssen konnte. Er schnaufte zufrieden und nahm die Puppe mit zum Sitzsack, wo er so tat, als fütterte er sie.
Die Leute, die sagen, ihre Hunde seien wie Kinder für sie, haben nie mit einem Schimpansen zusammengelebt, glaubt mir. Ich schüttelte den Kopf und lächelte meinem kleinen Kumpel zu. Es war schön zu sehen, mit welcher Freude, mit welcher Ruhe er spielte. So war er nicht gewesen, als ich ihn kennenlernte.
Ich hatte Attila zwei Jahre zuvor im Willis Institute gefunden, einem Biomedizin-Labor in Südjersey, wo ich als Aushilfe arbeitete. Ich räumte gerade spätabends nach meinem zweiten Arbeitstag auf, als ich eine Tür öffnete, und da war er. Der hübscheste drei Jahre alte Affe, den man je gesehen hatte, lag dort in seinem winzigen Käfig, sein rosafarbenes Gesicht gegen die Stäbe gepresst.
Er blickte mich aus rot geränderten Augen elendig an, seine triefende Nase stellte jeden Schnupfen in den Schatten. Die meisten biomedizinischen Forschungen mit Schimpansen funktionieren so: Der Schimpanse wird mit einem Keim infiziert, bevor er das neue Medikament erhält, das an ihm getestet werden soll. Klappt es mit der Heilung nicht, stirbt der Schimpanse im schlimmsten Fall. Oder man sucht nach Nebenwirkungen und so weiter. Beim Durchblättern der am Käfig hängenden Unterlagen sah ich, dass ein unerschrockenes menschliches Wesen an ihm irgendeine seltsame olfaktorische Forschung durchführte. Um Parfüms zu testen oder so was.
Als der kleine Affe – damals war er noch nicht Attila, damals war er Nummer 579 – mich mit seinen großen braunen Augen so suchend, so traurig ansah, legte ich mir einen Plan zurecht. Nachdem ich schon eine Woche nicht mehr dort gearbeitet hatte, fuhr ich noch einmal auf der I-95 Richtung Süden, in der Tasche den Laborschlüssel, den abzugeben ich in meinem Beschützerinstinkt zufällig vergessen hatte. Als ich den Parkplatz nach Mitternacht wieder verließ, lag Attila hinten in meinem ramponierten Hyundai Sonata unter alten Pizzakartons.
In den ersten Wochen bei mir zu Hause war er wachsam und übervorsichtig und schlief kaum, immer ängstlich darauf wartend, ob ich ihn schlagen würde. Ein befreundeter Tierarzt diagnostizierte bei ihm ein posttraumatisches Syndrom und schrieb mir ein Rezept für das Sertralin auf, das wie ein Wundermittel wirkte.
Ich weiß, was ihr denkt. Ich bin weder ein ultralinker Spinner von irgendeinem Tierschutzverein noch habe ich als Kind eine Folge zu viel von B. J. und der Bär gesehen. Geisteskrank oder ein Idiot bin ich auch nicht. Gewöhnlich erzähle ich anderen Wissenschaftlern nicht, dass ich mit einem Schimpansen zusammenwohne. Ich habe nie vorgehabt, als Neuauflage von Tarzan zu enden. Es ist einfach irgendwie passiert. Mein ursprünglicher Gedanke war, Attila in einem Tierheim im ländlichen Louisiana abzugeben, in dem Forschungsaffen im Ruhestand aufgenommen werden. Das ist immer noch eine Option. Doch im Moment lebt Attila bei mir.
Attila legte die Puppe weg und ging zur Terrassentür, an die er klopfte, weil er in den umzäunten Außenbereich wollte, wo ich eine Reifenschaukel angebracht hatte.
»Aufgepasst, Attila! Bauchangriff!«, sagte ich und ging auf ihn los, um ihn zu kitzeln.
»Oo-oo-oo-oo, ah-ah-ah, hiiig, hiiig, hiiiiig!«
Auf allen vieren rannte er zur Schaukel und sprang mit einem Freudenschrei hinauf, bevor ich mich umdrehte, das Gatter schloss und mich wieder an die Arbeit machte.
6Mit dem Gesicht nach unten liegt Attila in der Schaukel und wedelt mit seinen langen, kräftigen Armen, um sich vor- und zurückzuschwingen. Die Spitzen seiner langen Knotenfinger streifen über den Boden. Starke, schlanke Arme, gemacht, um auf Bäume zu klettern. Wie die meisten Schimpansen spielt auch Attila gerne. Es gefällt ihm, zu raufen, zu lachen, gekitzelt zu werden.
Und wie Menschen legt er Wert auf Status und ist fähig, jemanden zu täuschen.
Er ist den Menschen ähnlicher als jedes andere Lebewesen.
Als Attila den Mann am Ende des Flurs bemerkt, stößt er einen hohen, kurzen Schrei aus, mit dem er seine Aufregung, seine Angst ausdrückt. Da er keine Reaktion erhält, springt er wieder auf die Schaukel und schwingt vor und zurück, sodass die Kette quietscht.
Alles ist so seltsam. Die sich auf Rädern bewegenden, kistenförmigen Dinger unten. Das leise Donnern, das er manchmal über sich hört. Manchmal hat alles plötzlich diesen Geruch. Den Geruch. Den beängstigenden Geruch, den bösen Geruch, der seinen Käfig in dem großen, hellen Raum erfüllt, den Geruch, der bei Attila Magenschmerzen hervorruft und sein Rückenfell senkrecht stehen lässt. Der Geruch wird stärker, immer stärker. Selbst draußen. Mit jedem Tag mehr.
Gelangweilt, wütend und ängstlich verlässt Attila die Schaukel und sucht in seinem Spielbereich nach dem Spiegel. Diesen hält er sich vors Gesicht und sieht sich an. Wie alle Schimpansen erkennt auch er das eigene Spiegelbild. Er ist jetzt fünf Jahre alt, und sein Gesicht verliert die Rosafärbung und wird dunkler. Die Büschel aus drahtigem weißem Haar an seinem Kinn sind beinahe verschwunden.
Auch des Spiegels überdrüssig geworden, legt er ihn beiseite und rennt hin und her, rüttelt am Gitter, kreischt die rollenden Kisten unten auf der Straße an. Nach einer Weile fängt er an, Sachen auf der Terrasse umherzuwerfen. Den Plastikstuhl. Den »Thomas, die kleine Lokomotive«. Schließlich fällt sein Blick auf einen ausgestopften Hasen. Diesen schnappt er sich und verzieht sich in eine Ecke.
Er nimmt den Hasen in den Arm, streichelt sein weiches Fell mit den Fingern, als eine Brise über die Terrasse streicht und der böse Geruch seine Nase trifft wie ein Schlag.
Attila reißt den Hasen mit seinen Händen entzwei. Die Hände eines Schimpansen sind so kräftig wie die Kiefer eines Pitbulls. Er reißt den Hasen in tausend Stücke, stopft die Teile durch die Löcher im Gitter, johlt, als sie wie Schnee, wie Asche auf die Gasse hinter dem Haus rieseln.
Danach fühlt sich Attila besser.
Nach einer Minute lässt er sich wieder auf die Reifenschaukel fallen und schiebt sich mit einem seiner langen Arme an, bis er sich im Kreis dreht.
7Etwa eine Stunde lang streckte ich meine Fühler aus, um von allen meinen Kontakten eine Rückmeldung zu den Angriffen der Löwen in Los Angeles zu erhalten. Ich machte mir sogar die Mühe, zu einem Mann namens Abraham Bindix Kontakt aufzunehmen, einen Safariführer, der in Botsuana lebte und den ich in Paris kennengelernt hatte. Dieser Mensch wusste verdammt viel über Löwen, und er gehörte gegenwärtig zu den wenigen mir bekannten Menschen, die nicht glaubten, meine MTK-Theorie sei nur dummes Geschwätz.
Ich wartete noch immer auf Rückmeldungen und versuchte gerade ein zweites Mal, meine Presseagentin anzurufen, als ich eine SMS erhielt.
MTK Notruf! Wo bist du?
»Scheiße«, sagte ich. Ich hatte etwas vergessen.
Auf dem Weg, log ich und rief meinen Hausmeister an. Fünf quälend lange Minuten später traf eine ältere Frau ein. Ein Kleid mit verblasstem Blumenmuster hing über ihren dürren Knochen, in den Armen ihr Strickzeug und ein Stapel Kreuzworträtselbücher. Sie war die Mutter des Hausmeisters und passte ab und zu auf Attila auf. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als mich im Notfall anzurufen.
Attila sah in den Spiegel, den ich ihm gekauft hatte, als ich an die Terrassentür trat.
»Hey, mein Hübscher, Mrs Abreu ist hier, um nach dir zu sehen, also sei brav. Ich muss noch was erledigen, aber wenn ich zurück bin, spielen wir Fußball. Versprochen.«
Attila ließ den Kopf sinken und zog einen Schmollmund. Bis ich meine Arme öffnete. Er haute mich fast aus den Socken, als er zu mir hochsprang, mit ein paar keuchenden Schreien von der Art, in der Schimpansen sich gegenseitig zu erkennen geben.
Attila war sichtlich erfreut, als ich sein Keuchen erwiderte.
Als der Abschied erledigt war, hob ich mein Fahrrad über meine Schulter, trug es fünf Treppen nach unten und fuhr den mit Autos verstopften Broadway Richtung Norden entlang. Mit gesenktem Kopf erreichte ich Höchstgeschwindigkeit, segelte vorbei an Taxen, Supermärkten und Blumenläden. Auf der Höhe der 140th Street, als der Broadway seinen langen Anstieg in die Washingtons Heights begann, fingen meine Oberschenkel an zu pulsieren.
Auf der 159th Street schnitt ich einem Müllwagen den Weg ab. Nach links auf die Fort Washington Avenue, die sich Richtung Norden wand. Ein paar Minuten später bog ich nach rechts auf die enge 181st Street und blieb mit quietschenden Bremsen vor einem Vorkriegsgebäude stehen, das früher mal großartig ausgesehen haben muss. Neben dem Gebäude befand sich ein 99-Cent-Laden, den ich betrat, nachdem ich mein Fahrrad angeschlossen hatte, und kaufte etwas, bei dem sich das undurchdringliche Gesicht der chinesischen Dame zu einem höhnischen Grinsen verzog.
In Schweiß gebadet stand ich im Windfang des Gebäudes und drückte auf die Klingel der Wohnung von »N. Shaw«. Im selben Moment wurde der Türöffner gedrückt. N. Shaw erwartete mich gleich an der Fahrstuhltür des fünften Stocks und tippte mit ihren Turnschuhen unter ihrer blaugrünen Krankenhausuniform nervös auf den ausgebleichten Fliesenboden. Dies war offenbar wirklich ein MTK-Notfall.
»Das glaub ich jetzt aber nicht. Du weißt, wie wenig Zeit ich zwischen der Uni und meiner Arbeit habe«, beschwerte sich Natalie, während sie mich den Flur entlang in ihre Wohnung zog.
Natalie sah in ihrem Arztkittel einfach nur großartig aus. Flaschengrüne Augen, rotes Haar – ich meine, richtig rotes, das rote Haar eines irischen Mädchens –, cremefarbene Haut mit so vielen Sommersprossen, als hätte ein Konditor mit dem Zimtstreuer über ihr gestanden.
»Du hast versprochen, hier schon auf mich zu warten. ›Mit eingeschalteten Glocken‹ hast du, glaube ich, gesagt.« Ihre grünen Augen funkelten wie Kryptonit, als sie im Foyer an meinem Hemd riss. Jetzt hatte sie ihre Hände bereits an meinem Gürtel. »Los, lass mal ein paar Glocken sehen, Ozzy.«
Natalie war eine krankenhausgrüne Sexbombe mit doppelbettgroßer Libido. Sie war auch eine brillante Medizinstudentin an der Columbia University auf dem Weg zur Neurologin. Es war eine nette Kombination, auch wenn ich mich manchmal fragte, ob sie meinen Körper mehr mochte als meinen Geist. Vermutlich musste ich damit leben.
»Keine Glocken, aber ich habe es geschafft, dir noch was Kleines zu besorgen.« Ich zog meinen 99-Cent-Einkauf aus meiner Gesäßtasche.
An meinem Finger hing der dünnste, unanständigste String, den Thailand je hergestellt hatte, liebesapfelrot und durchsichtig wie Cellophan.
»Wer will behaupten, ich wüsste den Wert eines Dollars nicht zu schätzen?«, fragte ich.
Natalie stemmte die Hände in ihre Hüften.
»Jetzt hör mir mal gut zu. Erst kommst du zu der einzigen Gelegenheit zu spät, die wir innerhalb von drei Tagen haben, um miteinander zu schlafen«, schimpfte sie mit zur Seite geneigtem Kopf und schmalen Augen. »Und wenn du dann endlich aufkreuzt, willst du, dass ich in so ein nuttiges Ding schlüpfe, das zu tragen sich eine Straßendirne schämen würde?«
»Und wie ich das will«, antwortete ich.
»Hast du etwa diesen Affen geküsst, bevor du herkamst? Wenn ja, kannst du gleich wieder umdrehen.«
»Nö«, log ich mit perfekter Überzeugungskraft.
»Na dann«, sagte sie und schnappte sich den String aus meiner Hand. Er dehnte sich und schnalzte wie ein Gummiband von meinem Finger.
»Echt, ich hasse dich, Oz«, rief sie auf dem Weg ins Schlafzimmer nach hinten.
»Ich hasse dich auch, Schatz.«
»Setz dich aufs Sofa«, befahl sie mir. Ich sah im Schlafzimmerspiegel, wie sie den String über ihre Beine nach oben gleiten ließ. »Zieh dein Hemd aus, lass aber die Hose an. Ich will dir den Gürtel mit den Zähnen aufmachen.«
8»Das … war …«, keuchte Natalie und biss sich auf einen Knöchel, ihren verschwitzten Körper wie eine Marionette mit zerrissenen Fäden auf dem Boden ihres Schlafzimmers ausgestreckt, wo wir eine halbe Stunde zuvor geendet hatten.
»Dschungelliebe?«, fragte ich, während ich mich von dem 99-Cent-Stück befreite, das sich irgendwie um meine linke Schulter gewickelt hatte. Dann schob ich ein paar Glasscherben von einem Bilderrahmen zur Seite, der von der Wand gefallen war. Ein Foto von ihrem Vater, einem Aktienhändler aus Connecticut. Das Mädchen wäre eine gute Partie. Ich schleuderte das Foto unters Bett.
Natalie rollte sich auf mich. »Äquatorialregenwaldliebe.« Sie leckte mein Ohrläppchen. »Ich meine, wer macht so was schon im Stehen auf dem Sofa?«
»Äh, vielleicht erinnerst du dich, dass ich der Einzige war, der stand«, korrigierte ich sie. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich das rot blinkende Licht an meinem Telefon, das eine eingegangene Nachricht signalisierte.
»Wie könnte ich das vergessen?« Sie wischte sich mit dem Daumen den Schweiß aus den Augen. »Das war nicht Biologie, sondern Geologie. Du weißt schon, Seismologie, Tektonik.«
»Es ist wie Archimedes und ich immer sagen: Gib mir einen Platz zum Stehen, und ich kann die Welt bewegen.«
Erst als Natalie unter die Dusche ging, griff ich zu meinem Telefon. Die Nachricht war eine Antwort von Abraham Bindix, meinem Löwenmann.
Oz, unglaublich. So was passiert nicht nur in L. A., sondern auch hier!
Ich rief ihn sofort an.